Wissenschaft erleben - Thünen-Institut

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Wissenschaft erleben - Thünen-Institut
Wissenschaft erleben
 Schotten dicht! – Drei Jahre russisches Importembargo auf deutsche Fleischprodukte  Buchhaltung
für die Klimapolitik  Quicklebendig aus dem Tal des Todes – Mit Bacillus vallismortis schneller und
effizienter zu 2,3-Butandiol  Interviews zum Wolf und zur Zukunftsstrategie ökologischer Landbau

2017 / 1
Wissenschaft erleben - Thünen-Institut
Inhalt
                                                        Ausgabe 1/2017

STANDPUNKT                                                                   Überfischung – ein einfaches Wort
                                                                             mit kompliziertem Inhalt
                                                                             Von Gerd Kraus und Alexander Kempf

                                                  1

INFO-SPLITTER                                                                · Holzeinschlag neu gerechnet                                                        · Schaf- und Ziegenmilch: Nische mit Potenzial
                                                                             · Leicht und bio                                                                     · Von hart bis zart
                                                  600                                                    2
                                                                             · Haltungsumgebung naturnah gestalten                                                · Überangebot an Stickstoff im Wald
                                                                                                                  in Euro/kg Schlachtgewicht (Mastschwein)

                  2–3
                                                                                                            1,9
                                                  500
                                                                                                            1,8
                       Exportwerte in Mio. Euro

                                                                                                            1,7
                                                  400
                                                                                                                               Erzeugerpreise

                                                                                                            1,6
                                                                                    20 Monate
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Wissenschaft erleben 2017/1                                                                                      STANDPUNKT   1

Überfischung – ein
einfaches Wort mit
kompliziertem Inhalt
Von Gerd Kraus und Alexander Kempf

Wann immer wir zu Vorträgen zum Thema Fisch             Fischereibiologen von Rekrutierungsüberfischung.
eingeladen werden, kommt in der Diskussion das          Die ultimative Konsequenz wäre das Aussterben
Thema Überfischung zur Sprache. Die weltweite           eines Fischbestandes. Das ist aber in der Meeresfi-
Überfischung gilt heute als eine der größten Bedro-     scherei noch nie vorgekommen, da sich bei gerin-
hungen für die Gesundheit der Meere und die wirt-       gen Bestandsgrößen gezielte Fischerei nicht mehr
schaftliche Existenzgrundlage der Fischer.              lohnt und eingestellt wird. Aber auch diesseits der
    Häufig werden zur Unterfütterung von Aussa-         Aussterbensschwelle drohen schwerwiegende Kon-
gen zur Überfischung die Zahlen der Ernährungs-         sequenzen für den Bestand, das Ökosystem sowie
und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten           für die Fischer und ihre Familien, die auf die Einnah-
Nationen (FAO) herangezogen. Die FAO sagt in            men angewiesen sind.
ihrem jüngsten Gutachten, dass sich rund 69 % der           Nach EU-Regeln gelten Bestände allerdings
weltweiten Fischbestände innerhalb nachhaltiger,        bereits als überfischt, wenn sie nicht nach dem Prin-
biologischer Grenzen befinden, wobei 58 % voll          zip des maximalen Dauerertrages bewirtschaftet
genutzt und 11 % unternutzt sind. Die verblei-          werden. Diese Form der Überfischung nennen wir
benden 31 % gelten als überfischt. Erstaunlicher-       Wachstumsüberfischung: Jenseits dieser Grenze
weise werden diese Zahlen in der öffentlichen           lassen sich die Erträge pro Fangstunde nicht stei-
Debatte fast immer anders interpretiert: Die 58 %       gern oder nehmen sogar wieder ab, aber es wird
voll genutzter Bestände werden mit den überfisch-       nicht zwingend so viel gefangen, dass schwerwie-
ten in einen Topf geworfen und diese Gruppe dann        gende biologische Konsequenzen eintreten. Knapp
als »bis an die Grenze genutzt oder überfischt«         die Hälfte der Fischbestände im Europäischen Nord-
bezeichnet. So kommt man schnell zu dem Ergeb-          atlantik leiden darunter, aber immerhin 38 % davon
nis, dass der weit überwiegende Anteil unserer          sind zusätzlich noch rekrutierungsüberfischt, da
Fischbestände in größter Gefahr schwebt, obwohl         sich die Bestände nach Jahrzehnten allzu intensiver
»voll genutzt« das international vereinbarte, nach-     Fischerei nur langsam erholen.
haltige Managementziel des maximalen Dauerer-               Bei genauerer Betrachtung wird deutlich: Über-
trages bezeichnet.                                      fischung ist aus ökonomischer Sicht immer schlecht,
    Noch verwirrender wird das Ganze, weil nicht        aber nicht jede Form der Überfischung ist gleich-
nur die FAO Zustandsbewertungen für Fischbe-            zusetzen mit einer ökologischen Katastrophe in
stände herausgibt, sondern auch die EU-Kommis-          den Meeren. Nachhaltige Fischerei und Schutz der
sion und nationale Behörden. Dabei sind allerdings      Meere sind über gute, wissenschaftlich fundierte
weder Datengrundlagen noch Schwellenwerte zur           Managementkonzepte miteinander vereinbar und
Überfischung global vereinheitlicht, und es gibt fun-   zwingend erforderlich, um der globalen Heraus-
damental unterschiedliche theoretische Ansätze für      forderung der Ernährungssicherung zu begegnen.
ihre Definition. Hier gehört endlich Klarheit in die    Unnötige Panikmache in Sachen Überfischung nützt
Diskussion!                                             niemandem und macht unsensibel gegenüber den
    Wenn Fischerei dazu führt, dass mehr Fische         langfristigen Bedrohungen der Meere, wie der Zer-
aus einem Bestand entnommen werden, als in den          störung von Lebensräumen (auch durch Fischerei),
Folgejahren durch natürliche Vermehrung und             dem Klimawandel samt Ozeanversauerung oder der
Zuwanderung nachwachsen können, sprechen                zunehmenden Vermüllung der Meere.                   
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2   INFO-SPLITTER

InfoSplitter

Holzeinschlag neu                                     Leicht und bio                                         Haltungsumgebung
gerechnet                                                                                                    naturnah gestalten
                                                      Viele Möbel bestehen aus Holzwerkstoffen wie
Die amtliche Holzeinschlagstatistik unterschätzt      Spanplatten oder Sperrholz als Trägermaterial,         Lachsartige Fische, wie Forellen und Saiblinge,
den tatsächlichen Holzeinschlag in Deutschland        häufig versteckt unter einer dekorativen Oberflä-      wachsen während der Aufzucht üblicherweise
deutlich. Zu diesem Ergebnis kommt eine Unter-        che. Sie sind meist preiswert, nachteilig ist aller-   in Haltungseinrichtungen ohne Kies und jegli-
suchung des Thünen-Instituts für Internationale       dings ihr hohes Gewicht beim Transport. Wissen-        che Strukturen auf. Dies erleichtert die Handha-
Waldwirtschaft und Forstökonomie und der Uni-         schaftler des Thünen-Instituts für Holzforschung       bung, die täglichen Arbeitsroutinen und die Rei-
versität Hamburg.                                     haben gemeinsam mit Forschungspartnern                 nigung; die Haltungsumgebung ist aber mono-
   Die Wissenschaftler nutzten ein modifiziertes      nach einer Lösung gesucht, damit Werkstoffe mit        ton und wenig naturnah. Nicht zuletzt im Zuge
Modell, welches unterschiedlichste Informatio-        leichterem Material die gleiche Leistung erzielen      der öffentlichen Diskussion um tiergerechte
nen und eigens modellierte Daten zur Rohholz-         können. Basis war ein im Thünen-Institut bereits       Haltungsformen haben Wissenschaftler des
verwendung mit Lagerbestandsveränderungen             entwickeltes Herstellungskonzept für Sandwich-         Thünen-Instituts für Fischereiökologie zusam-
und dem Außenhandel verrechnet. Berücksich-           platten, bei dem der Innenteil aus einem festen        men mit Fischzuchtbetrieben untersucht, wie
tigt wurden auch die gefällten, aber im Wald ver-     Schaummaterial – allerdings erdölbasiert – be-         eine natürlichere Haltung aussehen könnte.
bliebenen Holzmengen.                                 steht. Ziel war es, einen Schaum aus nachwach-             Auf den Betrieben wurden Forellen und Saib-
   Die jährliche Differenz zwischen der amtli-        senden Rohstoffen zu entwickeln, der industriell       linge auf konventionelle und auf naturnahe Wei-
chen Statistik und den eigenen Ergebnissen be-        verarbeitet werden kann.                               se erbrütet und aufgezogen. Zur naturnahen Er-
trägt durchschnittlich ca. 16 Mio. m³, wobei sie in       Als geeignet hat sich ein Biopolymerschaum         brütung wurden die Bruteinsätze mit einer Lage
den einzelnen Jahren deutlich variiert (im Zeit-      auf Basis von Celluloseacetat erwiesen. Dieser         aus feinkörnigem Kies versehen. In die zur weite-
raum 1995 bis 2015 zwischen 8 und 21 Mio. m³).        kann das Gewicht der Werkstoffe um die Hälfte          ren Aufzucht verwendeten Rinnen und Becken
Somit werden im Mittel nur ca. 75 % des berech-       senken, wobei die relevanten Eigenschaften auf         wurde eine dünne Schicht aus gewaschenem
neten Holzeinschlags amtlich erfasst. Die Ergeb-      gleichem Niveau bleiben oder sogar besser wer-         Sand eingebracht. Es zeigte sich, dass die natur-
nisse konnten durch die Befunde der dritten           den. Für Verbraucher und Handel attraktiv, denn        nahe Aufzucht auf Kies und Sand gut in der Praxis
Bundeswaldinventur verifiziert werden.                Pakete aus dem Möbelmarkt ließen sich dadurch          anwendbar ist, allerdings mit etwas höherem Ar-
   Neben möglichen stichprobenbedingten               leichter transportieren. Die Herstellung funktio-      beitsaufwand als in der konventionellen Auf-
Fehlern in Erhebungen kann die Diskrepanz             niert ebenso gut wie mit fossil basierten Syste-       zucht. Der Gesundheitszustand der Fische war in
auch dem Umstand geschuldet sein, dass ca.            men. Auch wenn es sich derzeit erst um eine La-        beiden Ansätzen vergleichbar gut. Forellen
48 % der Waldfläche in Privatbesitz sind und die      borlösung handelt, wurde gezeigt, dass leichte         wuchsen unter den modifizierten Bedingungen
Einschlagszahlen für den Privatwald zumeist ge-       Bioschäume für eine Industrieanwendung mög-            ebenso gut wie unter konventionellen Bedingun-
schätzt werden.                                       lich sind. Wirtschaftlich kann ein solches System      gen. Saiblinge wuchsen signifikant besser, wenn
   Für die Ermittlung ungenutzter Rohholzpo-          dann sein, wenn sich der Mehrwert des geringen         sie in einer naturnahen Umgebung erbrütet und
tenziale sowie die Bewertung der Nachhaltigkeit       Gewichts auszahlt. Das eingesparte Holz wird zu-       aufgezogen wurden. Anders als Forellen schei-
der deutschen Forstwirtschaft sind derartige          dem für andere Verwendungen frei.                      nen Saiblinge auf dem Substrat ruhiger zu ste-
Fehlmengen in der Statistik von großer Bedeu-             In nächsten Schritten sollen die Eigenschaf-       hen. Hierdurch wird Energie eingespart, die zu-
tung. Ergebnisse der Berechnungen können auf          ten des neuen Biopolymers weiter verbessert            sätzlich für das Wachstum zur Verfügung steht.
der Webseite des Instituts (www.thuenen.de/wf)        und neue Anwendungsgebiete erschlossen wer-                Die Ergebnisse stehen als praktischer Leitfa-
unter »Zahlen und Fakten« abgerufen werden.           den.                                         MO       den auf der Thünen-Webseite zum Download
 		                                         NW                                                              zur Verfügung.                              UK 
                                                      KONTAKT: jan.luedtke@thuenen.de
KONTAKT: dominik.jochem@thuenen.de                                                                           KONTAKT: stefan.reiser@thuenen.de
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Wissenschaft erleben 2016 /2                                                                                                                INFO-SPLITTER     3

Schaf- und Ziegenmilch:                                  Von hart bis zart                                    Überangebot an Stickstoff
Nische mit Potenzial                                                                                          im Wald
                                                         Polyester repräsentieren eine wichtige Gruppe
Produkte aus Schaf- und Ziegenmilch erfreuen             der Kunststoffe. Je nach Art können sie für Texti-   Stickstoff (N) ist ein wichtiger Nährstoff für Bäu-
sich in Deutschland wachsender Beliebtheit.              lien, Flaschen, Verpackungsfolien, für Faserver-     me. Unter natürlichen Bedingungen ist er für die
Dementsprechend wuchs die Zahl der Schaf-                bundwerkstoffe oder als Lacke und Beschichtun-       Wälder in Europa ein Faktor, der ihr Wachstum li-
und Ziegenmilchproduzenten seit Anfang der               gen eingesetzt werden. Für letztere kommen vor       mitiert. Dieser Zustand hat sich stark gewandelt.
1990er Jahre. Geschätzt werden Zunahmen von              allem ungesättigte Polyesterharze in Betracht.       Seit einigen Jahrzehnten werden erhöhte Stick-
bis zu 10 % jährlich. Genaue Zahlen sind nicht               Im Rahmen eines europäischen Verbundpro-         stoffeinträge in Wälder gemessen. Diese stam-
verfügbar, da die amtliche Statistik diesen doch         jekts hatte das Thünen-Institut für Agrartechno-     men aus der Landwirtschaft, aus dem Verkehr
recht kleinen Markt in den letzten Jahrzehnten           logie die Aufgabe übernommen, Polyesterharze         oder anderen Verbrennungsprozessen. Zu hohe
nicht erfasst hat. Ohne genaue Daten über Pro-           aus agrarischen Reststoffen herzustellen. Hierfür    Einträge können negative Auswirkungen haben
duktionsmengen, Betriebsstrukturen und Ein-              wurde Weizenspreu als Ausgangsstoff verwen-          wie Veränderung der Artenzusammensetzung,
schätzungen zum Handlungsbedarf kann die                 det. Nach dessen Vorbehandlung und Aufschluss        Nitratauswaschung ins Grundwasser oder gas-
Weiterentwicklung des Sektors aber nicht sinn-           wurden die darin enthaltenen Zucker nach Auf-        förmige, klimarelevante Ausgasungen.
voll geplant werden.                                     reinigung biotechnisch zu Itaconsäure umge-              Zur Abschätzung des langfristigen Gefähr-
    Die Bioland Beratung GmbH hat daher ge-              setzt.                                               dungspotenzials von Wäldern durch N-Einträge
meinsam mit der BAT Beratung Artgerechte Tier-               Des Weiteren wurde ein katalytisches Verfah-     aus der Luft hat das Thünen-Institut für Waldöko-
haltung e.V. und dem Thünen-Institut für Ökolo-          ren entwickelt, Itaconsäure zu Methylbernstein-      systeme kritische Belastungsgrenzen für Wälder
gischen Landbau eine Systemanalyse der                   säure zu hydrieren. Zusammen mit dem eben-           und ihre Überschreitungen berechnet. Bei dieser
Schaf- und Ziegenmilchproduktion in Deutsch-             falls biobasierten 1,3-Propandiol wurden an-         Betrachtung müssen – ähnlich wie bei einer
land erstellt. Die Daten wurden mithilfe schriftli-      schließend Polyester hergestellt und durch           Waage – Einträge auf der einen Seite sowie Aus-
cher und mündlicher Befragungen gewonnen.                Quervernetzung, also die Verbindung benach-          träge und Immobilisation auf der anderen Seite
    Die Ergebnisse (veröffentlicht bei orgprints.        barter Molekülketten, ausgehärtet. Da in den Po-     innerhalb des Waldökosystems ausgeglichen
org) zeigen für die 290 befragten Schaf- und Zie-        lyesterketten nur die ungesättigte Itaconsäure       sein. An den Punkten der Bodenzustandserhe-
genmilchproduzenten jeweils Schwerpunkte in              zur Quervernetzung beiträgt, kann über das Mi-       bung wurde die Belastungsgrenze im Jahr 2015
den südlichen Bundesländern. Rund zwei Drittel           schungsverhältnis von Itacon- und Methylbern-        an 52 % der Punkte überschritten. Im Oberboden
der Erzeuger bewirtschaften ihre Betriebe ökolo-         steinsäure die Festigkeit des Polyesterharzes        nahmen die Stickstoffvorräte zu, während sie in
gisch. Die Ziegenbetriebe sind mit durchschnitt-         quasi maßgeschneidert werden.                        den unteren Tiefen abnahmen. Dies spricht da-
lich 125 Tieren größer als die Schafbetriebe mit             Damit stehen in einfacher Weise harte oder       für, dass die Bindungsfähigkeit für Stickstoff von
96 Tieren. 35 % der befragten Milchziegenbetrie-         auch zarte, das heißt flexible, Polyesterharze zur   Wäldern erreicht ist. Diese ist in Wäldern nur ge-
be bzw. 10 % der Milchschafbetriebe liefern die          Verfügung, die vollständig biobasiert sind. Die      ring und wird vor allem durch den Zuwachs der
Milch an eine Molkerei ab, die meisten verarbei-         harten können beispielsweise als Grundkompo-         Bäume und die Immobilisation im Boden be-
ten sie selbst. Für die Verarbeiter ist dabei die Sai-   nente in hochfesten Faserverbundwerkstoffen          stimmt. Betroffen sind vor allem Regionen mit
sonalität der Produktion ein Problem. For-               verwendet werden, während die zarten eine flexi-     hohen N-Einträgen, z. B. aus der Landwirtschaft,
schungsbedarf besteht in hohem Maße bei der              ble Beschichtung bilden, die nicht abplatzt. UP     und Wälder mit geringer Bindungsfähigkeit wie
Tiergesundheit, der Fütterung und Haltung so-                                                                 in Nordwestdeutschland.                      NW 
wie bei der Vermarktung von Lämmern. MW                 KONTAKT: henning.storz@thuenen.de
                                                                                                              KONTAKT: nicole.wellbrock@thuenen.de
KONTAKT: heiko.georg@thuenen.de
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4    FORSCHUNG

                                  Schotten dicht!
                                  Drei Jahre russisches Importembargo auf deutsche Fleischprodukte
                                  Das 2014 verhängte Importverbot auf Schweinefleisch hat zu drastischen Rückgän-
                                  gen der deutschen und europäischen Schweinefleischexporte nach Russland ge-
                                  führt. Wissenschaftler des Thünen-Instituts haben sich der Frage gewidmet, wie die
                                  deutsch-russischen Handelsströme aussehen würden, falls das Embargo demnächst
                                  aufgehoben wird. Die Entwicklungen im russischen Schweinefleischsektor deuten
                                  darauf hin, dass die Situation vor dem Embargo passé ist.

                                  Als Reflex auf die Sanktionen des Westens im Zuge        zurückgegriffen werden; zeitweise stellte Russland
                                  der russischen Annexion der Krim hat Russland am         sogar einen der größten Importeure für Fleisch-
                                  6. August 2014 ein Importverbot auf Agrarprodukte        waren weltweit dar. Um hier gegenzusteuern, hat
                                  aus der EU, den USA, Kanada, Australien und Norwe-       der Kreml seine Agrarpolitik neu ausgerichtet. Im
                                  gen verhängt. Das zunächst auf ein Jahr angelegte        Fleischsektor soll der Selbstversorgungsrad insge-
                                  Embargo wurde mehrfach verlängert und läuft am           samt von etwa 70 % im Jahr 2012 auf knapp 90 %
                                  31. Dezember 2017 aus; weitere Verlängerungen            im Jahr 2020 erhöht werden. Dieses Ziel wird mit
                                  sind jedoch durchaus möglich. Das Importverbot           diversen handelspolitischen Maßnahmen flan-
                                  umfasst neben Fleisch und Fleischprodukten von           kiert, wie etwa dem Einfuhrverbot für europäisches
                                  Rindern, Schweinen und Geflügel auch Fisch und           Schweinefleisch wegen der Afrikanischen Schwei-
                                  Meeresfrüchte, Milch und Milchprodukte sowie             nepest im Februar 2014, welches mittlerweile von
                                  Obst, Gemüse und Nüsse. Obwohl sich das Embargo          der Welthandelsorganisation (WTO) als unrecht-
                                  auf alle oben genannten Produkte auswirkt, erge-         mäßig beurteilt wurde. In diesem Licht ist das rus-
                                  ben sich für Schweinefleisch die größten Marktver-       sische Embargo auch als drastische Maßnahme zur
                                  werfungen. Vor diesem Hintergrund soll der Fokus         Erzielung eines höheren Selbstversorgungsgrades
                                  im Folgenden auf Schweinefleisch gelegt werden.          zu sehen.
                                                                                                Betrachtet man den zeitlichen Verlauf der rus-
                                  Trend zu höherer Selbstversorgung                        sischen Schweinefleischimporte, wird deutlich,
                                  Um die Ereignisse besser beurteilen zu können, ist es    dass die Importe seit Inkrafttreten des Embargos
                                  sinnvoll, sie in den Kontext der jüngeren historischen   abgenommen haben. Neben dem Importstopp
                                  Entwicklung Russlands zu setzen. Mit dem Fall des        ist der schwache Rubel für diese Entwicklung ver-
                                  Eisernen Vorhangs kam es zu Marktreformen, die           antwortlich. So ist auch zu erklären, dass die aus
                                  zu einem starken Rückgang der russischen Fleisch-        dem Westen weggefallenen Fleischimporte nicht
                                  produktion führten. Um den heimischen Bedarf             wesentlich durch einen vermehrten Import aus nicht
                                  an Fleisch zu decken, musste verstärkt auf Importe       vom Embargo betroffenen Ländern kompensiert
                                                                                           werden. Beim Schweinefleisch stellte die EU den mit
                Produktion und
                                               2013      2014      2015      2016          Abstand wichtigsten Lieferanten Russlands dar. Es
             Konsum in 1.000 t,
    Selbstversorgungsgrad in %
                                  Produktion   2190      2510      2630      2780          ist zu beachten, dass Russland aufgrund der Afrika-
                   in Russland.   Konsum       3090      3024      2929      2979          nischen Schweinepest im Februar 2014, also bereits
                                  SVG          71        83        90        93            ein halbes Jahr vor dem Embargo, ein Einfuhrverbot
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Wissenschaft erleben 2017/1                                                                                                                                  FORSCHUNG                                    5

                                                                                    600                                                                               2

                                                                                                                                                                             in Euro/kg Schlachtgewicht (Mastschwein)
                                                                                                                                                                      1,9
                                                                                    500
                                                                                                                                                                      1,8

                                                         Importwerte in Mio. Euro
                                                                                                                                                                      1,7
                                                                                    400

                                                                                                                                                                                          Erzeugerpreise
                                                                                                                                                                      1,6
                                                                                                                                 20 Monate
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6   FORSCHUNG

                Quicklebendig aus dem Tal des Todes
                Mit Bacillus vallismortis schneller und effizienter zu 2,3-Butandiol
                Wenn es um die biotechnologische Herstellung von Stoffen für die chemische Indus-
                trie geht, sind die verwendeten Mikroorganismen das A und O. Sie entscheiden darü-
                ber, ob bestimmte Synthesewege in effizienter Weise möglich sind. Doch wie findet
                man in der schier unüberschaubaren Vielfalt der Bakterien und Pilze den speziellen
                Stamm, der alle notwendigen Anforderungen erfüllt? Es braucht Spürsinn, analyti-
                sches Denken – und das kleine Quäntchen Glück.

                2,3-Butandiol (2,3-BDO) ist eine biobasierte Chemi-      Umkreis der Gattung Bacillus in den Fokus. Doch
                kalie. Sie kann als Ausgangsmaterial für Methylethyl-    auch hier gibt es noch immer mehr als 200 Fami-
                keton, ein viel verwendetes Lösungsmittel in Farben      lienmitglieder! Somit beschränkten die Forscher
                und Lacken, oder auch 1,3-Butadien, dem Grund-           ihre Auswahl nur auf die nächsten Verwandten der
                stoff für Gummi, genutzt werden. Derzeit werden          bekannten 2,3-BDO-Produzenten. Bakterien mit
                beide Chemikalien noch aus fossilen Rohstoffen           exotischen Namen wie Bacillus amyloliquefaciens, B.
                hergestellt. Mit der Entwicklung eines geeigneten        atrophaeus, B. mojavensis oder B. vallismortis kamen
                biotechnischen Produktionsverfahrens von 2,3-BDO         in Betracht. Diese wurden daraufhin bei verschie-
                könnten beide Stoffe in Zukunft aus nachwachsen-         denen Bakterien-Stammsammlungen bestellt.
                den Rostoffen hergestellt werden.
                                                                         Welcher Rohstoff eignet sich?
                Suche nach neuen Bakterien                               Ein Zucker muss es sein, um gut von den Bakterien
                Doch der Weg dahin ist lang. Zwar sind schon viele       genutzt werden zu können. Um nicht in Konkurrenz
                Bakterien zur biotechnischen Herstellung von             mit der Lebensmittel- oder Futterindustrie zu gera-
                2,3-BDO bekannt, doch es gibt Probleme bei der           ten, fiel die Wahl auf Hemicellulosen aus Birkenholz.
                industriellen Umsetzung. Einige der Bakterien sind       Sie kommen in großen Mengen vor und werden
                gesundheitsgefährdend für den Menschen. Andere           derzeit nur wenig genutzt. Die Hemicellulose ist im
                sind zwar ungefährlich, benötigen für die Fermenta-      Wesentlichen aus Xylose-Zucker-Einheiten aufge-
                tion von 2,3-BDO aber viele teure Zusatzstoffe.          baut und lässt sich einfach in die Zuckermonomere
                    Das Thünen-Institut begab sich nun auf die           zerlegen. Doch bei der Gewinnung von Xylose aus
                Suche nach neuen geeigneten Bakterien, die weder         Holz entstehen auch noch Nebenprodukte, die
                ein Risiko für den Menschen darstellen, noch wei-        die Umsetzung von den Bakterien stören können.
                tere teure Stoffe benötigen. Doch dieses Screening       Im Screening-Prozess müssen die Nebenprodukte
                gestaltete sich alles andere als einfach. Es gibt über   daher mit einbezogen werden.
                10.000 bekannte Bakterienarten. Wo also anfan-
                gen? Die Forscher des Instituts grenzten die Suche       Untersuchung der neuen Bakterien
                zunächst ein und konzentrierten sich auf Bakterien,      Im Screening wurden 15 Stämme untersucht und
                die für die Produktion von 2,3-BDO bereits bekannt       verglichen. Im ersten Versuch wurden alle Stämme
                sind. Hier rückten vor allem Bakterien aus dem           zunächst mit dem Zucker Glucose kultiviert. Dieser
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Wissenschaft erleben 2017/1                                                                                     FORSCHUNG   7

Zucker wird von den meisten Bakterien bevorzugt,        gewünschten Eigenschaften, nach denen gesucht
daher lässt sich ein allgemeiner Vergleich bei guten    wurde. Es ist für den Menschen ungefährlich, kann
Wachstumsbedingungen ziehen. Bereits in diesem          Zucker aus hydrolysierter Biomasse sehr gut ver-
ersten Versuch zeigten sich Unterschiede in der         werten und benötigt kaum Zusatzstoffe, was Kosten
Produktion. Drei der Stämme bildeten kein 2,3-BDO       spart. Vielleicht sind es die unwirtlichen Lebens-
und konnten direkt ausgeschlossen werden.               bedingungen in der Heimat von B. vallismortis, die
    In der zweiten Versuchsreihe wurde Glucose          dieses Bakterium besonders robust und bescheiden
durch Xylose ersetzt. Hier zeigten sich große           gemacht haben.
Unterschiede. Von den verbleibenden 12 Stäm-                Dabei zeichnet sich B. vallismortis gegenüber
men konnten nur zwei Stämme die Xylose gut ver-         anderen bekannten Produzenten durch eine breite
werten.                                                 Akzeptanz unterschiedlicher Rohstoffe, eine gute
    Durch die Zugabe von Nebenprodukten in einer        Ausbeute und hohe Endkonzentration aus. So lassen
dritten Versuchsreihe kristallisierte sich ein Bakte-   sich mit Glucose 2,3-BDO-Endkonzentrationen von
rium heraus, das deutlich besser abschnitt als all      weit über 100 g/L erzielen, mit Xylose bislang 80
die anderen. Genetisch waren zwar alle getesteten       g/L, wobei hier noch weiteres Optimierungspoten-
Bakterien nahezu identisch, doch mit ungünstigen        zial gesehen wird. Die Ausbeute an 2,3-BDO liegt
Bedingungen kam nur dieses eine Familienmitglied        bei 0,43 bis 0,45 g pro Gramm eingesetztem Zucker,
deutlich besser zurecht als der Rest. Die Xylose        Werte, die nahe am theoretisch Möglichen liegen.
wurde von dem Bakterium beinahe so gut umge-            Weiterhin toleriert B. vallismortis viele Hemmstoffe,
setzt wie der Lieblingszucker Glucose. Auch von den     die in aufgeschlossenen Biomassen zu finden sind.
Nebenprodukten ließ sich dieses robuste Bakterium       Die Produktivität der 2,3-Butandiolherstellung ist
nicht beeindrucken. Es stammt aus dem US-ameri-         zudem rund doppelt so hoch wie bei anderen Pro-
kanischen Death Valley, dem Tal des Todes, daher        duzenten – ein Zeichen dafür, dass Bewohner des
der Name Bacillus vallismortis.                         Tals des Todes durchaus quicklebendig sein können.
                                                        Durch die Entdeckung von B. vallismortis rückt die
2,3-BDO-Herstellung mit B. vallismortis                 Aussicht auf einen wirtschaftlichen industriellen
Das vom Thünen-Institut für die 2,3-BDO-Produk-         Prozess ein großes Stück näher.                 UP 
tion entdeckte Bakterium wurde genauer unter
die Lupe genommen. Das Bakterium hat all die            KONTAKT: malee.kallbach@thuenen.de
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8   MENSCHEN & MEINUNGEN

                           »Beim Wolf ist der Faktor Mensch
                           entscheidend...«
                           Ein Gespräch über die Rückkehr der grauen Räuber
                           Die Zahl der Wölfe in Deutschland steigt. Die einen freut dies, die anderen sehen
                           eher Konflikte. Welche Fakten sind bekannt und wie kann ein Ausgleich zwischen
                           den Interessen gefunden werden? Diese Fragen beantwortet Wildtierökologe Frank
                           Tottewitz.

                           In den Medien wird viel und kontrovers über den         polnischen Gebieten alle potenziell geeigneten
                           Wolf diskutiert. Wie sieht es mit den Fakten aus?       Lebensräume für den Wolf in Deutschland erfasst.
                           Es gibt im Rahmen der Berner Konvention zur Erhal-      Mit diesem theoretischen Modell ist ermittelt
                           tung wild lebender Arten einen europäischen Wolfs-      worden, dass es hier Platz für maximal 440 Wolfsru-
                           Aktionsplan aus dem Jahr 2000. Er verfolgt das Ziel,    del gibt.
                           dass sich Wölfe in Europa wieder flächendeckend
                           ausbreiten und sich eine lebensfähige Wolfspopu-        Wie steht das Thünen-Institut zu diesem Modell-
                           lation als integraler Bestandteil der europäischen      wert?
                           Landschaft entwickelt und erhalten bleibt. Nach         Dass es sich hierbei nicht um einen Zielwert han-
                           der Ausrottung vor rund 150 Jahren ist der Wolf         deln kann, zeigt bereits die derzeitige Situation.
                           nun zurück und breitet sich schneller aus als von       Zum einen halten sich oftmals Populationen nicht
                           vielen Experten erwartet. Im September 2016 hat         an solche Modelle. Zum anderen bleibt der Faktor
                           das Bundesamt für Naturschutz für Deutschland           Mensch in solchen Betrachtungen völlig unbeach-
                           46 bestätigte Wolfsrudel und weitere 15 bestätigte      tet. Und besonders beim Wolf spielt dieser die ent-
                           Wolfspaare bekannt gegeben.                             scheidende Rolle. Akzeptanz und Finanzierbarkeit
                                                                                   von Entschädigungen für Nutztierrisse nehmen
                           Das Fachgebiet Wildtierökologie am Thünen-              dabei eine Schlüsselstellung ein.
                           Institut beschäftigt sich eigentlich nur mit
                           bejagdbarem Wild. Jetzt auch mit dem Wolf?
                           Wir beraten das BMEL zu allen Fragen des Wild-
                           tiermanagements, des Artenschutzes und der Tier-
                           seuchenbekämpfung. Das betrifft vorrangig die
                           jagdbaren Wildarten. Der Wolf unterliegt nur in
                           Sachsen dem Jagdrecht. Demgegenüber sind aber
                           seine natürlichen Beutetiere vorrangig Tierarten, die
                           bejagt werden. Insofern übt die Dichte und Rudel-
                           verteilung der Wölfe einen entscheidenden Einfluss
                           auf das Verhalten der Beutetiere. Abschusspläne und
                           Bejagungsstrategien müssen angepasst werden.

                           Wie viel Wölfe »verträgt« Deutschland?
                           Um dieser Frage nachzugehen, hat das Bundes-
                           amt für Naturschutz im Jahr 2009 eine Studie in
                           Auftrag gegeben, die anhand von Vergleichen mit
Wissenschaft erleben 2017/1                                                                                        MENSCHEN & MEINUNGEN   9

Wenn die Zahl der Wölfe zunimmt, steigt dann
auch die Anzahl der Konflikte?
Das lässt sich so nicht pauschalisieren und ist sicher-
lich von Bundesland zu Bundesland verschieden.
Fakt ist, dass bereits jetzt bei der derzeitigen Besie-
delungsdichte die Zahl der Konflikte, vorrangig mit
Weidetierhaltern, kontinuierlich zugenommen hat.
Und eine immer großflächigere Ausbreitung der
Wölfe mit einem jährlichen Zuwachs von 30 %, trotz
zahlreicher Verluste, trägt in diesem Zusammen-
hang nicht zu einer Verbesserung der Situation bei.

Dürfen Wölfe außerhalb von Sachsen, wo sie dem
Jagdrecht unterliegen, geschossen werden?
Bereits jetzt können in bestimmten Fällen Problem-
wölfe erlegt werden, die verhaltensauffällig gewor-
den sind. Dass dies äußerst schwierig ist, zeigte nicht
zuletzt ein Problemwolf in der Stadt Rathenow.
Nachdem er ohne sichtbare Scheu mehrmals in
der Stadt gesehen wurde, fürchtete der Leiter der
örtlichen Schule um die Sicherheit der Schulkinder.
Der Wolf wurde zum Abschuss frei gegeben. Dazu
kam es allerdings nicht, weil er wieder die freie Wild-
bahn aufgesucht hatte. Ist er aber dadurch kein Pro-
blemwolf mehr? Das ist eine schwierige Frage, die
nur durch ein funktionierendes Monitoring für alle        Wie sähe ein Wolfs-Management aus Sicht des
Wölfe z. B. über Fotofallen zu beantworten ist.           Thünen-Instituts aus?
                                                          Zunächst sollten wir möglichst frühzeitig eine Strate-
Und wie sieht es mit den Wölfen aus, die nicht ver-       gie entwickeln, die künftigen Maßnahmen zugrunde
haltensauffällig sind? Geht es ohne Regulation?           liegt und die auf breiter Akzeptanz basiert. Für
Eine biologische Selbstregulation durch Verringe-         ein Management sollten unvoreingenommen alle
rung der Zuwachsrate ist unter den Bedingungen            Möglichkeiten diskutiert werden: Meldewege, Ver-
unserer Kulturlandschaft mit einer Vielzahl an geeig-     antwortlichkeiten, Entnahmen, Wolfsgebiete oder
neten Lebensräumen mit »reich gedecktem Tisch«            wolfsfreie Zonierungen und vieles mehr. Eingriffe
eine Illusion. Bereits jetzt hat sich die Akzeptanz       in die Bestände, die auf breiter Basis abgestimmt
im ländlichen Raum zunehmend verringert. Nach             sind, würden auch dazu beitragen, dass der Wolf
Angaben des Bundesamtes für Naturschutz wurden            die nötige Scheu vor dem Menschen aufbaut. Der
bisher für Nutztiere, die von Wölfen getötet wurden,      Wolf ist ein hochintelligenter und auf großer Fläche
knapp 108.000 Euro Ausgleichszahlungen geleistet.         lebender Spitzenprädator, der auch nur auf großer
Und einer ständig zunehmenden Finanzierung von            Fläche gemanagt werden kann. Er ist zweifellos eine
Präventionsmaßnahmen und Entschädigungen sind             hochinteressante Tierart und eine Bereicherung der
zwangsläufig Grenzen gesetzt. Es bedarf also einer        heimischen Tierwelt. Es wäre fatal, den Dialog erst
gesellschaftlichen Diskussion, in welchem Maß der         dann zu suchen, wenn das Ruder bereits aus den
Wolf bei uns akzeptiert wird und was wir uns seine        Händen geglitten ist und Aktionismus das Handeln
Wiederkehr kosten lassen wollen. Letztlich wird die       bestimmt.
Zahl der in Deutschland lebenden Wölfe ein Kom-
promiss aus wildbiologisch sinnvoller und gesell-         Vielen Dank für das Gespräch.                   NW 
schaftlich akzeptierter Zahl sein.
10    FORSCHUNG

                               Alles hat seinen Preis
                               Kosten der Schutz- und Erholungsleistungen im Wald
                               Die deutschen Forstbetriebe sind gesetzlich verpflichtet, den Wald ordnungsgemäß
                               und nachhaltig zu bewirtschaften. Viele gesellschaftliche Gruppen legen großen
                               Wert auf diverse Schutz- und Erholungsleistungen des Waldes, und sie richten
                               entsprechende Forderungen an die Politik. Wie hoch die Kosten sind, die bei den
                               Forstbetrieben durch diese Leistungen verursacht werden, hat das Thünen-Institut
                               ermittelt.

                               Waldbesitzer müssen viele gesetzliche und außer-          für Schutz- und Erholungsleistungen bereits heute
                               gesetzliche Vorgaben beachten. Diese zielen darauf        tragen, zumindest ungefähr bekannt sein. Aus
                               ab, dass der Wald den vielfältigen Ansprüchen, die        diesem Grunde muss die Bundesregierung dem
                               an ihn gestellt werden, dauerhaft gerecht werden          Bundestag gemäß § 41 (3) des Bundeswaldgesetzes
                               kann. Neben der Holzproduktion (Nutzfunktion)             berichten, wie hoch die Belastungen sind, die aus der
                               geht es dabei um verschiedene Schutz- und Erho-           Schutz- und Erholungsfunktion des Waldes erwach-
                               lungsfunktionen, insbesondere für den Natur- und          sen. Da diese nicht einfach aus einer Statistik abge-
                               Wasserhaushalt, das Landschaftsbild und den Erho-         lesen werden können, hat sie das Thünen-Institut für
                               lungswert.                                                den Körperschafts- und Privatwald untersucht.
                                   Die Frage, wie die Vorgaben für die Forst-
                               wirtschaft weiterentwickelt werden sollen, ist ein        Buchführungsdaten und ergänzende
                               politischer Dauerbrenner. Dabei sind schwierige           Befragungen
                               Abwägungen zu treffen, denn eine Steigerung der           Als Datengrundlage wurde das Testbetriebsnetz
                               Schutz- und Erholungsfunktion ist für die Volkswirt-      Forst gewählt. Dieses weist die Buchführungser-
                               schaft nicht kostenlos. Aus forstpolitischer Sicht ist    gebnisse einer Stichprobe von Betrieben ab 200
                               hier zweierlei zu entscheiden. Erstens: Wie viel ist      Hektar Wald aus. Die Auswertung der Bücher ergab,
                               uns als Gesellschaft eine verbesserte Schutz- und         dass sich die Netto-Belastungen (Aufwand minus
                               Erholungsfunktion wert, d. h. welche Mehrkosten           Erträge) für die Erbringung von Schutz- und Erho-
                               wollen wir hierfür in Kauf nehmen? Zweitens: Wer          lungsleistungen im Jahr 2011, dem Basisjahr der
                               soll die Mehrkosten tragen, d. h. zu welchem Teil         Studie, auf durchschnittlich 17 Euro/ha im Körper-
                               wollen wir sie den Waldbesitzern aufbürden und zu         schaftswald und auf durchschnittlich 5 Euro/ha im
                               welchem Teil allen Bürgern?                               Privatwald beliefen. Die von den Betrieben empfan-
                                   Damit die Politik solche Entscheidungen tref-         genen Fördermittel von 4 Euro/ha (Körperschafts-
                               fen kann, müssen die Kosten, die die Forstbetriebe        wald) bzw. einem Euro/ha (Privatwald) sind hier
                                                                                         schon eingerechnet.
Steuergröße                        Körperschaftswald                 Privatwald              Doch neben den unmittelbar verbuchten Mehr-
                               Realbetrieb Referenzbetrieb Realbetrieb Referenzbetrieb   aufwendungen gibt es weitere Belastungen, die
Anteil Nadelbäume (%)             54,7          59,3          56,5            63,5       sich nicht aus der Buchführung ablesen lassen.
Produktionszeiten über alle
                                  123           119            117            108
                                                                                         Überwiegend handelt es sich hierbei um gezielte
Baumarten (Ø in Jahren)                                                                  Unterlassungen der Betriebe, zum Beispiel der Holz-
Anteil des nicht verwerteten                                                             nutzungsverzicht für den Erhalt von geschützten
                                  8,3            7,0           6,1            4,2
Derbholzes (%)                                                                           Waldtypen in FFH-Gebieten: Hierfür müssen die
Anteil des nicht verwerteten                                                             Forstbetriebe auf die Anpflanzung einiger schnell-
                                  58,4          66,6          60,9            58,2
Nichtderbholzes (%)                                                                      wachsender und gut bezahlter Baumarten wie die
Stilllegungsfläche (%)            5,4            2,7           2,3            0,7        Douglasie zum Teil verzichten und können auch
Unbestockter Holzboden (%)        4,4            4,2           3,4            3,3        einen Teil des Holzes nicht nutzen, damit Totholz
Wissenschaft erleben 2017/1                                                                                       FORSCHUNG   11

und Habitatbäume erhalten bleiben. Dass diese            Finanzielle Belastungen sind erheblich
Maßnahmen zu Ertragseinbußen führen, ist offen-          Ergebnis: Im Vergleich zum Referenzszenario ent-
kundig, auch wenn sie sich nicht aus der Buchfüh-        steht im Realszenario ein durchschnittlicher jährli-
rung ablesen lassen.                                     cher Minderertrag von knapp 0,5 m³ Holz je Hektar.
    Aus diesem Grund wurde bei den Testbetrieben         Minderertrag und Mehraufwand führen zu jähr-
eine Zusatzbefragung durchgeführt. Die Bewirt-           lichen finanziellen Belastungen von insgesamt 35
schafter wurden gebeten, ihre Waldbewirtschaf-           Euro/ha im Körperschaftswald und 40 Euro/ha im
tungskonzepte für zwei Fälle darzulegen: Zum einen       Privatwald. Diese Durchschnittswerte liegen deut-
im »Realbetrieb«, bei dem alle aktuellen Maßnah-         lich über jenen 17 bzw. 5 Euro/ha zurechenbaren
men und künftigen Planungen zur Bereitstellung           Kosten aus den Buchführungsunterlagen.
von Schutz- und Erholungsleistungen auf gesetz-               Addiert man beide Belastungszahlen und setzt
licher Basis und weitere nichtgesetzliche Verpflich-     sie ins Verhältnis zu den aktuellen Reinerträgen (Pri-
tungsgrundlagen zugrunde gelegt wurden. Zum              vatwald 188 Euro/ha und Körperschaftswald 124
anderen in der Alternative »Referenzbetrieb«, bei        Euro/ha), so wird deutlich: Die durchschnittlichen
der den Forstbetrieben freigestellt wurde, ob und        Belastungen sind erheblich. Interessant ist wei-
wie sie zukünftig Schutz- und Erholungsleistungen        terhin: Die Privat- und Körperschaftswaldbetriebe
bereitstellen. Die Forstbetriebe sollten hierbei unter   schätzen, dass zwei Drittel der Belastungen durch
anderem Angaben zur Baumartenwahl bei Jung-              Schutzleistungen und ein Drittel durch Erholungs-
beständen oder zu Waldflächen ohne Holznutzung           leistungen verursacht werden. Während Schutz-
machen. Die durchschnittlichen Steuergrößen für          leistungen zu zwei Dritteln aufgrund gesetzlicher
den Körperschafts- und den Privatwald sind in            Vorgaben erfolgen, werden Erholungsleistungen zu
Tabelle 1 aufgeführt.                                    einem vergleichbaren Anteil als freiwillige Selbst-
    Mit Hilfe eines forstbetrieblichen Simulations-      verpflichtungen erbracht.
modells wurde dann für jeden Betrieb über einen               Derzeit werden die Belastungen größtenteils
200-jährigen Simulationszeitraum berechnet, wie          von den Waldeigentümern getragen. Ob dies
hoch in den beiden Waldbewirtschaftungskon-              gerechtfertigt ist oder geändert werden sollte, ist
zepten (a) die verkauften Rohholzmengen und (b)          letztlich eine politische Entscheidung.          FI 
die finanziellen Nettoerträge sind. Daraus wurden
durchschnittliche Jahreswerte ermittelt.                 KONTAKT: bjoern.seintsch@thuenen.de
12   FORSCHUNG

                                 Buchhaltung für die Klimapolitik
                                 Wissenschaftliche Bestandsaufnahmen geben Auskunft über Quellen
                                 und Senken für Treibhausgase

                                 Wer sich vertraglich verpflichtet, den Ausstoß von klimaschädlichen Gasen zu verrin-
                                 gern, muss auch dokumentieren, dass er seinen Verpflichtungen nachkommt. Hierzu
                                 dient in Deutschland die landesweite Treibhausgas-Emissionsberichterstattung, die
                                 für den Agrar- und Forstbereich vom Thünen-Institut durchgeführt wird.

                                                                                            der jährlich von der Nationalen Koordinierungs-
                                                                                            stelle am Umweltbundesamt veröffentlicht wird
                                                                                            und Daten zur gesamten deutschen Emissions-
                                                                                            situation der Treibhausgase Kohlendioxid (CO2),
                                                                                            Methan (CH4) und Lachgas (N2O) enthält. Für die
                                                                                            Bereiche Landwirtschaft, Landnutzung, Landnut-
                                                                                            zungsänderung und Forstwirtschaft erstellt das
                                                                                            Thünen-Institut die nationalen Emissionsinventare
                                                                                            im Auftrag des BMEL. Das Thünen-Institut ist als
                                                                                            Ressortforschungseinrichtung für eine solche Auf-
                                                                                            gabe prädestiniert. Zum einen zählt es zu seinen
                                                                                            Kernaufgaben, wissenschaftliche Grundlagen für
                                                                                            die Politikberatung bereitzustellen, zum anderen
                                                                                            verfügt es über den notwendigen langen Atem,
                                                                                            Erhebungen über viele Jahre hinweg durchführen
                                                                                            zu können und durch Forschung zu untersetzen.
                                                                                            Beteiligt sind die Thünen-Fachinstitute für Agrarkli-
                                                                                            maschutz, für Waldökosysteme, für Holzforschung
                                                                                            und für Ländliche Räume; Unterstützung kommt
                                                                                            vom Kuratorium für Technik und Bauwesen in der
     Treibhausgase sieht man     Eine Begrenzung der globalen Erwärmung von deut-           Landwirtschaft.
 nicht – aber ihre landesweite   lich unter 2 °C: Dieses Ziel hat sich die internationale
        Erfassung ist möglich.
                                 Staatengemeinschaft 2016 mit dem Pariser Klima-            Bedeutung von Landwirtschaft und Landnutzung
                                 schutzabkommen gesteckt. Im Zuge der internatio-           Die Erstellung des Inventars ist eine komplexe Mate-
                                 nalen Klimaschutzabkommen hat sich Deutschland             rie, wie am Beispiel der Landwirtschaft und landwirt-
                                 verpflichtet, seinen Treibhausgas-Ausstoß bis zum          schaftlichen Landnutzung deutlich wird. Zunächst
                                 Jahr 2020 um 40 % und bis 2050 um 80 bis 95 %              muss eine Fülle von Daten erhoben werden: Da geht
                                 gegenüber dem Referenzjahr 1990 zu verringern.             es um Nutztierzahlen, Tierleistungen und Haltungs-
                                     Um diese ambitionierten Zielmarken zu errei-           verfahren, um Ausbringungsverfahren von Mist und
                                 chen, müssen alle Bereiche der Gesellschaft – auch         Gülle, um den Einsatz von synthetischen Stickstoff-
                                 die Landwirtschaft – ihren Beitrag zur Minderung           düngern, um die Vergärung von Energiepflanzen,
                                 leisten. Die Politik ist gefragt, entsprechende Rah-       aber auch um landwirtschaftliche Böden oder um
                                 menbedingungen zu schaffen. Damit die politi-              Änderungen der Landnutzung. Diese Daten werden
                                 schen Entscheidungsträger wissen, wo man steht,            in komplexen Modellen, die teils im Thünen-Institut
                                 müssen regelmäßig Zwischenergebnisse ermittelt             entwickelt wurden, weiterverarbeitet, sodass sich
                                 und dokumentiert werden. Dazu dient der Natio-             am Ende klar erkennen lässt, wie viel Treibhausgase
                                 nale Inventarbericht für Treibhausgas-Emissionen,          insgesamt freigesetzt wurden. Jedes Jahr werden
Wissenschaft erleben 2017/1                                                                                             FORSCHUNG        13

diese Berechnungen einer internationalen Überprü-
fung unterzogen.
    Eine Übersicht über die Treibhausgas-Emissi-
onen in Deutschland zeigt, dass die Freisetzungen
in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten um rund
ein Viertel gesunken sind. Allerdings: Die Rück-
gänge sind vor allem auf verbesserte Verfahren im
Bereich Energie, der für den Löwenanteil der Emis-
sionen verantwortlich ist, und im Bereich Industrie
zurückzuführen. Bei der Landwirtschaft und land-
wirtschaftlichen Landnutzung hat sich nicht so viel
bewegt – mit dem Resultat, dass ihr relativer Anteil
am Gesamtausstoß gestiegen ist und aktuell bei ca.
11 % liegt. Entsprechend dem internationalen Regel-
werk werden hierbei nur Emissionen bilanziert, die
direkt in Deutschland auftreten.

Treibhausgas-Emissionen: Verschiedene Ursachen
Die Emissionen aus der Landwirtschaft und land-
wirtschaftlichen Landnutzung verteilen sich zu
annähernd gleichen Teilen auf die Treibhausgase
CO2, CH4 und N2O. Beim Kohlendioxid, das zeigen
die Berechnungen, gehen über 90 % der Emissionen
auf die Entwässerung und landwirtschaftliche Nut-        verringert, zum anderen werden fossile Energieträ-     Treibhausgasemissionen
zung von Mooren zurück. Mit dem Absenken des             ger eingespart.                                        unterschiedlicher Sektoren
                                                                                                                in Deutschland und
Wasserspiegels dringt vermehrt Sauerstoff in den              Die Lachgasemission aus der Landwirtschaft
                                                                                                                prozentuale Aufteilung der
torfreichen Boden ein, was den mikrobiellen Abbau        wird vor allem verursacht durch die Stickstoff-        Emissionen aus der
der organischen Substanz stark beschleunigt. Hier        einträge in die Böden im Zuge der Düngung. Der         Landwirtschaft und
hilft im Grunde nur eine schrittweise Wiederver-         wichtigste Ansatzpunkt, entsprechende Emissionen       landwirtschaftlichen
nässung von Moorböden. Damit dies nicht einseitig        zu verringern, ist ein effizientes und verlustarmes    Landnutzung auf CO2,
                                                                                                                CH4 und N2O.
zu Lasten der betroffenen Agrarbetriebe geht, ist        Stickstoffmanagement im Betrieb: Das beginnt mit
die Politik gefordert, langfristige agrarstrukturelle    einer Protein-optimierten Fütterung im Stall, setzt
Lösungen zu entwickeln.                                  sich fort mit einem Stickstoff-konservierenden
     Für die landesweiten Emissionen von Methan          Wirtschaftsdüngermanagement und erfordert eine
und Lachgas ist die Landwirtschaft derzeit mit rund      strikt bedarfs- und standortgerechte Düngung.
60 % bzw. 80 % der Hauptverursacher.
     Die Methanemissionen im landwirtschaftlichen        Sektorale Minderungsziele
Bereich stammen überwiegend aus Wiederkäuer-             Im Klimaschutzplan 2050 der Bundesregierung sind
mägen (ca. 80 %), dazu kommen Emissionen aus             erstmals Minderungsziele für einzelne Handlungs-
der Lagerung von Wirtschaftsdüngern und aus              felder – Energiewirtschaft, Gebäude, Verkehr, Indus-
Biogasanlagen (zusammen ca. 20 %). Die Möglich-          trie und Landwirtschaft – festgeschrieben. Für den
keiten, die Methanbildung im Pansen zu beeinflus-        Sektor Landwirtschaft ist ohne Berücksichtigung
sen, sind begrenzt. Der Blick richtet sich daher vor     der CO2-Emissionen aus Humus- und Torfverlusten
allem auf die Verbraucherinnen und Verbraucher,          vorgesehen, bis zum Jahr 2030 die Treibhausgas-
die mit einer Änderung ihres Konsumverhaltens            Emissionen gegenüber 1990 um 31 bis 34 % zu
(weniger Milchprodukte und Rindfleisch nachfra-          senken. Betrachtet man die entsprechende Bilanz
gen) dazu beitragen können, Methanemissionen             der Landwirtschaft im Jahr 2015, so beträgt die
über den Weg eines verringerten Tierbestandes zu         erreichte Minderung erst 16 % – vor uns liegt noch
senken. Effizient ist auch die Nutzung tierischer Aus-   ein langer Weg.                                MW 
scheidungen für die Biogasproduktion. Zum einen
werden Methan-Ausgasungen aus den Güllelagern            KONTAKT: dieter.haenel@thuenen.de
14   MENSCHEN & MEINUNGEN

                       »Alle müssen an einem Strang ziehen«
                       Ein Gespräch über die Zukunftsstrategie ökologischer Landbau
                       20 % Ökolandbau: Dieses Ziel hat die Bundesregierung bereits 2002 in ihrer
                       Nachhaltigkeitsstrategie formuliert. Weil die ökologisch bewirtschaftete Fläche in
                       Deutschland seither allerdings nicht über 7 % hinausgekommen ist, hat das BMEL
                       nun eine Strategie mit Wachstumsimpulsen für den ökologischen Landbau vorge-
                       legt. Agrarökonom Jürn Sanders vom Thünen-Institut für Betriebswirtschaft hat den
                       Strategieprozess koordiniert.

                       Mithilfe der Zukunftsstrategie können also 20  %         und Berater sowohl aus der ökologischen als auch
                       Ökolandbau in Deutschland Wirklichkeit werden?           aus der konventionellen Landwirtschaft, Experten
                       Das ist sicherlich ein sehr plakatives Ziel. Wir leben   aus Bundes- und Landesverwaltungen und auch
                       ja nicht in einer Planwirtschaft. Die Politik möchte     einige Wissenschaftler. Ich denke, das merkt man
                       neue Wachstumsimpulse setzen. Letztendlich sind          der Strategie auch an. Initiiert wurde dieser Prozess
                       es aber die Verbraucher und Landwirte selbst, die        von Bundeslandwirtschaftsminister Schmidt.
                       entscheiden, ob sie ein ökologisch erzeugtes Pro-
                       dukt kaufen oder ihren Betrieb auf eine ökologische      Welche Rolle spielte das Thünen-Institut?
                       Bewirtschaftung umstellen.                               Wir haben das Prozessmanagement übernommen
                                                                                – eine Aufgabe, die nicht zum Tagesgeschäft einer
                       Kann Politik diese Entscheidungen beeinflussen?          Ressortforschungseinrichtung gehört. Uns war es
                       Ja, die Politik setzt schließlich die Rahmenbedin-       dabei wichtig, von Anfang an jene mit einzubezie-
                       gungen. Allerdings liegt die Handlungskompetenz          hen, die die Strategie am Ende umsetzen müssen.
                       hier nicht allein beim Bund, sondern auch bei den
                       Bundesländern und der EU. Um eine nachhaltige            Die Bio-Verbände haben die Initiative des Mini-
                       Verbesserung für den Ökolandbau zu erreichen,            sters begrüßt. Kritisiert wurde allerdings, dass
                       müssen alle an einem Strang ziehen.                      die Zukunftsstrategie offen lässt, bis wann 20 %
                                                                                Ökolandbau in Deutschland erreicht sein sollen.
                       Steht die Zukunftsstrategie des BMEL in Konkur-          Es wäre niemandem wirklich geholfen, wenn die
                       renz zu den Öko-Aktionsplänen der Länder?                Wettbewerbsbedingungen des ökologischen Land-
                       Da Bund und Länder eigenständige Kompetenz-              baus durch das Ordnungsrecht oder eine immens
                       bereiche haben, gibt es keine direkte Konkurrenz         hohe Finanzspritze schlagartig so verbessert wer-
                       zu den Öko-Aktionsplänen der Länder. Vielmehr            den, dass innerhalb von wenigen Jahren 20 % Öko-
                       können sich die regionalen Öko-Aktionspläne und          landbau erreicht werden würden. Ich denke, ein
                       die Zukunftsstrategie des BMEL ergänzen. Einige          solches Wachstum wäre nicht nachhaltig. Immerhin
                       Bundesländer haben sich auch sehr engagiert an           geht es ja nicht nur darum, dass zusätzliche Betriebe
                       dem Prozess zur Zukunftsstrategie beteiligt.             auf eine ökologische Wirtschaftsweise umstellen. Es
                                                                                braucht beispielsweise auch gute Berater, und die
                       Wie lief der Strategieprozess ab?                        fallen nicht vom Himmel. Auch sie müssen ausgebil-
                       Der Strategieprozess war eine große Teamarbeit.          det werden. Dafür braucht man wiederum gute Aus-
                       Rund 200 Leute haben an der Zukunftsstrategie            bilder an den Fachschulen und an den Universitäten.
                       mitgedacht und mitgearbeitet – Verbandsvertreter         Hier soll die Zukunftsstrategie bessere Grundlagen
Wissenschaft erleben 2017/1                                                                              MENSCHEN & MEINUNGEN            15

schaffen. Ich gehe davon aus, dass es realistischer      zum Ziel hat, hat das BMEL einen ersten Grund-
und nachhaltiger ist, eine mittelfristige Perspektive    stock gelegt. Es ist aber auch wichtig, darüber
anzusetzen, um das Ziel zu erreichen.                    hinaus ausreichende Ressourcen für das Prozess-
                                                         management zur Verfügung zu stellen. Die Strate-
Wie sollte sich das Wachstum idealerweise                gie wird nur dann erfolgreich umgesetzt werden,
gestalten?                                               wenn – wie bisher auch – alle Beteiligten konstruk-   Die Handlungsfelder der
                                                                                                               Zukunftsstrategie ökologi-
Wir haben das in 24 Maßnahmen, aufgegliedert in          tiv mitarbeiten.
                                                                                                               scher Landbau sind:
fünf Handlungsfelder, relativ konkret beschrieben.                                                             1. Rechtsrahmen des
Wir haben auch dargelegt, wann diese Maßnahmen           Wodurch kann das Ziel »20 % Ökolandbau«                  Ökolandbaus zukunftsfähig
umgesetzt werden sollen. Zum Beispiel sollen noch        gefährdet werden?                                        gestalten,
in diesem Jahr, spätestens aber 2018 die Fördermittel    Für die Entwicklung des Ökolandbaus insgesamt         2. Zugänge zur ökologischen
                                                                                                                  Landwirtschaft erleichtern,
für die Umstellungsberatung aufgestockt werden.          ist sicherlich die Revision der EU-Öko-Verordnung
                                                                                                               3. Leistungsfähigkeit
Im Jahr 2019 soll eine erste Zwischenbilanz gezogen      eine Herausforderung: Der Vorschlag der EU-Kom-          ökologischer Agrarsysteme
werden. 2022 soll ein Fortschrittsbericht erarbeitet     mission, der unter anderem die Abschaffung beste-        verbessern,
werden, der darlegt, wie die Zukunftsstrategie für       hender Ausnahmegenehmigungen in den nächsten          4. Nachfragepotenzial voll
die kommenden sieben, acht Jahre fortgeschrieben         Jahren vorsieht, wurde von vielen Seiten kritisiert      ausnutzen und weiter
                                                                                                                  ausbauen,
werden soll. Bis zum Jahr 2030 ist also ziemlich klar,   und für praxisfremd befunden. Würde er so wie
                                                                                                               5. Umweltleistungen
was passieren wird.                                      bisher geplant umgesetzt, könnte das der Entwick-        angemessen honorieren.
                                                         lung des Ökolandbaus schaden. Da die EU-Öko-Ver-      Das Maßnahmenspektrum für
Welche nächsten Schritte müssen jetzt erfolgen?          ordnung eine so große Bedeutung für die Zukunft       die nächsten Jahre reicht von
Für eine erfolgreiche Umsetzung der Zukunftsstra-        des Sektors hat, ist ihre problembezogene Weiter-     einer intensiveren fachlichen
                                                                                                               Begleitung der Betriebe, die auf
tegie braucht es entsprechende Ressourcen. Mit           entwicklung ein Bestandteil der Zukunftsstrategie.
                                                                                                               Ökolandbau umstellen wollen,
30 Millionen Euro für das Haushaltsjahr 2018 plus 6                                                            bis hin zur Unterstützung von
Millionen für die Eiweißpflanzenstrategie, die eine      Vielen Dank für das Gespräch.                 UH     Kantinen, die Gästen mehr
Erweiterung der Fruchtfolgen um Leguminosen                                                                    Bioprodukte anbieten wollen.
16   PORTRAIT

                           Landatlas
                           Informationslücke zu ländlichen Räumen geschlossen

                           Seit Ende 2016 füllt der Landatlas eine        eines bestimmten Radius lebenden Bevölkerung
                                     wichtige Lücke für alle, die an      und die Entfernung zu nächstgelegenen Zentren.
                                      kleinräumigen und flächen-          Aus diesen Merkmalen hat das Thünen-Institut eine
                                         deckenden Informationen          Kategorisierung vorgenommen, nach der ca. 57 %
                                          über ländliche Räume in         der Bevölkerung in ländlichen Räumen leben, die
                                            Deutschland interessiert      91 % der Fläche Deutschlands ausmachen.
                                            sind. Mit seinen inter-
                                             aktiven Karten gibt er       Gliederung in neun Themenblöcke
                                              einen breiten Über-         Der Landatlas bietet in neun Themenblöcken
                                               blick über die soziale,    unterschiedliche Indikatoren an. So gibt es im The-
                                               demografische     und      menblock »Raumstruktur« Indikatoren zur Sied-
                                                 ökonomische Situa-       lungsdichte und zur sozioökonomischen Lage
                                                  tion sowie über die     ländlicher Räume. Daten zu Binnenwanderungen,
                                                  Erreichbarkeit von      zur Altersstruktur oder zu den unterschiedlichen
                                                  Einrichtungen der       Lebenserwartungen von Frauen und Männern
                                                 Grundversorgung.         bietet der Bereich »Bevölkerung«. Damit wird dem
                                               Wer wissen möchte,         großen gesellschaftlichen und politischen Inte-
                                    wie vielfältig und unterschied-       resse am demografischen Wandel entsprochen.
                                lich ländliche Lebensbedingungen          Der Themenblock »Soziales« stellt Haushaltsein-
                                    in Deutschland sind, wird hier        künfte sowie Löhne und Gehälter kartografisch dar.
                                         fündig – zum Vergleich           Baulandpreise und Wohnungsleerstand sind zwei
                                           lassen sich per Mausklick      Indikatoren im Themenbereich »Wohnen«. Unter
                                           stets auch die Daten für       »Versorgung« lassen sich Einblicke in die Kinderbe-
                                           die großen Agglomerati-        treuungssituation, Pflege und ärztliche Versorgung
                                        onsräume darstellen. Rund         gewinnen. Auch die mittleren Entfernungen zum
                                     60 Indikatoren werden meist          nächsten Haus-, Fach- und Zahnarzt, zu Apotheken
                                     auf Kreisebene kleinräumig           oder zu Supermärkten und Discountern können per
                                     dargestellt.                         Karte abgerufen werden. Die Situation der kommu-
                                                                          nalen Haushalte wird über die Steuerkraft und die
                Was ist ländlich?                                         Schulden erfasst. Den letzten Themenblock bildet
                Bei der Entwicklung des Landatlas ging es zunächst        die »Landnutzung«, in der sich etwa Informationen
                um die Frage, was ländliche Räume in Deutsch-             zur Veränderung der Siedlungs- und Verkehrsfläche
                land heute besonders kennzeichnet und wie sie             finden lassen.
                sich abgrenzen lassen. Der Landatlas geht davon               Für den Landatlas wurden vor allem Daten aus
                aus, dass dünn besiedelte Räume und städtische            der Laufenden Raumbeobachtung des Bundesin-
                Ballungszentren die zwei Pole der Siedlungsstruk-         stituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (INKAR-
                tur und Landnutzung darstellen. Zwischen diesen           Datenbank) herangezogen. Der Landatlas ist Teil des
                finden sich unterschiedliche Ausprägungen an Länd-        BMEL-Infoportals »Zukunft.Land« (www.zukunft.
                lichkeit. Diese ist umso stärker, je aufgelockerter die   land). Alle dargestellten Indikatoren werden regel-
                Bebauung und je höher der Anteil der land- und            mäßig aktualisiert.                             FI 
                forstwirtschaftlichen Fläche ist. Wichtig ist auch
                die Lage im Raum, genauer die Zahl der innerhalb          KONTAKT: annett.steinfuehrer@thuenen.de
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