ZFAZeitschrift für Allgemeinmedizin / German Journal of Family Medicine - Die Zeitschrift für Allgemeinmedizin

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ZFAZeitschrift für Allgemeinmedizin / German Journal of Family Medicine - Die Zeitschrift für Allgemeinmedizin
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                                                                                             3 I 2021
                                                                                             97. JAHRGANG

           Zeitschrift für Allgemeinmedizin / German Journal of Family Medicine

Optimierte
ambulante
Demenzversorgung
DemStepCare
SEITE 120

Ist ein „Thrombose-Check“
bei gesunden Erwachsenen
sinnvoll?
SEITE 99

Sind harte Lockdowns
unwirksam?
SEITE 103

Praxisbesuch während der
SARS-CoV-2-Pandemie
SEITE 114

                                                    This journal is regularly listed in
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Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM)
German College of General Practitioners and Family Physicians
Gesellschaft der Hochschullehrer für Allgemeinmedizin (GHA)
Society of Professors and University Lecturers of Family Medicine
Niederösterreichischen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (NÖGAM)
Lower Austrian Society of Family Medicine
Österreichischen Instituts für Allgemeinmedizin (ÖIfAM)
Austrian Institute of Family Medicine
Salzburger Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (SAGAM)
Salzburg Society of Family Medicine
Steierischen Akademie für Allgemeinmedizin (STAFAM)
Styrian College of Family Medicine
Südtiroler Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SüGAM)
Southern Tyrolean Society of Family Medicine
Tiroler Gesellschaft für Allgemeinmedizin (TGAM)
Tyrolean Society of Family Medicine
Vorarlberger Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (VGAM)
Vorarlberg Society of Family Medicine

                                                                                  Titelbildhinweis: LIGHTFIELD STUDIOS/stock.adobe.com

© Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (3)
ZFAZeitschrift für Allgemeinmedizin / German Journal of Family Medicine - Die Zeitschrift für Allgemeinmedizin
EDITORIAL / EDITORIAL                                                                                                                                 97

Jenseits von Richtig und Falsch
liegt ein Ort; dort treffen wir uns.
                          Rumi, persischsprachiger Dichter des Mittelalters, 1207–1273

Die toxische Wirkung dieser Pandemie macht vor der wissenschaftlichen Debat-
te so wenig Halt wie vor kollegialen und sogar freundschaftlichen Beziehungen.
    Wenn die Lage allzu unübersichtlich und bedrängend wird, rettet manch-
mal die Kunst vor der fatalen Verstrickung. Camus‘ Pest ist ja nicht gerade ein
erbaulicher Lesestoff und dennoch nun tröstliche Lektüre: Irgendwann wird sie
vorbei sein, die Pandemie. Was wird dann übrig sein? Mit welchen Scherben
werden wir leben?
    Diskurs muss sein, Streit darf sein, Leidenschaftlichkeit und Emotionalität
sind auch Ausdruck tiefen Engagements.
    Wir geben in diesem Heft der Diskussion und der Auseinandersetzung brei-
ten Raum. Wir drucken alle Leserbriefe ab, die uns bis zu einer vom Druck-
ablauf bestimmten Frist erreicht haben, und wir veröffentlichen einen Kom-
mentar von Andreas Sönnichsen zu diesen Zuschriften sowie einen der verblie-
benen Herausgeber/innen.                                                                                     Foto: Foto Strametz

    Der oben zitierte Satz von Rumi gilt mir als das Grundgesetz der Humanität.
Aber auch der von ihm bestimmte Ort ist nicht unzerstörbar. Aus Auseinander-
setzung wird schnell Zersetzung, und nicht alles lässt sich wiedergutmachen.
Wir schließen mit diesem Heft diese teilweise sachlich und ruhig, teilweise per-
sönlich und emotional geführte Diskussion um das Editorial von Andreas
Sönnichsen und unsere Widerrede ab.
    Die Weiterführung einer sachlichen Analyse der Pandemie, ihrer Bekämp-
fung und ihrer Folgen ist so möglich wie erwünscht: innerhalb der üblichen
Formate der ZFA, nach Einreichung entsprechend des festgelegten Procedere.
    In diesem Heft finden Sie bereits eine Arbeit, die sich mit der Methodik der
Stanford-Studie (Ioannidis et al.) auseinandersetzt, sowie einen am hausärzt-
lichen Pandemiealltag orientierten Artikel zum Praxisbesuch unter Covid-Be-
dingungen.
    Wir haben Ihnen aber auch noch weitere, sehr hausärztliche Inhalte abseits
von COVID anzubieten. So finden Sie z.B. einen besonderen Artikel zur ambu-
lanten Demenzversorgung, und eine Arbeit zu unterschiedlichen Blickwinkeln
in ganz anderer Umgebung: nämlich hinsichtlich Notfallszenarien.

                                                               Susanne Rabady

                                                                    © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (3)
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98   INHALTSANGABE / TABLE OF CONTENTS

     EDITORIAL / EDITORIAL
                     Susanne Rabady
     97              Jenseits von Richtig und Falsch liegt ein Ort; dort treffen wir uns.

     EBM-SERVICE / EBM SERVICE
                     Sarah Burgmann, Thomas Semlitsch, Andrea Siebenhofer
     99              Ist ein „Thrombose-Check“ bei gesunden Erwachsenen sinnvoll?
                     “Thrombosis Check-up”: Useful in Healthy Adults?

     DER BESONDERE ARTIKEL / SPECIAL ARTICLE
                     Anna Glechner, Jan M Stratil, Manuela Bombana, Ursula Griebler, Hajo Zeeb, Gerald Gartlehner
     103             COVID-19-Pandemie: Sind harte Lockdowns unwirksam?
                     Warum die Studie von Bendavid et al. dafür kein Beweis ist
                     COVID-19 Pandemic: Are Hard Lockdowns Ineffective?
                     Why the Bendavid et al. Study does not Provide Sufficient Evidence for this Assumption

     ORIGINALARBEIT / ORIGINAL ARTICLE
                     Sven Schwabe, Jutta Bleidorn, Carsten Bretschneider, Silke Freihoff, Andreas Günther,
                     Martina Hasseler, Nils Schneider, Juliane Poeck
     108             „… ärztlich betrachtet ist das ein Bagatellfall“ – Wahrnehmungsunterschiede zwischen
                     Ärzt*innen und Pflegekräften auf Notfallszenarien in Pflegeeinrichtungen
                     “… from a Physicians‘ Perspective this is Peanuts” – Different Perspectives of Physicians and Nurses on
                     Emergency Situations in Nursing Homes

                     Julia Nonnenmann, Bernhard Müllauer, Kai Reichert, Rainer Wöhrle, Daniela Koller, Jörg Schelling
     114             Befragung von Patienten in Arztpraxen zu ihrem Praxisbesuch
                     während der SARS-CoV-2-Pandemie
                     Patient Survey in Medical Practices on their Visit during the SARS-CoV-2 Pandemic

     DER BESONDERE ARTIKEL / SPECIAL ARTICLE
                     Katharina Geschke, Julian Wangler, Alexandra Wuttke-Linnemann, Michael Jansky, Andreas Fellgiebel
     120             Unterstützung für Hausärzte und Betroffene – Optimierte ambulante Demenzversorgung
                     im Rheinland-Pfälzischen Innovationsfonds-Projekt DemStepCare
                     Support for Family Physicians and Patients – Optimized Outpatient Dementia Care
                     in the Rhineland-Palatinate Innovation Fund Project DemStepCare

     NACHRUF / OBITUARY
                     Manfred Lohnstein, Ralf Ostermaier
     125             Bernard Lown
                     7.6.1921 (Utena, Litauen) – 16.2.2021 (Chestnut Hill, USA)

     126             BUCHBESPRECHUNG / BOOK REVIEW

     127             LESERBRIEFE / LETTERS TO THE EDITOR

     138             NACHRICHTEN AUS DER DEGAM UND IHRER STIFTUNG / NEWS FROM DEGAM AND ITS FOUNDATION

     141             GHA-NACHRICHTEN / GHA NEWS

     144             IMPRESSUM / IMPRINT

     © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (3)
ZFAZeitschrift für Allgemeinmedizin / German Journal of Family Medicine - Die Zeitschrift für Allgemeinmedizin
EBM-SERVICE / EBM SERVICE                                                                                                                                                    99

Ist ein „Thrombose-Check“ bei
gesunden Erwachsenen sinnvoll?
“Thrombosis Check-up”: Useful in Healthy Adults?
Sarah Burgmann1, Thomas Semlitsch1, Andrea Siebenhofer1,2                                                                                     EbM
Frage                                                                               Question
Unter dem Begriff „Thrombose-Check“ ist ein Bluttest zu ver-                        The term “thrombosis check“ refers to a blood test that is in-
stehen, der eine angeborene Störung der Blutgerinnung                               tended to determine a congenital disorder of blood coagu-
(Thrombophilie) bestimmen soll. Angeborene Thrombophi-                              lation (thrombophilia). Congenital thrombophilia and the as-
lien treten in der Allgemeinbevölkerung ebenso wie die damit                        sociated thromboembolic events are rare in the general popu-
zusammenhängenden thromboembolischen Ereignisse nur                                 lation. The question therefore arises whether screening for
selten auf. Es stellt sich daher die Frage, ob ein Screening auf                    thrombophilia (thrombosis check-up) in healthy persons with-
Thrombophilie (Thrombose-Check) bei gesunden Personen                               out a known genetic disposition is useful and whether the initi-
ohne bekannte genetische Disposition sinnvoll ist und das Ein-                      ation of prophylactic measures can be recommended if throm-
leiten von prophylaktischen Maßnahmen bei festgestellter                            bophilia is detected.
Thrombophilie empfohlen werden kann.                                                Answer
Antwort                                                                             The current guidelines do not recommend screening for
Die aktuellen Leitlinien empfehlen bei gesunden Personen                            thrombophilia in healthy individuals. This also applies to per-
kein Screening auf Thrombophilie. Dies gilt auch für Personen                       sons prior to risk situations such as a planned major surgical
vor Risikosituationen wie einem geplanten großen chirurgi-                          operation as well as the prescription of oral contraceptives,
schen Eingriff oder der Verschreibung oraler Kontrazeptiva,                         hormone replacement therapy or pregnancy. The occurrence
einer Hormonersatztherapie oder einer Schwangerschaft. Der                          of a thromboembolic event in the family history of first-degree
Auftritt eines thromboembolischen Ereignisses in der Familien-                      relatives increases the risk of thrombosis regardless of the pres-
anamnese bei Verwandten ersten Grades erhöht unabhängig                             ence of thrombophilia and implies prophylaxis in risk situ-
vom Vorliegen einer Thrombophilie das Risiko einer Thrombose                        ations such as surgery. Prophylactic measures for persons with
und impliziert eine Prophylaxe in Risikosituationen wie einer                       known asymptomatic thrombophilia are generally not recom-
Operation. Zu prophylaktischen Maßnahmen bei Personen                               mended. Recommendations exist only for special groups of
mit bekannter asymptomatischer Thrombophilie werden im                              persons or persons in high-risk situations. Even immobility and
Allgemeinen keine Empfehlungen gegeben – sie bestehen                               long-distance flights are no reason to take prophylactic
lediglich für spezielle Personengruppen bzw. Personen in                            measures without acute illness.
Hochrisikosituationen. Auch Immobilität sowie Langstrecken-
flüge sind ohne akute Erkrankung kein Grund für die Anwen-
dung prophylaktischer Maßnahmen.

Hintergrund                                             worben werden (z.B. Gendefekte,                          des Faktor-V-Gens, APC-Resistenz,
Das Gleichgewicht zwischen pro- und                     Schwangerschaft, Einnahme oraler                         Prothrombin-G20210-Mutation, Anti-
antikoagulatorischen Einflüssen bei                     Kontrazeptiva, Adipositas) oder von                      thrombin-III-Mangel, Protein-C-Man-
der Gerinnung kann durch geneti-                        außen einwirken (z.B. Operation, Im-                     gel, Protein-S-Mangel [1, 4–6].
sche Abweichungen so gestört wer-                       mobilisation) [2]. Die angeborene                            Unter dem Begriff Thrombose-
den, dass daraus eine Thrombosenei-                     Thrombophilie schließt genetische                        Check ist ein Bluttest zu verstehen,
gung resultiert. Die klinische Beurtei-                 Mutationen ein, welche die Menge                         der ausschließlich eine angeborene
lung einer solchen Thrombophilie be-                    oder Aktivität von gerinnungshem-                        Thrombophilie bestimmen soll, nicht
ruht auf Anamnese (insbesondere                         menden Stoffen des menschlichen                          jedoch die Früherkennung einer be-
auch der Familie), klinischer Untersu-                  Körpers beeinflussen [3] und zu einer                    stehenden symptomlosen Thrombo-
chung und Labordiagnostik [1]. An                       überschießenden Gerinnung des Blu-                       se oder einer Lungenembolie bzw.
der Entstehung einer Thrombose sind                     tes führen können [4]. Zu den ange-                      erster Anzeichen dafür [7]. Ein Scree-
zahlreiche (Risiko-)Faktoren beteiligt,                 borenen Thrombophilien zählen Fak-                       ning auf Thrombophilie erscheint
die erblich sind, im Lebensverlauf er-                  tor-V-Leiden-Mutation bzw. Mutation                      nur dann sinnvoll, wenn davon Maß-

1Institut für Allgemeinmedizin und evidenzbasierter Versorgungsforschung, Medizinische Universität Graz, Österreich
2Institut für Allgemeinmedizin, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Deutschland
DOI 10.3238/zfa.2021.0099–0102

                                                                                           © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (3)
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100   EBM-SERVICE / EBM SERVICE

      nahmen für einen besseren Umgang                              solute Risiko für eine Thromboembo-        einer aufgetretenen tiefen Beinvenen-
      mit dem vorliegenden Risiko bzw.                              lie generell als gering einzuschätzen      thrombose oder Lungenembolie er-
      präventive Maßnahmen abgeleitet                               ist und sich daraus keine Indikation       wogen, die eine bereits begonnene
      werden können [3]. Zu prophylakti-                            für eine prophylaktische Maßnahme          Antikoagulation vorzeitig beenden
      schen Maßnahmen für Thrombophi-                               ergibt. Die Leitlinie bezieht sich prin-   wollen. Dabei sollte daran gedacht
      lie zählen allgemeine (Basis-)Maß-                            zipiell auf Personen, die eine Venen-      werden, dass eine solche Medikation
      nahmen (z.B. Frühmobilisation,                                thrombose oder Lungenembolie erlit-        die Testergebnisse beeinflussen kann
      Bewegungsübungen), mechanische/                               ten haben. Die Thrombophiliediag-          (ggf. sollte ein Gerinnungsspezialist
      physikalische Maßnahmen (z.B. me-                             nostik wird bei Patientinnen/Patien-       konsultiert werden).
      dizinische     Thromboseprophylaxe-                           ten mit akuter venöser Thromboem-              Bezüglich der Aussage zu einer
      Strümpfe, intermittierende pneuma-                            bolie nicht empfohlen, da die geneti-      Prävention eines Rezidivs konnte kei-
      tische Kompression) und medika-                               sche Disposition keinen Einfluss auf       ne Evidenz gefunden werden. Die
      mentöse Maßnahmen (z.B. prophy-                               die Akuttherapie hat [11–16]. Sie          NICE-Leitlinie empfiehlt auch für
      laktisch oder therapeutisch gegebe-                           kann lediglich bei Personen mit be-        Frauen, welche die Einnahme einer
      nes Heparin) [2].                                             troffenen Verwandten ersten Grades         kombinierten oralen Kontrazeption
          Es stellt sich daher die Frage, ob                        für die Einschätzung des Rezidivrisi-      („Pille“) oder einer Hormonersatzthe-
      ein Screening auf Thrombophilie bei                           kos sowie der Verlängerung der Anti-       rapie in Erwägung ziehen, kein routi-
      gesunden Personen ohne bekannte                               koagulationsdauer hilfreich sein [17,      nemäßiges Screening auf Thrombo-
      genetische Disposition sinnvoll ist                           18].                                       philie. Bei Verwandten ersten Grades
      und das Einleiten von prophylakti-                                                                       von Personen mit vorangegangener
      schen Maßnahmen zur Verhinderung                              Arbeitsgemeinschaft der Wissen-            Thrombose ist das Thromboserisiko
      eines thromboembolischen Ereignis-                            schaftlichen Medizinischen                 in jedem Fall erhöht. Somit ist das
      ses bei festgestellter Thrombophilie                          Fachgesellschaften e.V.                    Screening auf Thermophilie irrele-
      empfohlen werden kann.                                        „Prophylaxe der venösen                    vant.
          Zur Beantwortung dieser beiden                            Thromboembolie (VTE)“ 2015
      Fragestellungen führten wir eine                              Die Leitlinie zur „Prophylaxe der ve-      Scottish Intercollegiate Guidelines
      fokussierte Literaturrecherche in aus-                        nösen Thromboembolie (VTE)“ [7]            Network (SIGN) „Antithrombotics:
      gewählten       Leitliniendatenbanken                         bezieht sich auf Patientinnen/Patien-      indications and management” 2013
      durch. Ferner wurden die Webseiten                            ten, die aufgrund einer Erkrankung         Die Leitlinie zu Indikationen und
      der U.S. Preventive Task Force und der                        oder einer Intervention ein Risiko für     dem Management von Antikoagulan-
      Choosing-Wisely-Initiative nach the-                          eine venöse Thromboembolie aufwei-         zien beschreibt die Studienlage zu
      menrelevanten Beiträgen durchsucht                            sen. Bezüglich des Screenings auf          blutgerinnungshemmender Therapie
      und eine ergänzende Handsuche                                 thrombophile Hämostasedefekte ver-         bei Frauen mit wiederholten Aborten.
      durchgeführt.                                                 weist diese Leitlinie auf die systemati-   Eine Prophylaxe mit Antikoagulan-
                                                                    sche Übersichtsarbeit von Wu et al.        zien wird auf Basis der Studienlage
      Ergebnisse                                                    [19] (vgl. „Systematische Übersichts-      sowohl bei Freuen mit als auch ohne
                                                                    arbeiten“ unten).                          nachgewiesener Thrombophilie nicht
      Leitlinien                                                                                               empfohlen [10].
      Es konnten sechs relevante Leitlinien                         National Institute for Health and
      zur Fragestellung identifiziert werden                        care Excellence (NICE) CG144 „Ve-          SIGN „Prevention and management
      [2, 5, 7–10], wobei ein Dokument das                          nous thromboembolic diseases: di-          of venous thromboembolism” 2014
      Update zu einer gefundenen Leitlinie                          agnosis, management and throm-             Die Leitlinie zu „Prevention and ma-
      darstellt [9]. Die eingeschlossenen                           bophilia testing“ 2020                     nagement of venous thromboembolism”
      Leitlinien behandeln die Themen                               Die Leitlinie des NICE rät vom routi-      bezieht sich in den Fragestellungen
      Prävention bzw. Prophylaxe, Diag-                             nemäßigen Screening auf Thrombo-           vorrangig auf Frauen in der Schwan-
      nostik, Therapie und das Manage-                              philie bei Personen, die Verwandte         gerschaft, nach Geburt sowie unter
      ment venöser Thromboembolien so-                              ersten Grades mit einer vorangegan-        oraler Einnahme von Östrogenen [2].
      wie den Einsatz von Antikoagulan-                             genen tiefen Beinvenenthrombose                Ein Routinescreening auf Throm-
      zien.                                                         oder einer Lungenembolie und einer         bophilie wird grundsätzlich nicht
                                                                    Thrombophilie haben, ab [9]. Der           empfohlen. Auch nicht für Personen
      Deutsche Gesellschaft für                                     Auftritt eines thromboembolischen          vor Risikosituationen wie der Ver-
      Angiologie – Gesellschaft für                                 Events in der Familienanamnese er-         schreibung oraler Kontrazeptiva, ei-
      Gefäßmedizin “Diagnostik und                                  höht unabhängig vom Vorliegen ei-          ner Hormonersatztherapie, einem
      Therapie der Venenthrombose                                   ner Thrombophilie das Risiko einer         geplanten großen chirurgischen Ein-
      und der Lungenembolie“ 2015                                   tiefen Beinvenenthrombose und im-          griff und einer zentralen Venen-
      Die Leitlinie zur „Diagnostik und                             pliziert eine Prophylaxe in Risikosi-      katheterisierung. Eine Ausnahme
      Therapie der Venenthrombose und                               tuationen wie einer Operation. Eine        stellen schwangere Frauen dar. Ein
      der Lungenembolie“ [6] rät von ei-                            Testung auf Antiphospholipid-Anti-         erhöhtes Risiko besteht bei den Frau-
      nem Screening auf Thrombophilie                               körper wird für Patient*innen (bzw.        en, die Verwandte ersten Grades ha-
      bei gesunden Personen ab, da das ab-                          den Verwandten ersten Grades) mit          ben, die bereits ein thromboembo-

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lisches Ereignis mit und ohne Asso-         Auch für eine Prophylaxe bei                   präparats (z.B. zur Kontrazeption),
ziation zu Schwangerschaft, oraler      Langstreckenflügen liegen keine                    während einer Schwangerschaft so-
hormoneller Kontrazeption oder          hochwertigen wissenschaftlichen Be-                wie einer großen orthopädischen
Hormonersatztherapie erlitten ha-       lege vor. Reisende sollten ermuntert               Operation ein Thrombophilie-Scree-
ben. Hier könnte die Testung auf ei-    werden, vor, während und nach der                  ning nicht empfohlen, da keine ent-
ne angeborene Thrombophilie hilf-       Reise aufmerksam und mobil zu                      sprechende Evidenz besteht. Auf Ba-
reich für die Risikobestimmung sein.    sein. Beinübungen während des                      sis der Krankengeschichte kann ein
Die Evidenzlage ist jedoch unsicher,    Fluges können empfohlen werden.                    Screening durchgeführt werden [19].
da die Ergebnisse zwischen den un-      Thromboseprophylaxe-Strümpfe ge-                   Die Wahl (Art und Umfang) der Pro-
terschiedlichen Defekten und Studi-     hören jedoch nicht zu den routine-                 phylaxeform soll individuell und risi-
en variieren. Zudem hätte die Be-       mäßigen prophylaktischen Maßnah-                   koadaptiert erfolgen sowie Kontra-
stimmung keinen Einfluss auf die        men. Bei Personen mit hohem Risiko                 indikationen miteinbeziehen. Die Ri-
initiale Behandlung eines thrombo-                                                         sikoeinschätzung auf Basis von expo-
embolischen Ereignisses.                                                                   nentiellen und dispositionellen Risi-
    Allgemein zu prophylaktischen                                                          kofaktoren soll in drei Gruppen pas-
Maßnahmen für Personen mit be-                                                             sieren – niedriges, mittleres und ho-
kannter asymptomatischer Thrombo-                                                          hes Thromboembolierisiko. Bei Per-
philie werden keine Empfehlungen                                                           sonen mit niedrigem Risiko wird die
gegeben. Die Leitlinie nimmt Bezug                                                         Durchführung von Basismaßnahmen
auf spezielle Personengruppen bzw.                                                         empfohlen, physikalische Maßnah-
Personen in Hochrisikosituationen.                                                         men können ergänzt werden. Die
    Bei Frauen ohne vorangegange-                                                          Einteilung ist individuell zu beurtei-
nem thromboembolischem Ereignis                                                            len. Die Erhöhung des Risikos ergibt
in der Schwangerschaft sind keine                                                          sich auch durch die Kombination
                                        Sarah Burgmann, BSc MA ...
pharmakologischen Maßnahmen er-                                                            von Risikofaktoren. Da das absolute
                                        ... ist Biomedizinische Analytikerin,
forderlich. Ausnahmen bilden Frauen                                                        Risiko eines thromboembolischen
                                        hat den Master „Management im
mit mehreren thrombophilen Defek-       Gesundheitswesen“ absolviert und                   Events bei gesunden Personen als
ten, wovon einer ein homozygotes        befindet sich im Doktoratsstudium                  auch bei Personen mit diagnostizier-
Faktor-V-Leiden ist, mit einem Anti-    der Medizinischen Wissenschaft an                  ter Thrombophilie als gering ein-
thrombinmangel oder einer angebo-       der Medizinischen Universität Graz.                zuschätzen ist und eine generelle
                                        Von 2017 bis 2020 war sie als wis-
renen Thrombophilie in Verbindung                                                          Prophylaxe für venöse thromboem-
                                        senschaftliche Mitarbeiterin am In-
mit venösen Venenthrombosen bei         stitut für Allgemeinmedizin und evi-               bolische Ereignisse für Patientinnen/
Familienmitgliedern ersten Grades,      denzbasierte Versorgungsforschung                  Patienten mit niedrigem Risiko in der
vor allem in der Schwangerschaft.       an der Medizinischen Universität                   Leitlinie nicht empfohlen wird, ist
Frauen mit erhöhtem Risiko auf-         Graz tätig. Seit Juli 2020 arbeitet sie            anzunehmen, dass Patientinnen/Pa-
                                        in der Gesundheit Österreich GmbH.
grund der angeführten Faktoren wäh-                                                        tienten mit diagnostizierter Throm-
                                        Ihre Schwerpunkte liegen in den Be-
rend der Schwangerschaft und dem        reichen Primary Health Care, Versor-
                                                                                           bophilie ein niedriges Risiko aufwie-
Wochenbett sollten Antikoagulan-        gungsforschung und Health Policy.                  sen und somit keine prophylakti-
zien zur Prophylaxe angeboten wer-      Foto: Martin Wiesner                               schen Maßnahmen für diese emp-
den. Der Einsatz von Thrombosepro-                                                         fohlen werden. Auch Immobilität so-
phylaxe-Strümpfen wird bei Immobi-                                                         wie Langstreckenflüge sind ohne
lisation z.B. aufgrund eines Kranken-                                                      akute Erkrankung kein Grund für die
hausaufenthaltes empfohlen.             für eine reiseassoziierte Venenthrom-              Anwendung prophylaktischer Maß-
    In die Entscheidungsfindung für     bose kann eine Prophylaxe mit Anti-                nahmen.
oder gegen eine Thromboseprophyla-      koagulanzien in Erwägung gezogen
xe sowie die Dauer der Anwendung        werden. In jedem Fall sollen das Risi-             Fazit
nach der Geburt bei Frauen mit be-      ko sowie Interventionen und deren                  Auf Grundlage der vorliegenden Evi-
kannter Thrombophilie soll ein Risi-    mögliche Vorteile individuell zwi-                 denz kann ein routinemäßiges Scree-
koassessment durchgeführt werden,       schen Ärztin/Arzt und Patientin/Pa-                ning auf Thrombophilie bei gesun-
in das die Familienanamnese sowie       tient diskutiert werden.                           den Erwachsenen in der Allgemein-
die persönliche Präferenz miteinbezo-                                                      bevölkerung nicht empfohlen wer-
gen werden. Liegen mehrere Risiko-      Systematische                                      den. Das gilt auch für Personen vor
faktoren vor, wird eine pharmakolo-     Übersichtsarbeiten                                 Risikosituationen wie einem geplan-
gische Therapie mit niedermolekula-     Aus zwei eingeschlossenen Leitlinien               ten großen chirurgischen Eingriff so-
rem Heparin für eine Woche nach der     [7, 9] konnte eine systematische                   wie der Verschreibung oraler Kontra-
Geburt empfohlen. Bestehen drei         Übersichtsarbeit [20] identifiziert                zeptiva, einer Hormonersatztherapie
oder mehr Risikofaktoren, wird zu-      werden, die ein Thrombophilie-                     oder einer Schwangerschaft. Der Auf-
sätzlich zu Thromboseprophylaxe-        Screening in Risikosituationen unter-              tritt eines thromboembolischen
Strümpfen geraten. Dafür liegt jedoch   suchte. Dabei wird für Frauen vor                  Events in der Familienanamnese bei
keine höherwertige Evidenz vor.         Verschreibung eines oralen Östrogen-               Verwandten ersten Grades erhöht un-

                                                                     © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (3)
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      abhängig vom Vorliegen einer                                  7. Arbeitsgemeinschaft der Wissen-          14. Kearon C. Influence of hereditary or
      Thrombophilie das Risiko einer                                   schaftlichen Medizinischen Fachge-           acquired thrombophilias on the treat-
      Thrombose und impliziert eine Pro-                               sellschaften (AWMF)-Ständige Kom-            ment of venous thromboembolism.
                                                                       mission Leitlinien. S3-Leitlinie Pro-        Curr Opin Hematol 2012; 19 :363–70
      phylaxe in Risikosituationen wie ei-
                                                                       phylaxe der venösen Thromboembo-         15. Cohn D, Vansenne F, de Borgie C, et
      ner Operation. Der Einsatz von pro-                              lie (VTE). www.awmf.org/uploads/             al. Thrombophilia testing for preven-
      phylaktischen Maßnahmen wird ge-                                 tx_szleitlinien/003-001l_S3_VTE-Pro-         tion of recurrent venous thromboem-
      mäß aktueller Leitlinien nur bei Per-                            phylaxe_2015-12.pdf                          bolism. Cochrane Database Syst Rev
      sonen mit hohem Risiko für eine                               8. National Institute for Health and Care       2009; (1): Cd007069
      Thromboembolie empfohlen.                                        Excellence (NICE). Venous thrombo-       16. Middeldorp S. Evidence-based ap-
                                                                       embolic diseases: diagnosis, manage-         proach to thrombophilia testing. J
      Literatur                                                        ment and thrombophilia testing.              Thromb Thrombolysis 2011; 31:
      1. Colucci G, Tsakiris DA. Thrombophi-                           March 2020. www.nice.org.uk/gui              275–81
         lie. Die Durchführung einer Throm-                            dance/cg144/resources/venous-
                                                                                                                17. Lijfering WM, Brouwer JL, Veeger NJ,
         bophilie-Abklärung in der Arztpraxis                          thromboembolic-diseases-diagnosis-
                                                                                                                    et al. Selective testing for thrombo-
         ist häufig eine Quelle von Unsicher-                          management-and-thrombophilia-tes-
                                                                                                                    philia in patients with first venous
         heit und Bedenken. Swiss Med Fo-                              ting-pdf-35109570835141
                                                                                                                    thrombosis: results from a retro-
         rum 2020; 20: 73–78
                                                                    9. National Institute for Health and Cli-       spective family cohort study on abso-
      2. Scottish Intercollegiate Guidelines                           nical Excellence (NICE). Venous              lute thrombotic risk for currently
         Network (SIGN). Prevention and ma-                            thromboembolic diseases: the ma-             known thrombophilic defects in
         nagement of venous thromboembo-                               nagement of venous thromboembo-              2479 relatives. Blood 2009; 113:
         lism. 2014. www.sign.ac.uk/assets/                            lic diseases and the role of thrombo-        5314–22
         sign122.pdf                                                   philia testing. 26 March 2020. www.      18. Graham N, Rashiq H, Hunt BJ. Tes-
      3. Stevens SM, Woller SC, Bauer KA, et                           nice.org.uk/guidance/ng158                   ting for thrombophilia: clinical up-
         al. Guidance for the evaluation and                        10. Scottish Intercollegiate Guidelines         date. Br J Gen Pract 2014; 64:
         treatment of hereditary and acquired                                                                       e120-e2
                                                                        Network (SIGN). Antithrombotics: in-
         thrombophilia. J Thromb Thromboly-
                                                                        dications and management. 2013.         19. Wu O, Robertson L, Twaddle S, et al.
         sis 2016; 41: 154–64
                                                                        www.sign.ac.uk/assets/sign129.pdf           Screening for thrombophilia in high-
      4. Linnemann B, Hart C. Laboratory di-                                                                        risk situations: systematic review and
                                                                    11. Dalen JE. Should patients with ve-
         agnostics in thrombophilia. Hamosta-                                                                       cost-effectiveness analysis. The
         seologie 2019; 39: 49–61                                       nous thromboembolism be screened
                                                                        for thrombophilia? Am J Med 2008;           Thrombosis: Risk and Economic As-
      5. Arbeitsgemeinschaft der Wissen-                                                                            sessment of Thrombophilia Screening
                                                                        121: 458–63
         schaftlichen Medizinischen Fachge-                                                                         (TREATS) study. Health Technol As-
         sellschaften (AWMF)-Ständige Kom-                          12. Simpson EL, Stevenson MD, Rawdin            sess 2006; 10: 1–110
         mission Leitlinien. Diagnostik und                             A, et al. Thrombophilia testing in
         Therapie der Venenthrombose und                                people with venous thromboembo-
         der Lungenembolie. 05.01.2016.                                 lism: systematic review and cost-ef-    Korrespondenzadresse
         www.awmf.org/uploads/tx_szleitlini                             fectiveness analysis. Health Technol    Institut für Allgemeinmedizin und
         en/065-002l_S2k_VTE_2016-01.pdf                                Assessm 2009; 13: iii, ix–x, 1–91       evidenzbasierte Versorgungsforschung
      6. Velasco-Garrido M, Erler A, Beyer M,                       13. Kyrle PA. Venous thrombosis: who        Medizinische Universität Graz
         et al. IGeL kritisch betrachtet: Throm-                        should be screened for thrombophilia    Auenbruggerplatz 2/9
         bose-Check. Z Allg Med 2008; 84:                               in 2014? Pol Arch Med Wewn 2014;        8036 Graz, Österreich
         317–20                                                         124: 65–9                               iamev@medunigraz.at

                                                       DEGAM im Netz
                                                       www.degam.de
                                                       www.degam-leitlinien.de
                                                       www.degam-patienteninfo.de
                                                       www.tag-der-allgemeinmedizin.de
                                                       www.degam-kongress.de
                                                       www.online-zfa.de
                                                       www.degam-famulaturboerse.de

      © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (3)
ZFAZeitschrift für Allgemeinmedizin / German Journal of Family Medicine - Die Zeitschrift für Allgemeinmedizin
DER BESONDERE ARTIKEL / SPECIAL ARTICLE                                                                                                                                       103

COVID-19-Pandemie:
Sind harte Lockdowns unwirksam?
Warum die Studie von Bendavid et al. dafür kein Beweis ist

COVID-19 Pandemic: Are Hard Lockdowns Ineffective?
Why the Bendavid et al. Study does not Provide Sufficient Evidence
for this Assumption
Anna Glechner1, Jan M. Stratil2, Manuela Bombana3, Ursula Griebler1, Hajo Zeeb4,5, Gerald Gartlehner1,6

Hintergrund                                                                         Background
Während der Corona-Pandemie führten viele Länder Ein-                               During the Corona pandemic, many countries implemented
schränkungen des täglichen Lebens ein, um die Ausbreitung                           restrictions on daily life to contain the spread of severe acute
von SARS-CoV-2 (severe acute respiratory syndrome corona-                           respiratory syndrome coronavirus type 2 (SARS-CoV-2). These
virus type 2) einzuschränken. Diese Maßnahmen waren je                              measures varied by country, depending on the region and the
nach Region und Ausmaß des Infektionsgeschehens unter-                              rate of infections. A group of Stanford University researchers
schiedlich. Eine Gruppe von Wissenschaftlern der Stanford                           led by Prof. John Ioannidis concluded, based on an analysis of
University unter der Leitung von Prof. John Ioannidis kam auf-                      existing data from 10 countries, that a hard lockdown, com-
grund einer Analyse von vorhandenen Daten aus zehn Län-                             pared with less restrictive measures, did not offer significant
dern zu dem Schluss, dass ein harter Lockdown gegenüber                             benefits in reducing infection rates. The publication of the
weniger restriktiven Einschränkungen keine signifikanten Vor-                       study (Bendavid et al.) is being used in social media as evi-
teile bietet, um Infektionszahlen zu senken. Die Publikation                        dence that lockdowns have no significant benefit in containing
der Studie (Bendavid et al.) wird in sozialen Medien als Beleg                      the spread of SARS-CoV-2.
dafür verwendet, dass ein Lockdown keinen wesentlichen                              Methods
Nutzen bei der Bekämpfung des Infektionsgeschehens bringt.                          Six researchers independently assessed the methodological
Methoden                                                                            quality of the study. The internationally accepted assessment
Sechs Wissenschaftler*innen beurteilten unabhängig voneinan-                        tool ROBINS-I (Risk Of Bias in Non-randomized Studies of In-
der die methodische Qualität der Studie. Dafür wurde das inter-                     terventions) was applied, which is divided into seven domains.
national anerkannte Bewertungsinstument ROBINS-I (Risk Of                           Conflicts in the evaluation were resolved by consensus. Risk of
Bias in Non-randomized Studies of Interventions) angewendet,                        bias in results was graded as low, moderate, or high using an
das sich in sieben Domänen gliedert. Konflikte bei der Bewer-                       adapted three-tiered scheme.
tung wurden durch Konsens gelöst. Das Risiko für Verzerrungen                       Results
der Resultate wurde anhand eines adaptierten dreistufigen                           The study by Bendavid et al. has serious methodological flaws.
Schemas als niedrig, moderat oder hoch eingestuft.                                  The study was rated as having high risk of bias in four of seven
Ergebnisse                                                                          domains. One of the most serious shortcomings related to
Die Studie von Bendavid et al. weist schwerwiegende metho-                          confounding factors: the countries that were compared ap-
dische Mängel auf. Die Studie wurde in vier von sieben Domä-                        plied measures at different intensities, and the effectiveness of
nen mit einem hohen Verzerrungspotenzial bewertet. Einer                            those measures varied depending on the baseline situation.
der schwerwiegendsten Mängel betraf Störfaktoren, da die                            Crucial information on the criteria used to select the countries
Länder, die verglichen wurden, Maßnahmen in unterschiedli-                          included in the study, as well as a clear definition of the inter-
cher Intensität anwendeten und diese je nach Ausgangssitua-                         ventions, were missing.
tion unterschiedlich wirksam waren. Wesentliche Informatio-                         Conclusions
nen über die Kriterien für die Auswahl der Länder sowie eine                        The results of the study have a high potential for bias and
klare Definition der Interventionen fehlten.                                        should not be used as a basis for decision-making.
Schlussfolgerungen                                                                  Keywords
Die Ergebnisse der Studie haben ein hohes Verzerrungspotenzial                      lockdown; SARS-CoV-2; interventions; methodology critique
und sollten nicht als Grundlage für Entscheidungen dienen.
Schlüsselwörter
Lockdown; SARS-CoV-2; Maßnahmen; Methodenkritik

1 Department für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation, Cochrane Österreich, Donau-Universität, Krems/Österreich; 2 Institut für Medizinische Informations-
verarbeitung, Biometrie und Epidemiologie, LMU, München; 3 Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Universitätsklinikum, Heidelberg
4 Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie, Bremen; 5 Health Sciences Bremen, Universität Bremen
6 Research Triangle Institute (RTI) International, North Carolina, USA

DOI 10.3238/zfa.2021.0103–0107

                                                                                            © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (3)
ZFAZeitschrift für Allgemeinmedizin / German Journal of Family Medicine - Die Zeitschrift für Allgemeinmedizin
Glechner et al.:
      COVID-19-Pandemie: Sind harte Lockdowns unwirksam?
104   COVID-19 Pandemic: Are Hard Lockdowns Ineffective?

      Hintergrund                                                   Studie als Länder mit „weniger stren-     Deutschland auf die Zahl der Neuin-
      Seit Januar 2020 wurden weltweit in                           gen Maßnahmen“ eingestuft. Zusätz-        fektionen?) und (ii) der Methode, die
      vielen Ländern Lockdown-Maßnah-                               lich wurden acht Länder ausgewählt,       genutzt wurde, um den „Mehreffekt“
      men, also temporäre staatlich ver-                            die zu Beginn der Pandemie 2020           von Lockdowns zu ermitteln.
      ordnete Einschränkungen des öf-                               Lockdowns verhängten: Deutsch-                Im Anschluss präsentieren wir ei-
      fentlichen Lebens, eingeführt, um                             land, England, Frankreich, Italien,       ne formale kritische Evaluierung der
      die Ausbreitung von SARS-CoV-2                                Iran, Niederlande, Spanien, und die       Methoden der Studie von Bendavid
      einzudämmen [1]. Diese Maßnah-                                USA. Die Autoren berechneten, wie         und Kollegen „Assessing mandatory
      men umfassen zum Beispiel das                                 gut Lockdowns in diesen acht Län-         stay-at-home and business closure
      Schließen von Schulen, Geschäften,                            dern wirkten, um den Anstieg der          effects on the spread of COVID-19“ [2].
      Restaurants oder Kulturbetrieben,                             SARS-CoV-2-Fälle einzudämmen. Da-
      die Absage von Massenveranstaltun-                            von abgezogen wurde der Effekt, der       Methoden
      gen oder Ausgangsbeschränkungen.                              in Schweden und Südkorea beobach-         Die Qualität von kontrollierten Stu-
      Die Intensität der einzelnen Maß-                             tet wurde. Mit dieser Subtraktion be-     dien wird in erster Linie von Design,
      nahmen variierte von Land zu Land                             rechneten die Autoren, ob Lock-           Durchführung und Analyse be-
      und verändert sich laufend, basie-                            downs mehr oder weniger effektiv          stimmt [7]. Gerade die Validität der
      rend auf wissenschaftlichen Modell-                           waren als weniger restriktive Maß-        Ergebnisse von nicht-randomisierten
      rechnungen und politischen Ent-                               nahmen.                                   Studien kann durch nicht sorgfältige
      scheidungen. Lockdown-Maßnah-                                      Auf Basis ihrer Ergebnisse schlos-   methodische Planung und Durch-
      men werden in der Regel dann ein-                             sen die Autoren, dass Lockdowns im        führung stark eingeschränkt sein –
      gesetzt, wenn nicht-pharmakologi-                             Vergleich zu weniger restriktiven         man spricht vom Verzerrungsrisiko.
      sche Interventionen, wie zum Bei-                             nicht-pharmakologischen Maßnah-           Unter Verzerrungen versteht man
      spiel Teststrategien, Tragen eines                            men keinen wesentlichen Zusatz-           systematische Fehler beim Design,
      Mund-Nasenschutzes,         Abstands-                         effekt erzielen. In Schweden und Süd-     der Durchführung und der Analyse
      regeln, Hygienemaßnahmen oder                                 korea, die in dieser Studie als Länder    von Studien, welche die Ergebnisse
      Reisebeschränkungen, nicht ausrei-                            mit weniger einschränkenden Maß-          der Studie verzerren [8]. Diese Ver-
      chend wirksam sind, um die Zahl                               nahmen definiert wurden, gab es zu        zerrungen können sowohl zu einer
      der Neuinfektionen zu senken.                                 Beginn der Pandemie ebenfalls Inter-      Unterschätzung als auch einer Über-
          Eine Gruppe von Wissenschaft-                             ventionen, um das Infektionsgesche-       schätzung des tatsächlichen Effektes
      lern der Stanford University, USA,                            hen einzudämmen, wie z.B. Empfeh-         führen. Ein international anerkann-
      unter der Leitung von Prof. John                              lungen für einen Mund-Nasenschutz         tes Instrument zur Bewertung des
      Ioannidis widmete sich der Frage,                             (in Südkorea für manche Bereiche          Verzerrungsrisikos von nicht-rando-
      ob die SARS-CoV-2-Pandemie auch                               verpflichtend), Home-Office, Schul-       misierten Studien ist ROBINS-I (Risk
      durch weniger restriktive Maßnah-                             schließungen, Verbot von öffent-          Of Bias In Non-randomized Studies of
      men als Lockdowns eingedämmt                                  lichen Versammlungen, Einschrän-          Interventions) [9]. Es bewertet sieben
      werden könnte. Die Ergebnisse der                             kung von Inlands- und internationa-       Domänen, die bei nicht-randomi-
      Studie wurden im Januar 2021 im                               lem Reiseverkehr, Teststrategien und      sierten Studien zu einer Verzerrung
      European Journal of Clinical Investiga-                       eine konsequente Kontaktnachverfol-       der Studienergebnisse führen können:
      tion von Bendavid et al. publiziert.                          gung.                                     1. Sind potenzielle Störfaktoren, die
      [2]                                                                Die Studie fand in den sozialen         einen Einfluss auf den Endpunkt
          Die Autoren verwendeten für die                           Medien enorme Beachtung und wird             haben, gleichmäßig zwischen bei-
      Studie Daten des ersten Lockdowns                             immer wieder als Beleg dafür zitiert,        den Gruppen verteilt?
      zu Beginn der Pandemie 2020. Sie                              dass weniger restriktive Maßnahmen        2. Wie wurde die Auswahl der Teil-
      versuchten zu ermitteln, wie sich be-                         auch ausgereicht hätten, um die Ver-         nehmer*innen (in der vorliegen-
      stimmte Maßnahmen (z.B. das                                   breitung von SARS-CoV-2 einzudäm-            den Studie Länder) der Studie
      Schließen von Schulen) auf den Ver-                           men. Der Altmetric Score, ein Indika-        durchgeführt?
      lauf der Pandemie ausgewirkt haben.                           tor für die Menge an erlangter Auf-       3. Gab es eine genaue Definition/
      Berechnet wurden die Veränderun-                              merksamkeit der Studie kletterte Mit-        Klassifikation der Interventionen,
      gen der täglichen Fallzahlen nach                             te Februar auf mehr als 16.000, mit          die verglichen wurden?
      Einführung der Maßnahmen. Dabei                               über 26.000 Tweets [5]. Experten kri-     4. Gab es Abweichungen von den ge-
      wurde auf vorgehende Analysen und                             tisierten jedoch, dass die vereinfach-       planten Interventionen?
      Datenbanken [1, 3, 4] zurückgegrif-                           ten Annahmen in der Studie der            5. Wie wurde mit fehlenden Daten
      fen. Eine offizielle Anweisung zuhau-                         komplexen Pandemie-Situation nicht           umgegangen?
      se zu bleiben sowie Geschäftsschlie-                          gerecht werden [6]. Die Anfälligkeit      6. Waren die Messmethoden der End-
      ßungen definierten die Autoren als                            der Studie für systematische Fehler er-      punkte für beide Gruppen gleich?
      stark einschränkende Maßnahmen                                gibt sich primär an zwei Punkten: (i)     7. Wie wurden die in der Publikati-
      (Lockdowns). Zwei Länder, Schweden                            der Ermittlung der Auswirkung der            on berichteten Endpunkte ausge-
      und Südkorea, führten diese beiden                            Maßnahmen auf das Infektions-                wählt?
      Maßnahmen zu Beginn der Pande-                                geschehen (z.B. welche Auswirkun-         Sechs Wissenschaftler*innen mit Er-
      mie nicht durch und wurden in der                             gen hatten Geschäftsschließungen in       fahrung in der kritischen Evaluie-

      © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (3)
Glechner et al.:
COVID-19-Pandemie: Sind harte Lockdowns unwirksam?
COVID-19 Pandemic: Are Hard Lockdowns Ineffective?                                                                                                           105

 ROBINS-I-Domäne                Risiko für Verzerrung     Begründung der Bewertung

 Verzerrung aufgrund einer      Hoch                      ● Keine Adjustierung für Störfaktoren am Beginn der Studie, z.B. unter-
 Ungleichverteilung von                                     schiedliche Intensität und Wirksamkeit von nicht-pharmakologischen In-
 Störfaktoren am Beginn                                     terventionen
 der Studie                                               ● Die Wirksamkeit von nicht-pharmakologischen Interventionen be-
                                                            stimmt, ob ein Lockdown eingeführt wird und ist gleichzeitig auch ein
                                                            prognostischer Faktor für den Endpunkt (Anstieg der SARS-CoV-2 Neuin-
                                                            fektionen).
 Verzerrung aufgrund            Hoch                      ● Risiko für Verzerrungen durch (systematisches) Auslassen von Ländern
 der Auswahl der                                            mit hoher Wirksamkeit der restriktiven Maßnahmen
 eingeschlossenen Länder                                  ● Risiko für Verzerrungen bei dem Ansatz, Effekte zwischen Länder zu
                                                            übertragen, durch Unterschiedlichkeit der Länder
 Verzerrung bei der Klassifi-   Hoch                      ● Unzureichende Definitionen von restriktiven und weniger restriktiven
 kation der Interventionen                                  nicht-pharmakologischen Interventionen
                                                          ● Überlappungen zwischen den Interventionen
                                                          ● Intensität, Strenge (z.B. Strafen bei Nicht-Umsetzung) und Dauer der In-
                                                            terventionen, die zwischen den Ländern variieren, wurden nicht mitein-
                                                            bezogen.
 Verzerrung aufgrund            Unzureichende             ● Unzureichende Berichterstattung der angewandten Methoden
 von Abweichungen bei           Information
 den Interventionen
 Verzerrung aufgrund von        Moderat                   ● Es wird nicht berichtet, ob und welche Daten fehlen (Endpunktdaten,
 fehlenden Daten                                            Indikatoren, Störfaktoren, etc.) und wie mit fehlenden Daten umgegan-
                                                            gen wurde.
                                                          ● Auf der Webseite einer der Datenquellen (Oxford Covid-19 Government
                                                            Response Trackers) wird erläutert, dass bestimmte Indikatoren an man-
                                                            chen Tagen fehlen – dies bleibt in der Studie unerwähnt.
 Verzerrung beim Messen         Hoch                      ● Vorgehen beim Testen ist sowohl innerhalb von Ländern als auch zwi-
 des Endpunkts                                              schen den Ländern äußerst variabel (Teststrategien, Anzahl durchgeführ-
                                                            ter Tests pro Zeiteinheit und Unterschiede bei den verwendeten Tests);
                                                            keine Berücksichtigung dieser Unterschiede im Modell.
                                                          ● Zeitlicher Verzug zwischen Beginn einer Strategie und Auswirkungen auf
                                                            die Infektionsrate wird nicht berücksichtigt bzw. dargestellt.
                                                          ● Auswahl des Startpunkts für die Ermittlung der Infektionsrate ist nicht
                                                            transparent.
 Verzerrung bei der             Unzureichende             ● Es wurde kein Studienprotokoll publiziert
 Auswahl der berichteten        Information
 Endpunkte
 Gesamtbewertung                Hoch                      ● Störfaktoren im Sinne von wesentlichen Unterschieden zwischen den
                                                            Ländern, die die Infektionsraten beeinflussen, wurden nicht berücksich-
                                                            tigt.
                                                          ● Die Einteilung in Länder mit restriktiveren Interventionen (Lockdowns)
                                                            und weniger restriktiven Interventionen ist willkürlich und nicht nach-
                                                            vollziehbar.
                                                          ● Unterschiede zwischen Ländern in Bezug auf Teststrategien und Anzahl
                                                            der durchgeführten Tests wurden nicht berücksichtigt.
                                                          ● Fehlende Transparenz bei wesentlichen methodischen Entscheidungen

Tabelle 1 Zusammenfassung der Bewertung der Studie von Bendavid et al. mit ROBINS-I

rung von nicht-randomisierten Stu-              Ergebnisse                                       über die sieben bewerteten Domänen
dien führten unabhängig voneinan-               Die Studie von Bendavid et al. wurde             hinweg und eine entsprechende Be-
der eine Bewertung der Studie von               in vier von sieben Domänen mit ho-               gründung der jeweiligen Bewertung.
Bendavid et al. mit ROBINS-I durch.             hem Verzerrungsrisiko bewertet. Ins-
Unterschiede bei den Bewertungen                gesamt ergab sich daraus ein hohes               Verzerrung aufgrund einer
der einzelnen Domänen und bei der               Verzerrungsrisiko als Gesamtbewer-               Ungleichverteilung von
Gesamtbewertung wurden bei einer                tung für den von der Studie unter-               Störfaktoren am Beginn der
Videokonferenz durch Konsens ge-                suchten Endpunkt „Anstieg der SARS-              Studie
löst. Die von ROBINS-I vorgeschla-              CoV-2 Neuinfektionen“. Im Folgen-                Unterschiede zwischen Ländern kön-
gene 4-stufige Bewertung des Ver-               den fassen wir die wesentlichsten                nen als Störfaktoren agieren, wenn
zerrungsrisikos, wurde auf ein 3-stu-           Punkte bei der Bewertung der einzel-             sie sowohl Einfluss auf die Einfüh-
figes Schema (niedriges, moderates,             nen Domänen von ROBINS-I kurz zu-                rung eines Lockdowns als auch Aus-
hohes Verzerrungsrisiko) modifi-                sammen. Tabelle 1 bietet einen Über-             wirkung auf die Infektionsrate haben.
ziert.                                          blick über das Risiko für Verzerrung             Solche potenziellen Störfaktoren wur-

                                                                           © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (3)
Glechner et al.:
      COVID-19-Pandemie: Sind harte Lockdowns unwirksam?
106   COVID-19 Pandemic: Are Hard Lockdowns Ineffective?

      den in der Studie nicht statistisch be-                       in einzelnen Ländern eine deutlich       men in einzelnen Ländern erklären
      rücksichtigt. Zum Beispiel führte Süd-                        unterschiedliche Wirksamkeit entfal-     könnten.
      korea eine sehr restriktive Kontakt-                          ten (z.B. eine gesetzliche Pflicht zum      Das Risiko für Verzerrungen des
      nachverfolgung unter Nutzung von                              Tragen von Alltagsmasken wird we-        Ergebnisses aufgrund der Auswahl der
      persönlichen Bewegungsprofilen von                            niger effektiv sein in Ländern, bei      eingeschlossenen Länder wurde als
      Mobiltelefondaten durch (ein Vor-                             denen die Bevölkerung schon vor der      hoch bewertet.
      gehen, das in europäischen Ländern                            Pandemie häufig oder regelmäßig ei-
      nicht legal wäre). Dies führt zu bes-                                                                  Verzerrung bei der Klassifikation
      serer Kontaktnachverfolgung, senkt                                                                     der Interventionen
      die Infektionsraten und beeinflusst                                                                    Die Basis der Studie ist eine Eintei-
      möglicherweise das Verhalten der                                                                       lung von Ländern in jene mit restrik-
      überwachten Personen. Wenn solche                                                                      tiveren nicht-pharmakologischen In-
      Unterschiede zwischen Ländern statis-                                                                  terventionen,      d.h.    Lockdowns
      tisch nicht berücksichtigt werden,                                                                     (Deutschland, England, Frankreich,
      kann es dazu führen, dass nicht-phar-                                                                  Italien, Iran, Niederlande, Spanien)
      makologische Interventionen wie das                                                                    und jene mit weniger restriktiven
      Tragen eines Mund-Nasenschutzes                                                                        nicht-pharmakologischen Interven-
      oder Handhygiene scheinbar besser                                                                      tionen (Schweden und Südkorea).
      wirken als es tatsächlich der Fall ist.                                                                Die Veränderung der SARS-CoV-2-In-
                                                                    Dr. med. Anna Glechner ...
      Andere Faktoren, die als Störfaktoren                                                                  fektionsraten der beiden Gruppen
                                                                    … ist Allgemeinmedizinerin und seit
      agieren können, aber nicht berück-                                                                     von Ländern wurde anschließend
                                                                    2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin
      sichtigt wurden, sind die generelle Be-                       bei Cochrane Österreich am Depart-       verglichen. Eine genaue Definition
      reitschaft der Bevölkerung Regierungs-                        ment für Evidenzbasierte Medizin         der Interventionskategorien fehlt in
      maßnahmen zu folgen, Intensität der                           und Evaluation der Donau-Univer-         der Publikation. Es werden lediglich
      Teststrategien, Effizienz der Kontakt-                        sität Krems. Seit 2016 leitet sie das    zwei Maßnahmen als Beispiele für
                                                                    Evidenzbasierte Informationszen-
      nachverfolgung, Altersverteilung der                                                                   restriktivere Interventionen erwähnt:
                                                                    trum für Ärztinnen und beantwortet
      Bevölkerung oder Bevölkerungsdichte.                          Anfragen von Mediziner*innen und         die „Anweisung zuhause zu bleiben“
          Das Risiko für Verzerrungen des Er-                       fasst dafür gemeinsam mit ihrem          und „Geschäftsschließungen“. Wel-
      gebnisses aufgrund von Ungleichver-                           Team die besten Ergebnisse aus in-       che Kriterien die Autoren festlegten,
      teilung von Störfaktoren am Beginn                            ternationalen Studien übersichtlich      um ein Land in der Gruppe mit
                                                                    und in leicht verständlicher Form zu
      der Studie wurde als hoch bewertet.                                                                    Lockdown oder in der Vergleichs-
                                                                    Rapid Reviews zusammen.
                                                                    Foto: Andrea Reischer
                                                                                                             gruppe mit weniger restriktiven Maß-
      Verzerrung aufgrund der                                                                                nahmen einzureihen, ist im Artikel
      Auswahl der eingeschlossenen                                                                           nicht beschrieben. Des Weiteren
      Länder                                                                                                 wurden die Intensität der Umsetzung
      In der Publikation wird nicht schlüssig                       ne Alltagsmaske getragen hat). Wenn      bzw. Sanktionierung und die Dauer
      erklärt, warum jene zehn Länder                               für derartige Faktoren nicht statis-     der Interventionen, die zwischen den
      (Deutschland, England, Frankreich, Ita-                       tisch ausgeglichen wurde, besteht die    Ländern variierte, nicht in die Analy-
      lien, Iran, Niederlande, Schweden, Spa-                       Gefahr, dass Gleiches nicht mit Glei-    sen miteinbezogen. Die von der Stu-
      nien, Südkorea und die USA) für die                           chem verglichen wurde und verzerrte      die zitierte Datenquelle „Coronavirus
      Studie ausgewählt wurden und andere                           Ergebnisse entstehen.                    Government Response Tracker“ der
      Länder nicht. Wenn die Auswahl nicht                              Ein geringeres Risiko für systema-   Universität Oxford [1] weist mittler-
      zufällig oder nicht vollständig war, be-                      tische Verzerrungen würde bestehen,      weile Daten von 180 Ländern welt-
      steht das Risiko einer Verzerrung. Auf-                       wenn beispielsweise eine Vollerhe-       weit auf mit differenzierten Daten
      fällig ist beispielsweise, dass Länder wie                    bung innerhalb einer bestimmten          über Maßnahmen in den einzelnen
      China, Australien oder Neuseeland, in                         Gruppierung erfolgt wäre (z.B. alle      Ländern. Durch die unklare Definiti-
      denen sehr restriktive Maßnahmen zu                           OECD-Länder). Ein alternativer An-       on der Interventionskategorien ist
      einer (fast) vollständigen Durchbre-                          satz wäre gewesen, ausgehend von         fraglich, ob die Vergleiche wirklich
      chung des Pandemiegeschehens ge-                              den Fällen Südkorea und Schweden,        valide sind. So wurde z.B. Südkorea
      führt hatten, nicht bei der Auswertung                        möglichst gute Vergleichspartner zu      in die Gruppe der weniger restrikti-
      berücksichtigt wurden.                                        finden, die sich in möglichst weni-      ven Länder eingeordnet, obwohl ab
           Ein zweites Risiko für Verzerrun-                        gen Faktoren unterscheiden, außer,       Ende März 2020 auch in Südkorea
      gen ergibt sich, wenn angenommen                              dass letztere restriktivere Maßnah-      die Anweisung galt, nur für sport-
      wird, dass Maßnahmen in verschie-                             men eingeführt haben (z.B. Norwe-        liche Aktivitäten, Lebensmittelein-
      denen Ländern gleich wirken wür-                              gen oder Dänemark für das Fallbei-       käufe und notwendige Fahrten das
      den, was methodisch durch die Er-                             spiel Schweden). In beiden Fällen        Haus zu verlassen [1].
      mittlung des Effekts durch Subtrakti-                         wäre es zudem wichtig, statistisch           Das Risiko für Verzerrungen des
      on suggeriert wird. Beispielsweise                            auf andere Einflussfaktoren aus-         Ergebnisses aufgrund der Klassifikati-
      könnten Maßnahmen durch ver-                                  zugleichen, die Unterschiede zwi-        on der Interventionen wurde als
      schiedene soziokulturelle Praktiken                           schen der Wirksamkeit der Maßnah-        hoch bewertet.

      © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (3)
Glechner et al.:
COVID-19-Pandemie: Sind harte Lockdowns unwirksam?
COVID-19 Pandemic: Are Hard Lockdowns Ineffective?                                                                                     107

Verzerrung aufgrund von                  Verzerrung bei der Auswahl                           stay-at-home and business closure ef-
Abweichungen bei den                     der berichteten Endpunkte                            fects on the spread of COVID-19. Eur
                                                                                              J Clin Invest 2021: e13484
Interventionen                           Es wurde kein Studienprotokoll ver-
Die Studie bietet nicht genug Infor-     öffentlicht, in dem a priori festgelegte         3. Hsiang S, Allen D, Annan-Phan S, et
                                                                                             al. The effect of large-scale anti-con-
mation, um diese Domäne beurteilen       Endpunkte dokumentiert werden.
                                                                                             tagion policies on the COVID-19
zu können.                               Die Studie bietet nicht genug Infor-                pandemic. Nature 2020; 584: 262–7
                                         mation, um diese Domäne beurteilen
                                                                                          4. Number of coronavirus (COVID-19)
Verzerrung aufgrund von                  zu können.                                          cases in Sweden by region. www.sta
fehlenden Daten                                                                              tista.com/statistics/1103949/number-
In der vorliegenden Studie wird an       Diskussion                                          of-coronavirus-covid-19-cases-in-swe-
keiner Stelle erwähnt, für welche Da-    Die formale methodische Bewertung                   den-by-region/
ten fehlende Werte vorliegen, es gibt    der Studie von Bendavid et al. [2] zeigt         5. Assessing mandatory stay-at-home
also keinerlei Informationen darü-       schwerwiegende methodische Proble-                  and business closure effects on the
                                                                                             spread of COVID-19. Overview of at-
ber, ob relevante Daten wie End-         me auf. Die Bewertung mit hohem Ri-                 tention for article published in Euro-
punktdaten, Indikatoren und Stör-        siko für Verzerrungen bedeutet, dass                pean Journal of Clinical Investigation,
faktoren vollständig sind, bzw. wie      diese Studie keine belastbare Evidenz               February 2021: Altmetric. www.alt
viele Daten pro Variable fehlen. Es      für oder gegen die Wirksamkeit von                  metric.com/details/97143657?src
                                                                                             =bookmarklet
wird im Methodenteil auch nicht be-      restriktiven nicht-pharmakologischen
schrieben, wie mit fehlenden Daten       Maßnahmen liefert. Sie sollte nicht als          6. Bartens W. „Da gibt es doch diese
                                                                                             Studie aus Stanford ...“. Süddeutsche
im statistischen Modell umgegangen       Grundlage für Entscheidungen ver-
                                                                                             Zeitung 30.1.2021
wurde. Auf Seiten des Oxford Co-         wendet werden. Unseres Wissens ist
                                                                                          7. Buchberger B, von Elm E, Gartlehner
vid-19 Government Response Trackers      unsere Untersuchung die erste forma-                G, et al. Bewertung des Risikos für Bi-
(OxCGRT) wird erläutert, dass be-        le methodische Bewertung dieser Stu-                as in kontrollierten Studien. Bundes-
stimmte Indikatoren an manchen           die. Informelle Bewertungen durch                   gesundheitsbl 2014; 57: 1432–8
Tagen fehlen [1]. Das Ausmaß der         PubPeer, einem Online Journal Club,              8. Fletcher RH, Fletcher SW, Fletcher
fehlenden Daten und die Auswir-          zeigen jedoch ebenfalls massive me-                 GS. Clinical epidemiology: the essen-
kung auf die Ergebnisse der Studie ist   thodische Bedenken auf [10].                        tials. Alphen aan den Rijn, Walters
                                                                                             Kluwer, Lippincott Wiliams & Wilkins,
schwer einschätzbar.                         Zusammenfassend sind bei einem
                                                                                             2014
    Das Risiko für Verzerrungen des      Vergleich von mehr oder weniger res-
                                                                                          9. Sterne JAC, Hernán MA, Reeves BC,
Ergebnisses aufgrund von fehlenden       triktiven Maßnahmen viele Faktoren
                                                                                             et al. ROBINS-I: a tool for assessing
Daten wurde als moderat bewertet.        zu berücksichtigen, um die Komple-                  risk of bias in non-randomised studies
                                         xität der Maßnahmen und den Ein-                    of interventions. BMJ 2016; 355:
Bias beim Messen des                     fluss auf die Infektionsrate in den un-             i4919
Endpunkts                                terschiedlichen Ländern zu erfassen.             10. Comments on the study of Bendavid
Für die Ermittlung des Endpunkts         Eine solche Studie stellt eine große                 et al: assessing mandatory stay at
                                                                                              home business closure effects on the
„Anstieg der SARS-CoV-Neuinfektio-       Herausforderung dar, und ist mögli-
                                                                                              spread of COVID-19. https://pub
nen“, ist eine Registrierung neuer In-   cherweise nicht valide durchführbar.                 peer.com/publications/3D81CAC483
fektionen notwendig. Das Vorgehen                                                             C2021C00E27C8826DF71 (January
beim Testen wird sowohl innerhalb        Interessenkonflikte:                                 2021)
der Länder als auch zwischen den         Keine angegeben.
Ländern als äußerst variabel einge-                                                       Korrespondenzadresse
schätzt, z.B. in Bezug auf Teststrate-   Literatur
                                                                                          Dr. med. Anna Glechner
gien, Anzahl durchgeführter Tests pro    1. Coronavirus government response               Cochrane Österreich,
Zeiteinheit und Unterschiede bei den        tracker: University of Oxford. www.           Department für Evidenzbasierte
                                            bsg.ox.ac.uk/research/research-pro            Medizin und Evaluation
verwendeten Tests. Es ist zudem un-
                                            jects/coronavirus-government-re-              Donau-Universität Krems
klar, wie mit dem zeitlichen Verzug         sponse-tracker                                Dr.-Karl-Dorrek-Str. 30
zwischen einsetzender Strategie und
                                         2. Bendavid E, Oh C, Bhattacharya J, Io-         A-3500 Krems an der Donau
dem Auftreten von Infektionen um-           annidis JPA. Assessing mandatory              anna.glechner@donau-uni.ac.at
gegangen wurde. Die Ermittlung der
Wachstumsrate hängt stark vom ge-
wählten Startzeitpunkt ab, von dem
an die Fallzahlen berechnet werden.
Eine differenzierte Begründung und
Erläuterung des gewählten Startzeit-                                  Weiterbildung Psychotherapie
punkts per Land oder subnationaler                             für Allgemeinärztinnen und Allgemeinärzte
Region konnten wir nicht erkennen.
    Das Risiko für Verzerrungen des                              Wochenendkurs über 3 Jahre in Berlin, am 12.03.2021 beginnend.

Ergebnisses aufgrund von Ungleich-
                                                                   WPPA-e.V. Institut für Weiterbildung Psychosomatik und
heiten beim Messen des Endpunkts                                Psychotherapie in der Allgemeinmedizin, http://www.wppa-ev.org
wurde als hoch bewertet.
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