W A - Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern

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W A - Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern
W A S
                                        chauungen
                                                    NEWS
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                                                    Sonderausgabe 1
Der apologetische Informationsdienst der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern

Evangelische Orientierungen
Inmitten Weltantschaulicher Vielfalt

• Basisinformationen                                         STAMMTEIL

• Argumentationshilfen
• Handlungsempfehlungen
W A - Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern
Impressum
 Stammteil

 Herausgegeben:
 Im Auftrag der Konferenz der Landeskirchlichen Beauftragten
 für Sekten- und Weltanschauungsfragen
 in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)

 Autoren:
 Andreas Hahn, Dr. Reinhard Hempelmann, Oliver Koch, Dr. Matthias Pöhlmann

 München: Stand 6/2020

 V.i.S.d.P.: Kirchenrat Pfarrer Dr. Matthias Pöhlmann
             Karlstraße 18, 80333 München, 089/5595-610

Redaktionelle Hinweise:

Auf www.weltanschauungen.bayern finden Sie im
                                                                                  
Regionalteil für Bayern weitere Informationen.            Zum Inhaltsvereichnis

 Herausgeber der WAS NEWS:
 Arbeitskreis Apologetik der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern
 Erscheinungsort:
 München
 Redaktion:
 Bernd Dürholt, Dr. Haringke Fugmann, Dr. Matthias Pöhlmann, Manuel Ritter

 WAS-News erscheint einmal jährlich.
 ISSN (Print)       2569-0345
 ISSN (Online)      2569-121X
W A - Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern
Evangelische Orientierungen
Inmitten Weltantschaulicher Vielfalt

Stammteil

• Basisinformationen
• Argumentationshilfen
• Handlungsempfehlungen
INHALT STAMMTEIL

  Einführung: Evangelisch inmitten weltanschaulicher Vielfalt               6

  1       Neue christliche Bewegungen
  1.1     Einleitung                                                        8
  1.2     Evangelikale                                                     10
  1.3     Pfingstlich-charismatische Bewegungen                            12
  1.4     Kulturelle Zuwanderung: Gemeinden außereuropäischer Herkunft     14
  2       Christliche Religionsgemeinschaften im Wandel
  2.1     Einleitung                                                       16
  2.2     Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten                        18
  2.3     Neuapostolische Kirche                                           20
  3       Religiöse Gemeinschaften christlicher Herkunft
  3.1     Einleitung                                                       22
  3.2     Zeugen Jehovas                                                   24
  3.3     Christengemeinschaft                                             26
  3.4     Christliche Wissenschaft (Christian Science)                     28
  3.5     Bruno-Gröning-Freundeskreis                                      30
  3.6     Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage - „Mormonen“   32
  3.7     Universelles Leben                                               34
  3.8     Neuoffenbarungsbewegungen und Einzelgänger                       36
  3.9     Unitarier                                                        38
  4       Esoterische Weltanschauungen und Angebote
  4.1     Esoterik allgemein                                               40
  4.2     Anthroposophie                                                   42
  4.3     Astrologie                                                       44
  4.4     Der Glaube an Engel                                              46
  4.5     Spiritismus und Channeling                                       48
  4.6     Reinkarnationsvorstellungen in Europa                            50
  5       Faszination des Dunklen und Geheimnisvollen
  5.1     Okkultismus                                                      52
  5.2     Satanismus                                                       54
INHALT STAMMTEIL

 6      Spiritualität asiatischer Herkunft
 6.1    Einleitung                                                                56
 6.2    Zen                                                                       58
 6.3    Yoga                                                                      60
 6.4    Ki-Bewegungen                                                             62
 6.5    Ayurveda                                                                  64
 6.6    Transzendentale Meditation                                                66
 7      Angebote zur Lebenshilfe und Selbstoptimierung
 7.1    Einleitung                                                                68
 7.2    Scientology                                                               70
 7.3    Access Consciousness                                                      72
 7.4    Familienstellen nach Hellinger                                            74
 7.5    Positives Denken                                                          76
 7.6    Coaching                                                                  78
 8      Facetten der Religionsdistanz
 8.1    Einleitung                                                                80
 8.2    Neuer Atheismus                                                           82
 8.3    Säkulare Organisationen                                                   84
 9      Verschwörungsdenken, Verschwörungstheorien und Verschwörungsglaube
        Verschwörungsdenken, -theorien und -glaube                                86
10      Weltanschauliche Beratung
10.1    Merkmale konfliktiver Gruppen                                             88
10.2    Argumentationshilfen für weltanschauliche oder religiöse Entscheidungen   89
10.3    Beratungs- und Informationsstellen                                        90

Die Autoren der Orientierungshilfe (Stammteil)                                    91

Ansprechpartner*innen in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern            94
EINFÜHRUNG

Evangelisch inmitten weltanschaulicher Vielfalt
 Pluralität als Normalfall                               Schattenseiten des Pluralismus
 In früheren Zeiten war die religiöse Welt               Der Pluralismus hat eine dunkle Kehrseite:
 überschaubarer: Gläubige waren Christ*innen,            Menschen erleben, wie sie manipuliert oder
 evangelisch oder katholisch, und sie lebten in          unter Druck gesetzt werden bis hin zu Abhän-
 konfessionell einheitlichen Gebieten. Begeg-            gigkeiten von Gruppen oder Anbietern, die
 nungen mit der anderen Konfession oder gar              absolute Hingabe fordern oder ihre Interessen
 mit einem fremden Glauben waren selten.                 mit Gewalt durchsetzen.
   Heute ist weltanschauliche Vielfalt der                  Früher wurde für solche Gruppen der Be-
 Normalfall:                                             griff „Sekte“ verwendet. Wer sich aufgrund
 • Das Christentum selbst erscheint vielfäl-             von Sonderlehren von der Kirche trennte, war
   tiger: Wir finden unterschiedliche Freikir-           „Sektierer“ und wurde bekämpft. Später wur-
   chen, größere oder kleinere Gemeinschaf-              de der Begriff auch auf Gruppen ausgeweitet,
   ten in christlicher Tradition, zahlreiche             die vom gesellschaftlichen Mainstream abwi-
   unabhängige christliche Neugründungen,                chen.
   teilweise in Gestalt von Migrationsgemein-               In der heutigen religiösen Vielfalt erscheint
   den.                                                  dieser klassische Sektenbegriff untauglich.
 • Neue Religionen kamen ins Land, vor allem             Wer soll und darf denn bestimmen, was eine
   der Islam und buddhistische Traditionen               „Sekte“ ist und was nicht? Die größeren Or-
   und Techniken sind präsent.                           ganisationen gegenüber den kleineren? Oder
                                                         die älteren gegenüber den jüngeren Neubil-
 • Neben klar erkennbaren Gruppen und Ge-
                                                         dungen? Das dürfte kaum ein geeignetes Kri-
   meinschaften finden sich neue religiöse
                                                         terium sein – sonst wären auch die evangeli-
   Strömungen und Bewegungen mit unver-
                                                         schen Kirchen „Sekten“ gegenüber der katho-
   bindlichem Charakter.
                                                         lischen Kirche oder das gesamte Chris­tentum
 • Nicht wenige Menschen haben nur geringes              gegenüber dem Judentum. Außerdem gibt es
   Interesse an religiösen Themen oder verste-           religiöse oder religionsähnliche Neugründun-
   hen sich ausdrücklich als religionskritisch,          gen wie z. B. Scientology, die nicht aus einer
   sodass man nicht nur von einem religiösen,            Abspaltung hervorgegangen sind. Schon aus
   sondern genauer auch von einem weltan-                diesen Gründen ist Vorsicht bei der Bezeich-
   schaulichen Pluralismus sprechen muss.                nung „Sekte“ geboten.
 • Zunehmend verschwimmen die Grenzen                       Darüber hinaus schwingt beim Gebrauch
   zwischen säkularen und religiösen Angebo-             des Wortes „Sekte“ heute noch etwas anderes
   ten und Weltdeutungen.                                mit: „Sekten“ – das sind diejenigen, die ihre
 • Vorgegebene Traditionen spielen immer                 Mitglieder schlecht behandeln. Damit richtet
   weniger eine Rolle, stattdessen müssen wir            sich der Blick darauf, ob Gemeinschaften oder
   selbst unterschiedliche Lebensbereiche zu             Anbieter für ihre Mitglieder nach innen oder
   einem Ganzen zusammenfügen.                           nach außen zu Konflikten führen.
                                                            „Sekte“ bezeichnet also eine konfliktträch-
                                                         tige Gruppe. Folgende Merkmale können auf
                                                         eine solche Gruppe hinweisen:

  6       Evangelische Orientierungshilfe / Stammteil - Ausgabe für Bayern
                                                                                    
EINFÜHRUNG

• absoluter Wahrheits- und Erlösungsan-             möglich. Beides findet in dieser Handrei-
   spruch, verbunden mit Schwarz-Weiß-              chung seinen Niederschlag, wenn bei der
   Denken                                           Darstellung anderer Glaubensüberzeugun-
• betonte Gemeinschaft nach innen und Ab-           gen versucht wird, deren Binnenperspektive
   wehr oder gar ein Verbot von Außenkontak-        wahrzunehmen, d. h. sich hineinzudenken
   ten                                              und ein Gespür dafür zu entwickeln, wie diese
                                                    Religiosität „funktioniert“, und sie dann aus
• Aufbau radikaler Gegenwelten, Bedro-
                                                    der Außensicht des evangelisch-christlichen
   hungsszenarien und Endzeiterwartungen
                                                    Glaubens eingeschätzt wird.
• Personenkult um die Leiter*innen, die über
                                                       So können Christ*innen eine begründete
   jede Kritik erhaben sind
                                                    evangelische Position jenseits von Abgren-
• Kontrolle vieler oder aller Lebensbereiche        zung einerseits und Relativismus andererseits
• Verbreitung von passenden Verschwö-               einnehmen. Die Spannung zwischen der Bin-
   rungstheorien                                    nen- und der Außensicht lässt sich nie ganz
• vollständige finanzielle, berufliche, famili-     auflösen, denn es gibt keine neutrale Position
   äre usw. Abhängigkeit der Mitglieder von         im religiös-weltanschaulichen Pluralismus.
   der Gemeinschaft und ihrer Leitung, sodass          Die vorliegende Orientierungshilfe ist eine
   ein normales gesellschaftliches Leben nicht      Handreichung für evangelische Kirchenge-
   mehr möglich ist.                                meinden. Sie will Hilfestellungen zur eigenen
Diese Merkmale können unterschiedlich stark         Urteilsbildung geben, wenn es beispielsweise
ausgeprägt sein, eine trennscharfe Abgren-          Anfragen gibt nach gemeinsamen Veranstal-
zung zwischen „Sekte“ und „Nichtsekte“ ist          tungen, zur Raumvergabe, zu Doppelmit-
immer nur graduell möglich. Auch verändern          gliedschaften wie auch zu kirchlichen Hand-
sich diese Merkmale: Man kann von „Versek-          lungsfeldern (Taufen, Segnungen, Trauungen,
tung“ sprechen – wenn eine Gruppe immer             Beerdigungen) und zur Seelsorge. Sie erhebt
mehr oder stärkere konfliktträchtige Merkma-        keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Öku-
le zeigt – oder umgekehrt von „Entsektung“.         menische und interreligiöse Themen bleiben
                                                    außen vor.
Eine evangelische Perspektive – zu die-
                                                       Neben „klassischen“ Vertretern aus christ-
ser Handreichung
                                                    licher Tradition (Kap. 1-3) kommt das weite
Der Blick auf andere Konfessionen und Reli-         Feld neuerer Religiosität und Spiritualität zur
gionen war lange Zeit von Abwehr und Kritik         Sprache. Dabei werden Esoterik (Kap. 4), die
bestimmt. Die heutige weltanschauliche Plu-         Faszination „dunkler“ Spiritualität (Kap. 5)
ralität stellt die Kirchen vor die Herausforde-     und Aspekte aus ursprünglich asiatischem
rung, für ein gutes gesellschaftliches Zusam-       Kontext (Kap. 6) in den Blick genommen.
menleben einzutreten. Dazu gehört einerseits           Die Kapitel über Lebenshilfe-Angebote
die Achtung der Freiheit anderer religiöser         (Kap. 7) und über Formen von Religions­
und weltanschaulicher Gewissheiten – und            distanz (Kap. 8) werfen einen Blick auf die
dies, obwohl die Wahrheit des christlichen          Grenzen zwischen Säkularem und Religiösem.
Glaubens durch diese anderen infrage gestellt       Die Auswahl beruht auf Erfahrungen aus der
wird. Andererseits ist religiöse – und damit        Beratungsarbeit. Die Internetlinks geben den
auch christliche – Wahrheit immer existen-          Stand von März 2020 wieder.
ziell und nur aus der je eigenen Perspektive

                                Evangelische Orientierungshilfe / Stammteil - Ausgabe für Bayern   7
NEUE CHRISTLICHE BEWEGUNGEN

1.1 Einleitung
 In den Groß- und Freikirchen – häufiger noch            lischen Kirche, die sich als protestantisch-
 neben ihnen – haben sich in den vergange-               freikirchlich und zugleich unabhängig verste-
 nen Jahrzehnten christliche Frömmigkeitsfor-            hende International Christian Fellowship (ICF)
 men entwickelt, die sich unter den Begriffen            mit großen Gemeinden u. a. in Zürich, Basel,
 „evangelikal“ und „pfingstlich-charismatisch“           Karlsruhe, München und Berlin oder die aus
 zusammenfassen lassen. Ihre Schattenseiten              Australien kommende Hillsong-Bewegung in
 werden u. a. mit der wertenden Begrifflichkeit          Konstanz, Düsseldorf, München und Berlin.
 „christlich-fundamentalistisch“ beschrieben.               In den evangelischen Landeskirchen und
 Mit „evangelikal“ wird eine Glaubenshaltung             der römisch-katholischen Kirche werden
 bezeichnet, die durch Entschiedenheit cha-              evangelikale und pfingstlich-charismatische
 rakterisiert ist und die verpflichtende Bin-            Erneuerungsgruppen teils als Hoffnungszei-
 dung an die Bibel als inspiriertes Wort Got-            chen, teils als Störung und Provokation emp-
 tes hervorhebt. Pfingstler und Charismatiker            funden. Für ein christliches Selbstverständnis,
 unterstützen diese Anliegen und sind insofern           das sich eng mit der säkularen Kultur verbun-
 ebenso evangelikal orientiert. Darüber hinaus           den hat, sind evangelikale und pfingstlich-
 praktizieren sie eine auf den Heiligen Geist            charismatische Gemeinden und Gruppen ein
 und die Gaben des Geistes (v. a. Zungenrede/            Thema, das als Infragestellung eines moder-
 Glossolalie/Sprachengebet, Prophetie, Hei-              nen, aufgeklärten Christentums empfunden
 lung) bezogene Frömmigkeit.                             wird. Bei allen notwendigen Differenzierun-
 In neuen christlichen Bewegungen geschieht              gen, die zwischen Pfingstlern, Charismati-
 das christliche Leben oft in konfessionsüber-           kern, Evangelikalen und christlichen Bibel-
 greifenden Gemeinschaftsbildungen, die sich             Fundamentalisten gemacht werden müssen,
 durch ein hohes Maß an Verbindlichkeit und              verbindet sie die Haltung des Protestes gegen
 missionarischem Engagement auszeichnen.                 ein geheimnisleeres säkulares Wirklichkeits-
 Hierzu gehören u. a.:                                   verständnis und die Kritik am Weltverständnis
 • Erneuerungsgruppen in den beiden großen               der Aufklärung.
    Kirchen und den klassischen Freikirchen                 Die wirkungsvolle Ausbreitung erweckli-
 • neue unabhängige Gemeindegründungen,                  cher Frömmigkeit resultiert nicht nur aus der
    die keiner bestimmten christlichen Konfes-           beanspruchten Wiedergewinnung urchristli-
    sion zuzuordnen sind                                 cher Glaubenserfahrung. Die Resonanz dieser
                                                         Frömmigkeitsform wird durch verschiedene
 • christliche Migrationsgemeinschaften
                                                         Rahmenbedingungen begünstigt wie das
 • unabhängige Missionswerke.                            Schwinden der Selbstverständlichkeit und
 Missionsaktivitäten pfingstlich-charismati-             kulturellen Abstützung christlicher Glauben-
 scher und evangelikaler Bewegungen tragen               spraxis und den antiinstitutionellen Affekten
 zur fortschreitenden innerchristlichen Plurali-         junger Menschen.
 sierung bei. Diese konkretisiert sich in zahlrei-          Wo christliche Religion in intensiven Aus-
 chen neuen Gruppenbildungen, die innerhalb              drucksformen gelebt wird, ruft sie Bewunde-
 der Kirchen mit teilweise weit ausstrahlender           rung und Zustimmung, aber auch Distanz und
 Wirkung entstehen wie etwa das Gebetshaus               Ablehnung hervor.
 in Augsburg im Bereich der römisch-katho-

  8       Evangelische Orientierungshilfe / Stammteil - Ausgabe für Bayern
                                                                                   
NEUE CHRISTLICHE BEWEGUNGEN

Wo christlicher Glaube eine deutliche Gestalt      im europäischen Kontext erkennbar. Religi-
gewinnt und mit großem persönlichen Ein-           öse Pluralisierungsprozesse tragen dazu bei,
satz gelebt wird, treten auch Gefährdungen         dass Christsein aufgrund von Erfahrung und
und Schattenseiten zutage:                         persönlicher Entscheidung stärker, während
• Religiöse Hingabebereitschaft kann ausge-        Christsein aufgrund von Tradition schwächer
   nutzt und missbraucht werden.                   wird. Für die Ausbildung christlicher Identität
                                                   hat die Mitgliedschaft in Gruppen und Bewe-
• Die Orientierung an charismatischen Füh-
                                                   gungen oft eine wichtigere Bedeutung als die
   rerpersönlichkeiten kann das Erwachsen-
                                                   Konfessionszugehörigkeit.
   werden im Glauben verhindern.
• Die Berufung auf Gottes Geist kann funk-
   tionalisiert werden für ein problematisches
   Macht- und Dominanzstreben.
• Das gesteigerte Sendungsbewusstsein ei-
   ner Gruppe kann umschlagen in ein elitäres
   Selbstverständnis, das sich scharf nach au-
   ßen abgrenzt, im Wesentlichen von Feind-
   bildern lebt und Gottes Geist nur in den
   eigenen Reihen wirken sieht.
Die Ausbreitung evangelikaler und pfingst-
lich-charismatischer Bewegungen wird von
diesen Schatten begleitet. Kritische Ausein-
andersetzungen mit erwecklichen Frömmig-
keitsformen können an Kontroversen anknüp-
fen, die innerhalb dieser Bewegungen selbst
sichtbar werden, wie z. B. die Diskussion über
geistlichen Missbrauch. Kritik an intensiven
Formen christlicher Frömmigkeit ist insbeson-
dere dann berechtigt und nötig, wenn über-
triebene Heilungsversprechen dazu führen,
dass die Gebrochenheit christlichen Lebens
nicht ernst genommen wird, oder wenn das,
was als erlebte „Bekehrung“ oder „Erfahrung
des Heiligen Geistes“ bezeichnet wird, den
Menschen nicht für andere öffnet, sondern
ihn vereinnahmt und kommunikationsunfä-
hig macht. Die Anwesenheit neuer Gruppen
und Gemeinden zeigt, dass sich die christliche
Landschaft in Wandlungsprozessen befindet.
Konfessionelle Bindungen sind im Schwin-
den begriffen. Der Einfluss transkonfessio-
neller Bewegungen wächst. Die weltweite
Erfolgsgeschichte evangelikaler und pfingst-
lich-charismatischer Bewegungen ist auch

                               Evangelische Orientierungshilfe / Stammteil - Ausgabe für Bayern   9
NEUE CHRISTLICHE BEWEGUNGEN

1.2 Evangelikale
 Wahrnehmungen                                            siert sich der „Aufbruch der Evangelikalen“
                                                          in zahlreichen missionarischen Aktionen und
 Wenn von den Evangelikalen gesprochen
                                                          publizistischen Aktivitäten (Glaubenskurse,
 wird, kann sehr Unterschiedliches damit ge-
                                                          Konferenzen, das Nachrichtenmagazin idea,
 meint sein: unabhängige freikirchliche Bewe-
                                                          das Christliche Medienmagazin pro, die me-
 gungen, die Bekenntnisbewegung Kein an-
                                                          diale Präsenz von ERF Medien), die sich z. T. in
 deres Evangelium, die Pfingstbewegung, die
                                                          Parallelstrukturen zu etablierten kirchlichen
 evangelistische Aktion ProChrist, die Willow-
                                                          Angeboten vollziehen. Das Profil der evan-
 Creek-Bewegung, die Deutsche Evangelische
                                                          gelikalen Bewegung in Deutschland ist auch
 Allianz (DEA), mit der sich ca. 1,3 Millionen
                                                          durch das Gegenüber zur pluralen Volkskirche
 Christ*innen aus den evangelischen Landes-
                                                          bestimmt.
 kirchen (ca. die Hälfte) und den Freikirchen
 verbunden wissen. In Teilen der Medienöf-                • Für evangelikale Theologie und Frömmig-
 fentlichkeit werden Evangelikale pauschal mit               keit charakteristisch ist die Betonung der
 christlichen Fundamentalisten gleichgesetzt,                Notwendigkeit persönlicher Glaubenser-
 die gegen Homosexualität, gegen Feminismus                  fahrung in Buße, Bekehrung/Wiedergeburt
 und Gender Mainstreaming mithilfe exorzis­                  und Heiligung.
 tischer Praktiken gegen Dämonen und den                  • In Absetzung von der Bibelkritik liberaler
 Teufel kämpfen. Eine solche Wahrnehmung                     Theologie wird die Geltung der Heiligen
 trifft jedoch nur bestimmte Ausprägungen                    Schrift als höchster Autorität in Glau-
 des Evangelikalismus und wird der Vielfalt der              bens- und Lebensfragen unterstrichen. Der
 Bewegung nicht gerecht.                                     theologischen Hochschätzung der Heiligen
                                                             Schrift entspricht eine ausgeprägte Bibel-
 Inhalte
                                                             frömmigkeit.
 Evangelikale repräsentieren eine erweckli-               • Der zweite Glaubensartikel, das Heilswerk
 che Strömung innerhalb des Protestantis-                    Gottes im Kreuz und in der Auferweckung
 mus, die transkonfessionell ausgerichtet ist                Jesu Christi, steht im Mittelpunkt. Die Ein-
 und eine zunehmende Resonanz erfährt. Die                   zigartigkeit Jesu Christi wird pointiert her-
 Wurzeln der evangelikalen Bewegung liegen                   vorgehoben. Evangelikale Religionstheolo-
 im Pietismus, im Methodismus und in der                     gie ist exklusivistisch geprägt.
 Erweckungs­ bewegung. Vorläufer hat sie in
                                                          • Gebet und Zeugendienst stehen im Mittel-
 Bibel- und Missionsgesellschaften und in der
                                                             punkt der Frömmigkeitspraxis. Gemeinde
 1846 in London gegründeten Evangelischen
                                                             bzw. Kirche werden vor allem vom Evange-
 Allianz. Bereits die geschichtliche Herkunft
                                                             lisations- und Missionsauftrag her verstan-
 belegt, dass innerhalb der Bewegung ein brei-
                                                             den.
 tes Spektrum an Ausprägungen der Frömmig-
 keit vorhanden ist. Auf der einen Seite steht            • Die Ethik wird vor allem aus den Ordnungen
 die Heiligungsbewegung, aus der die Pfingst-                Gottes und der Erwartung des Reiches Got-
 frömmigkeit erwuchs, auf der anderen Seite                  tes entwickelt.
 steht ein sozial aktiver Typus evangelikaler             Kristallisationspunkt der Sammlung der Evan-
 Frömmigkeit, der Beziehungen zum „Social                 gelikalen im deutschsprachigen Raum ist die
 Gospel“ aufweist. In Deutschland konkreti-               Evangelische Allianz, die sich zunehmend in

  10       Evangelische Orientierungshilfe / Stammteil - Ausgabe für Bayern
                                                                                     
NEUE CHRISTLICHE BEWEGUNGEN

Richtung einer evangelikalen Allianz entwic-        mit strenger Unterscheidung zwischen Glau-
kelt hat. Zentrale Dokumente der Bewegung           benden und Nichtglaubenden und der Ten-
sind die Allianz-Basis (in Deutschland, Öster-      denz zur Konzentration auf die eigene Fröm-
reich und der Schweiz in unterschiedlichen          migkeitsform, die die Vielfalt authentischer
Fassungen) und die Lausanner Verpflichtung          christlicher Lebens- und Frömmigkeitsformen
von 1974, die durch das Manila-Manifest             zu wenig wahrnimmt.
(1989) bekräftigt und 2010 (Lausanne III in
                                                    Handlungsempfehlungen
Kapstadt/Südafrika) weitergeführt wurde. Vor
allem mit der Lausanner Verpflichtung bekam         Stellungnahmen zur evangelikalen Bewegung
die evangelikale Bewegung ein theologisches         erfordern differenzierende Wahrnehmungen
Konsensdokument, das zeigt, dass sie sich           und Urteilsbildungen. Aufgrund der Vielge-
nicht allein aus einer antiökumenischen und         staltigkeit der Bewegung kann es keine pau-
antimodernistischen Perspektive bestimmen           schalen Beurteilungen geben. Ein wichtiges
lässt, sondern Themen aufgreift, die auch in        Kriterium für die Beurteilung evangelikaler
der ökumenischen Bewegung von Bedeutung             Gruppierungen ist ihre Offenheit für ökume-
sind: die Verbindung von Mission und sozialer       nische Beziehungen.
Verantwortung, das Engagement der Laien,
                                                    Weitere Informationen
das Engagement für Menschenrechte. Im Un-
terschied zur ökumenischen Bewegung, in der         Frederik Elwert / Martin Rademacher / Jens
Kirchen miteinander Gemeinschaft suchen             Schlamelcher (Hg.): Handbuch Evangelikalis-
und gestalten, steht hinter der evangelikalen       mus, Bielefeld 2017.
Bewegung das Konzept einer evangelistisch-          Reinhard Hempelmann: Evangelikale Bewe-
missionarisch orientierten Gesinnungsöku-           gungen. Beiträge zur Resonanz des konser-
mene, in der kirchliche Eigenheiten und etwa        vativen Protestantismus, EZW-Texte 2016,
die unterschiedlichen Taufverständnisse und         Berlin 2009.
Taufpraktiken zurückgestellt werden und in
der im missionarischen Zeugnis der entschei-
dende Ansatzpunkt gegenwärtiger ökumeni-
scher Verpflichtung gesehen wird.
Einschätzungen
Die Stärke der evangelikalen Bewegung be-
steht darin, angesichts einer oft unverbind-
lichen Christlichkeit die Notwendigkeit per-
sönlicher Entscheidung und Verpflichtung
hervorzuheben, auf Gestaltwerdung des
gemeinschaftlichen christlichen Lebens zu
drängen, für den unmittelbaren Zugang jedes
Christen zur Bibel Raum zu geben und den
missionarischen Auftrag in den Mittelpunkt
der Glaubenspraxis zu stellen. Ihre Schwä-
che liegt in ihrer oft einseitigen und zum Teil
verengenden Erfahrungsorientierung (Wie-
dergeburt als konkret datierbares Erlebnis)

                                Evangelische Orientierungshilfe / Stammteil - Ausgabe für Bayern   11
NEUE CHRISTLICHE BEWEGUNGEN

1.3 Pfingstlich-charismatische Bewegungen
 Wahrnehmungen                                            ken, die theologisch nicht selten eine Nähe
                                                          zur Pfingstbewegung aufweisen und sich als
 In charismatischen Gottesdiensten sind die
                                                          „überkonfessionell“ verstehen (u. a. Christli-
 Texte und Melodien leicht nachvollziehbar.
                                                          che Zentren in Frankfurt, München, Karlsruhe;
 Länger andauernde Zeiten des Lobpreises und
                                                          Jesus Gemeinde Dresden; Gemeinde auf dem
 eine neue Musikkultur sind charakteristisch.
                                                          Weg, Berlin; Gospel Forum, Stuttgart; ebenso
 Die Lieder werden oft stehend, mit erhobenen
                                                          Werke bzw. Gruppierungen wie Jugend mit
 Händen gesungen. Eine Band unterstützt den
                                                          einer Mission und Christen im Beruf).
 Gesang. Neben der ausführlichen Predigt sind
 auch Gebete um Heilung und das Rechnen                      Religiöse Pluralisierungsprozesse haben
 mit prophetischen Worten kennzeichnend.                  auch das Erscheinungsbild der charismati-
 Die gottesdienstliche Versammlung ist durch              schen Bewegung verändert. Freie charisma-
 Siegesgewissheit in der Auseinandersetzung               tische Zentren und neue Gemeinden stehen
 mit den Mächten des Bösen bestimmt. Im                   heute im Vordergrund: u. a. die International
 charismatischen Gottesdienst ist die Sehn-               Christian Fellowship (ICF) und die ursprüng-
 sucht wirksam, in urchristliche Verhältnisse             lich zur Pfingstbewegung (Assemblies of God)
 zurückzukehren (vgl. dazu Apg 1 und 2 und                gehörende Hillsong Church. Die zahlenmäßi-
 1. Kor 12-14).                                           ge Verbreitung pfingstlich-charismatischer
                                                          Bewegungen lässt sich nur schätzen, im
 Inhalte                                                  deutschsprachigen Bereich gehören ihnen ca.
 In nahezu allen historischen Kirchen, ebenso             250 000 Personen an. Im Vergleich mit ande-
 in allen Freikirchen, sind seit den 1960er Jah-          ren Ländern bleiben die Zahlen im kontinen-
 ren charismatische Erneuerungsgruppen ent-               talen Europa eher begrenzt, obgleich in den
 standen. Sie greifen Anliegen der klassischen            letzten Jahrzehnten mehrere Hundert neue
 Pfingstbewegung auf, die sich seit Beginn des            charismatische Zentren und Gemeinden ent-
 20. Jahrhunderts wirkungsvoll global aus-                standen sind.
 breitete. Anders als die pfingstlerischen Be-               Die zentralen Anliegen der charismatischen
 wegungen, die als „erste Welle des Heiligen              Bewegung kommen gleichermaßen in den in-
 Geistes“ bezeichnet wurde, will dieser „zweite           nerkirchlichen Gruppenbildungen wie in den
 Ansatz“ zu keinen neuen Kirchenspaltungen                konfessionsunabhängigen Gemeinden und
 führen, sondern das Leben der Kirchen von in-            Werken zum Ausdruck. Sie lauten: Anbetung,
 nen erneuern. Im deutschsprachigen Bereich               Seelsorge, Evangelisation, Heilungsdienste,
 entstanden charismatische Erneuerungs-                   das Erfasst- und Erneuertwerden des gan-
 gruppen in den evangelischen Landeskirchen               zen Menschen wie auch der Gemeinde. Dabei
 (Geistliche Gemeindeerneuerung, GGE) und                 wird eine auf den Heiligen Geist und die Cha-
 im Bereich der römisch-katholischen Kirche               rismen (v. a. Heilung, Prophetie, Zungenrede/
 (Charismatische Erneuerung in der Katholi-               Glossolalie) bezogene erfahrungsorientierte
 schen Kirche), ebenso in den Freikirchen, u. a.          Frömmigkeit akzentuiert.
 im Methodismus und Baptismus. Neben der                     Diakonische Dienste werden in enger Zuord-
 Ausbreitung charismatischer Frömmigkeit in               nung zum Evangelisationsauftrag praktiziert.
 den historischen Kirchen vollzog sie sich seit
                                                             Die Sozialformen, in denen sich die Be-
 den 1970er Jahren auch in „konfessionsun-
                                                          wegung konkretisiert, sind u. a. Haus- und
 abhängigen“ Gemeinden und Missionswer-
                                                          Gebetskreise, Glaubenskurse und Einfüh-

  12       Evangelische Orientierungshilfe / Stammteil - Ausgabe für Bayern
                                                                                    
NEUE CHRISTLICHE BEWEGUNGEN

rungsseminare, Anbetungs-, Heilungs- und            zuerkennen und zu würdigen. Zugleich sind
Segnungsgottesdienste, Kongresse. Die cha-          kritische Auseinandersetzungen nötig. Die
rismatische Bewegung zielt auf der individu-        Schattenseiten der Pfingstfrömmigkeit – u. a.
ellen Ebene auf die Erneuerung des Einzelnen        unrealistischer Heilungsoptimismus, Fixie-
durch die Bitte um das Kommen des Heiligen          rung der Geisterfahrung auf außerordentliche
Geistes mit seinen Gaben, auf der gemein-           Phänomene, Tendenz zum Dualismus – zeigen
schaftlichen Ebene vor allem auf die Erneue-        sich auch in der Glaubenspraxis der charis-
rung des Gottesdienstes, der nach dem Vorbild       matischen Bewegungen.
von 1. Kor 14,26 eine neue Gestalt finden soll.
                                                    Handlungsempfehlungen
Zentrum und Kristallisationspunkt der indivi-
duellen wie der gottesdienstlichen Erfahrung        Zwischen Erneuerungsgruppen in Kirchen und
ist das Getauft- bzw. Erfülltwerden mit dem         Freikirchen einerseits und Endzeitgemein-
Heiligen Geist mit enthusiastischen Manifes­        schaften oder Gruppen, die ein Wohlstands-
tationen. Die angestrebte Geistestaufe bzw.         und Gesundheitsevangelium verkündigen,
Geisterfüllung wird vor allem als Bevollmäch-       andererseits bestehen grundlegende Diffe-
tigung zum christlichen Zeugnis verstanden.         renzen, auch wenn es eine innere Nähe in
   In einzelnen Ausprägungen pfingstlich-           den Ausdrucksformen der Frömmigkeit geben
charismatischer Bewegungen verbindet sich           mag. Pauschale Orientierungen wird es für
der pfingstlich-charismatische Impuls mit der       den Umgang mit enthusiastisch geprägten
Kraft des Positiven Denkens (Positive Thin-         Gemeinschaftsbildungen nicht geben kön-
king). Bezeichnet werden diese Ausprägungen         nen. Die Geisterfahrung äußerte sich in der
als Wort-des-Glaubens-Bewegung. Inhaltlich          Geschichte des Christentums in verschiedener
verbreiten sie ein Wohlstands- und Gesund-          und mannigfaltiger Weise. Außergewöhnliche
heitsevangelium (Prosperity Gospel). Es ist die     Ergriffenheitserfahrungen können im christ-
Überzeugung ihrer Repräsentanten, dass Rea-         lichen Leben vorkommen, sie sind jedoch für
lität durch die Vorstellungskraft des Geistes       das christliche Leben nicht entscheidend.
geschaffen wird und sich auch entsprechend          Auseinandersetzungen mit enthusiastischen
verändern lässt. Überzogene Heilungsverspre-        Orientierungen müssen seelsorgerliche, her-
chen bauen dabei jedoch einen Erfolgsdruck          meneutische, psychologische und ethische
auf, der die Gebrochenheit christlichen Lebens      Aspekte berücksichtigen. Kritik an Fehlformen
unterschätzt.                                       pfingstlerischer Bewegungen sollte in einer
                                                    Form geschehen, die die gemeinsamen christ-
Einschätzungen                                      lichen Orientierungen nicht außer Acht lässt.
Die vielfältigen Ausdrucksformen charisma-          Weitere Informationen
tischer Frömmigkeit nötigen zu differen-
zierender Wahrnehmung und Beurteilung.              Marianne Brandl / Bernd Dürholt u. a. (Hg.):
In ihnen begegnen die vergessenen Themen            Weil wir gefragt werden, Arbeitshilfe zum
der eigenen Glaubensorientierung. Zugleich          neo-charismatischen Christentum und seinen
sind sie ein ambivalentes Phänomen: Sie             Großveranstaltungen, Bayreuth 2017.
schaffen Verbindungen und Brücken zwi-              Reinhard Hempelmann: Sehnsucht nach Ge-
schen Christ*innen verschiedener Konfessio-         wissheit – neue christliche Religiosität, in:
nen, verursachen aber auch Spannungen und           ders. u. a. (Hg.): Panorama der neuen Religio-
Spaltungen. Das christliche Zeugnis, das von        sität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Be-
charismatischer Frömmigkeit ausgeht, ist an-        ginn des 21. Jahrhunderts, Gütersloh 22005,
                                                    411-509.

                                Evangelische Orientierungshilfe / Stammteil - Ausgabe für Bayern   13
NEUE CHRISTLICHE BEWEGUNGEN

1.4 Kulturelle Zuwanderung: Gemeinden außereuropäischer Herkunft
 Wahrnehmungen                                            lektiv ausgewählt und unmittelbar und ohne
                                                          Berücksichtigung des innerbiblischen Zusam-
 Zum christlichen Leben gehören an vielen Or-
                                                          menhangs in die Gegenwart übertragen.
 ten Gemeinden, die aus der globalen Migra-
 tion entstanden sind. Einige pflegen die Tra-              Besonders (aber nicht nur) in Gemeinden
 ditionen ihrer Herkunftsländer und -kirchen              afrikanischer und russlanddeutscher Herkunft
 oder sehen sich sogar als deren Missions-                treten die (fast immer männlichen) Pastoren
 stützpunkte. Andere fühlen sich nur schwach              mit einem hohen, geistlich begründeten Au-
 mit den historischen Kirchen ihrer Konfession            toritätsanspruch auf. Viele deuten ihre Rolle
 verbunden, die kulturelle Prägung bestimmt               wie auch die Auswanderung aus dem Hei-
 ihre konfessionelle Identität wesentlich mit.            matland weniger ökonomisch oder politisch
 Eine dritte Gruppe versteht sich, oft geprägt            als religiös und sehen sich zur Mission beru-
 durch die bereits hier geborene Generation,              fen. Sie wollen die Landeskirchen, die sie oft
 ausdrücklich als international und überkon-              als säkularisiert wahrnehmen, zum wahren
 fessionell. Einen Sonderfall stellen die Farsi           Christsein bekehren.
 sprechenden Christ*innen dar: Sie haben in               Einschätzungen
 der Regel in den Landeskirchen eine Heimat
 gefunden. Schließlich gehören auch noch die              Interkulturelle Begegnungen halten uns einen
 zahlenmäßig sehr großen russlanddeutschen                Spiegel vor und fordern uns zu konstruktiven
 Aussiedlergemeinden zu diesem Themenbe-                  Verhältnisbestimmungen heraus. Die Leben-
 reich.                                                   digkeit der Gottesdienste, die gelebte Fröm-
                                                          migkeit der Mitglieder, die Einbeziehung von
   Viele der Migrationsgemeinden sind klein
                                                          Emotionen, die Fähigkeit, über den Glauben
 und werden durch gemeinsame Erfahrungen
                                                          zu sprechen, und die Herzlichkeit können
 und Lebenssituationen zusammengehalten.
                                                          ohne Zweifel zu ökumenischen Bereicherun-
 Inhalte                                                  gen der eigenen Gemeinde- und Kirchen-
                                                          praxis werden und es trotz mancher Unter-
 Christlicher Glaube ist hier nicht wie in un-
                                                          schiede erleichtern, gemeinsam christlich zu
 serer Gesellschaft nur eine private Option,
                                                          glauben und zu leben. Das Zusammenleben
 sondern zentraler Bestandteil persönlicher
                                                          mit Migrationsgemeinden nötigt aber auch
 Identität, der besonders in der Situation des
                                                          zu Klärungen.
 Exils zu einem wichtigen Identifikationsfaktor
 wird.                                                      Das missionarische Selbstbewusstsein man-
                                                          cher Migrationsgemeinden versperrt oft den
   Die Spiritualität der Gemeinden ist durch
                                                          Weg, den weltanschaulichen Pluralismus
 Bibeltreue und überwiegend pfingstlich-cha-
                                                          unserer Gesellschaft als Basis für ein fried-
 rismatische Erfahrungen geprägt, die Gottes-
                                                          liches Miteinander zu sehen und den dabei
 dienste sind emotional und stark auf Glau-
                                                          erreichten Stand des Dialogs der Religionen
 benserfahrungen bezogen. Lautes, persönli-
                                                          und Weltanschauungen zu würdigen. Vielen
 ches Gebet, Tanz, Ekstase und Heilungen bil-
                                                          Gemeinden steht auch der Lernprozess, Teil
 den wichtige Bestandteile. Die Verkündigung
                                                          des Leibes Christi zu sein, noch bevor. Die Kri-
 ist von einem starken Dualismus durchzogen,
                                                          tik an scheinbar laschen und verweltlichten
 die Gläubigen haben teil am Kampf Gottes
                                                          Landeskirchen übersieht die Errungenschaft,
 gegen das Böse. Bibeltexte werden oft se-

  14       Evangelische Orientierungshilfe / Stammteil - Ausgabe für Bayern
                                                                                     
NEUE CHRISTLICHE BEWEGUNGEN

dort Nähe und Distanz zur Gemeinde selbst           Handlungsempfehlungen
bestimmen zu können und mit Ambivalenzen
                                                    Überall dort, wo die genannten Probleme
zu leben.
                                                    angesprochen und geklärt werden können,
  Die Autorität vieler Pastoren entzieht sich       sollte einem gemeinsamen christlichen Leben
oft einer strukturellen Kontrolle, vor allem im     nichts im Wege stehen. Zentral ist sicherlich
Blick auf ihre Ausbildung und Kompetenz, auf        die Frage nach der grundsätzlichen ökumeni-
Lehre und Seelsorge. Emotionalität bis hin zu       schen Haltung. Hierbei können internationale
ekstatischen Phänomenen ist kein Ausweis            Konvente und Konferenzen hilfreich sein, bei
besonderer Frömmigkeit, sondern bedarf ei-          denen sich die unterschiedlichen Gemeinden
ner theologischen Einordnung. Damit tut sich        als Teil des Leibes Christi bekennen und zur
ein dualistisches Weltbild schwer. Zu fragen        ökumenischen Zusammenarbeit und zum Ver-
wäre hier, ob in diesen Gemeinden Menschen          meiden von Spaltungen verpflichten.
wirklich effektiv geheilt und befreit oder ob
                                                      Klare Absprachen und vor allem kontinuierli-
Heilungs- und Befreiungsprozesse gar ver-
                                                    che dialogische Nachbarschaftsarbeit können
hindert werden. Entspricht diese Form der
                                                    helfen, kulturell bedingte Missverständnisse
Befreiung, mit ihrer Zwischenwelt aus Dä-
                                                    abzubauen. Probleme wie laute Veranstaltun-
monen und Ahnen, der Rechtfertigung des
                                                    gen, das Abwerben von Kirchenmitgliedern
Sünders oder wird hier eine neue religiöse
                                                    oder ein allzu schnelles Umsetzen bei Taufan-
Leistung gefordert? Stärkt der Wunder- und
                                                    fragen aus anderen Gemeinden können und
Dämonenglaube Christ*innen im Umgang mit
                                                    sollten klar angesprochen werden.
dem Bösen oder treibt er sie in noch größere
Ängste? Wird hier dem Bösen zu viel Macht             Gelingende christlich-interkulturelle Begeg-
eingeräumt, weil Christus als Sieger über alle      nungen können unsere eigenen kulturellen
Mächte und Gewalten nicht recht deutlich            Engführungen aufdecken und zugleich Mi-
wird?                                               grationskulturen den Weg in den westlichen
                                                    Pluralismus erleichtern. Das je eigene Profil
  Diese Fragen bleiben virulent. Weil sie mit
                                                    kann gestärkt werden und es wird erkennbar,
Existenzhaltungen zusammenhängen, sind sie
                                                    dass das christliche Zeugnis facettenreich ist.
nicht einfach kognitiv zu klären, sondern be-
dürfen eines toleranten und vertrauensvollen        Weitere Informationen
kontinuierlichen Gesprächs, das die jeweils
                                                    Lothar Weiß (Hg.): Russlanddeutsche Migra-
andere Perspektive grundsätzlich würdigt.
                                                    tion und evangelische Kirchen, Bensheimer
Ein dämonistisches Wirklichkeitsverständnis         Hefte 115, Göttingen 2013.
sollte nicht einfach als vor-aufklärerische
Weltsicht geringgeschätzt werden. Bleibende,        EKD (Hg.): Gemeinsam evangelisch! Erfahrun-
auch kulturell bedingte Unterschiede müssen         gen, theologische Orientierungen, EKD-Text
                                                    119, 2014, www.ekd.de/Gemeinsam-evange-
nicht notwendig ökumenisch trennend wir-
                                                    lisch-1091.htm.
ken.
  Problematisch aus evangelischer Sicht blei-
ben aber das Versprechen von Wohlstand als
Folge und das Einhalten rigider ethischer Vor-
schriften als Kennzeichen gelebten Glaubens.

                                Evangelische Orientierungshilfe / Stammteil - Ausgabe für Bayern   15
CHRISTLICHE RELIGIONSGEMEINSCHAFTEN IM WANDEL

2.1 Einleitung
 Christliche Sondergemeinschaften, die im 19.            Auch die christlichen Kirchen sahen und se-
 und am Anfang des 20. Jahrhunderts ent-                 hen sich zu einer kritischen Verhältnisbestim-
 standen sind, haben ihr Selbstverständnis in            mung gegenüber diesen Sondergemeinschaf-
 deutlicher Abgrenzung zu anderen Kirchen                ten herausgefordert. Während es einerseits
 entwickelt. Dabei vertreten sie Glaubensauf-            heute noch Gemeinschaften gibt, die an
 fassungen und Praktiken, die von der Mehr-              einer exklusiven, antiökumenischen und ab-
 zahl der christlichen Kirchen ausdrücklich              grenzenden Haltung festhalten (z. B. Zeugen
 nicht geteilt werden. Daher ist das Verhältnis          Jehovas) und sich manche im Lauf der Zeit
 zu den Sondergemeinschaften von Konflikten              noch stärker radikalisiert haben, gibt es an-
 und Distanz geprägt. Der Blick auf die Entste-          dererseits auch Gemeinschaften, die ihre ab-
 hung von christlichen Sondergemeinschaften              lehnende Haltung gegenüber den ökumenisch
 lässt sie als „außerkirchliche religiöse Pro-           orientierten christlichen Kirchen revidiert und
 testbewegungen der Neuzeit“ (Helmut Obst)               einen Öffnungsprozess begonnen haben, um
 erscheinen. Die Abgrenzung von den großen               die gewählte „Selbstisolation“ zu überwinden.
 christlichen Kirchen wurde meist damit be-              Möglicherweise haben innerer Druck, neue
 gründet, dass diese das biblische Zeugnis               Kommunikationswege und Informationsmög-
 nicht ernst genommen, wichtige Aspekte                  lichkeiten für Mitglieder und Ehemalige bzw.
 nicht berücksichtigt und sich insgesamt zu              Aussteiger*innen diesen Prozess beschleunigt.
 sehr der Welt und dem jeweiligen Zeitgeist              Nicht zuletzt dürften die Säkularisierungspro-
 angepasst hätten.                                       zesse in der Gesellschaft ebenfalls dazu beige-
   Mit der Gründung und Ausformung von                   tragen haben, dass die Haltung der Abschot-
 Sondergemeinschaften wurde innerhalb die-               tung aufgegeben wurde.
 ser Gruppen oftmals ein absoluter Wahrheits-              Mehrere herkömmlich als christliche Son-
 und Erlösungsanspruch entwickelt. Manche                dergemeinschaften bezeichnete Gemein-
 dieser Gruppen wählen gezielt die Distanz zur           schaften haben ihre Sonderlehren und die
 Welt, fordern Gehorsam und sind maßgeblich              konfliktträchtigen Ausdrucksformen ihrer re-
 von einem Schwarz-Weiß-Denken bestimmt.                 ligiösen Praxis teils verändert und neu inter-
 Hinzu kommen die Vorstellung eines perfek-              pretiert. Dazu zählen neben den Siebenten-
 tionistischen Christseins und ausgeprägte               Tags-Adventisten und der Neuapostolischen
 endzeitliche Vorstellungen, wobei das Heil              Kirche, um die es im Folgenden geht, u. a. die
 ausschließlich der eigenen Gemeinschaft zu-             Weltweite Kirche Gottes, die Kirche des Naza-
 teilwerden soll. Das Selbstverständnis ist von          reners, die Gemeinde Gottes (Cleveland) und
 angeblich neuen Einsichten in das biblische             die Gemeinde Gottes (Anderson).
 Zeugnis oder von neuen Offenbarungen ge-                  In diesem Kapitel werden zwei Gemeinschaf-
 prägt. Die Entstehung und weitere Entwick-              ten vorgestellt, die einen längeren bzw. einen
 lung christlicher Sondergemeinschaften ist              beschleunigten Öffnungsprozess vollzogen
 maßgeblich im Gegenüber zu den christlichen             und ihren Exklusivitätsanspruch aufgegeben
 Kirchen entwickelt und formuliert worden.               haben: Die Freikirche der Siebenten-Tags-
 Die abgrenzende Haltung wurde zum ent-                  Adventisten (STA) und die Neuapostolische
 scheidenden Kennzeichen des eigenen Selbst-             Kirche (NAK) sind mittlerweile Gastmitglied
 verständnisses.                                         in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kir-

  16      Evangelische Orientierungshilfe / Stammteil - Ausgabe für Bayern
                                                                                   
CHRISTLICHE RELIGIONSGEMEINSCHAFTEN IM WANDEL

chen (ACK). Durch Begegnungen und offiziel-         trachtet. Nachdem die NAK schon zuvor auf
le Gespräche zwischen Vertreter*innen dieser        lokaler (Memmingen 2006) und regionaler
Gemeinschaften und der Kirchen kam es bei           Ebene Gastmitglied der Arbeitsgemeinschaft
den ehemaligen Sondergemeinschaften zur             Christlicher Kirchen geworden war, wurde sie
Formulierung eines neuen Selbstverständnis-         im April 2019 auch auf Bundesebene offiziell
ses, das nicht in Abgrenzung, sondern in einer      als Gastmitglied aufgenommen.
neuen Verhältnisbestimmung zu den christli-           Zwischen diesen beiden Gemeinschaften
chen Kirchen und der Suche nach einer ge-           und der evangelischen Kirche gibt es regel-
meinsamen Übereinstimmung in Fragen der             mäßige bilaterale Kontakte und Begegnun-
Lehre und Praxis formuliert wurde.                  gen, um Gemeinsamkeiten zu suchen, aber
  So haben sich die Siebenten-Tags-Adventis­        auch theologische Unterschiede zu diskutie-
ten von einer radikal antikatholischen Gruppe       ren.
zu einer Freikirche gewandelt, die seit 1993
                                                    Weitere Informationen
als Gastmitglied in der Arbeitsgemeinschaft
Christlicher Kirchen vertreten ist. Verantwort-     Matthias Pöhlmann / Christine Jahn (Hg.):
lich dafür waren vor allem Begegnungen und          Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Ge-
Gespräche von Adventisten, die als offizielle       meinschaften, Freikirchen, Gütersloh 2015,
Konzilsbeobachter des Zweiten Vatikani-             320-324.
schen Konzils (1962–1965) anwesend waren.           Ulrich H. J. Körtner: Ökumenische Kirchenkun-
Bedenken haben die STA weiterhin, weil sie          de, LETh 9, Leipzig 2019.
befürchten, dass eine „Welteinheitsökumene“         Helmut Obst: Außerkirchliche religiöse Pro-
das eigene adventistische Anliegen verwäs-          testbewegungen der Neuzeit, KEG III/4, Berlin
sern könnte. Deshalb haben sie die Charta           1990.
Oecumenica, in der im Jahre 2003 „Leitlini-
en für die wachsende Zusammenarbeit unter
den Kirchen in Europa“ verabschiedet wurden,
nicht mitunterzeichnet.
  Seit 2001 hat die Neuapostolische Kirche in
einem ökumenischen Öffnungsprozess begon-
nen, ihr Verhältnis zu den christlichen Kirchen
neu zu bestimmen. Stammapostel Richard
Fehr (Amtszeit: 1988–2005) setzte 1999 eine
Projektgruppe Ökumene ein, die später in
„Arbeitsgruppe Kontakte zu anderen Konfes-
sionen/Religionen“ umbenannt wurde. Maß-
geblich für die ökumenische Annäherung war
nicht zuletzt die Veröffentlichung des neuen
Katechismus der NAK im Jahre 2012, in dem
sie ihr Selbstverständnis neu formulierte. Sie
bekräftigt darin, dass sie sich den Glaubens-
bekenntnissen der Alten Kirche verpflichtet
fühlt und die ökumenische Zusammenarbeit
mit anderen Kirchen als wichtige Aufgabe be-

                                Evangelische Orientierungshilfe / Stammteil - Ausgabe für Bayern   17
CHRISTLICHE RELIGIONSGEMEINSCHAFTEN IM WANDEL

2.2 Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten
 Wahrnehmungen                                            stieß sie mit ihren Prophezeiungen im Kreis
                                                          der Adventisten auf große Aufmerksamkeit.
 In verschiedenen Gegenden Deutschlands
                                                          Nach einer Konferenz im Jahre 1863 wurde
 findet sich am Orteingang ein Hinweisschild,
                                                          die Gemeinschaft der STA offiziell gegründet.
 auf dem die Adventgemeinde zu ihrem Got-
                                                          Besonderen Wert legte E. G. White auf eine
 tesdienst am Samstag um 10:30 Uhr einlädt.
                                                          gesunde Lebensweise für Christen. Die Er-
 Die Mitglieder heiligen den Sabbat (Samstag).
                                                          richtung von Krankenhäusern und Sanatorien
 In ihrem Alltag legen die Siebenten-Tags-
                                                          diente ebenfalls der Gesundheitspflege. 1876
 Adventisten (STA) Wert auf eine gesunde Le-
                                                          entstand die erste deutsche STA-Gemeinde in
 bensweise und verzichten auf Alkohol, Tabak
                                                          Solingen.
 und oft auch auf fleischliche Nahrung. Die
 Freikirche der STA darf nicht mit Gruppen und               Ihre Glaubensüberzeugungen haben die
 Initiativen verwechselt werden, die im Um-               STA in 28 Glaubensartikeln zusammenge-
 feld von Kirchentagen meist antikatholische              fasst. Folgende Lehrbesonderheiten sind darin
 und stark endzeitlich ausgerichtete Schriften            zu finden:
 verteilen. In der Regel handelt es sich dabei               Die sogenannte Heiligtumslehre (Art. 24-
 um Vertreter adventistischer Splittergruppen,            28) beruht auf der Vorstellung, dass es eine
 von denen sich die Freikirche der STA deutlich           Nachbildung der alttestamentlichen Stifts-
 distanziert.                                             hütte als Heiligtum im Himmel gebe, in der
                                                          Jesus als Hohepriester seinen Opferdienst ver-
 Inhalte
                                                          richte. Mit seinem Eintritt in das Heiligtum,
 Die Gemeinschaft der STA ist in der Mitte des            der 1844 erfolgt sei, habe das Gericht vor der
 19. Jahrhunderts in den USA entstanden. Ei-              Wiederkunft Jesu begonnen. Die im Gericht
 nen prägenden Einfluss auf ihre Entstehung               ermittelten Gerechten würden dann in den
 übten die zeitgenössischen nordamerikani-                Himmel aufgenommen, die Ungerechten aber
 schen apokalyptischen Bewegungen aus. Der                sterben. Daran schließe sich eine 1000-jähri-
 baptistische Farmer William Miller (1782–                ge Zeit an, in der nur Satan und seine Engel
 1849) begann die Bibel intensiv zu studie-               auf der verwüsteten Erde hausen, während
 ren und meinte einen Schlüssel für die Be-               Christus mit seinen Heiligen im Himmel herr-
 rechnung der sichtbaren Wiederkunft Christi              sche und bis zur zweiten Auferstehung über
 gefunden zu haben, die er zwischen dem 22.               die noch Unerlösten Gericht halte. Begleitet
 März 1843 und dem 21. März 1844 erwar-                   sei das Ende des Millenniums von einer kos-
 tete. Seine Botschaft stieß auf große Reso-              mischen Entscheidungsschlacht.
 nanz. Als die von ihm errechnete Wiederkunft                Der Sabbat ist für die STA der wöchentliche
 Christi ausblieb, war die Enttäuschung sehr              „Gedenktag der Schöpfung“, der auch in den
 groß. Die Bewegung zerfiel in mehrere Grup-              Zehn Geboten verankert sei. Sie begreifen ihn
 pen. Eine zentrale Person für die Einigung der           auch als Sinnbild der Erlösung durch Chris­
 verschiedenen adventistischen Gruppen war                tus, als Zeichen der Heiligung, als Ausdruck
 Ellen Gould White (1827–1915), die sich zu-              menschlicher Treue und als Vorgeschmack
 vor der Miller-Bewegung angeschlossen hat-               ewigen Lebens im Reich Gottes.
 te. Da sie nach Auffassung von Glaubensge-
                                                             Die Endzeit ist nach Vorstellung der STA
 schwistern den „Geist der Weissagung“ besaß,
                                                          geprägt vom Glaubensabfall. Daher sei die

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CHRISTLICHE RELIGIONSGEMEINSCHAFTEN IM WANDEL

„Schar der Übrigen“ herausgerufen, um an           über 20 Millionen getaufte Mitglieder in ins-
den Geboten festzuhalten und den Glauben           gesamt 215 Ländern.
zu bewahren. Die „Übrigen“ hätten die Aufga-
                                                   Einschätzungen
be, darauf hinzuweisen, dass die Stunde des
Gerichts gekommen sei: Diese sog. Dreifache        Seit 1993 arbeitet die Freikirche der STA als
Engelsbotschaft enthält nach der Vorstellung       Gastmitglied in der Arbeitsgemeinschaft
der STA (1) den Ruf zur Umkehr und zur allei-      Christlicher Kirchen (ACK) sowie in der Ver-
nigen Anbetung des Schöpfers angesichts des        einigung Evangelischer Freikirchen (VEF) mit.
nahenden Gerichts und (2) die Aufforderung         Die Charta Oecumenica wurde von ihr nicht
zur Abwendung von „Babylon“. Babylon wird          unterzeichnet. Auf internationaler Ebene
herkömmlich als falsche Verbindung von Re-         gab es mehrere bilaterale Gespräche mit den
ligion und Staat gedeutet. Die wahren Gläu-        christlichen Kirchen. Für das Deutsche Natio-
bigen werden aus korrumpiert erscheinenden         nalkomitee des Lutherischen Weltbundes sind
religiösen Organisationen herausgerufen.           dabei noch verschiedene theologische Fragen
Schließlich wird (3) davor gewarnt, das in der     im Blick auf adventistische Sonderlehren of-
Johannesoffenbarung genannte „Tier“ anzu-          fen geblieben (Sabbat, Heiligtumslehre, End-
beten. Dies wird als Ruf zur Entscheidung für      zeiterwartung), die derzeit diskutiert werden.
oder gegen Gott verstanden.                        (Zum Öffnungsprozess der STA vgl. das vor-
   Der Gabe der Weissagung wird eine beson-        ausgehende Kap. 2.1.)
dere Bedeutung beigemessen, sie sei jedoch         Handlungsempfehlungen
an der Schrift zu messen. Taufe und Abend-
mahl gelten für die STA nicht als Sakramente,      Taufen innerhalb der STA werden aus evan-
sondern als „heilige Handlungen“. Dazu zählt       gelischer Sicht als rite vollzogen anerkannt.
ergänzend auch die Fußwaschung.                    Adventisten können gastweise zu evangeli-
                                                   schen Abendmahlsfeiern eingeladen werden.
   Die Freikirche der STA ist zentralistisch
                                                   Gegenseitige Besuche können ein besseres
organisiert. Grundlegende Entscheidungen
                                                   Verständnis auf beiden Seiten ermöglichen.
werden auf internationaler Ebene von der
Generalkonferenz-Versammlung getroffen.              Bei der Zusammenarbeit mit einem Mitglied
Mehrere Einzelgemeinden eines Landesteils          der STA oder einer Anstellung eines Mitglieds
bilden eine „Vereinigung“. Mehrere Vereini-        sollte die Auswirkung der Sabbatheiligung
gungen bilden einen „Verband“. Verbände ei-        miteinander besprochen werden.
nes Erdteils sind in weltweit 13 „Divisionen“      Weitere Informationen
zusammengeschlossen. In Deutschland gibt
es den Norddeutschen und den Süddeutschen          Christian Feichtinger: Das geheiligte Leben.
Verband. Die STA betreiben den „Adventis­          Körper und Identität bei den Siebenten-Tags-
tischen Pressedienst Deutschland“ (APD),           Adventisten, KKR 72, Göttingen 2018.
zwei Verlage und den „Hope Channel“. Hin-          Matthias Pöhlmann / Christine Jahn (Hg.):
zu kommen mehrere soziale Einrichtungen.           Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Ge-
Die Theologische Hochschule Friedensau in          meinschaften, Freikirchen, Gütersloh 2015,
Sachsen-Anhalt und das Schulzentrum Ma-            159-178.
rienhöhe in Darmstadt widmen sich den Bil-
dungsaufgaben der STA. Ende 2018 zählte die
Freikirche in Deutschland 34 792, weltweit

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CHRISTLICHE RELIGIONSGEMEINSCHAFTEN IM WANDEL

2.3 Neuapostolische Kirche
 Wahrnehmungen                                            wurde. Erst in jüngster Zeit hat sich die NAK
                                                          davon distanziert und die Offenbarungsquali-
 Die Neuapostolische Kirche (NAK) hat in den
                                                          tät dieser Botschaft bestritten.
 vergangenen Jahren einen enormen ökume-
 nischen Öffnungsprozess vollzogen. Seit April               Einen wichtigen Schritt in Richtung Ökume-
 2019 ist sie Gastmitglied in der Arbeitsge-              ne vollzog die NAK mit der Veröffentlichung
 meinschaft Christlicher Kirchen (ACK).                   ihres neuen Katechismus im Dezember 2012.
                                                          Vorangegangen waren zahlreiche mehrjährige
 Inhalte                                                  Kontaktgespräche mit kirchlichen Fachstellen.
 Die Wurzeln der NAK reichen in das England               Darin hat die NAK eine Revidierung ursprüng-
 des 19. Jahrhunderts zurück. Hier entstanden             licher Positionen vorgenommen, die dazu
 zwischen 1832 und 1835 die sog. Katholisch-              führte, dass sie ihren bisherigen Exklusivitäts-
 Apostolischen Gemeinden, die sich als das                anspruch aufgegeben hat. Sie schließt sich an
 „wieder aufgerichtete Erlösungswerk“ Jesu                die altkirchlichen Bekenntnisse an und hat
 Christi, als wahre Kirche in der Endzeit ver-            ein eigenes Glaubensbekenntnis formuliert. In
 standen. Theologische Streitigkeiten führten             zehn Artikeln wird darin die verbindliche Lehre
 1863 in Hamburg zur Abspaltung der Allge-                der NAK formuliert. (Zum Öffnungsprozess der
 meinen Christlichen Apostolischen Mission;               NAK in Richtung Ökumene vgl. auch Kap. 2.1.)
 aus deren Wurzeln ist – begleitet von wei-                  Eine Besonderheit der NAK ist das Apostel-
 teren Zerwürfnissen – die Neuapostolische                amt: Für die NAK ist die wahre Kirche an das
 Gemeinde bzw. die NAK hervorgegangen.                    Amt des Apostels gebunden, da es unmittel-
 Auch in den Folgejahren kam es immer wie-                bar von Jesus Christus eingesetzt worden sei.
 der zu Spaltungen, die zur Bildung weiterer              Aufgabe des Apostels sei es, „heilsverlangen-
 Gemeinschaften wie des Apostelamts Jesu                  den Menschen Erlösung zugänglich zu ma-
 Christi oder der Apostolischen Gemeinschaft              chen“ und „die Gläubigen auf die Wiederkunft
 führten. Die NAK ist das Ergebnis eines lang-            des Herrn vorzubereiten“ (Katechismus, 289).
 wierigen Ablösungs- und Verwerfungsprozes-               Darüber hinaus findet sich auch die Vorstel-
 ses. Pfingsten 1897 führte die Errichtung des            lung, wonach der Stammapostel „gegenwär-
 Stammapostolats zur eigentlichen Konstituie-             tige Offenbarungen“ empfangen könne, die
 rung der Gemeinschaft, die sich seit 1930 NAK            aber – so die Interpretation – auch am bibli-
 nennt. Ihre weitere Geschichte wurde stark               schen Zeugnis zu messen seien.
 von den jeweiligen Stammaposteln geprägt,                   Die NAK spendet drei Sakramente: Neben
 insbesondere von Johann Gottfried Bischoff               der Wassertaufe und dem Abendmahl kennt
 (1871–1960). Während seiner Amtszeit kam                 sie noch die sog. Versiegelung, die Spendung
 es zu einer massiven Abgrenzung von ande-                des Heiligen Geistes. Durch Wassertaufe und
 ren Kirchen und zu zahlreichen Abspaltungen.             Versiegelung vollzieht sich die Gotteskind-
 Seine unerfüllte Erwartung, wonach er der                schaft. Die NAK praktiziert als weitere Beson-
 letzte Stammapostel sei und die Wiederkunft              derheit das sog. Entschlafenenwesen. Sie geht
 des Herrn unmittelbar bevorstehe, stürzte die            von der Unsterblichkeit der Seele und einem
 NAK in eine große Krise, da die sog. „Bischoff-          nachtodlichen Jenseits aus. Hier setzt das
 Botschaft“ auch noch lange Zeit danach als               Entschlafenenwesen der NAK an: So spenden
 Offenbarung an den Stammapostel betrachtet               der Stammapostel (Kirchenoberhaupt) oder

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