ZFAZeitschrift für Allgemeinmedizin / German Journal of Family Medicine - Die Zeitschrift für Allgemeinmedizin
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ZFA 3 I 2021 97. JAHRGANG Zeitschrift für Allgemeinmedizin / German Journal of Family Medicine Optimierte ambulante Demenzversorgung DemStepCare SEITE 120 Ist ein „Thrombose-Check“ bei gesunden Erwachsenen sinnvoll? SEITE 99 Sind harte Lockdowns unwirksam? SEITE 103 Praxisbesuch während der SARS-CoV-2-Pandemie SEITE 114 This journal is regularly listed in EMBASE/Excerpta Medica, Scopus and CCMED/LIVIVO.
HERAUSGEBENDE GESELLSCHAFTEN / PUBLISHING INSTITUTIONS ZFA Organ der/des ... / Official journal of the ... Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) German College of General Practitioners and Family Physicians Gesellschaft der Hochschullehrer für Allgemeinmedizin (GHA) Society of Professors and University Lecturers of Family Medicine Niederösterreichischen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (NÖGAM) Lower Austrian Society of Family Medicine Österreichischen Instituts für Allgemeinmedizin (ÖIfAM) Austrian Institute of Family Medicine Salzburger Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (SAGAM) Salzburg Society of Family Medicine Steierischen Akademie für Allgemeinmedizin (STAFAM) Styrian College of Family Medicine Südtiroler Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SüGAM) Southern Tyrolean Society of Family Medicine Tiroler Gesellschaft für Allgemeinmedizin (TGAM) Tyrolean Society of Family Medicine Vorarlberger Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (VGAM) Vorarlberg Society of Family Medicine Titelbildhinweis: LIGHTFIELD STUDIOS/stock.adobe.com © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (3)
EDITORIAL / EDITORIAL 97 Jenseits von Richtig und Falsch liegt ein Ort; dort treffen wir uns. Rumi, persischsprachiger Dichter des Mittelalters, 1207–1273 Die toxische Wirkung dieser Pandemie macht vor der wissenschaftlichen Debat- te so wenig Halt wie vor kollegialen und sogar freundschaftlichen Beziehungen. Wenn die Lage allzu unübersichtlich und bedrängend wird, rettet manch- mal die Kunst vor der fatalen Verstrickung. Camus‘ Pest ist ja nicht gerade ein erbaulicher Lesestoff und dennoch nun tröstliche Lektüre: Irgendwann wird sie vorbei sein, die Pandemie. Was wird dann übrig sein? Mit welchen Scherben werden wir leben? Diskurs muss sein, Streit darf sein, Leidenschaftlichkeit und Emotionalität sind auch Ausdruck tiefen Engagements. Wir geben in diesem Heft der Diskussion und der Auseinandersetzung brei- ten Raum. Wir drucken alle Leserbriefe ab, die uns bis zu einer vom Druck- ablauf bestimmten Frist erreicht haben, und wir veröffentlichen einen Kom- mentar von Andreas Sönnichsen zu diesen Zuschriften sowie einen der verblie- benen Herausgeber/innen. Foto: Foto Strametz Der oben zitierte Satz von Rumi gilt mir als das Grundgesetz der Humanität. Aber auch der von ihm bestimmte Ort ist nicht unzerstörbar. Aus Auseinander- setzung wird schnell Zersetzung, und nicht alles lässt sich wiedergutmachen. Wir schließen mit diesem Heft diese teilweise sachlich und ruhig, teilweise per- sönlich und emotional geführte Diskussion um das Editorial von Andreas Sönnichsen und unsere Widerrede ab. Die Weiterführung einer sachlichen Analyse der Pandemie, ihrer Bekämp- fung und ihrer Folgen ist so möglich wie erwünscht: innerhalb der üblichen Formate der ZFA, nach Einreichung entsprechend des festgelegten Procedere. In diesem Heft finden Sie bereits eine Arbeit, die sich mit der Methodik der Stanford-Studie (Ioannidis et al.) auseinandersetzt, sowie einen am hausärzt- lichen Pandemiealltag orientierten Artikel zum Praxisbesuch unter Covid-Be- dingungen. Wir haben Ihnen aber auch noch weitere, sehr hausärztliche Inhalte abseits von COVID anzubieten. So finden Sie z.B. einen besonderen Artikel zur ambu- lanten Demenzversorgung, und eine Arbeit zu unterschiedlichen Blickwinkeln in ganz anderer Umgebung: nämlich hinsichtlich Notfallszenarien. Susanne Rabady © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (3)
98 INHALTSANGABE / TABLE OF CONTENTS EDITORIAL / EDITORIAL Susanne Rabady 97 Jenseits von Richtig und Falsch liegt ein Ort; dort treffen wir uns. EBM-SERVICE / EBM SERVICE Sarah Burgmann, Thomas Semlitsch, Andrea Siebenhofer 99 Ist ein „Thrombose-Check“ bei gesunden Erwachsenen sinnvoll? “Thrombosis Check-up”: Useful in Healthy Adults? DER BESONDERE ARTIKEL / SPECIAL ARTICLE Anna Glechner, Jan M Stratil, Manuela Bombana, Ursula Griebler, Hajo Zeeb, Gerald Gartlehner 103 COVID-19-Pandemie: Sind harte Lockdowns unwirksam? Warum die Studie von Bendavid et al. dafür kein Beweis ist COVID-19 Pandemic: Are Hard Lockdowns Ineffective? Why the Bendavid et al. Study does not Provide Sufficient Evidence for this Assumption ORIGINALARBEIT / ORIGINAL ARTICLE Sven Schwabe, Jutta Bleidorn, Carsten Bretschneider, Silke Freihoff, Andreas Günther, Martina Hasseler, Nils Schneider, Juliane Poeck 108 „… ärztlich betrachtet ist das ein Bagatellfall“ – Wahrnehmungsunterschiede zwischen Ärzt*innen und Pflegekräften auf Notfallszenarien in Pflegeeinrichtungen “… from a Physicians‘ Perspective this is Peanuts” – Different Perspectives of Physicians and Nurses on Emergency Situations in Nursing Homes Julia Nonnenmann, Bernhard Müllauer, Kai Reichert, Rainer Wöhrle, Daniela Koller, Jörg Schelling 114 Befragung von Patienten in Arztpraxen zu ihrem Praxisbesuch während der SARS-CoV-2-Pandemie Patient Survey in Medical Practices on their Visit during the SARS-CoV-2 Pandemic DER BESONDERE ARTIKEL / SPECIAL ARTICLE Katharina Geschke, Julian Wangler, Alexandra Wuttke-Linnemann, Michael Jansky, Andreas Fellgiebel 120 Unterstützung für Hausärzte und Betroffene – Optimierte ambulante Demenzversorgung im Rheinland-Pfälzischen Innovationsfonds-Projekt DemStepCare Support for Family Physicians and Patients – Optimized Outpatient Dementia Care in the Rhineland-Palatinate Innovation Fund Project DemStepCare NACHRUF / OBITUARY Manfred Lohnstein, Ralf Ostermaier 125 Bernard Lown 7.6.1921 (Utena, Litauen) – 16.2.2021 (Chestnut Hill, USA) 126 BUCHBESPRECHUNG / BOOK REVIEW 127 LESERBRIEFE / LETTERS TO THE EDITOR 138 NACHRICHTEN AUS DER DEGAM UND IHRER STIFTUNG / NEWS FROM DEGAM AND ITS FOUNDATION 141 GHA-NACHRICHTEN / GHA NEWS 144 IMPRESSUM / IMPRINT © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (3)
EBM-SERVICE / EBM SERVICE 99 Ist ein „Thrombose-Check“ bei gesunden Erwachsenen sinnvoll? “Thrombosis Check-up”: Useful in Healthy Adults? Sarah Burgmann1, Thomas Semlitsch1, Andrea Siebenhofer1,2 EbM Frage Question Unter dem Begriff „Thrombose-Check“ ist ein Bluttest zu ver- The term “thrombosis check“ refers to a blood test that is in- stehen, der eine angeborene Störung der Blutgerinnung tended to determine a congenital disorder of blood coagu- (Thrombophilie) bestimmen soll. Angeborene Thrombophi- lation (thrombophilia). Congenital thrombophilia and the as- lien treten in der Allgemeinbevölkerung ebenso wie die damit sociated thromboembolic events are rare in the general popu- zusammenhängenden thromboembolischen Ereignisse nur lation. The question therefore arises whether screening for selten auf. Es stellt sich daher die Frage, ob ein Screening auf thrombophilia (thrombosis check-up) in healthy persons with- Thrombophilie (Thrombose-Check) bei gesunden Personen out a known genetic disposition is useful and whether the initi- ohne bekannte genetische Disposition sinnvoll ist und das Ein- ation of prophylactic measures can be recommended if throm- leiten von prophylaktischen Maßnahmen bei festgestellter bophilia is detected. Thrombophilie empfohlen werden kann. Answer Antwort The current guidelines do not recommend screening for Die aktuellen Leitlinien empfehlen bei gesunden Personen thrombophilia in healthy individuals. This also applies to per- kein Screening auf Thrombophilie. Dies gilt auch für Personen sons prior to risk situations such as a planned major surgical vor Risikosituationen wie einem geplanten großen chirurgi- operation as well as the prescription of oral contraceptives, schen Eingriff oder der Verschreibung oraler Kontrazeptiva, hormone replacement therapy or pregnancy. The occurrence einer Hormonersatztherapie oder einer Schwangerschaft. Der of a thromboembolic event in the family history of first-degree Auftritt eines thromboembolischen Ereignisses in der Familien- relatives increases the risk of thrombosis regardless of the pres- anamnese bei Verwandten ersten Grades erhöht unabhängig ence of thrombophilia and implies prophylaxis in risk situ- vom Vorliegen einer Thrombophilie das Risiko einer Thrombose ations such as surgery. Prophylactic measures for persons with und impliziert eine Prophylaxe in Risikosituationen wie einer known asymptomatic thrombophilia are generally not recom- Operation. Zu prophylaktischen Maßnahmen bei Personen mended. Recommendations exist only for special groups of mit bekannter asymptomatischer Thrombophilie werden im persons or persons in high-risk situations. Even immobility and Allgemeinen keine Empfehlungen gegeben – sie bestehen long-distance flights are no reason to take prophylactic lediglich für spezielle Personengruppen bzw. Personen in measures without acute illness. Hochrisikosituationen. Auch Immobilität sowie Langstrecken- flüge sind ohne akute Erkrankung kein Grund für die Anwen- dung prophylaktischer Maßnahmen. Hintergrund worben werden (z.B. Gendefekte, des Faktor-V-Gens, APC-Resistenz, Das Gleichgewicht zwischen pro- und Schwangerschaft, Einnahme oraler Prothrombin-G20210-Mutation, Anti- antikoagulatorischen Einflüssen bei Kontrazeptiva, Adipositas) oder von thrombin-III-Mangel, Protein-C-Man- der Gerinnung kann durch geneti- außen einwirken (z.B. Operation, Im- gel, Protein-S-Mangel [1, 4–6]. sche Abweichungen so gestört wer- mobilisation) [2]. Die angeborene Unter dem Begriff Thrombose- den, dass daraus eine Thrombosenei- Thrombophilie schließt genetische Check ist ein Bluttest zu verstehen, gung resultiert. Die klinische Beurtei- Mutationen ein, welche die Menge der ausschließlich eine angeborene lung einer solchen Thrombophilie be- oder Aktivität von gerinnungshem- Thrombophilie bestimmen soll, nicht ruht auf Anamnese (insbesondere menden Stoffen des menschlichen jedoch die Früherkennung einer be- auch der Familie), klinischer Untersu- Körpers beeinflussen [3] und zu einer stehenden symptomlosen Thrombo- chung und Labordiagnostik [1]. An überschießenden Gerinnung des Blu- se oder einer Lungenembolie bzw. der Entstehung einer Thrombose sind tes führen können [4]. Zu den ange- erster Anzeichen dafür [7]. Ein Scree- zahlreiche (Risiko-)Faktoren beteiligt, borenen Thrombophilien zählen Fak- ning auf Thrombophilie erscheint die erblich sind, im Lebensverlauf er- tor-V-Leiden-Mutation bzw. Mutation nur dann sinnvoll, wenn davon Maß- 1Institut für Allgemeinmedizin und evidenzbasierter Versorgungsforschung, Medizinische Universität Graz, Österreich 2Institut für Allgemeinmedizin, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Deutschland DOI 10.3238/zfa.2021.0099–0102 © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (3)
100 EBM-SERVICE / EBM SERVICE nahmen für einen besseren Umgang solute Risiko für eine Thromboembo- einer aufgetretenen tiefen Beinvenen- mit dem vorliegenden Risiko bzw. lie generell als gering einzuschätzen thrombose oder Lungenembolie er- präventive Maßnahmen abgeleitet ist und sich daraus keine Indikation wogen, die eine bereits begonnene werden können [3]. Zu prophylakti- für eine prophylaktische Maßnahme Antikoagulation vorzeitig beenden schen Maßnahmen für Thrombophi- ergibt. Die Leitlinie bezieht sich prin- wollen. Dabei sollte daran gedacht lie zählen allgemeine (Basis-)Maß- zipiell auf Personen, die eine Venen- werden, dass eine solche Medikation nahmen (z.B. Frühmobilisation, thrombose oder Lungenembolie erlit- die Testergebnisse beeinflussen kann Bewegungsübungen), mechanische/ ten haben. Die Thrombophiliediag- (ggf. sollte ein Gerinnungsspezialist physikalische Maßnahmen (z.B. me- nostik wird bei Patientinnen/Patien- konsultiert werden). dizinische Thromboseprophylaxe- ten mit akuter venöser Thromboem- Bezüglich der Aussage zu einer Strümpfe, intermittierende pneuma- bolie nicht empfohlen, da die geneti- Prävention eines Rezidivs konnte kei- tische Kompression) und medika- sche Disposition keinen Einfluss auf ne Evidenz gefunden werden. Die mentöse Maßnahmen (z.B. prophy- die Akuttherapie hat [11–16]. Sie NICE-Leitlinie empfiehlt auch für laktisch oder therapeutisch gegebe- kann lediglich bei Personen mit be- Frauen, welche die Einnahme einer nes Heparin) [2]. troffenen Verwandten ersten Grades kombinierten oralen Kontrazeption Es stellt sich daher die Frage, ob für die Einschätzung des Rezidivrisi- („Pille“) oder einer Hormonersatzthe- ein Screening auf Thrombophilie bei kos sowie der Verlängerung der Anti- rapie in Erwägung ziehen, kein routi- gesunden Personen ohne bekannte koagulationsdauer hilfreich sein [17, nemäßiges Screening auf Thrombo- genetische Disposition sinnvoll ist 18]. philie. Bei Verwandten ersten Grades und das Einleiten von prophylakti- von Personen mit vorangegangener schen Maßnahmen zur Verhinderung Arbeitsgemeinschaft der Wissen- Thrombose ist das Thromboserisiko eines thromboembolischen Ereignis- schaftlichen Medizinischen in jedem Fall erhöht. Somit ist das ses bei festgestellter Thrombophilie Fachgesellschaften e.V. Screening auf Thermophilie irrele- empfohlen werden kann. „Prophylaxe der venösen vant. Zur Beantwortung dieser beiden Thromboembolie (VTE)“ 2015 Fragestellungen führten wir eine Die Leitlinie zur „Prophylaxe der ve- Scottish Intercollegiate Guidelines fokussierte Literaturrecherche in aus- nösen Thromboembolie (VTE)“ [7] Network (SIGN) „Antithrombotics: gewählten Leitliniendatenbanken bezieht sich auf Patientinnen/Patien- indications and management” 2013 durch. Ferner wurden die Webseiten ten, die aufgrund einer Erkrankung Die Leitlinie zu Indikationen und der U.S. Preventive Task Force und der oder einer Intervention ein Risiko für dem Management von Antikoagulan- Choosing-Wisely-Initiative nach the- eine venöse Thromboembolie aufwei- zien beschreibt die Studienlage zu menrelevanten Beiträgen durchsucht sen. Bezüglich des Screenings auf blutgerinnungshemmender Therapie und eine ergänzende Handsuche thrombophile Hämostasedefekte ver- bei Frauen mit wiederholten Aborten. durchgeführt. weist diese Leitlinie auf die systemati- Eine Prophylaxe mit Antikoagulan- sche Übersichtsarbeit von Wu et al. zien wird auf Basis der Studienlage Ergebnisse [19] (vgl. „Systematische Übersichts- sowohl bei Freuen mit als auch ohne arbeiten“ unten). nachgewiesener Thrombophilie nicht Leitlinien empfohlen [10]. Es konnten sechs relevante Leitlinien National Institute for Health and zur Fragestellung identifiziert werden care Excellence (NICE) CG144 „Ve- SIGN „Prevention and management [2, 5, 7–10], wobei ein Dokument das nous thromboembolic diseases: di- of venous thromboembolism” 2014 Update zu einer gefundenen Leitlinie agnosis, management and throm- Die Leitlinie zu „Prevention and ma- darstellt [9]. Die eingeschlossenen bophilia testing“ 2020 nagement of venous thromboembolism” Leitlinien behandeln die Themen Die Leitlinie des NICE rät vom routi- bezieht sich in den Fragestellungen Prävention bzw. Prophylaxe, Diag- nemäßigen Screening auf Thrombo- vorrangig auf Frauen in der Schwan- nostik, Therapie und das Manage- philie bei Personen, die Verwandte gerschaft, nach Geburt sowie unter ment venöser Thromboembolien so- ersten Grades mit einer vorangegan- oraler Einnahme von Östrogenen [2]. wie den Einsatz von Antikoagulan- genen tiefen Beinvenenthrombose Ein Routinescreening auf Throm- zien. oder einer Lungenembolie und einer bophilie wird grundsätzlich nicht Thrombophilie haben, ab [9]. Der empfohlen. Auch nicht für Personen Deutsche Gesellschaft für Auftritt eines thromboembolischen vor Risikosituationen wie der Ver- Angiologie – Gesellschaft für Events in der Familienanamnese er- schreibung oraler Kontrazeptiva, ei- Gefäßmedizin “Diagnostik und höht unabhängig vom Vorliegen ei- ner Hormonersatztherapie, einem Therapie der Venenthrombose ner Thrombophilie das Risiko einer geplanten großen chirurgischen Ein- und der Lungenembolie“ 2015 tiefen Beinvenenthrombose und im- griff und einer zentralen Venen- Die Leitlinie zur „Diagnostik und pliziert eine Prophylaxe in Risikosi- katheterisierung. Eine Ausnahme Therapie der Venenthrombose und tuationen wie einer Operation. Eine stellen schwangere Frauen dar. Ein der Lungenembolie“ [6] rät von ei- Testung auf Antiphospholipid-Anti- erhöhtes Risiko besteht bei den Frau- nem Screening auf Thrombophilie körper wird für Patient*innen (bzw. en, die Verwandte ersten Grades ha- bei gesunden Personen ab, da das ab- den Verwandten ersten Grades) mit ben, die bereits ein thromboembo- © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (3)
EBM-SERVICE / EBM SERVICE 101 lisches Ereignis mit und ohne Asso- Auch für eine Prophylaxe bei präparats (z.B. zur Kontrazeption), ziation zu Schwangerschaft, oraler Langstreckenflügen liegen keine während einer Schwangerschaft so- hormoneller Kontrazeption oder hochwertigen wissenschaftlichen Be- wie einer großen orthopädischen Hormonersatztherapie erlitten ha- lege vor. Reisende sollten ermuntert Operation ein Thrombophilie-Scree- ben. Hier könnte die Testung auf ei- werden, vor, während und nach der ning nicht empfohlen, da keine ent- ne angeborene Thrombophilie hilf- Reise aufmerksam und mobil zu sprechende Evidenz besteht. Auf Ba- reich für die Risikobestimmung sein. sein. Beinübungen während des sis der Krankengeschichte kann ein Die Evidenzlage ist jedoch unsicher, Fluges können empfohlen werden. Screening durchgeführt werden [19]. da die Ergebnisse zwischen den un- Thromboseprophylaxe-Strümpfe ge- Die Wahl (Art und Umfang) der Pro- terschiedlichen Defekten und Studi- hören jedoch nicht zu den routine- phylaxeform soll individuell und risi- en variieren. Zudem hätte die Be- mäßigen prophylaktischen Maßnah- koadaptiert erfolgen sowie Kontra- stimmung keinen Einfluss auf die men. Bei Personen mit hohem Risiko indikationen miteinbeziehen. Die Ri- initiale Behandlung eines thrombo- sikoeinschätzung auf Basis von expo- embolischen Ereignisses. nentiellen und dispositionellen Risi- Allgemein zu prophylaktischen kofaktoren soll in drei Gruppen pas- Maßnahmen für Personen mit be- sieren – niedriges, mittleres und ho- kannter asymptomatischer Thrombo- hes Thromboembolierisiko. Bei Per- philie werden keine Empfehlungen sonen mit niedrigem Risiko wird die gegeben. Die Leitlinie nimmt Bezug Durchführung von Basismaßnahmen auf spezielle Personengruppen bzw. empfohlen, physikalische Maßnah- Personen in Hochrisikosituationen. men können ergänzt werden. Die Bei Frauen ohne vorangegange- Einteilung ist individuell zu beurtei- nem thromboembolischem Ereignis len. Die Erhöhung des Risikos ergibt in der Schwangerschaft sind keine sich auch durch die Kombination Sarah Burgmann, BSc MA ... pharmakologischen Maßnahmen er- von Risikofaktoren. Da das absolute ... ist Biomedizinische Analytikerin, forderlich. Ausnahmen bilden Frauen Risiko eines thromboembolischen hat den Master „Management im mit mehreren thrombophilen Defek- Gesundheitswesen“ absolviert und Events bei gesunden Personen als ten, wovon einer ein homozygotes befindet sich im Doktoratsstudium auch bei Personen mit diagnostizier- Faktor-V-Leiden ist, mit einem Anti- der Medizinischen Wissenschaft an ter Thrombophilie als gering ein- thrombinmangel oder einer angebo- der Medizinischen Universität Graz. zuschätzen ist und eine generelle Von 2017 bis 2020 war sie als wis- renen Thrombophilie in Verbindung Prophylaxe für venöse thromboem- senschaftliche Mitarbeiterin am In- mit venösen Venenthrombosen bei stitut für Allgemeinmedizin und evi- bolische Ereignisse für Patientinnen/ Familienmitgliedern ersten Grades, denzbasierte Versorgungsforschung Patienten mit niedrigem Risiko in der vor allem in der Schwangerschaft. an der Medizinischen Universität Leitlinie nicht empfohlen wird, ist Frauen mit erhöhtem Risiko auf- Graz tätig. Seit Juli 2020 arbeitet sie anzunehmen, dass Patientinnen/Pa- in der Gesundheit Österreich GmbH. grund der angeführten Faktoren wäh- tienten mit diagnostizierter Throm- Ihre Schwerpunkte liegen in den Be- rend der Schwangerschaft und dem reichen Primary Health Care, Versor- bophilie ein niedriges Risiko aufwie- Wochenbett sollten Antikoagulan- gungsforschung und Health Policy. sen und somit keine prophylakti- zien zur Prophylaxe angeboten wer- Foto: Martin Wiesner schen Maßnahmen für diese emp- den. Der Einsatz von Thrombosepro- fohlen werden. Auch Immobilität so- phylaxe-Strümpfen wird bei Immobi- wie Langstreckenflüge sind ohne lisation z.B. aufgrund eines Kranken- akute Erkrankung kein Grund für die hausaufenthaltes empfohlen. für eine reiseassoziierte Venenthrom- Anwendung prophylaktischer Maß- In die Entscheidungsfindung für bose kann eine Prophylaxe mit Anti- nahmen. oder gegen eine Thromboseprophyla- koagulanzien in Erwägung gezogen xe sowie die Dauer der Anwendung werden. In jedem Fall sollen das Risi- Fazit nach der Geburt bei Frauen mit be- ko sowie Interventionen und deren Auf Grundlage der vorliegenden Evi- kannter Thrombophilie soll ein Risi- mögliche Vorteile individuell zwi- denz kann ein routinemäßiges Scree- koassessment durchgeführt werden, schen Ärztin/Arzt und Patientin/Pa- ning auf Thrombophilie bei gesun- in das die Familienanamnese sowie tient diskutiert werden. den Erwachsenen in der Allgemein- die persönliche Präferenz miteinbezo- bevölkerung nicht empfohlen wer- gen werden. Liegen mehrere Risiko- Systematische den. Das gilt auch für Personen vor faktoren vor, wird eine pharmakolo- Übersichtsarbeiten Risikosituationen wie einem geplan- gische Therapie mit niedermolekula- Aus zwei eingeschlossenen Leitlinien ten großen chirurgischen Eingriff so- rem Heparin für eine Woche nach der [7, 9] konnte eine systematische wie der Verschreibung oraler Kontra- Geburt empfohlen. Bestehen drei Übersichtsarbeit [20] identifiziert zeptiva, einer Hormonersatztherapie oder mehr Risikofaktoren, wird zu- werden, die ein Thrombophilie- oder einer Schwangerschaft. Der Auf- sätzlich zu Thromboseprophylaxe- Screening in Risikosituationen unter- tritt eines thromboembolischen Strümpfen geraten. Dafür liegt jedoch suchte. Dabei wird für Frauen vor Events in der Familienanamnese bei keine höherwertige Evidenz vor. Verschreibung eines oralen Östrogen- Verwandten ersten Grades erhöht un- © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (3)
102 EBM-SERVICE / EBM SERVICE abhängig vom Vorliegen einer 7. Arbeitsgemeinschaft der Wissen- 14. Kearon C. Influence of hereditary or Thrombophilie das Risiko einer schaftlichen Medizinischen Fachge- acquired thrombophilias on the treat- Thrombose und impliziert eine Pro- sellschaften (AWMF)-Ständige Kom- ment of venous thromboembolism. mission Leitlinien. S3-Leitlinie Pro- Curr Opin Hematol 2012; 19 :363–70 phylaxe in Risikosituationen wie ei- phylaxe der venösen Thromboembo- 15. Cohn D, Vansenne F, de Borgie C, et ner Operation. Der Einsatz von pro- lie (VTE). www.awmf.org/uploads/ al. Thrombophilia testing for preven- phylaktischen Maßnahmen wird ge- tx_szleitlinien/003-001l_S3_VTE-Pro- tion of recurrent venous thromboem- mäß aktueller Leitlinien nur bei Per- phylaxe_2015-12.pdf bolism. Cochrane Database Syst Rev sonen mit hohem Risiko für eine 8. National Institute for Health and Care 2009; (1): Cd007069 Thromboembolie empfohlen. Excellence (NICE). Venous thrombo- 16. Middeldorp S. Evidence-based ap- embolic diseases: diagnosis, manage- proach to thrombophilia testing. J Literatur ment and thrombophilia testing. Thromb Thrombolysis 2011; 31: 1. Colucci G, Tsakiris DA. Thrombophi- March 2020. www.nice.org.uk/gui 275–81 lie. Die Durchführung einer Throm- dance/cg144/resources/venous- 17. Lijfering WM, Brouwer JL, Veeger NJ, bophilie-Abklärung in der Arztpraxis thromboembolic-diseases-diagnosis- et al. Selective testing for thrombo- ist häufig eine Quelle von Unsicher- management-and-thrombophilia-tes- philia in patients with first venous heit und Bedenken. Swiss Med Fo- ting-pdf-35109570835141 thrombosis: results from a retro- rum 2020; 20: 73–78 9. National Institute for Health and Cli- spective family cohort study on abso- 2. Scottish Intercollegiate Guidelines nical Excellence (NICE). Venous lute thrombotic risk for currently Network (SIGN). Prevention and ma- thromboembolic diseases: the ma- known thrombophilic defects in nagement of venous thromboembo- nagement of venous thromboembo- 2479 relatives. Blood 2009; 113: lism. 2014. www.sign.ac.uk/assets/ lic diseases and the role of thrombo- 5314–22 sign122.pdf philia testing. 26 March 2020. www. 18. Graham N, Rashiq H, Hunt BJ. Tes- 3. Stevens SM, Woller SC, Bauer KA, et nice.org.uk/guidance/ng158 ting for thrombophilia: clinical up- al. Guidance for the evaluation and 10. Scottish Intercollegiate Guidelines date. Br J Gen Pract 2014; 64: treatment of hereditary and acquired e120-e2 Network (SIGN). Antithrombotics: in- thrombophilia. J Thromb Thromboly- dications and management. 2013. 19. Wu O, Robertson L, Twaddle S, et al. sis 2016; 41: 154–64 www.sign.ac.uk/assets/sign129.pdf Screening for thrombophilia in high- 4. Linnemann B, Hart C. Laboratory di- risk situations: systematic review and 11. Dalen JE. Should patients with ve- agnostics in thrombophilia. Hamosta- cost-effectiveness analysis. The seologie 2019; 39: 49–61 nous thromboembolism be screened for thrombophilia? Am J Med 2008; Thrombosis: Risk and Economic As- 5. Arbeitsgemeinschaft der Wissen- sessment of Thrombophilia Screening 121: 458–63 schaftlichen Medizinischen Fachge- (TREATS) study. Health Technol As- sellschaften (AWMF)-Ständige Kom- 12. Simpson EL, Stevenson MD, Rawdin sess 2006; 10: 1–110 mission Leitlinien. Diagnostik und A, et al. Thrombophilia testing in Therapie der Venenthrombose und people with venous thromboembo- der Lungenembolie. 05.01.2016. lism: systematic review and cost-ef- Korrespondenzadresse www.awmf.org/uploads/tx_szleitlini fectiveness analysis. Health Technol Institut für Allgemeinmedizin und en/065-002l_S2k_VTE_2016-01.pdf Assessm 2009; 13: iii, ix–x, 1–91 evidenzbasierte Versorgungsforschung 6. Velasco-Garrido M, Erler A, Beyer M, 13. Kyrle PA. Venous thrombosis: who Medizinische Universität Graz et al. IGeL kritisch betrachtet: Throm- should be screened for thrombophilia Auenbruggerplatz 2/9 bose-Check. Z Allg Med 2008; 84: in 2014? Pol Arch Med Wewn 2014; 8036 Graz, Österreich 317–20 124: 65–9 iamev@medunigraz.at DEGAM im Netz www.degam.de www.degam-leitlinien.de www.degam-patienteninfo.de www.tag-der-allgemeinmedizin.de www.degam-kongress.de www.online-zfa.de www.degam-famulaturboerse.de © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (3)
DER BESONDERE ARTIKEL / SPECIAL ARTICLE 103 COVID-19-Pandemie: Sind harte Lockdowns unwirksam? Warum die Studie von Bendavid et al. dafür kein Beweis ist COVID-19 Pandemic: Are Hard Lockdowns Ineffective? Why the Bendavid et al. Study does not Provide Sufficient Evidence for this Assumption Anna Glechner1, Jan M. Stratil2, Manuela Bombana3, Ursula Griebler1, Hajo Zeeb4,5, Gerald Gartlehner1,6 Hintergrund Background Während der Corona-Pandemie führten viele Länder Ein- During the Corona pandemic, many countries implemented schränkungen des täglichen Lebens ein, um die Ausbreitung restrictions on daily life to contain the spread of severe acute von SARS-CoV-2 (severe acute respiratory syndrome corona- respiratory syndrome coronavirus type 2 (SARS-CoV-2). These virus type 2) einzuschränken. Diese Maßnahmen waren je measures varied by country, depending on the region and the nach Region und Ausmaß des Infektionsgeschehens unter- rate of infections. A group of Stanford University researchers schiedlich. Eine Gruppe von Wissenschaftlern der Stanford led by Prof. John Ioannidis concluded, based on an analysis of University unter der Leitung von Prof. John Ioannidis kam auf- existing data from 10 countries, that a hard lockdown, com- grund einer Analyse von vorhandenen Daten aus zehn Län- pared with less restrictive measures, did not offer significant dern zu dem Schluss, dass ein harter Lockdown gegenüber benefits in reducing infection rates. The publication of the weniger restriktiven Einschränkungen keine signifikanten Vor- study (Bendavid et al.) is being used in social media as evi- teile bietet, um Infektionszahlen zu senken. Die Publikation dence that lockdowns have no significant benefit in containing der Studie (Bendavid et al.) wird in sozialen Medien als Beleg the spread of SARS-CoV-2. dafür verwendet, dass ein Lockdown keinen wesentlichen Methods Nutzen bei der Bekämpfung des Infektionsgeschehens bringt. Six researchers independently assessed the methodological Methoden quality of the study. The internationally accepted assessment Sechs Wissenschaftler*innen beurteilten unabhängig voneinan- tool ROBINS-I (Risk Of Bias in Non-randomized Studies of In- der die methodische Qualität der Studie. Dafür wurde das inter- terventions) was applied, which is divided into seven domains. national anerkannte Bewertungsinstument ROBINS-I (Risk Of Conflicts in the evaluation were resolved by consensus. Risk of Bias in Non-randomized Studies of Interventions) angewendet, bias in results was graded as low, moderate, or high using an das sich in sieben Domänen gliedert. Konflikte bei der Bewer- adapted three-tiered scheme. tung wurden durch Konsens gelöst. Das Risiko für Verzerrungen Results der Resultate wurde anhand eines adaptierten dreistufigen The study by Bendavid et al. has serious methodological flaws. Schemas als niedrig, moderat oder hoch eingestuft. The study was rated as having high risk of bias in four of seven Ergebnisse domains. One of the most serious shortcomings related to Die Studie von Bendavid et al. weist schwerwiegende metho- confounding factors: the countries that were compared ap- dische Mängel auf. Die Studie wurde in vier von sieben Domä- plied measures at different intensities, and the effectiveness of nen mit einem hohen Verzerrungspotenzial bewertet. Einer those measures varied depending on the baseline situation. der schwerwiegendsten Mängel betraf Störfaktoren, da die Crucial information on the criteria used to select the countries Länder, die verglichen wurden, Maßnahmen in unterschiedli- included in the study, as well as a clear definition of the inter- cher Intensität anwendeten und diese je nach Ausgangssitua- ventions, were missing. tion unterschiedlich wirksam waren. Wesentliche Informatio- Conclusions nen über die Kriterien für die Auswahl der Länder sowie eine The results of the study have a high potential for bias and klare Definition der Interventionen fehlten. should not be used as a basis for decision-making. Schlussfolgerungen Keywords Die Ergebnisse der Studie haben ein hohes Verzerrungspotenzial lockdown; SARS-CoV-2; interventions; methodology critique und sollten nicht als Grundlage für Entscheidungen dienen. Schlüsselwörter Lockdown; SARS-CoV-2; Maßnahmen; Methodenkritik 1 Department für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation, Cochrane Österreich, Donau-Universität, Krems/Österreich; 2 Institut für Medizinische Informations- verarbeitung, Biometrie und Epidemiologie, LMU, München; 3 Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Universitätsklinikum, Heidelberg 4 Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie, Bremen; 5 Health Sciences Bremen, Universität Bremen 6 Research Triangle Institute (RTI) International, North Carolina, USA DOI 10.3238/zfa.2021.0103–0107 © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (3)
Glechner et al.: COVID-19-Pandemie: Sind harte Lockdowns unwirksam? 104 COVID-19 Pandemic: Are Hard Lockdowns Ineffective? Hintergrund Studie als Länder mit „weniger stren- Deutschland auf die Zahl der Neuin- Seit Januar 2020 wurden weltweit in gen Maßnahmen“ eingestuft. Zusätz- fektionen?) und (ii) der Methode, die vielen Ländern Lockdown-Maßnah- lich wurden acht Länder ausgewählt, genutzt wurde, um den „Mehreffekt“ men, also temporäre staatlich ver- die zu Beginn der Pandemie 2020 von Lockdowns zu ermitteln. ordnete Einschränkungen des öf- Lockdowns verhängten: Deutsch- Im Anschluss präsentieren wir ei- fentlichen Lebens, eingeführt, um land, England, Frankreich, Italien, ne formale kritische Evaluierung der die Ausbreitung von SARS-CoV-2 Iran, Niederlande, Spanien, und die Methoden der Studie von Bendavid einzudämmen [1]. Diese Maßnah- USA. Die Autoren berechneten, wie und Kollegen „Assessing mandatory men umfassen zum Beispiel das gut Lockdowns in diesen acht Län- stay-at-home and business closure Schließen von Schulen, Geschäften, dern wirkten, um den Anstieg der effects on the spread of COVID-19“ [2]. Restaurants oder Kulturbetrieben, SARS-CoV-2-Fälle einzudämmen. Da- die Absage von Massenveranstaltun- von abgezogen wurde der Effekt, der Methoden gen oder Ausgangsbeschränkungen. in Schweden und Südkorea beobach- Die Qualität von kontrollierten Stu- Die Intensität der einzelnen Maß- tet wurde. Mit dieser Subtraktion be- dien wird in erster Linie von Design, nahmen variierte von Land zu Land rechneten die Autoren, ob Lock- Durchführung und Analyse be- und verändert sich laufend, basie- downs mehr oder weniger effektiv stimmt [7]. Gerade die Validität der rend auf wissenschaftlichen Modell- waren als weniger restriktive Maß- Ergebnisse von nicht-randomisierten rechnungen und politischen Ent- nahmen. Studien kann durch nicht sorgfältige scheidungen. Lockdown-Maßnah- Auf Basis ihrer Ergebnisse schlos- methodische Planung und Durch- men werden in der Regel dann ein- sen die Autoren, dass Lockdowns im führung stark eingeschränkt sein – gesetzt, wenn nicht-pharmakologi- Vergleich zu weniger restriktiven man spricht vom Verzerrungsrisiko. sche Interventionen, wie zum Bei- nicht-pharmakologischen Maßnah- Unter Verzerrungen versteht man spiel Teststrategien, Tragen eines men keinen wesentlichen Zusatz- systematische Fehler beim Design, Mund-Nasenschutzes, Abstands- effekt erzielen. In Schweden und Süd- der Durchführung und der Analyse regeln, Hygienemaßnahmen oder korea, die in dieser Studie als Länder von Studien, welche die Ergebnisse Reisebeschränkungen, nicht ausrei- mit weniger einschränkenden Maß- der Studie verzerren [8]. Diese Ver- chend wirksam sind, um die Zahl nahmen definiert wurden, gab es zu zerrungen können sowohl zu einer der Neuinfektionen zu senken. Beginn der Pandemie ebenfalls Inter- Unterschätzung als auch einer Über- Eine Gruppe von Wissenschaft- ventionen, um das Infektionsgesche- schätzung des tatsächlichen Effektes lern der Stanford University, USA, hen einzudämmen, wie z.B. Empfeh- führen. Ein international anerkann- unter der Leitung von Prof. John lungen für einen Mund-Nasenschutz tes Instrument zur Bewertung des Ioannidis widmete sich der Frage, (in Südkorea für manche Bereiche Verzerrungsrisikos von nicht-rando- ob die SARS-CoV-2-Pandemie auch verpflichtend), Home-Office, Schul- misierten Studien ist ROBINS-I (Risk durch weniger restriktive Maßnah- schließungen, Verbot von öffent- Of Bias In Non-randomized Studies of men als Lockdowns eingedämmt lichen Versammlungen, Einschrän- Interventions) [9]. Es bewertet sieben werden könnte. Die Ergebnisse der kung von Inlands- und internationa- Domänen, die bei nicht-randomi- Studie wurden im Januar 2021 im lem Reiseverkehr, Teststrategien und sierten Studien zu einer Verzerrung European Journal of Clinical Investiga- eine konsequente Kontaktnachverfol- der Studienergebnisse führen können: tion von Bendavid et al. publiziert. gung. 1. Sind potenzielle Störfaktoren, die [2] Die Studie fand in den sozialen einen Einfluss auf den Endpunkt Die Autoren verwendeten für die Medien enorme Beachtung und wird haben, gleichmäßig zwischen bei- Studie Daten des ersten Lockdowns immer wieder als Beleg dafür zitiert, den Gruppen verteilt? zu Beginn der Pandemie 2020. Sie dass weniger restriktive Maßnahmen 2. Wie wurde die Auswahl der Teil- versuchten zu ermitteln, wie sich be- auch ausgereicht hätten, um die Ver- nehmer*innen (in der vorliegen- stimmte Maßnahmen (z.B. das breitung von SARS-CoV-2 einzudäm- den Studie Länder) der Studie Schließen von Schulen) auf den Ver- men. Der Altmetric Score, ein Indika- durchgeführt? lauf der Pandemie ausgewirkt haben. tor für die Menge an erlangter Auf- 3. Gab es eine genaue Definition/ Berechnet wurden die Veränderun- merksamkeit der Studie kletterte Mit- Klassifikation der Interventionen, gen der täglichen Fallzahlen nach te Februar auf mehr als 16.000, mit die verglichen wurden? Einführung der Maßnahmen. Dabei über 26.000 Tweets [5]. Experten kri- 4. Gab es Abweichungen von den ge- wurde auf vorgehende Analysen und tisierten jedoch, dass die vereinfach- planten Interventionen? Datenbanken [1, 3, 4] zurückgegrif- ten Annahmen in der Studie der 5. Wie wurde mit fehlenden Daten fen. Eine offizielle Anweisung zuhau- komplexen Pandemie-Situation nicht umgegangen? se zu bleiben sowie Geschäftsschlie- gerecht werden [6]. Die Anfälligkeit 6. Waren die Messmethoden der End- ßungen definierten die Autoren als der Studie für systematische Fehler er- punkte für beide Gruppen gleich? stark einschränkende Maßnahmen gibt sich primär an zwei Punkten: (i) 7. Wie wurden die in der Publikati- (Lockdowns). Zwei Länder, Schweden der Ermittlung der Auswirkung der on berichteten Endpunkte ausge- und Südkorea, führten diese beiden Maßnahmen auf das Infektions- wählt? Maßnahmen zu Beginn der Pande- geschehen (z.B. welche Auswirkun- Sechs Wissenschaftler*innen mit Er- mie nicht durch und wurden in der gen hatten Geschäftsschließungen in fahrung in der kritischen Evaluie- © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (3)
Glechner et al.: COVID-19-Pandemie: Sind harte Lockdowns unwirksam? COVID-19 Pandemic: Are Hard Lockdowns Ineffective? 105 ROBINS-I-Domäne Risiko für Verzerrung Begründung der Bewertung Verzerrung aufgrund einer Hoch ● Keine Adjustierung für Störfaktoren am Beginn der Studie, z.B. unter- Ungleichverteilung von schiedliche Intensität und Wirksamkeit von nicht-pharmakologischen In- Störfaktoren am Beginn terventionen der Studie ● Die Wirksamkeit von nicht-pharmakologischen Interventionen be- stimmt, ob ein Lockdown eingeführt wird und ist gleichzeitig auch ein prognostischer Faktor für den Endpunkt (Anstieg der SARS-CoV-2 Neuin- fektionen). Verzerrung aufgrund Hoch ● Risiko für Verzerrungen durch (systematisches) Auslassen von Ländern der Auswahl der mit hoher Wirksamkeit der restriktiven Maßnahmen eingeschlossenen Länder ● Risiko für Verzerrungen bei dem Ansatz, Effekte zwischen Länder zu übertragen, durch Unterschiedlichkeit der Länder Verzerrung bei der Klassifi- Hoch ● Unzureichende Definitionen von restriktiven und weniger restriktiven kation der Interventionen nicht-pharmakologischen Interventionen ● Überlappungen zwischen den Interventionen ● Intensität, Strenge (z.B. Strafen bei Nicht-Umsetzung) und Dauer der In- terventionen, die zwischen den Ländern variieren, wurden nicht mitein- bezogen. Verzerrung aufgrund Unzureichende ● Unzureichende Berichterstattung der angewandten Methoden von Abweichungen bei Information den Interventionen Verzerrung aufgrund von Moderat ● Es wird nicht berichtet, ob und welche Daten fehlen (Endpunktdaten, fehlenden Daten Indikatoren, Störfaktoren, etc.) und wie mit fehlenden Daten umgegan- gen wurde. ● Auf der Webseite einer der Datenquellen (Oxford Covid-19 Government Response Trackers) wird erläutert, dass bestimmte Indikatoren an man- chen Tagen fehlen – dies bleibt in der Studie unerwähnt. Verzerrung beim Messen Hoch ● Vorgehen beim Testen ist sowohl innerhalb von Ländern als auch zwi- des Endpunkts schen den Ländern äußerst variabel (Teststrategien, Anzahl durchgeführ- ter Tests pro Zeiteinheit und Unterschiede bei den verwendeten Tests); keine Berücksichtigung dieser Unterschiede im Modell. ● Zeitlicher Verzug zwischen Beginn einer Strategie und Auswirkungen auf die Infektionsrate wird nicht berücksichtigt bzw. dargestellt. ● Auswahl des Startpunkts für die Ermittlung der Infektionsrate ist nicht transparent. Verzerrung bei der Unzureichende ● Es wurde kein Studienprotokoll publiziert Auswahl der berichteten Information Endpunkte Gesamtbewertung Hoch ● Störfaktoren im Sinne von wesentlichen Unterschieden zwischen den Ländern, die die Infektionsraten beeinflussen, wurden nicht berücksich- tigt. ● Die Einteilung in Länder mit restriktiveren Interventionen (Lockdowns) und weniger restriktiven Interventionen ist willkürlich und nicht nach- vollziehbar. ● Unterschiede zwischen Ländern in Bezug auf Teststrategien und Anzahl der durchgeführten Tests wurden nicht berücksichtigt. ● Fehlende Transparenz bei wesentlichen methodischen Entscheidungen Tabelle 1 Zusammenfassung der Bewertung der Studie von Bendavid et al. mit ROBINS-I rung von nicht-randomisierten Stu- Ergebnisse über die sieben bewerteten Domänen dien führten unabhängig voneinan- Die Studie von Bendavid et al. wurde hinweg und eine entsprechende Be- der eine Bewertung der Studie von in vier von sieben Domänen mit ho- gründung der jeweiligen Bewertung. Bendavid et al. mit ROBINS-I durch. hem Verzerrungsrisiko bewertet. Ins- Unterschiede bei den Bewertungen gesamt ergab sich daraus ein hohes Verzerrung aufgrund einer der einzelnen Domänen und bei der Verzerrungsrisiko als Gesamtbewer- Ungleichverteilung von Gesamtbewertung wurden bei einer tung für den von der Studie unter- Störfaktoren am Beginn der Videokonferenz durch Konsens ge- suchten Endpunkt „Anstieg der SARS- Studie löst. Die von ROBINS-I vorgeschla- CoV-2 Neuinfektionen“. Im Folgen- Unterschiede zwischen Ländern kön- gene 4-stufige Bewertung des Ver- den fassen wir die wesentlichsten nen als Störfaktoren agieren, wenn zerrungsrisikos, wurde auf ein 3-stu- Punkte bei der Bewertung der einzel- sie sowohl Einfluss auf die Einfüh- figes Schema (niedriges, moderates, nen Domänen von ROBINS-I kurz zu- rung eines Lockdowns als auch Aus- hohes Verzerrungsrisiko) modifi- sammen. Tabelle 1 bietet einen Über- wirkung auf die Infektionsrate haben. ziert. blick über das Risiko für Verzerrung Solche potenziellen Störfaktoren wur- © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (3)
Glechner et al.: COVID-19-Pandemie: Sind harte Lockdowns unwirksam? 106 COVID-19 Pandemic: Are Hard Lockdowns Ineffective? den in der Studie nicht statistisch be- in einzelnen Ländern eine deutlich men in einzelnen Ländern erklären rücksichtigt. Zum Beispiel führte Süd- unterschiedliche Wirksamkeit entfal- könnten. korea eine sehr restriktive Kontakt- ten (z.B. eine gesetzliche Pflicht zum Das Risiko für Verzerrungen des nachverfolgung unter Nutzung von Tragen von Alltagsmasken wird we- Ergebnisses aufgrund der Auswahl der persönlichen Bewegungsprofilen von niger effektiv sein in Ländern, bei eingeschlossenen Länder wurde als Mobiltelefondaten durch (ein Vor- denen die Bevölkerung schon vor der hoch bewertet. gehen, das in europäischen Ländern Pandemie häufig oder regelmäßig ei- nicht legal wäre). Dies führt zu bes- Verzerrung bei der Klassifikation serer Kontaktnachverfolgung, senkt der Interventionen die Infektionsraten und beeinflusst Die Basis der Studie ist eine Eintei- möglicherweise das Verhalten der lung von Ländern in jene mit restrik- überwachten Personen. Wenn solche tiveren nicht-pharmakologischen In- Unterschiede zwischen Ländern statis- terventionen, d.h. Lockdowns tisch nicht berücksichtigt werden, (Deutschland, England, Frankreich, kann es dazu führen, dass nicht-phar- Italien, Iran, Niederlande, Spanien) makologische Interventionen wie das und jene mit weniger restriktiven Tragen eines Mund-Nasenschutzes nicht-pharmakologischen Interven- oder Handhygiene scheinbar besser tionen (Schweden und Südkorea). wirken als es tatsächlich der Fall ist. Die Veränderung der SARS-CoV-2-In- Dr. med. Anna Glechner ... Andere Faktoren, die als Störfaktoren fektionsraten der beiden Gruppen … ist Allgemeinmedizinerin und seit agieren können, aber nicht berück- von Ländern wurde anschließend 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin sichtigt wurden, sind die generelle Be- bei Cochrane Österreich am Depart- verglichen. Eine genaue Definition reitschaft der Bevölkerung Regierungs- ment für Evidenzbasierte Medizin der Interventionskategorien fehlt in maßnahmen zu folgen, Intensität der und Evaluation der Donau-Univer- der Publikation. Es werden lediglich Teststrategien, Effizienz der Kontakt- sität Krems. Seit 2016 leitet sie das zwei Maßnahmen als Beispiele für Evidenzbasierte Informationszen- nachverfolgung, Altersverteilung der restriktivere Interventionen erwähnt: trum für Ärztinnen und beantwortet Bevölkerung oder Bevölkerungsdichte. Anfragen von Mediziner*innen und die „Anweisung zuhause zu bleiben“ Das Risiko für Verzerrungen des Er- fasst dafür gemeinsam mit ihrem und „Geschäftsschließungen“. Wel- gebnisses aufgrund von Ungleichver- Team die besten Ergebnisse aus in- che Kriterien die Autoren festlegten, teilung von Störfaktoren am Beginn ternationalen Studien übersichtlich um ein Land in der Gruppe mit und in leicht verständlicher Form zu der Studie wurde als hoch bewertet. Lockdown oder in der Vergleichs- Rapid Reviews zusammen. Foto: Andrea Reischer gruppe mit weniger restriktiven Maß- Verzerrung aufgrund der nahmen einzureihen, ist im Artikel Auswahl der eingeschlossenen nicht beschrieben. Des Weiteren Länder wurden die Intensität der Umsetzung In der Publikation wird nicht schlüssig ne Alltagsmaske getragen hat). Wenn bzw. Sanktionierung und die Dauer erklärt, warum jene zehn Länder für derartige Faktoren nicht statis- der Interventionen, die zwischen den (Deutschland, England, Frankreich, Ita- tisch ausgeglichen wurde, besteht die Ländern variierte, nicht in die Analy- lien, Iran, Niederlande, Schweden, Spa- Gefahr, dass Gleiches nicht mit Glei- sen miteinbezogen. Die von der Stu- nien, Südkorea und die USA) für die chem verglichen wurde und verzerrte die zitierte Datenquelle „Coronavirus Studie ausgewählt wurden und andere Ergebnisse entstehen. Government Response Tracker“ der Länder nicht. Wenn die Auswahl nicht Ein geringeres Risiko für systema- Universität Oxford [1] weist mittler- zufällig oder nicht vollständig war, be- tische Verzerrungen würde bestehen, weile Daten von 180 Ländern welt- steht das Risiko einer Verzerrung. Auf- wenn beispielsweise eine Vollerhe- weit auf mit differenzierten Daten fällig ist beispielsweise, dass Länder wie bung innerhalb einer bestimmten über Maßnahmen in den einzelnen China, Australien oder Neuseeland, in Gruppierung erfolgt wäre (z.B. alle Ländern. Durch die unklare Definiti- denen sehr restriktive Maßnahmen zu OECD-Länder). Ein alternativer An- on der Interventionskategorien ist einer (fast) vollständigen Durchbre- satz wäre gewesen, ausgehend von fraglich, ob die Vergleiche wirklich chung des Pandemiegeschehens ge- den Fällen Südkorea und Schweden, valide sind. So wurde z.B. Südkorea führt hatten, nicht bei der Auswertung möglichst gute Vergleichspartner zu in die Gruppe der weniger restrikti- berücksichtigt wurden. finden, die sich in möglichst weni- ven Länder eingeordnet, obwohl ab Ein zweites Risiko für Verzerrun- gen Faktoren unterscheiden, außer, Ende März 2020 auch in Südkorea gen ergibt sich, wenn angenommen dass letztere restriktivere Maßnah- die Anweisung galt, nur für sport- wird, dass Maßnahmen in verschie- men eingeführt haben (z.B. Norwe- liche Aktivitäten, Lebensmittelein- denen Ländern gleich wirken wür- gen oder Dänemark für das Fallbei- käufe und notwendige Fahrten das den, was methodisch durch die Er- spiel Schweden). In beiden Fällen Haus zu verlassen [1]. mittlung des Effekts durch Subtrakti- wäre es zudem wichtig, statistisch Das Risiko für Verzerrungen des on suggeriert wird. Beispielsweise auf andere Einflussfaktoren aus- Ergebnisses aufgrund der Klassifikati- könnten Maßnahmen durch ver- zugleichen, die Unterschiede zwi- on der Interventionen wurde als schiedene soziokulturelle Praktiken schen der Wirksamkeit der Maßnah- hoch bewertet. © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (3)
Glechner et al.: COVID-19-Pandemie: Sind harte Lockdowns unwirksam? COVID-19 Pandemic: Are Hard Lockdowns Ineffective? 107 Verzerrung aufgrund von Verzerrung bei der Auswahl stay-at-home and business closure ef- Abweichungen bei den der berichteten Endpunkte fects on the spread of COVID-19. Eur J Clin Invest 2021: e13484 Interventionen Es wurde kein Studienprotokoll ver- Die Studie bietet nicht genug Infor- öffentlicht, in dem a priori festgelegte 3. Hsiang S, Allen D, Annan-Phan S, et al. The effect of large-scale anti-con- mation, um diese Domäne beurteilen Endpunkte dokumentiert werden. tagion policies on the COVID-19 zu können. Die Studie bietet nicht genug Infor- pandemic. Nature 2020; 584: 262–7 mation, um diese Domäne beurteilen 4. Number of coronavirus (COVID-19) Verzerrung aufgrund von zu können. cases in Sweden by region. www.sta fehlenden Daten tista.com/statistics/1103949/number- In der vorliegenden Studie wird an Diskussion of-coronavirus-covid-19-cases-in-swe- keiner Stelle erwähnt, für welche Da- Die formale methodische Bewertung den-by-region/ ten fehlende Werte vorliegen, es gibt der Studie von Bendavid et al. [2] zeigt 5. Assessing mandatory stay-at-home also keinerlei Informationen darü- schwerwiegende methodische Proble- and business closure effects on the spread of COVID-19. Overview of at- ber, ob relevante Daten wie End- me auf. Die Bewertung mit hohem Ri- tention for article published in Euro- punktdaten, Indikatoren und Stör- siko für Verzerrungen bedeutet, dass pean Journal of Clinical Investigation, faktoren vollständig sind, bzw. wie diese Studie keine belastbare Evidenz February 2021: Altmetric. www.alt viele Daten pro Variable fehlen. Es für oder gegen die Wirksamkeit von metric.com/details/97143657?src =bookmarklet wird im Methodenteil auch nicht be- restriktiven nicht-pharmakologischen schrieben, wie mit fehlenden Daten Maßnahmen liefert. Sie sollte nicht als 6. Bartens W. „Da gibt es doch diese Studie aus Stanford ...“. Süddeutsche im statistischen Modell umgegangen Grundlage für Entscheidungen ver- Zeitung 30.1.2021 wurde. Auf Seiten des Oxford Co- wendet werden. Unseres Wissens ist 7. Buchberger B, von Elm E, Gartlehner vid-19 Government Response Trackers unsere Untersuchung die erste forma- G, et al. Bewertung des Risikos für Bi- (OxCGRT) wird erläutert, dass be- le methodische Bewertung dieser Stu- as in kontrollierten Studien. Bundes- stimmte Indikatoren an manchen die. Informelle Bewertungen durch gesundheitsbl 2014; 57: 1432–8 Tagen fehlen [1]. Das Ausmaß der PubPeer, einem Online Journal Club, 8. Fletcher RH, Fletcher SW, Fletcher fehlenden Daten und die Auswir- zeigen jedoch ebenfalls massive me- GS. Clinical epidemiology: the essen- kung auf die Ergebnisse der Studie ist thodische Bedenken auf [10]. tials. Alphen aan den Rijn, Walters Kluwer, Lippincott Wiliams & Wilkins, schwer einschätzbar. Zusammenfassend sind bei einem 2014 Das Risiko für Verzerrungen des Vergleich von mehr oder weniger res- 9. Sterne JAC, Hernán MA, Reeves BC, Ergebnisses aufgrund von fehlenden triktiven Maßnahmen viele Faktoren et al. ROBINS-I: a tool for assessing Daten wurde als moderat bewertet. zu berücksichtigen, um die Komple- risk of bias in non-randomised studies xität der Maßnahmen und den Ein- of interventions. BMJ 2016; 355: Bias beim Messen des fluss auf die Infektionsrate in den un- i4919 Endpunkts terschiedlichen Ländern zu erfassen. 10. Comments on the study of Bendavid Für die Ermittlung des Endpunkts Eine solche Studie stellt eine große et al: assessing mandatory stay at home business closure effects on the „Anstieg der SARS-CoV-Neuinfektio- Herausforderung dar, und ist mögli- spread of COVID-19. https://pub nen“, ist eine Registrierung neuer In- cherweise nicht valide durchführbar. peer.com/publications/3D81CAC483 fektionen notwendig. Das Vorgehen C2021C00E27C8826DF71 (January beim Testen wird sowohl innerhalb Interessenkonflikte: 2021) der Länder als auch zwischen den Keine angegeben. Ländern als äußerst variabel einge- Korrespondenzadresse schätzt, z.B. in Bezug auf Teststrate- Literatur Dr. med. Anna Glechner gien, Anzahl durchgeführter Tests pro 1. Coronavirus government response Cochrane Österreich, Zeiteinheit und Unterschiede bei den tracker: University of Oxford. www. Department für Evidenzbasierte bsg.ox.ac.uk/research/research-pro Medizin und Evaluation verwendeten Tests. Es ist zudem un- jects/coronavirus-government-re- Donau-Universität Krems klar, wie mit dem zeitlichen Verzug sponse-tracker Dr.-Karl-Dorrek-Str. 30 zwischen einsetzender Strategie und 2. Bendavid E, Oh C, Bhattacharya J, Io- A-3500 Krems an der Donau dem Auftreten von Infektionen um- annidis JPA. Assessing mandatory anna.glechner@donau-uni.ac.at gegangen wurde. Die Ermittlung der Wachstumsrate hängt stark vom ge- wählten Startzeitpunkt ab, von dem an die Fallzahlen berechnet werden. Eine differenzierte Begründung und Erläuterung des gewählten Startzeit- Weiterbildung Psychotherapie punkts per Land oder subnationaler für Allgemeinärztinnen und Allgemeinärzte Region konnten wir nicht erkennen. Das Risiko für Verzerrungen des Wochenendkurs über 3 Jahre in Berlin, am 12.03.2021 beginnend. Ergebnisses aufgrund von Ungleich- WPPA-e.V. Institut für Weiterbildung Psychosomatik und heiten beim Messen des Endpunkts Psychotherapie in der Allgemeinmedizin, http://www.wppa-ev.org wurde als hoch bewertet.
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