# 75 - Universität Konstanz
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# 75 2021 Das Magazin der Universität Konstanz – uni.kn/unikon S. 10 S. 14 S. 18 S. 22 Für eine faire Verstellte Alarmsysteme Wenn das Mitgefühl fehlt Der Wirkstoff von Sport Ernährungsumgebung Wenn Stresssysteme nicht mehr Menschen mit antisozialer Mit nur wenigen Minuten Sport Essen ist mehr als Nahrungs- richtig an- und abgeschaltet Störung – Die Klinische am Tag einen maximalen aufnahme – Die Gesundheits- werden – Der Neuropsychologe Psychologin Daniela Mier Gesundheitseffekt erzielen – psychologin Britta Renner Jens Pruessner untersucht, arbeitet mit Patient*innen Der Sportwissenschaftler Markus plädiert für eine Transformation was das für Gesundheit und im Maßregelvollzug des Gruber möchte diesen Traum des Ernährungsverhaltens Krankheit der Betroffenen Zentrums für Psychiatrie aller Bewegungsmuffel wahr sowohl aus Gesundheits- als bedeutet. Reichenau zusammen, machen. auch aus Klimagründen. auch um Therapieansätze zu evaluieren.
Schon dabei? Das große Netzwerk der Universität Konstanz uni.kn · wwa-grafik, wwa-druck · 8/2021 Ehemalige und Studierende der Universität Konstanz sind herzlich eingeladen, unserem großen Alumni-Netzwerk beizutreten. Werden Sie Teil unserer weltweiten Alumni-Community und profitieren Sie von exklusiven Vorteilen, während und insbesondere nach Ihrem Studium. – uni.kn/alumni
Editorial fristig sollen daher der Arbeitskreis „Ge- sunde Uni“ , der sich aktiv für die Gesund- heit von Mitarbeiter*innen einsetzt, und die studentische Gesundheitsförderung „Active Campus Konstanz“ zu einem uni- versitären Gesundheitsmanagement aus- gebaut werden. Dieses könnte nicht nur noch effektiver neue Forschungsergebnis- se aufnehmen, sondern zudem einen wich- tigen Beitrag leisten, um Spitzenforschung weiter zu fördern, Motivation und Arbeits- fähigkeit zu erhalten oder Studienerfolge weiter zu erhöhen. Die Verantwortung für Gesundheit nur den Einzelnen zuzuschreiben, greift zu kurz. Sicher spielen individuelle Fak- toren wie z. B. gesundheitsorientiertes Frau Melzer, wel Verhalten oder persönliche Konstitution eine wichtige Rolle. Welchen Einfluss äu- chen Stellenwert ßere Rahmenbedingungen, die nicht im Handlungsspielraum von Einzelpersonen hat Gesundheit liegen, auf die Gesundheit haben, ist aller- dings nicht zu unterschätzen. Dazu zählen an der Universität z. B. Umwelteinflüsse oder Arbeits-, For- schungs- und Studienbedingungen. Konstanz? Der „Active Campus Konstanz“ geht zusammen mit Studierenden der Leitfra- ge nach, was diese brauchen, um gesund Die Weltgesundheitsorganisation de- studieren zu können. Davon ausgehend finiert Gesundheit als „Zustand des völli- entwickelt er zielgruppengerechte Maß- gen körperlichen, seelischen und sozialen nahmen und Angebote, die sich auf dem Wohlbefindens und nicht nur das Freisein ganzen Campus wiederfinden. Die „Ge- von Krankheit und Gebrechen”. Diese sunde Uni“ bietet Mitarbeiter*innen ein Vielschichtigkeit macht das Halten oder ganzheitliches Angebot, damit sie am Ar- Wiedererlangen von Gesundheit komplex. beitsplatz ihre Gesundheit selbstbestimmt Dass es an der Universität Konstanz eine fördern können. Zu den Handlungsfeldern solch vielseitige und nahe am Alltag der zählen Sport und Bewegung, Stresspräven- Menschen betriebene Gesundheitsfor- tion und Entspannung, Ernährung sowie schung gibt, hilft uns sehr dabei, neue As- Vorsorge und Suchtprävention. Beide An- pekte und Anregungen für die praktische sätze wollen die Menschen dort erreichen, Umsetzung von Gesundheit auf dem Cam- wo sie sich aufhalten. pus zu nutzen. Physisches und mentales Wohlbefin- Kerstin Melzer den in der Forschung, bei der Arbeit oder im Studium sind eine Grundvoraussetzung für Kreativität, Innovation und Erfolg. Die- se können langfristig nur durch eine Ge- sundheitsstrategie erreicht werden, wel- Kerstin Melzer ist Referentin für Personal che die gesamte Universität und alle ihre entwicklung und Dual Career sowie Koordinatorin Statusgruppen in den Blick nimmt. Mittel- des Arbeitskreises „Gesunde Uni“.
Auf dem Weg zu hochspezifischen Antibiotika S. 40/Forschung Der Konstanzer Biologe Prof. Dr. Christof Hauck unter- sucht auf molekularer Ebene, wie sich bestimmte Bakte- rien an Schleimhäuten festheften und dort die natürlichen Abwehrmechanismen unseres Körpers unterwandern. Zu- sammen mit Kolleg*innen aus der Chemie entwickeln und erforschen er und seine Arbeitsgruppe außerdem neuarti- ge Antibiotika, die spezifisch gegen besonders trickreiche Krankheitserreger, wie zum Beispiel die Verursacher der Gonorrhoe, eingesetzt werden könnten. Für eine faire Ernährungsumgebung S. 10/Forschung Die Ernährungspsychologin Britta Renner erklärt, was Ernährungsumgebungen sind und weshalb wir sie für gesundes Essen benötigen.
S. 1 Editorial Drei Institute unter Forschung einem Dach S. 4 S. 10 Motorische Kognitionsforschung Faire Ernährungsumgebung S. 14 Verstellte Alarmsysteme S. 30/Forschung S. 18 Empathie und Emotionsregulation Das Biotechnologie Institut Thurgau macht biomedizinisch bei Patienten im Maßregelvollzug relevante Forschung zur Wirkungsweise des Immunsys- S. 22 Der Wirkstoff von Sport tems und zur Entstehung und Behandlung von Krebs unter S. 26 Wissenschaftliche Werkstätten anderem durch Immuntherapie. Das An-Institut der Uni- S. 30 Drei Forschungsgruppen unter einem Dach versität Konstanz ist sowohl im Schweizer Kreuzlingen als S. 36 Gesundheit und der Faktor Alltag auch im Fachbereich Biologie zu Hause. Seine Forschung S. 40 Hochspezifische Antibiotika ist trotz grenzüberschreitender räumlicher Trennung eng verzahnt. Personalia S. 46 Nachruf Horst Sund S. 48 Nachruf Hermann Kinder S. 50 Dissertationen, Berufungen, Jubiläen S. 54 Martin Wikelski Verdienstorden S. 56 Impressum Der Wirkstoff von Sport S. 22/Forschung Mit nur wenigen Minuten Sport am Tag einen ma- ximalen Gesundheitseffekt erzielen – diesen Traum aller Bewegungsmuffel wollen Konstanzer Sportwissenschaftler*innen wahr machen. Sie erforschen hierfür im Zentrum für Trainings- und Bewegungsfor- schung (HPRC), wie genau Sport auf unseren Körper wirkt – und wie wir dies für ein alltagstaugliches Gesundheits- training nutzen können. Online-Version von uni’kon #75 unter: – uni.kn/broschueren/unikon/75/ zum Onlinemagazin campus.kn: – uni.kn/campus
Titel Forschung Innovationskraft in der Motorische Kognitionsforschung Motorische Kognitionsforschung: Von der Grundlagen forschung zur klinischen Anwendung
Die klinische Neuropsychologie ist eine wichtige Säule der Gesund- heitsforschung an der Universität Konstanz und beschäftigt sich mit einer Vielzahl von Themen. Wir sprechen mit der Psychologin Dr. Jennifer Randerath, Leiterin der Arbeitsgruppe „Motorische Kognition und Neurorehabilitation“ am Zukunftskolleg der Universität Konstanz, über ihre Forschung. Sie gewährt uns Einblicke in ihre Ar- beit mit Schlaganfallpatient*innen und spricht über mögliche Schnittmengen zwischen Multipler Sklerose und Long Covid sowie die besonderen Möglichkeiten, welche ihr die Anbindung ihrer Nach- wuchsgruppe an das Lurija Institut und damit die Zusammenarbeit mit den Kliniken Schmieder bietet.
Forschung Motorische Kognitionsforschung Zwischen den Kliniken Schmieder im Raum Konstanz und dem Fachbereich Psychologie der Universität Konstanz besteht seit inzwischen mehr als 20 Jahren eine enge Forschungskooperation, die durch die Gründung des Lurija Instituts für Rehabilitations- Wir alle benutzen in unserem All- wissenschaften und Gesundheitsforschung im Jahr tag eine Vielzahl von Gegenständen als 1997 institutionalisiert wurde. Das Lurija Institut ist Werkzeuge und dies meist mühelos. Tat- das erste An-Institut der Universität Konstanz und sächlich finden in unserem Gehirn dabei wird von der gemeinnützigen Stiftung Schmieder für Wissenschaft und Forschung getragen. jedoch eine Vielzahl von Planungs- und Entscheidungsprozessen statt. Das wird – kliniken-schmieder.de/lurija-institut.html häufig erst dann offensichtlich, wenn die- se durch chronische oder akute neurologi- sche Erkrankungen gestört werden – mit teils gravierenden Folgen für die Lebens- qualität der Betroffenen. Die klinische Anwendung als Ziel menarbeit sowohl mit den Expert*innen lichen Werkstätten der Universität Kon Genau mit diesen „motorisch-kogni- des Klinikpersonals als auch den stanz siehe auch 26-29). tiven“ Prozessen, also der internen Ver- Patient*innen der Kliniken Schmieder Einen Schwerpunkt legt Jennifer Ran arbeitung von Informationen für die Pla- sind so zum Beispiel verbesserte Diagnos- derath bereits seit ihrer Promotion auf die nung und Durchführung von Bewegungen tik-Werkzeuge und neue Therapieansätze Arbeit mit Schlaganfallpatient*innen und und Handlungen, beschäftigt sich Jennifer für Betroffene von motorisch-kognitiven die Erforschung der sogenannten Apra- Randerath in ihrer Forschung, mit dem Störungen entstanden. xie, eines Syndroms, das häufig als Folge Anspruch, gewonnene Erkenntnisse bis von Schlaganfällen auftritt. Betroffene in die klinische Anwendung zu bringen. Apraxie – Wenn die Handlungsplanung haben unter anderem Schwierigkeiten, Es sei für sie immer auch Ziel, dass ihre versagt Bewegungen zu imitieren oder Gesten Forschung am Ende bei den Patient*innen „Das Lurija Institut und die damit zu steuern. Es kommt bei der Apraxie je- ankomme, sagte sie 2019 sinngemäß in verbundenen Möglichkeiten des Exper- doch auch zu den zuvor erwähnten Stö- einem Interview anlässlich der Entge- tenaustauschs und Patientenzugangs rungen in der Auswahl und Benutzung gennahme des Transferpreises der Uni- waren ganz klar eines von zwei infra- von Alltagsgegenständen. „Etwa 30.000 versitätsgesellschaft und der Universität strukturellen Argumenten, die nach zwei Schlaganfallpatient*innen sind allein Konstanz. Der Preis zeichnet Projekte aus, Forschungsaufenthalten in den USA für in Deutschland jedes Jahr von Apraxie- die erfolgreich eine Brücke zwischen Wis- mich dafürsprachen, nach Konstanz zu Symptomen betroffen. Die Patient*innen senschaft und Gesellschaft schlagen. gehen“, so Randerath. „Das zweite Argu- sind durch diese Funktionsstörung nicht Wie dieser Preis zeigt, ist Jennifer ment waren die Wissenschaftlichen Werk- in ihrer prinzipiellen Bewegungsfähigkeit Randerath ihrem Anspruch in der Vergan- stätten der Universität. Durch das Vorhan- eingeschränkt – sie ist nicht die Ursache genheit also bereits gerecht geworden. densein beider Einrichtungen habe ich die von Lähmungen“, erklärt Randerath. „Die Eine wichtige Rolle spielte dabei auch die Möglichkeit gesehen, meine vorherigen Störung besteht vielmehr auf der ‚menta- Anbindung ihrer Arbeitsgruppe an das Forschungsansätze und neuen Ideen in len‘ Ebene – bei der Bewegungsplanung.“ Lurija Institut und damit die Kooperation Konstanz im Rahmen eines Research Fel- mit den Kliniken Schmieder in Allensbach lowships am Zukunftskolleg effektiv in die und Konstanz. Aus der engen Zusam- Tat umzusetzen.“ (Zu den Wissenschaft-
Diagnostik verfeinern, dem Test mit den neuartigen Werkzeugen individueller behandeln hingegen wird den Patient*innen eine lo- Gemäß ihres Fokus auf Apraxie ar- gische Aufgabe gestellt, und sie müssen beitete Jennifer Randerath zunächst vor- dann aus drei „Fantasiewerkzeugen“ das- nehmlich mit der Schmieder-Klinik in Al- jenige aussuchen, welches sich am besten lensbach und dort insbesondere mit Prof. zum Lösen der Aufgabe eignet. Beide Auf- Dr. med. Joachim Liepert und den von gabentypen werden von gesunden Men- Schlaganfällen betroffenen Patient*innen schen in der Regel mühelos gelöst. Be- zusammen, um die bestehende Diagnostik troffene einer Apraxie hingegen haben oft zu verfeinern. „Zur klassischen Apraxie- in beiden Tests große Schwierigkeiten mit Diagnostik gehörten hauptsächlich Tests der geeigneten Werkzeugwahl, und diese zur Bewegungsimitation sowie pantomi- Störung kann die Bestreitung des Alltags mische Aufgaben. Diese haben wir durch von Betroffenen stark beeinträchtigen. Tests mit bekannten Gebrauchsgegen- ständen und neuartigen Werkzeugen er- Innovative Methoden einsatzbereit gänzt, um auch den Aspekt der Werkzeug- und frei nutzbar gebrauchsstörung diagnostisch erfassen Basierend auf den in der bisherigen zu können und damit Defizite zu identifi- Zusammenarbeit gewonnenen Erkennt- zieren, die für die Patient*innen eine hö- nissen ist auch ein neues Therapiekon- here Alltagsrelevanz besitzen.“ zept für Apraxie-Patient*innen entstan- So müssen sich Patient*innen im Test den, in dem diese verlorengegangene zum Gebrauch vertrauter Werkzeuge zum Fähigkeiten Schritt für Schritt wiederer- Beispiel zwischen einem Flaschenöffner, lernen. „Die Übungen werden dabei an das einer Schöpfkelle und einem Pfannenwen- individuelle Tempo der Patient*innen so- der für den richtigen Gegenstand zum Zu- wie an deren konkrete Bedürfnisse ange- bereiten eines Spiegeleis entscheiden. Bei passt. Regelmäßige Feedback-Runden, in
Forschung Motorische Kognitionsforschung denen die Patient*innen sich selbst ein- Multiple Sklerose und verschiedene Beispiel in Form von eingeschränkter Aus- schätzen und von den Therapeut*innen Facetten der Erschöpfung dauer und Konzentrationsschwierigkeiten Rückmeldung erhalten, sind ein weiterer Ihren ganzheitlichen Forschungsan- – aber auch emotional. Wie bei der Apra- wichtiger Pfeiler des Konzepts“, erläutert satz weiten Jennifer Randerath und ihr xie geht es Randerath und ihrem Team in Randerath. Team auch auf andere Bereiche aus. Seit ihrer MS-Forschung darum, die Ursachen Im deutschsprachigen In- und Ausland einiger Zeit arbeitet sie daher zusätzlich dieser Symptome besser zu verstehen, be- bietet Randerath Workshops zum Thema mit der Klinik Schmieder in Konstanz stehende Diagnostikinstrumente zu ver- Apraxie an, damit auch andere Kliniken und dort insbesondere mit Prof. Dr. med. feinern und den Patient*innen letztend- und Praxen die neuen Methoden anwen- Christian Dettmers und dem Chefarzt lich – durch eine klarere diagnostische den können. Die benötigten Materialien Prof. Dr. med. Michael Jöbges sowie den Zuordnung – verbesserte therapeutische – von Handbüchern über Auswertungs- Multiple Sklerose (MS)-Patient*innen der Ansätze anzubieten. bögen bis hin zu Bauanleitungen für Dia Klinik zusammen. „Ursprünglich haben „In unseren MS-Projekten sind wir gnostikwerkzeuge – stellt sie im Sinne wir uns dafür interessiert, ob Apraxie- noch nicht so weit, konkret neue Thera- frei zugänglicher Wissenschaft kostenlos Symptome auch bei MS-Patient*innen zu piekonzepte vorschlagen zu können“, gibt auf ihrer Website zur Verfügung. Beim finden sind. Das scheint aber nicht oder Randerath einen Statusbericht. Gemein- Layout und der Erstellung der Printma- nur in geringem Maße der Fall zu sein“, sam mit den Schmieder-Kliniken und auf- terialien war ihrer Arbeitsgruppe der so Randerath. „Wir konzentrieren uns da- bauend auf deren langjähriger Erfahrung Grafikservice der Universität Konstanz her aktuell auf die neuropsychologischen im Bereich der motorischen und kogniti- behilflich, und die Realisierung der Ideen Themen ‚Fatigue‘ und ‚Fatigability‘, also ven Erschöpfung bei MS-Patient*innen für neue Versuchsaufbauten und Diagnos- Erschöpfungssymptome, die unter ande- geht es zunächst vielmehr darum, die be- tikwerkzeuge erfolgte häufig mit tatkräf- rem mit MS einhergehen.“ stehende Diagnostik um den Aspekt der tiger Unterstützung der Elektronik- und So leiden MS-Patient*innen häufig emotionalen Erschöpfung zu erweitern. Mechanikabteilungen der Wissenschaft- unter starker Erschöpfung, die sich kör- „Motorische und kognitive Erschöpfungs- lichen Werkstätten. perlich und kognitiv äußern kann – zum zustände werden in der Diagnostik bereits Dr. Jennifer Randerath studierte Psychologie an der Justus-Liebig University Gießen und der RWTH- Aachen, an der sie auch 2010 promoviert wurde. Nach zwei Postdoc-Aufenthalten an der Uni- versity of Oregon und der University of Missouri in den USA kam Jennifer Randerath 2014 an die Universität Konstanz, wo sie seit 2015 am Zukunftskolleg und mit Anbindung an den Fachbereich Psychologie die eigenständige Arbeitsgruppe „Moto- rische Kognition und Neurorehabili- tation“ leitet. – uni.kn/unikon/preis /randerath
„Man muss für jede Patientin und jeden Patienten individuell die Bedürfnisse ermitteln, um effektiv helfen zu können.“ Dr. Jennifer Randerath gut erfasst und abgebildet. Für die emo- Laufe der Covid-19-Pandemie mit dem Abschluss zur Psychotherapeutin steht. tionale Erschöpfung gilt das weniger“, er- Virus angesteckt haben, starke Fatigue- „Auch Patient*innen mit Fatigue u nd klärt Randerath. Symptome. „Da sehe ich eine hohe gesell- Fatigability werden zu den Klient*innen schaftliche Relevanz“, sagt Randerath und kommender neuropsychologischer Erschöpfungssymptome sind antwortet auf die Frage, wie groß hierbei Psychotherapeut*innen zählen und von kein Alleinstellungsmerkmal von MS die gemeinsame Schnittmenge zwischen deren spezialisierter Ausbildung profitie- Für eine Aufnahme emotionaler Kom- MS und Long Covid sei: „Wie die Er- ren“, führt sie fort. ponenten in die Diagnostik spricht, dass schöpfungsmuster bei unterschiedlichen Für ihren eigenen nächsten Karriere es klare Wechselwirkungen zwischen den Patientengruppen aussehen, werden wir schritt wird Jennifer Randerath die Uni- einzelnen Ebenen der Erschöpfung gibt. erst noch anhand von Vergleichsstudien versität Konstanz voraussichtlich im So verstärkt eine starke emotionale Belas- herausfinden müssen. Es wird sicherlich kommenden Frühjahr verlassen und ihre tung auch die Erschöpfungssymptome auf Gemeinsamkeiten geben, aber auch Un- Arbeit in Wien fortsetzen. Die Koopera- körperlicher und kognitiver Ebene. Neue terschiede. Aus therapeutischer Sicht ist tions-Projekte mit den Kliniken Schmie- Erkenntnisse über derartige Zusammen- es enorm wichtig herauszufinden, worin der wird sie jedoch fortführen, und es hänge könnten später für die Entwicklung diese liegen.“ gibt - wie zuvor geschildert - auch bereits ganzheitlicher Therapiekonzepte auf- Ideen und Stoßrichtungen für neue ge- gegriffen werden. „Einige Patient*innen Ein Blick in die Zukunft meinsame Projekte. „Ich habe durch das brauchen eher Aktivierung, um aus der Er- Die klinische Neuropsychologie befin- Lurija Institut und die Kliniken Schmieder schöpfung wieder herauszukommen, an- det sich derzeit im strukturellen und po- immer sehr viel Unterstützung für meine dere hingegen absolute Ruhe. Man muss litischen Wandel: Kürzlich beschloss der Forschungsprojekte erfahren – das gilt für also für jede Patientin und jeden Patien- Berufsstand der Psychotherapeut*innen, die Verwaltungs- und Führungsebene ge- ten individuell die Bedürfnisse ermitteln, dass die „Neuropsychologische Psy- nauso wie das medizinische Personal und um effektiv helfen zu können“, verdeut- chotherapie“ ein eigenständiges Wei- die Patient*innen der Kliniken Schmieder. licht Randerath außerdem die Notwen- terbildungsgebiet für approbierte Ich hoffe daher, diese fruchtbare Zusam- digkeit individualisierter Ansätze. Psycholog*innen wird. „Für Psychologie- menarbeit auch von Wien aus noch mög- Doch nicht nur MS-Patient*innen Studierende nach dem Master bedeu- lichst lange weiterführen zu können“, re- sind von Erschöpfungssymptomen be- tet das, dass sie ihre Weiterbildung zur sümiert Randerath. troffen: Auch bei Krankheitsbildern wie Fachpsychotherapeut*in auf diesem Ge- | ds. Long Covid spielen sie häufig eine Rol- biet zukünftig in bezahlter Berufstätig- le. So zeigen derzeit viele Menschen aus keit absolvieren können“, erklärt Rand- den medizinischen Berufen, die sich im erath, die selbst gerade kurz vor dem – uni.kn/preis-buchmann
Forschung Ernährungsumgebung Für eine faire Ernährungsumgebung Die Ernährungspsychologin Prof. Dr. Britta Renner erklärt, was Ernährungsumgebungen sind und weshalb wir sie für gesundes Essen benötigen.
„In nahezu allen Kulturen wird gemeinsam gegessen. Gemeinsames Essen ist ein sozialer Taktgeber und hilft uns dabei, uns zu ‚synchronisieren‘. “ Prof. Dr. Britta Renner uni’kon: Frau Renner, Sie untersuchen aktuell Und was heißt das? in einer Studie gemeinsames Essen als kooperative Wir brauchen eine Transformation des Ernäh- Tätigkeit. Inwiefern ist Essen kooperativ? rungsverhaltens sowohl aus gesundheitlichen Grün- Prof. Dr. Britta Renner: In nahezu allen Kultu- den als auch aus Klimagründen. Und zwar nicht nur ren wird gemeinsam gegessen. Gemeinsames Essen – ein bisschen Veränderung, sondern eine ganz erhebli- Kommensalität – ist ein sozialer Taktgeber und hilft che Veränderung. Nur um dies kurz zu verdeutlichen: uns dabei, uns zu „synchronisieren“. Hier gibt es teils Wir essen im Schnitt rund 61 Kilogramm Fleisch pro ganz ausgeprägte Unterschiede zwischen Ländern. Jahr. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung emp- In Frankreich zum Beispiel befinden sich um ein Uhr fiehlt zwischen 0 bis maximal 600 Gramm pro Woche mittags über 50 Prozent der Bevölkerung beim Essen. – das sind maximal 31 Kilogramm. Hier müssten wir Auch in unseren Studien sehen wir ganz ausgepräg- schon allein mindestens 50 Prozent reduzieren. te zeitliche Synchronisierungen, mit drei klaren und ausgeprägten zeitlichen Peaks. In den USA findet sich Und wie soll diese Transformation erreicht werden? hingegen eher ein sogenanntes „grazing behavior“, Die Menschen zu informieren und zu motivieren, d.h. es gibt deutlich weniger synchronisierte, sozial ihr Verhalten zu ändern, ist wichtig, reicht aber nicht. definierte Essenszeiten. Durch eine solche Entstruk- Wir müssen eine Umgebung schaffen, die auf unsere turierung von Mahlzeiten können dann wichtige sozi- Wahrnehmungs- und Verhaltensmöglichkeiten abge- ale und regulative Funktionen verloren gehen. Wann, stimmt ist. Wir müssen die Sache quasi von der Sei- was und wie viel Sie essen, müssen Sie dann indivi- te der Konsumentinnen und Konsumenten angehen. duell regulieren, und das Verhalten ist wenig „sozial“ Die Entscheidungsphase, esse ich den Apfel oder die bestimmen. Essen wird dadurch auch eher eine Par- Schokolade, steht bereits relativ am Ende eines Ver- alleltätigkeit, was bezüglich des Intake-Monitorings haltensprozesses. – der Wahrnehmung und Steuerung dessen, was und wie viel wir essen – durchaus problematisch sein kann. Was kommt vorher? Wir haben ein Modell entwickelt, das die Ernäh- Essen ist also mehr als Nahrungsaufnahme. Das rungsumgebung in einen vierphasigen Verhaltens- Gutachten „Politik für eine nachhaltige Ernährung“ prozess aufteilt und mit der Exposition beginnt. Alles, des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, was Sie in Ihrer Umgebung sehen, auch wenn Sie ge- Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz rade gar nicht essen wollen, kalibriert Ihre Wahrneh- (WBAE), dem Sie auch angehören, spricht davon, mung, beeinflusst Ihre Einstellungen und letztlich dass eine „faire Ernährungsumgebung“ geschaffen auch Ihr Verhalten. Wie oft sehen Sie in den Medien werden muss. Was ist damit gemeint? oder überhaupt in Ihrem Alltag Bilder, auf denen et- Die Ernährungsumgebung ist ein Teil der Umge- was zu sehen ist, das einen Zusammenhang mit Essen bung. Das sind sämtliche Umweltfaktoren, die unser herstellt? Die vielen Geschäfte, an denen Sie vorbei- Essverhalten beeinflussen. Dahinter steckt die Idee, laufen, die ganze Werbung – das ist eine enorme Fülle dass die Ernährungsverantwortung nicht einfach in- an assoziierten Reizen. Das nehmen wir zwar in der dividualisiert werden kann, sondern dass wir Umge- Regel nur aus den Augenwinkeln wahr, aber es kalib- bungen schaffen sollten, die es leichter machen, sich riert natürlich unsere Wahrnehmung. nachhaltiger zu ernähren.
Forschung Ernährungsumgebung Wir werden also ständig mit dem Thema Können Sie ein Beispiel nennen? Essen konfrontiert. Die Quetschies sind so ein Produkt, Ja, genau. Wir haben inzwischen einen das vor allem für Kinder bestimmt ist. sehr hohen und auch asymmetrischen Ex- Man muss nicht mehr kochen, kann es mit positionsdruck in Richtung auf Produkte sich herumtragen, es ist jederzeit griffbe- mit einem ungünstigen Nährwertprofil und reit. Damit entstrukturieren Sie auch den schlechter Klimabilanz. Nur um ein Bei- Tag, was feste Zeiten für die Mahlzeiten spiel zu nennen, neuseeländische Kinder, angeht. Di Fabio argumentiert, die Verbrau- deren Expositionsraten mittels einer Body- cherinnen und Verbraucher seien mündig, cam aufgenommen wurden, waren täglich Bei Kindern denken wir an die Ver- und deshalb sollte und darf der Staat nicht rund 40 Mal lebensmittelbezogenem Mar- pflegung an Kitas und in Schulen. Was eingreifen, also keine Ernährungsumge- keting ausgesetzt. Mehrheitlich sind dies müsste hier eine Ernährungsumgebung bung gestalten. Der WBAE zeigt hingegen sogenannte non-core foods – wie zuckerge- im Sinne des Gutachtens aufweisen? umfassend auf: Der Staat muss diese Er- süßte Getränke, Fastfood und Süßigkeiten. Wir haben uns im Gutachten für eine nährungsumgebung gestalten, damit wir Auch in Deutschland finden wir hier sehr hochwertige und kostenfreie Kita- und Wahlfreiheit haben. Beispielsweise beim hohe Expositionsraten, weshalb der Beirat Schulverpflegung ausgesprochen. Hoch- Einkaufen: Wie gelingt die Orientierung in seinem Gutachten eine Einschränkung wertig aber eben nicht nur im Sinne von bei Tausenden von Labeln? des an Kinder gerichteten Marketings ge- Nährstoffen, sondern auch im Sinne der Auch im Positionspapier der DGE wird fordert hat. Wir müssen aber auch generell Essensumgebung. Die Kinder müssen nun die veränderte Sichtweise deutlich; gesellschaftlich diese permanente Expositi- zusammenkommen können. Das ist ein anstelle individueller Gesundheit und on viel stärker diskutieren und faire Ernäh- Motor für Integration. Es gibt hier ein- Nährstoffbedarfe zeigt sich eine Öffnung rungsumgebungen schaffen. drückliche kulturwissenschaftliche und hin zu einem erweiterten Gesundheits- Es gibt aber noch weitere Faktoren, psychologische Studien, die zeigen, dass konzept, bei dem es nicht nur um die die der Entscheidungsphase vorausgehen, die Bereitschaft, mit jemandem Essen zu Physiologie und individuelle Gesundheit, wie den Zugang zu Essen. Nicht zu allen teilen, immer auch eine gewisse Art von sondern auch um die Umwelt und die pla- Lebensmitteln, denen ich exponiert bin, Anerkennung und positive Emotionalität netare Gesundheit geht. Das ist ein echter habe ich Zugang. Das kann daran liegen, bedeutet. Schritt nach vorne und bedeutet, dass bei dass sie zu teuer sind. Aber auch soziale den Empfehlungen für eine ausgewogene Normen sind entscheidend. Der ehemalige Verfassungsrichter Udo di Ernährung nun auch Klima- und Nach- Hieraus resultieren die Unterschiede Fabio geht in seinem Gegengutachten für haltigkeitsaspekte einbezogen werden. Im dabei, wie leicht ein Lebensmittel zugäng- den Lebensmittelverband (siehe Infokas- Prinzip bedeutet das einen Anschluss an lich ist. Die momentane Entwicklung läuft ten, Red.) davon aus, dass die Gestaltung die Position des WBAE, der fordert, mit fai- darauf hinaus, dass der Zugang zu den einer solchen Ernährungsumgebung ein ren Ernährungsumgebungen zur Erhaltung ungünstigen Produkten möglichst leicht Eingriff in die Grundrechte wäre. Was ist unserer Lebensgrundlagen beizutragen. gemacht wird. Ihre Position? | Die Fragen stellte Maria Schorpp.
Im August 2020 hat der Wissenschaftliche Beirat für Das Gutachten hat eine breite öffentliche Reso- Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Ver- nanz gefunden. So hat die Zukunftskommission braucherschutz (WBAE) dem Bundesministerium für Landwirtschaft (https://www.bmel.de/DE/themen/ Ernährung und Landwirtschaft das Gutachten „Po- landwirtschaft/zukunftskommission-landwirtschaft. litik für eine nachhaltige Ernährung. Eine integrierte html) und die Deutsche Gesellschaft für Ernährung Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungs- (DGE) Empfehlungen des Gutachtens aufgenom- umgebungen gestalten“ vorgelegt. Das Gutachten men. Nun hat Anfang Oktober 2021 der ehemalige analysiert umfassend das Ernährungssystem und Verfassungsrichter Udo di Fabio in einer im Auftrag seine politische Steuerung in Deutschland. Ein des Lebensmittelverbands Deutschland erstell- Kernergebnis ist, dass der Einfluss von Ernährungs- ten umfassenden Stellungnahme das Gutachten umgebungen in der öffentlichen und politischen kritisch diskutiert. Prof. Dr. Britta Renner, Gesund- Diskussion unterschätzt wird, während die individu- heitspsychologin an der Universität Konstanz, ist elle Handlungskontrolle überschätzt wird und wir stellvertretende Vorsitzende sowohl des WBAE als mehr konsumseitige Steuerungsimpulse brauchen. auch der DGE. „Die Entscheidungsphase, esse ich den Apfel oder die Schokolade, steht bereits relativ am Ende eines Verhaltensprozesses.“ Prof. Dr. Britta Renner Prof. Dr. Britta Renner hat seit 2007 die Profes- sur für Psychologische Diagnostik und Gesund- heitspsychologie an der Universität Konstanz inne. Sie forscht zu psychologischen Determinanten des Gesundheitsverhaltens, fokussiert auf das Er- nährungsverhalten sowie die Entwicklung mobiler Interventionen zur Verhaltensänderung.
S. 16 Forschung Verstellte Verstellte Alarmsysteme Alarmsysteme
Der Neuropsychologe Prof. Dr. Jens Pruessner untersucht mit seiner Arbeitsgruppe, was es heißt, wenn Stresssysteme nicht mehr richtig an- und abgeschaltet werden und was eine solche Verstellung für Gesundheit und Krankheit bedeutet. Mittels der Bildgebung durch einen Magnetresonanztomographen, welcher durch die Kliniken Schmieder zur Verfügung gestellt wird, lassen sich stressbedingte Veränderungen im Gehirn sichtbar machen. Dies kommt der Erfor- schung von Krankheiten wie Burnout, Multipler Sklerose und Long Covid zugutekommen könnte. Das moderne Leben ist dem Jahrtau- perlicher Art wie metabolisches Syndrom Gedächtnisverlust. Der Hippocampus sende alten menschlichen Stresssystem oder Diabetes. spielt jedoch auch bei der Stressregulati- davongeeilt. Insbesondere dem autono- „Wenn man zu viel Belastung um die on mit, und zwar in Zusammenhang mit men Nervensystem mit Sympathikus, Ohren hat, reagieren die Stresssysteme der HPA-Achse. Tatsächlich konnten hier das für die im wahrsten Sinne des Wor- sehr schnell und sehr deutlich und stel- Arbeiten der Gruppe von Jens Pruessner tes Kampf-Flucht-Reaktion zuständig ist. len Energie zur Verfügung. Eine dauer- zeigen, dass sich der Hippocampus bei Heutige Stressoren bestehen aber weniger hafte Aktivierung kann aber dazu führen, Stress abschaltet. Dieses Abschalten hat in der Begegnung mit Säbelzahntigern, die dass diese irgendwann nicht mehr so gut einen Grund: „Der Hippocampus ist mit es irgendwie zu überleben gilt, sondern in ausschalten“, sagt der Neuropsychologe dem Hypothalamus so verbunden, dass Zeitdruck, zu vielen Aufgaben gleichzeitig Jens Pruessner. In seinem aktuellen For- ein Abschalten des Hippocampus zum An- und kognitiver Belastung. Die Bedrohung schungsansatz fokussiert er nicht – wie schalten des Hypothalamus führt“, erklärt kommt eher als berufliche Herausforde- die Mehrzahl der Untersuchungen – auf der Neuropsychologe. rung daher sowie in der geforderten Per- den Anschaltmechanismus, sondern auf Das Stresshormon Cortisol der HPA- formance maximaler Leistungsfähigkeit. den Abschaltmechanismus von autono- Achse wird ausgeschüttet, wenn der Hy- Das Fatale daran ist: Der Mensch fühlt mem Nervensystem und Hypothalamus- pothalamus angeht, und der geht unter sich bedroht, weil ein anspruchsvoller Hypophysen-Nebennierenrinden-System, anderem deshalb an, weil der Hippocam- Termin ansteht, und das Stresssystem kurz: HPA-Achse, dem anderen Stresssys- pus ausgeht. Obschon aus der Energieper- stellt in Form von Adrenalin Energie für tem. Wer nicht mehr so gut abschalten spektive sinnvoll, hat das für den Men- die Flucht bereit. Er kann jedoch nicht kann, greift vielleicht am Abend zu phar- schen des 21. Jahrhunderts ungünstige aufspringen und losrennen, sondern muss makologischen Mitteln wie Alkohol, um Konsequenzen. Unter Stress ist er nicht sitzen bleiben und konzentriert an seiner Abstand zu bekommen von der Alltags- mehr in der Lage, Informationen aus dem Aufgabe arbeiten, muss also genau das hektik. Das funktioniert zwar kurzfristig, Gedächtnis abzurufen, weil sich der „Ge- Gegenteil dessen machen, was ihm der ist aber auf Dauer ebenso gesundheits- dächtnissekretär“ abgeschaltet hat. Black- Körper signalisiert. Die bereitgestellte schädigend wie ein dauerhaft angeschal- outs bei Prüfungen gehen zum Beispiel Energie kann der Mensch im physiologi- tetes Stresssystem. auf diesen Umstand zurück. Man kann schen Fluchtmodus nicht nur nicht nut- nicht mehr so gut denken, wie es erfor- zen, sondern diese kann ihn auf Dauer Wenn sich der Gedächtnissekretär derlich wäre – es sei denn jemand schafft sogar krank machen. verabschiedet es, die Situation nicht als Bedrohung, son- Eine Struktur, die an dem Abschalt- dern als bewältigbare Herausforderung zu Eine ganze Palette an Krankheiten Anschaltmechanismus besonders beteiligt sehen. aufgrund verstellter Stresssysteme ist, ist der Hippocampus. Dessen Rolle hat Es kann nämlich zu einer Verstel- die Arbeitsgruppe für Neuropsychologie Bilder vom Hirn geben Auskunft lung des Stresssystems führen, wenn die von Jens Pruessner vor einigen Jahren ex- Ein wesentlicher Pfeiler der Forschung bei Belastungen vom Körper zur Verfü- akt beschrieben. Die Hauptaufgabe dieser von Jens Pruessner stellen bildgeben- gung gestellte Energie nicht zum Einsatz Hirnregion ist, abgespeicherte Informati- de Verfahren dar, mit denen Aktivitäten kommt. Es gibt eine ganze Palette an onen ins Bewusstsein zu holen. „Gedächt- einzelner Hirnregionen sichtbar werden. Krankheiten, die als Folgeerkrankungen nissekretär“ nennt ihn Jens Pruessner. Bei Zum ersten Mal in Berührung gekommen diskutiert werden – seelischer Art wie Demenz ist der Hippocampus als erstes ist er mit dieser auch heute noch jungen Depressionen oder Angststörungen, kör- betroffen, die Erkrankten erleben einen Technik während seines Forschungsauf-
Forschung Verstellte Alarmsysteme „Ein MRT-Scanner Ohnehin muss hier differenziert werden zwischen einzelnen psychischen Erkran- ist aus der Neurologie und aus kungen. Jens Pruessner hat sich in dieser der Neuropsychologie Hinsicht das Burnout-Syndrom näher ange- nicht mehr wegzudenken.“ schaut. Die Ergebnisse legen nahe, dass die- ser sowohl körperliche als auch emotionale Erschöpfungszustand mit einer Unterakti- Prof. Dr. Jens Pruessner vität der Stresssysteme einhergeht, was an- gesichts dessen, dass die Systeme Energie bereitstellen, intuitiv einsichtig ist. Wenn enthalts im kanadischen Montreal in den Auch umgekehrt, bei der Blockade des es um die Krankheit Multiple Sklerose (MS) 2000er Jahren. Heute ist es die im Rahmen autonomen Nervensystems, war das Phä- geht, wird statt von Burnout von Fatigue des Lurija Instituts (siehe Infokasten S. 6) nomen zu beobachten. Hier wurde Prop- gesprochen, womit die Kliniken Schmieder stattfindende Kooperation mit den Kli- ranolol gegeben, ein Betablocker, der ver- als Rehabilitationskliniken wieder ins Spiel niken Schmieder, die es erlaubt, mit dem hindert, dass es bei Stress zur Erhöhung kommen, die als einen Schwerpunkt MS- am Standort Allensbach verfügbaren Ma- der Herzrate und des Blutdrucks kommt. Erkrankte behandeln. gnetresonanztomographen (MRT) anzu- Im Stresstest wurde deutlich, dass die In einem Kooperationsprojekt mit de- schauen, was im Hirn passiert, wenn eine Menschen, deren autonomes Nervensys- ren ärztlichem Leiter in Konstanz, Prof. Dr. Person gestresst ist. tem blockiert war, eine höhere Cortisol- Michael Jöbges, untersucht die Forschungs- In Montreal war der Neuropsycho- Freisetzung aufwiesen. Auch hier ist also gruppe von Jens Pruessner, inwieweit bei loge an der Entwicklung einer Methode das Konkurrenzsystem, in diesem Fall die MS eine Verstellung der Stresssysteme be- beteiligt, Personen Stress zu induzieren, HPA-Achse, eingesprungen. obachtet werden kann. Auch zur Long Co- während sie im MRT-Scanner liegen. Man vid-Erkrankung verspricht man sich unter sagte ihnen, dass sie bei einem zuvor Wenn beide Stresssysteme dem Vorzeichen verstellter Stresssysteme durchgeführten Test, verglichen mit an- unterdrückt werden mittels MRT-Bildgebung neue Erkenntnisse deren Testteilnehmenden, schlecht abge- Und es ging noch einen Schritt wei- zu eventuellen hirnorganischen Verände- schnitten hätten. Jens Pruessner: „Es gab ter. Was passiert, wenn wir beide Stress- rungen. Die Forschung zu Long Covid ist zu dem Zeitpunkt schon Vermutungen, systeme unterdrücken? Die subjektive dabei eine der Hauptinteressen von Michael was im Hirn bei Stress passiert. Dass wir Stress-Wahrnehmung war jeweils erhöht, Jöbges, der die immer größer werdende Zahl das dann aber tatsächlich im Scanner zei- wenn eines der Systeme unterdrückt war. von Patienten mit diesem Syndrom mit ver- gen konnten, war neu.“ „Ist sie noch viel deutlicher erhöht, wenn schiedensten Diagnostikverfahren im Rah- Der Befund, dass Hypothalamus und kein System mehr zu Verfügung steht?“, men eines größeren Projekts, bei dem ver- Hippocampus interagieren, legte die Frage formuliert der Psychologe die anschlie- schiedene Arbeitsgruppen der Universität nahe, ob nicht auch die beiden Stresssys- ßenden Überlegungen, um herauszufin- Konstanz beteiligt sind, untersuchen wird. teme, die HPA-Achse und das autonome den, wie weit die Interaktion der beiden Die gemeinsame Anstrengung der Ar- Nervensystem, miteinander verschaltet Systeme geht. Das Ergebnis war abermals beitsgruppe Pruessner und der Kliniken sind. Was passiert also, wenn ein Stress- überraschend: Es kam nicht nur zu keiner Schmieder am Standort Allensbach in system ausgeschaltet wird, mit dem an- weiteren Erhöhung der subjektiven Stress- Kooperation mit dem dortigen Leiter der deren? Auch hierzu hat die Arbeitsgruppe wahrnehmung, sondern zu einer Normali- Neuroradiologie Prof. Dr. Christoph Stip- von Jens Pruessner einige Forschungs- sierung der subjektiven Empfindung. Die pich gilt auch der Verbesserung der hoch- arbeiten durchgeführt. Zuerst wurde die Höhe der subjektiven Stressantwort war auflösenden MRT-Verfahren, um die Genau- HPA-Achse, die das Stresshormon Cor- dieselbe wie in der Kontrollgruppe. igkeit bei der Erfassung der Hirnstrukturen tisol produziert, blockiert. Was passiert „Wenn wir die Stresssysteme nicht zu erhöhen. Derzeit liegt die Standardauflö- also mit dem anderen Stresssystem, dem mehr anschalten, dann sehen wir kei- sung bei einem Kubikmillimeter, das heißt, autonomen Nervensystem, das mit seiner ne Veränderung mehr in der subjektiven die Strukturen sind bis auf einen Kubikmil- Adrenalin-Produktion für die Herzrate Stresswahrnehmung“, so Jens Pruessner. limeter genau zu sehen. Ziel ist hier, die und den Blutdruck verantwortlich ist? Alles gut also? „Nein, denn wahrschein- Genauigkeit auf einen halben bis zu einem Tatsächlich waren genau diese Werte bei lich ist es ein langwieriger Prozess, bis viertel Kubikmillimeter zu erhöhen. Für den Probanden mit der verhinderten Cor- es zur Verstellung und der Entwicklung Jens Pruessner steht jetzt schon fest: „Ein tisol-Ausschüttung erhöht. Befragungen psychischer Erkrankungen kommt.“ Das MRT-Scanner ist aus der Neurologie und ergaben außerdem, dass die Personen die- heißt: Erst der wiederholte Ausfall der aus der Neuropsychologie nicht mehr weg- ser Gruppe sich subjektiv mehr gestresst Stresssysteme führt zu einer Erhöhung zudenken und unentbehrlich für Diagnostik fühlten als die in der Kontrollgruppe, die von subjektivem Stressempfinden, und und Beobachtung des Therapieverlaufs.“ ein Placebo erhalten hatten. damit zu Angst und Depression. | msp.
S. 19 Prof. Dr. Michael Jöbges, ärztlicher Leiter der Kliniken Schmieder Konstanz, trifft Prof. Dr. Pruessner, Leiter des Lehrstuhls Neuropsychologie an der Universität Konstanz, zur Besprechung gemeinsamer Projekte im Foyer der Schmieder-Klinik in Konstanz. Eines der Instrumente an der Schmieder-Klinik Konstanz zur Dia- gnose möglicher gestörter Motorik bei Long Covid-Patienten. – uni.kn/unikon/stress /gehirn
Forschung Wenn das Mitgefühl fehlt Wenn das Mitgefühl fehlt Prof. Dr. Daniela Mier (2.v.l.) leitet seit 2018 den Arbeitsbereich Klinische Psychologie an der Universität Konstanz. Auf dem Bild sind außerdem Matthias Burghart (rechts) zu sehen, der im Bereich der Empathie und Emotionsregulation im Maßregelvollzug promo- viert, und PD Dr. med. Jan Bulla (links), der medizinische Direktor des Maßregelvollzugs am ZfP Reichenau, mit dem die Studie gemeinsam durchgeführt wird, sowie einer der Studienteilnehmer (2.v.r.).
Die Klinische Psychologin Prof. Dr. Daniela Mier arbeitet mit Patient*innen im Maßregelvollzug des Zentrums für Psychiatrie Reichenau zusammen, um Modelle für mangelnde soziale Kognition und entsprechende Therapieansätze zu evaluieren. Zu dieser wichtigen Grundlage für Gutachten und Sozialprognosen gibt es bislang erstaunlich wenig Forschung. Wenn ein Mensch im Maßregelvollzug ankommt, Gesunde schließen automatisch von sich ist zuvor ein gewichtiges Urteil über ihn als Person auf andere gesprochen worden: Er wurde für seine Tat als ver- Auch bei der neuronalen Grundlage der antisozia- mindert oder voll schuldfähig begutachtet, was be- len Persönlichkeitsstörung ist die Forschung bislang deutet, dass seine Willensfreiheit bei seiner Tat auf Hypothesen angewiesen. Ein Modell, das Daniela eingeschränkt, wenn nicht gar ganz aufgehoben war Mier mit der funktionellen Magnetresonanztomogra- – ein einschneidender Akt für die persönliche Integ- phie (fMRT) erforscht, besagt, dass die sogenannte rität eines Menschen, der Fragen nach der weiteren verkörperte Simulation im menschlichen Spiegelneu- Behandlung aufwirft. Die Klinische Psychologin Prof. ronensystem bei der Personengruppe mit dem anti- Dr. Daniela Mier trägt mit ihrer Forschung dazu bei, sozialen Defizit fast oder ganz ausfällt. Bei gesunden dass Menschen im Maßregelvollzug geholfen wird. Menschen funktioniert sie, indem diese automatisch Tatsächlich ist das nicht so einfach. Die Personen- von sich auf andere schließen. Sehen sie, dass ihr Ge- gruppe mit eingeschränkter Schuldfähigkeit ist sehr genüber lächelt, reagiert der Motorkortex des Gehirns heterogen: Die Störungsbilder reichen von Psychosen in genau denselben Regionen, die aktiv sind, wenn bis hin zur Abhängigkeit von Substanzen. sie selbst lächeln. Und da sie wissen, dass ihr Lächeln Diese Uneinheitlichkeit ist für Daniela Mier ein für gewöhnlich zum Beispiel aggressive Gefühle aus- möglicher Grund, weshalb es trotz der gesellschaftli- schließt, erfolgt der Schluss, dass dies bei der anderen chen Bedeutsamkeit des Themas sehr wenig Forschung Person ebenso ist. zu dieser Personengruppe gibt. Sie selbst arbeitet Tatsächlich geht man allgemein davon aus, dass zum Thema soziale Kognition, worunter die Fähigkeit bei Menschen mit antisozialer Störung dieses Spie- zu verstehen ist wahrzunehmen, was andere Perso- gelungsprinzip nicht funktioniert, weshalb sie bei- nen denken, was sie fühlen und auch was sie vorha- spielsweise anderen große Schmerzen zufügen kön- ben. Auf ihr konkretes Forschungsfeld angewendet nen, ohne dass sie von Empathie gestoppt würden, untersucht sie die mangelnde Fähigkeit, Empathie, geschweige denn, dass sie selbst mitfühlen würden. also Mitgefühl, zu empfinden. Wenn sie vom aktuel- Daniela Mier untersucht in ihrer Forschung noch ei- len Wissensstand in diesem Bereich berichtet, ist auf- nen zweiten Aspekt, von dem in der psychiatrischen fallend oft von Vermutungen die Rede. Zum Beispiel Praxis ausgegangen wird und der ebenfalls auf nur bei praktizierten Empathie-Trainings, denen in der wenigen empirischen Grundlagen fußt: Es gibt Hin- Behandlung eine bedeutsame Rolle zukommt. „Das weise, dass die Menschen mit einem solchen Stö- ist nicht evaluiert“, sagt Daniela Mier, „wir wissen rungsbild auch ihre Emotionen nicht gut regulieren überhaupt nicht, ob das Training wirksam ist.“ können. Überhaupt spüren sie, hirnphysiologisch
Titel Innovationskraft in der Die Forschung von Prof. Dr. Daniela Mier fokussiert auf soziale Kognition bei psychischen Störungen. Für ihre Arbeiten verwendet sie Frage- bögen, experimentelle Paradigmen sowie verschiedene neurowis- senschaftliche Methoden wie die funktionelle Bildgebung. nachweisbar, ihre eigenen Emotionen und die der Auf die Vorlage zum Beispiel eines Bildes mit ei- anderen sehr reduziert – mit einer Ausnahme: Är- nem leidenden Menschen geben sie ohne Weiteres ger, den sie durch die mangelnde Emotionsregulation an, mit der Person mitzuempfinden. „Es besteht die auch noch schwer in den Griff bekommen. Befürchtung, dass die Veränderung im Mitgefühl vor- getäuscht ist, und je mehr Therapie sie bekommen, Einzigartiges Kooperationsmodell mit desto besser werden sie darin“, sagt Daniela Mier. Was dem Zentrum für Psychiatrie Reichenau Gesunde automatisch machen, leiten sie sich kognitiv Ob beides auch in Kombination eine Rolle spielt, her. Gerade für Gutachten und Sozialprognosen stellt wird in Miers Forschungsprojekt zunächst anhand dies ein Problem dar. von Fragebögen und Bildmaterial evaluiert. Die Klini- sche Psychologin arbeitet dabei eng mit dem Zentrum Maßstab für Empathie ist die für Psychiatrie Reichenau zusammen, dem akademi- Allgemeinbevölkerung schen Lehrkrankenhaus der Universität Konstanz, Umso wichtiger, dass empirische Grundlagen für und PD Dr. med. Jan Bulla, dem medizinischen Direk- gesicherte Evaluationen gelegt werden. Die Mier- tor des dortigen Maßregelvollzugs. Gruppe plant bereits eine Untersuchung zu Simulati- Den Fragebögen und Selbstauskünften der an der on von Empathie. Aktuell ist sie dabei, erste Runden Studie beteiligten Patient*innen werden zu einem mit Fragebögen auszuwerten, wobei immer zuerst späteren Zeitpunkt physiologische Untersuchungen mit Kontrollgruppen aus der Allgemeinbevölkerung folgen. Anhand von Hautleitfähigkeit und Herzraten begonnen wird, die in Alter und Bildung zu den Pa- sollen die Auskünfte aus den verbalen Tests mit den tienten im Maßregelvollzug passen. Normwerte, was physiologischen Reaktionen der Personen verglichen gute und was schlechte Empathiewerte sind, gibt es werden. Diese doppelte Methodik hat einen heik- nicht. Stattdessen wird verglichen. Daniela Mier: len Grund: Es wird vermutet, dass die Klientel, mit „Sind die Werte beispielsweise beim Mitgefühl in der der Daniela Mier arbeitet, im Laufe der Behandlung Allgemeinbevölkerung höher, sagen wir, dass die Pa- gelernt hat, wie sie auf bestimmte Fragen reagieren tienten im Maßregelvollzug ein Defizit haben.“ muss, um als geheilt begutachtet zu werden.
Eine Verlaufsmessung, die jedes Jahr und vor einer Aktuell kommen häufig tiefenpsychologische Kon- eventuellen Entlassung durchgeführt wird, soll ein zepte zum Einsatz wie die Mentalisierungstherapie, Gesamtbild ergeben. „Das Thema Veränderung von die den Bereich der sozialen Kognition trainiert. Au- Empathie und Emotionsregulation im Maßregelvoll- tomatisches Verhalten wie Empathie beizubringen ist zug gibt es so in der Literatur überhaupt noch nicht“, jedoch schwer, da macht sich die Psychologin keine stellt die Klinische Psychologin fest. Ein erstaunlicher Illusionen. Bei der Emotionsregulation sieht es besser Umstand auch für die Wissenschaftlerin, zumal es ge- aus, hierzu gibt es bereits erfolgreiche Trainings. Auf rade für Gutachten und Prognosen von entscheiden- jeden Fall hat sich Daniela Mier auf einen langen Weg der Bedeutung ist. eingestellt. Aufgrund der Täuschungsmöglichkeit und ihrer | msp. mangelnde Nachweisbarkeit geht sie davon aus, dass ihre Fragebögen keine allzu aussagekräftigen em- pirischen Befunde liefern. Als Konsequenz steht als nächste Aufgabe die Verbesserung der klassischen experimentellen Methoden an. Das Ziel ist langfris- tig, tatsächlich belastbare Aussagen zum Empathie- wert und zur Emotionsregulation zu bekommen. Da- mit wäre erst eine Evaluation dessen möglich, was sich im Maßregelvollzug durch die Therapie bei den Patient*innen verändert und wie wirksam Behand- lungsmethoden überhaupt sind. Das Zentrum für Psychiatrie Reichenau ist das akademische Lehrkrankenhaus der Universität Konstanz. Einzigartig in Deutschland ist die gemeinsame Leitung einer Forschungsstation Psychose durch eine Klinische Psychologin der Universität und ein Zentrum für Psychiatrie. Durch die sehr gute Kooperation mit der Allge- meinpsychiatrie und dem Maßregelvollzug ent- steht eine enge Vernetzung von Forschung und Praxis sowie die Möglichkeit, Krankheitsverläufe über lange Zeiträume hinweg zu untersuchen, die deutschlandweit einmalig ist. Die Erkenntnisse aus den Forschungsarbeiten geben wertvolle Impulse für die Entwicklung neuer, innovativer Therapiestrategien.
Forschung Der Wirkstoff von Sport Der Wirkstoff von Sport Mit nur wenigen Minuten Sport am Tag einen maximalen Gesundheitseffekt erzielen – diesen Traum aller Bewegungs muffel wollen Konstanzer Sportwissenschaftler*innen wahr machen. Sie erforschen hierfür im Zentrum für Trainings- und Bewegungsforschung (HPRC), wie genau Sport auf unseren Körper wirkt – und wie wir dies für ein alltagstaugliches Gesund- heitstraining nutzen können.
Der natürliche Feind des Menschen ist der Sessel. Was also ist zu tun? Ausreichend Bewegung ist Zu seinen weiteren Feinden zählen der Bürostuhl, das leichter gesagt als getan. Folgen wir den Empfeh- Sofa und natürlich der Liegestuhl. Kurzum: All jene lungen führender sportmedizinischer Verbände (z. B. Sitzgelegenheiten, die uns dazu verführen, im Alltag American College of Sports Medicine), so müssen wir längere Zeiträume sitzend oder liegend zu verbrin- „nur“ etwa drei- bis fünfmal pro Woche Ausdauer- gen. Kaum etwas im Alltag hat so erhebliche negative sport wie Schwimmen oder Radfahren betreiben. Hin- Auswirkungen auf unsere Gesundheit, wie nichts zu zu kommen Kraftübungen an drei Tagen pro Woche, tun. Körperliche Inaktivität zählt zu den größten Ge- etwa Liegestützen oder Kniebeugen, sowie Gleichge- sundheitsrisiken unserer Zeit, ihre Folgeerscheinun- wichts- und Beweglichkeitsübungen an zwei Tagen in gen stehen in Zusammenhang mit Volkskrankheiten der Woche. wie Herz-Kreislauferkrankungen, Typ-2-Diabetes, Oder, mit anderen Worten ausgedrückt: „Das verschiedenen Krebserkrankungen sowie sturzbe- macht kein Mensch“, schätzt der Konstanzer Sport- dingten und osteoporotischen Knochenbrüchen. wissenschaftler Prof. Dr. Markus Gruber die Praxist- Der coronabedingte Lockdown hat diesen Effekt auglichkeit ein. „Für die Gesundheit wäre das toll – noch verstärkt. Inaktivität verringert nachweislich aber dieser Umfang an Sport ist nicht auf die breite unsere Lebenserwartung, sie gilt unter Gesund Gesellschaft übertragbar. Mit diesen Empfehlungen heitswissenschaftler*innen als „versteckte Pandemie bewegen wir uns fast schon im Bereich des Leistungs- innerhalb der Pandemie“. Gemäß der Weltgesund- sports“, so Gruber. heitsorganisation (WHO) ließen sich jährlich rund Der Sportwissenschaftler ist überzeugt, dass ein fünf Millionen Todesfälle weltweit durch ausreichend effektives Gesundheitsprogramm vor allem eines sein körperliche Aktivität vermeiden. „Sitzen ist das neue muss: kurz. Ein effizientes Übungsprogramm muss an Rauchen“, warnen Sportwissenschaftler*innen schon erster Stelle diejenigen ansprechen, die nicht schon seit Jahren. von sich aus Lust auf Sport verspüren. Denn wer oh- nehin viele Stunden in der Woche freiwillig auf dem Sportplatz oder im Fitnessstudio verbringt, bewegt Prof. Dr. Markus Gruber forscht im Bereich Trainings- und Bewegungswissenschaft und leitet das „Human Performance Research Centre“ (HPRC) der Universität Konstanz.
Forschung Der Wirkstoff von Sport sich bereits im grünen Bereich. Das Trai- würden nach dem Wirkstoff fragen, dem ven der Labore werden im HPRC zusam- ningsprogramm muss also in erster Linie ‚Wirkstoff von Sport‘. Diesen Wirkstoff mengeführt, um ein umfassendes Bild zu die Bewegungsmuffel unter uns erreichen oder diese Wirkstoffe wollen wir finden erhalten, wie genau sich Bewegung und und darf möglichst keine Überwindung und als Grundlage für ein Fitnesspro- Sport auf die Gesundheit auswirken. Aus erfordern. gramm nutzen.“ den Ergebnissen werden dann Trainings- Die Übungen müssen folglich kurz und Markus Gruber und sein Team haben programme abgeleitet, die mit möglichst mit wenig Aufwand zu bewältigen sein, hierfür das Zentrum für Trainings- und geringem Aufwand einen möglichst hohen sollten dabei aber einen möglichst ho- Bewegungsforschung an der Universität Gesundheitseffekt erzielen sollen. hen Effekt für die Gesundheit erzielen. Konstanz eingerichtet, das „Human Per- Das Training sollte sich zudem möglichst formance Research Centre“ (HPRC). Die- Aus zwei Stunden Training reibungslos in den Alltag integrieren las- ses Forschungszentrum untersucht die drei Minuten gemacht sen. „Wie Zähneputzen“, vergleicht Mar- Zusammenhänge zwischen Sport, Leis- Wie genau das in der Praxis aussehen kus Gruber: eine Tätigkeit, die nur wenige tung und Gesundheit. Vereinfacht gesagt kann, zeigt ein Trainingsprogramm für Minuten am Tag beansprucht, aber einen kann im HPRC jede einzelne Bewegung Astronaut*innen, das Markus Grubers großen Effekt für den Erhalt der Gesund- des Körpers unter die Lupe genommen Team in Zusammenarbeit mit der Europä- heit verspricht. werden, welches Zusammenspiel sie mit ischen Raumfahrtagentur (ESA) und dem den Muskeln, dem Nervensystem und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raum- Was genau ist gesund am Sport? Energiehaushalt des Körpers hat. fahrt (DLR) entwickelt hat. Bislang ver- Wie aber sieht eine solche Übung aus? In den vier Laboren des HPRC werden bringen Astronaut*innen zwei Stunden Welches Training ist geeignet, um in we- (1) die Interaktion zwischen Nervensys- täglich mit einem Sportprogramm, um nigen Minuten einen maximalen Effekt tem und Bewegungskontrolle untersucht, den körperlichen Verschleißerscheinun- für den ganzen Körper zu erbringen? „Um (2) die Bewegung des Menschen und die gen in der Schwerelosigkeit entgegenzu- solch eine Übung zu entwickeln, müssen Kräfte, die zu dieser Bewegung führen, (3) wirken. Dennoch erleiden sie signifikan- wir zunächst herausfinden: Was ist wirk- das Herz-Kreislaufsystem, der körperliche ten Muskel- und Knochenschwund durch lich gesund am Sport? Wie genau wirkt Energiehaushalt und Stoffwechsel sowie ihren üblicherweise sechsmonatigen Auf- sich Bewegung auf unseren Körper aus?“, (4) das Gleichgewicht und die Haltung des enthalt im All. führt Markus Gruber aus: „Biomediziner Körpers. Diese vier einzelnen Perspekti- Markus Gruber und sein Team nah- men die Trainingssituation und die kör- perlichen Belastungen unter Bedingun- gen der Schwerelosigkeit nochmals neu unter die Lupe. Sie analysierten präzise, Das Human Performance Research Centre (HPRC) im Video: welche Trainingsformen am effektivsten – uni.kn/unikon/hpcr den Schwunderscheinungen im Weltraum
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