# 75 - Universität Konstanz

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# 75
 2021
 Das Magazin der Universität Konstanz
 – uni.kn/unikon

S. 10                                   S. 14                           S. 18                        S. 22
Für eine faire                          Verstellte Alarmsysteme         Wenn das Mitgefühl fehlt     Der Wirkstoff von Sport
Ernährungsumgebung                      Wenn Stresssysteme nicht mehr   Menschen mit antisozialer    Mit nur wenigen Minuten Sport
Essen ist mehr als Nahrungs-            richtig an- und abgeschaltet    Störung – Die Klinische      am Tag einen maximalen
aufnahme – Die Gesundheits-             werden – Der Neuropsychologe    Psychologin Daniela Mier     Gesundheitseffekt erzielen –
psychologin Britta Renner               Jens Pruessner untersucht,      arbeitet mit Patient*innen   Der Sportwissenschaftler Markus
plädiert für eine Transformation        was das für Gesundheit und      im Maßregelvollzug des       Gruber möchte diesen Traum
des Ernährungsverhaltens                Krankheit der Betroffenen       Zentrums für Psychiatrie     aller Bewegungsmuffel wahr
sowohl aus Gesundheits- als             bedeutet.                       Reichenau zusammen,          machen.
auch aus Klimagründen.                                                  auch um Therapieansätze
                                                                        zu evaluieren.
Schon dabei?

         Das große Netzwerk
         der Universität Konstanz
                                                                                                            uni.kn · wwa-grafik, wwa-druck · 8/2021

         Ehemalige und Studierende der Universität Konstanz sind herzlich eingeladen, unserem großen
         Alumni-Netzwerk beizutreten. Werden Sie Teil unserer weltweiten Alumni-Community und profitieren
         Sie von exklusiven Vorteilen, während und insbesondere nach Ihrem Studium.

– uni.kn/alumni
Editorial

                                                   fristig sollen daher der Arbeitskreis „Ge-
                                                   sunde Uni“ , der sich aktiv für die Gesund-
                                                   heit von Mitarbeiter*innen einsetzt, und
                                                   die studentische Gesundheitsförderung
                                                   „Active Campus Konstanz“ zu einem uni-
                                                   versitären Gesundheitsmanagement aus-
                                                   gebaut werden. Dieses könnte nicht nur
                                                   noch effektiver neue Forschungsergebnis-
                                                   se aufnehmen, sondern zudem einen wich-
                                                   tigen Beitrag leisten, um Spitzenforschung
                                                   weiter zu fördern, Motivation und Arbeits-
                                                   fähigkeit zu erhalten oder Studienerfolge
                                                   weiter zu erhöhen.
                                                       Die Verantwortung für Gesundheit
                                                   nur den Einzelnen zuzuschreiben, greift
                                                   zu kurz. Sicher spielen individuelle Fak-
                                                   toren wie z. B. gesundheitsorientiertes
Frau Melzer, wel­                                  Verhalten oder persönliche Konstitution
                                                   eine wichtige Rolle. Welchen Einfluss äu-
chen Stellenwert                                   ßere Rahmenbedingungen, die nicht im
                                                   Handlungsspielraum von Einzelpersonen
hat Gesundheit                                     liegen, auf die Gesundheit haben, ist aller-
                                                   dings nicht zu unterschätzen. Dazu zählen
an der Universität                                 z. B. Umwelteinflüsse oder Arbeits-, For-
                                                   schungs- und Studienbedingungen.
Konstanz?                                              Der „Active Campus Konstanz“ geht
                                                   zusammen mit Studierenden der Leitfra-
                                                   ge nach, was diese brauchen, um gesund
        Die Weltgesundheitsorganisation de-        studieren zu können. Davon ausgehend
    finiert Gesundheit als „Zustand des völli-     entwickelt er zielgruppengerechte Maß-
    gen körperlichen, seelischen und sozialen      nahmen und Angebote, die sich auf dem
    Wohlbefindens und nicht nur das Freisein       ganzen Campus wiederfinden. Die „Ge-
    von Krankheit und Gebrechen”. Diese            sunde Uni“ bietet Mitarbeiter*innen ein
    Vielschichtigkeit macht das Halten oder        ganzheitliches Angebot, damit sie am Ar-
    Wiedererlangen von Gesundheit komplex.         beitsplatz ihre Gesundheit selbstbestimmt
    Dass es an der Universität Konstanz eine       fördern können. Zu den Handlungsfeldern
    solch vielseitige und nahe am Alltag der       zählen Sport und Bewegung, Stresspräven-
    Menschen betriebene Gesundheitsfor-            tion und Entspannung, Ernährung sowie
    schung gibt, hilft uns sehr dabei, neue As-    Vorsorge und Suchtprävention. Beide An-
    pekte und Anregungen für die praktische        sätze wollen die Menschen dort erreichen,
    Umsetzung von Gesundheit auf dem Cam-          wo sie sich aufhalten.
    pus zu nutzen.
        Physisches und mentales Wohlbefin-         Kerstin Melzer
    den in der Forschung, bei der Arbeit oder
    im Studium sind eine Grundvoraussetzung
    für Kreativität, Innovation und Erfolg. Die-
    se können langfristig nur durch eine Ge-
    sundheitsstrategie erreicht werden, wel-
                                                                          Kerstin Melzer ist Referentin für Personal­
    che die gesamte Universität und alle ihre                             entwicklung und Dual Career sowie Koordinatorin
    Statusgruppen in den Blick nimmt. Mittel-                             des Arbeitskreises „Gesunde Uni“.
Auf dem Weg zu
            hochspezifischen
            Antibiotika
            S. 40/Forschung
            Der Konstanzer Biologe Prof. Dr. Christof Hauck unter-
            sucht auf molekularer Ebene, wie sich bestimmte Bakte-
            rien an Schleimhäuten festheften und dort die natürlichen
            Abwehrmechanismen unseres Körpers unterwandern. Zu-
            sammen mit Kolleg*innen aus der Chemie entwickeln und
            erforschen er und seine Arbeitsgruppe außerdem neuarti-
            ge Antibiotika, die spezifisch gegen besonders trickreiche
            Krankheitserreger, wie zum Beispiel die Verursacher der
            Gonorrhoe, eingesetzt werden könnten.

Für eine faire
Ernährungs­umgebung
S. 10/Forschung
Die Ernährungspsychologin Britta Renner erklärt,
was Ernährungsumgebungen sind und weshalb wir
sie für gesundes Essen benötigen.
S. 1    Editorial

Drei Institute unter                                                            Forschung

einem Dach                                                              S. 4
                                                                        S. 10
                                                                                Motorische Kognitionsforschung
                                                                                Faire Ernährungsumgebung
                                                                        S. 14   Verstellte Alarmsysteme
S. 30/Forschung
                                                                        S. 18   Empathie und Emotionsregulation
Das Biotechnologie Institut Thurgau macht biomedizinisch
                                                                                bei Patienten im Maßregelvollzug
relevante Forschung zur Wirkungsweise des Immunsys-
                                                                        S. 22   Der Wirkstoff von Sport
tems und zur Entstehung und Behandlung von Krebs unter
                                                                        S. 26   Wissenschaftliche Werkstätten
anderem durch Immuntherapie. Das An-Institut der Uni-
                                                                        S. 30   Drei Forschungsgruppen unter einem Dach
versität Konstanz ist sowohl im Schweizer Kreuzlingen als
                                                                        S. 36   Gesundheit und der Faktor Alltag
auch im Fachbereich Biologie zu Hause. Seine Forschung
                                                                        S. 40   Hochspezifische Antibiotika
ist trotz grenzüberschreitender räumlicher Trennung eng
verzahnt.
                                                                                Personalia
                                                                        S. 46   Nachruf Horst Sund
                                                                        S. 48   Nachruf Hermann Kinder
                                                                        S. 50   Dissertationen, Berufungen, Jubiläen
                                                                        S. 54   Martin Wikelski Verdienstorden

                                                                        S. 56   Impressum

            Der Wirkstoff
            von Sport
            S. 22/Forschung
            Mit nur wenigen Minuten Sport am Tag einen ma-
            ximalen Gesundheitseffekt erzielen – diesen
            Traum aller Bewegungsmuffel wollen Konstanzer
            Sportwissenschaftler*innen wahr machen. Sie erforschen
            hierfür im Zentrum für Trainings- und Bewegungsfor-
            schung (HPRC), wie genau Sport auf unseren Körper wirkt
            – und wie wir dies für ein alltagstaugliches Gesundheits-
            training nutzen können.

                                                                                 Online-Version von
                                                                                 uni’kon #75 unter:

                                                                                 – uni.kn/broschueren/unikon/75/

                                                                                 zum Onlinemagazin campus.kn:
                                                                                 – uni.kn/campus
Titel
Forschung
Innovationskraft in der
Motorische Kognitionsforschung

Motorische
Kognitionsforschung:

Von der Grundlagen­
forschung zur
klinischen Anwendung
Die klinische Neuropsychologie ist
eine wichtige Säule der Gesund-
heitsforschung an der Universität
Konstanz und be­schäftigt sich
mit einer Vielzahl von Themen. Wir
sprechen mit der Psycho­login
Dr. Jennifer Randerath, Leiterin
der Arbeitsgruppe „Motorische
Kognition und Neurorehabilitation“
am Zukunftskolleg der Universität
Konstanz, über ihre Forschung. Sie
gewährt uns Einblicke in ihre Ar-
beit mit Schlaganfallpatient*innen
und spricht über mögliche
Schnittmengen zwischen Multipler
Sklerose und Long Covid sowie die
besonderen Möglichkeiten, welche
ihr die Anbindung ihrer Nach-
wuchsgruppe an das Lurija Institut
und damit die Zusammenarbeit
mit den Kliniken Schmieder bietet.
Forschung
Motorische Kognitionsforschung

                                                                                   Zwischen den Kliniken Schmieder im Raum Konstanz
                                                                                   und dem Fachbereich Psychologie der Universität
                                                                                   Konstanz besteht seit inzwischen mehr als 20 Jahren
                                                                                   eine enge Forschungskooperation, die durch die
                                                                                   Gründung des Lurija Instituts für Rehabilitations-
    Wir alle benutzen in unserem All-                                              wissenschaften und Gesundheitsforschung im Jahr
tag eine Vielzahl von Gegenständen als                                             1997 institutionalisiert wurde. Das Lurija Institut ist
Werkzeuge und dies meist mühelos. Tat-                                             das erste An-Institut der Universität Konstanz und
sächlich finden in unserem Gehirn dabei                                            wird von der gemeinnützigen Stiftung Schmieder für
                                                                                   Wissenschaft und Forschung getragen.
jedoch eine Vielzahl von Planungs- und
Entscheidungsprozessen statt. Das wird                                             – kliniken-schmieder.de/lurija-institut.html
häufig erst dann offensichtlich, wenn die-
se durch chronische oder akute neurologi-
sche Erkrankungen gestört werden – mit
teils gravierenden Folgen für die Lebens-
qualität der Betroffenen.

Die klinische Anwendung als Ziel             menarbeit sowohl mit den Expert*innen         lichen Werkstätten der Universität Kon­
   Genau mit diesen „motorisch-kogni-        des Klinikpersonals als auch den              stanz siehe auch 26-29).
tiven“ Prozessen, also der internen Ver-     Patient*innen der Kliniken Schmieder              Einen Schwerpunkt legt Jennifer Ran­
arbeitung von Informationen für die Pla-     sind so zum Beispiel verbesserte Diagnos-     derath bereits seit ihrer Promotion auf die
nung und Durchführung von Bewegungen         tik-Werkzeuge und neue Therapieansätze        Arbeit mit Schlaganfallpatient*innen und
und Handlungen, beschäftigt sich Jennifer    für Betroffene von motorisch-kognitiven       die Erforschung der sogenannten Apra-
Randerath in ihrer Forschung, mit dem        Störungen entstanden.                         xie, eines Syndroms, das häufig als Folge
Anspruch, gewonnene Erkenntnisse bis                                                       von Schlaganfällen auftritt. Betroffene
in die klinische Anwendung zu bringen.       Apraxie – Wenn die Handlungsplanung           haben unter anderem Schwierigkeiten,
Es sei für sie immer auch Ziel, dass ihre    versagt                                       Bewegungen zu imitieren oder Gesten
Forschung am Ende bei den Patient*innen         „Das Lurija Institut und die damit         zu steuern. Es kommt bei der Apraxie je-
ankomme, sagte sie 2019 sinngemäß in         verbundenen Möglichkeiten des Exper-          doch auch zu den zuvor erwähnten Stö-
einem Interview anlässlich der Entge-        tenaustauschs und Patientenzugangs            rungen in der Auswahl und Benutzung
gennahme des Transferpreises der Uni-        waren ganz klar eines von zwei infra-         von Alltagsgegenständen. „Etwa 30.000
versitätsgesellschaft und der Universität    strukturellen Argumenten, die nach zwei       Schlaganfallpatient*innen sind allein
Konstanz. Der Preis zeichnet Projekte aus,   Forschungsaufenthalten in den USA für         in Deutschland jedes Jahr von Apraxie-
die erfolgreich eine Brücke zwischen Wis-    mich dafürsprachen, nach Konstanz zu          Symptomen betroffen. Die Patient*innen
senschaft und Gesellschaft schlagen.         gehen“, so Randerath. „Das zweite Argu-       sind durch diese Funktionsstörung nicht
   Wie dieser Preis zeigt, ist Jennifer      ment waren die Wissenschaftlichen Werk-       in ihrer prinzipiellen Bewegungsfähigkeit
Randerath ihrem Anspruch in der Vergan-      stätten der Universität. Durch das Vorhan-    eingeschränkt – sie ist nicht die Ursache
genheit also bereits gerecht geworden.       densein beider Einrichtungen habe ich die     von Lähmungen“, erklärt Randerath. „Die
Eine wichtige Rolle spielte dabei auch die   Möglichkeit gesehen, meine vorherigen         Störung besteht vielmehr auf der ‚menta-
Anbindung ihrer Arbeitsgruppe an das         Forschungsansätze und neuen Ideen in          len‘ Ebene – bei der Bewegungsplanung.“
Lurija Institut und damit die Kooperation    Konstanz im Rahmen eines Research Fel-
mit den Kliniken Schmieder in Allensbach     lowships am Zukunftskolleg effektiv in die
und Konstanz. Aus der engen Zusam-           Tat umzusetzen.“ (Zu den Wissenschaft-
Diagnostik verfeinern,                       dem Test mit den neuartigen Werkzeugen
individueller behandeln                      hingegen wird den Patient*innen eine lo-
   Gemäß ihres Fokus auf Apraxie ar-         gische Aufgabe gestellt, und sie müssen
beitete Jennifer Randerath zunächst vor-     dann aus drei „Fantasiewerkzeugen“ das-
nehmlich mit der Schmieder-Klinik in Al-     jenige aussuchen, welches sich am besten
lensbach und dort insbesondere mit Prof.     zum Lösen der Aufgabe eignet. Beide Auf-
Dr. med. Joachim Liepert und den von         gabentypen werden von gesunden Men-
Schlaganfällen betroffenen Patient*innen     schen in der Regel mühelos gelöst. Be-
zusammen, um die bestehende Diagnostik       troffene einer Apraxie hingegen haben oft
zu verfeinern. „Zur klassischen Apraxie-     in beiden Tests große Schwierigkeiten mit
Diagnostik gehörten hauptsächlich Tests      der geeigneten Werkzeugwahl, und diese
zur Bewegungsimitation sowie pantomi-        Störung kann die Bestreitung des Alltags
mische Aufgaben. Diese haben wir durch       von Betroffenen stark beeinträchtigen.
Tests mit bekannten Gebrauchsgegen-
ständen und neuartigen Werkzeugen er-        Innovative Methoden einsatzbereit
gänzt, um auch den Aspekt der Werkzeug-      und frei nutzbar
gebrauchsstörung diagnostisch erfassen          Basierend auf den in der bisherigen
zu können und damit Defizite zu identifi-    Zusammenarbeit gewonnenen Erkennt-
zieren, die für die Patient*innen eine hö-   nissen ist auch ein neues Therapiekon-
here Alltagsrelevanz besitzen.“              zept für Apraxie-Patient*innen entstan-
   So müssen sich Patient*innen im Test      den, in dem diese verlorengegangene
zum Gebrauch vertrauter Werkzeuge zum        Fähigkeiten Schritt für Schritt wiederer-
Beispiel zwischen einem Flaschenöffner,      lernen. „Die Übungen werden dabei an das
einer Schöpfkelle und einem Pfannenwen-      individuelle Tempo der Patient*innen so-
der für den richtigen Gegenstand zum Zu-     wie an deren konkrete Bedürfnisse ange-
bereiten eines Spiegeleis entscheiden. Bei   passt. Regelmäßige Feedback-Runden, in
Forschung
Motorische Kognitionsforschung

denen die Patient*innen sich selbst ein-           Multiple Sklerose und verschiedene           Beispiel in Form von eingeschränkter Aus-
schätzen und von den Therapeut*innen               Facetten der Erschöpfung                     dauer und Konzentrationsschwierigkeiten
Rückmeldung erhalten, sind ein weiterer               Ihren ganzheitlichen Forschungsan-        – aber auch emotional. Wie bei der Apra-
wichtiger Pfeiler des Konzepts“, erläutert         satz weiten Jennifer Randerath und ihr       xie geht es Randerath und ihrem Team in
Randerath.                                         Team auch auf andere Bereiche aus. Seit      ihrer MS-Forschung darum, die Ursachen
    Im deutschsprachigen In- und Ausland           einiger Zeit arbeitet sie daher zusätzlich   dieser Symptome besser zu verstehen, be-
bietet Randerath Workshops zum Thema               mit der Klinik Schmieder in Konstanz         stehende Diagnostikinstrumente zu ver-
Apraxie an, damit auch andere Kliniken             und dort insbesondere mit Prof. Dr. med.     feinern und den Patient*innen letztend-
und Praxen die neuen Methoden anwen-               Christian Dettmers und dem Chefarzt          lich – durch eine klarere diagnostische
den können. Die benötigten Materialien             Prof. Dr. med. Michael Jöbges sowie den      Zuordnung – verbesserte therapeutische
– von Handbüchern über Auswertungs-                Multiple Sklerose (MS)-Patient*innen der     Ansätze anzubieten.
bögen bis hin zu Bauanleitungen für Dia­           Klinik zusammen. „Ursprünglich haben             „In unseren MS-Projekten sind wir
gnostikwerkzeuge – stellt sie im Sinne             wir uns dafür interessiert, ob Apraxie-      noch nicht so weit, konkret neue Thera-
frei zugänglicher Wissenschaft kostenlos           Symptome auch bei MS-Patient*innen zu        piekonzepte vorschlagen zu können“, gibt
auf ihrer Website zur Verfügung. Beim              finden sind. Das scheint aber nicht oder     Randerath einen Statusbericht. Gemein-
Layout und der Erstellung der Printma-             nur in geringem Maße der Fall zu sein“,      sam mit den Schmieder-Kliniken und auf-
terialien war ihrer Arbeitsgruppe der              so Randerath. „Wir konzentrieren uns da-     bauend auf deren langjähriger Erfahrung
Grafikservice der Universität Konstanz             her aktuell auf die neuropsychologischen     im Bereich der motorischen und kogniti-
behilflich, und die Realisierung der Ideen         Themen ‚Fatigue‘ und ‚Fatigability‘, also    ven Erschöpfung bei MS-Patient*innen
für neue Versuchsaufbauten und Diagnos-            Erschöpfungssymptome, die unter ande-        geht es zunächst vielmehr darum, die be-
tikwerkzeuge erfolgte häufig mit tatkräf-          rem mit MS einhergehen.“                     stehende Diagnostik um den Aspekt der
tiger Unterstützung der Elektronik- und               So leiden MS-Patient*innen häufig         emotionalen Erschöpfung zu erweitern.
Mechanikabteilungen der Wissenschaft-              unter starker Erschöpfung, die sich kör-     „Motorische und kognitive Erschöpfungs-
lichen Werkstätten.                                perlich und kognitiv äußern kann – zum       zustände werden in der Diagnostik bereits

                         Dr. Jennifer Randerath studierte
                         Psychologie an der Justus-Liebig
                         University Gießen und der RWTH-
                         Aachen, an der sie auch 2010
                         promoviert wurde. Nach zwei
                         Postdoc-Aufenthalten an der Uni-
                         versity of Oregon und der University
                         of Missouri in den USA kam Jennifer
                         Randerath 2014 an die Universität
                         Konstanz, wo sie seit 2015 am
                         Zukunftskolleg und mit Anbindung
                         an den Fachbereich Psychologie die
                         eigenständige Arbeitsgruppe „Moto-
                         rische Kognition und Neurorehabili-
                         tation“ leitet.

                                                   – uni.kn/unikon/preis /randerath
„Man muss für jede Patientin und jeden
                                                Patienten individuell
                                        die Bedürfnisse ermitteln, um effektiv
                                                 helfen zu können.“

                                                      Dr. Jennifer Randerath

gut erfasst und abgebildet. Für die emo-     Laufe der Covid-19-Pandemie mit dem         Abschluss zur Psychotherapeutin steht.
tionale Erschöpfung gilt das weniger“, er-   Virus angesteckt haben, starke Fatigue-     „Auch Patient*innen mit Fatigue ­u nd
klärt Randerath.                             Symptome. „Da sehe ich eine hohe gesell-    Fatigability werden zu den Klient*innen
                                             schaftliche Relevanz“, sagt Randerath und   kommender neuropsychologischer
Erschöpfungssymptome sind                    antwortet auf die Frage, wie groß hierbei   Psychotherapeut*innen zählen und von
kein Alleinstellungsmerkmal von MS           die gemeinsame Schnittmenge zwischen        deren spezialisierter Ausbildung profitie-
    Für eine Aufnahme emotionaler Kom-       MS und Long Covid sei: „Wie die Er-         ren“, führt sie fort.
ponenten in die Diagnostik spricht, dass     schöpfungsmuster bei unterschiedlichen          Für ihren eigenen nächsten Karriere­
es klare Wechselwirkungen zwischen den       Patientengruppen aussehen, werden wir       schritt wird Jennifer Randerath die Uni-
einzelnen Ebenen der Erschöpfung gibt.       erst noch anhand von Vergleichsstudien      versität Konstanz voraussichtlich im
So verstärkt eine starke emotionale Belas-   herausfinden müssen. Es wird sicherlich     kommenden Frühjahr verlassen und ihre
tung auch die Erschöpfungssymptome auf       Gemeinsamkeiten geben, aber auch Un-        Arbeit in Wien fortsetzen. Die Koopera-
körperlicher und kognitiver Ebene. Neue      terschiede. Aus therapeutischer Sicht ist   tions-Projekte mit den Kliniken Schmie-
Erkenntnisse über derartige Zusammen-        es enorm wichtig herauszufinden, worin      der wird sie jedoch fortführen, und es
hänge könnten später für die Entwicklung     diese liegen.“                              gibt - wie zuvor geschildert - auch bereits
ganzheitlicher Therapiekonzepte auf-                                                     Ideen und Stoßrichtungen für neue ge-
gegriffen werden. „Einige Patient*innen      Ein Blick in die Zukunft                    meinsame Projekte. „Ich habe durch das
brauchen eher Aktivierung, um aus der Er-        Die klinische Neuropsychologie befin-   Lurija Institut und die Kliniken Schmieder
schöpfung wieder herauszukommen, an-         det sich derzeit im strukturellen und po-   immer sehr viel Unterstützung für meine
dere hingegen absolute Ruhe. Man muss        litischen Wandel: Kürzlich beschloss der    Forschungsprojekte erfahren – das gilt für
also für jede Patientin und jeden Patien-    Berufsstand der Psychotherapeut*innen,      die Verwaltungs- und Führungsebene ge-
ten individuell die Bedürfnisse ermitteln,   dass die „Neuropsychologische Psy-          nauso wie das medizinische Personal und
um effektiv helfen zu können“, verdeut-      chotherapie“ ein eigenständiges Wei-        die Patient*innen der Kliniken Schmieder.
licht Randerath außerdem die Notwen-         terbildungsgebiet für approbierte           Ich hoffe daher, diese fruchtbare Zusam-
digkeit individualisierter Ansätze.          Psycholog*innen wird. „Für Psychologie-     menarbeit auch von Wien aus noch mög-
    Doch nicht nur MS-Patient*innen          Studierende nach dem Master bedeu-          lichst lange weiterführen zu können“, re-
sind von Erschöpfungssymptomen be-           tet das, dass sie ihre Weiterbildung zur    sümiert Randerath.
troffen: Auch bei Krankheitsbildern wie      Fachpsychotherapeut*in auf diesem Ge-       | ds.
Long Covid spielen sie häufig eine Rol-      biet zukünftig in bezahlter Berufstätig-
le. So zeigen derzeit viele Menschen aus     keit absolvieren können“, erklärt Rand-
den medizinischen Berufen, die sich im       erath, die selbst gerade kurz vor dem

                                                                                                          – uni.kn/preis-buchmann
Forschung
Ernährungsumgebung

           Für eine faire
           Ernährungsumgebung
           Die Ernährungspsychologin
           Prof. Dr. Britta Renner erklärt,
           was Ernährungsumgebungen
           sind und weshalb wir sie für
           gesundes Essen benötigen.
„In nahezu allen Kulturen wird gemeinsam
                               gegessen. Gemeinsames Essen ist
                          ein sozialer Taktgeber und hilft uns dabei,
                                  uns zu ‚synchronisieren‘. “

                                            Prof. Dr. Britta Renner

    uni’kon: Frau Renner, Sie untersuchen aktuell         Und was heißt das?
in einer Studie gemeinsames Essen als kooperative             Wir brauchen eine Transformation des Ernäh-
Tätigkeit. Inwiefern ist Essen kooperativ?                rungsverhaltens sowohl aus gesundheitlichen Grün-
    Prof. Dr. Britta Renner: In nahezu allen Kultu-       den als auch aus Klimagründen. Und zwar nicht nur
ren wird gemeinsam gegessen. Gemeinsames Essen –          ein bisschen Veränderung, sondern eine ganz erhebli-
Kommensalität – ist ein sozialer Taktgeber und hilft      che Veränderung. Nur um dies kurz zu verdeutlichen:
uns dabei, uns zu „synchronisieren“. Hier gibt es teils   Wir essen im Schnitt rund 61 Kilogramm Fleisch pro
ganz ausgeprägte Unterschiede zwischen Ländern.           Jahr. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung emp-
In Frankreich zum Beispiel befinden sich um ein Uhr       fiehlt zwischen 0 bis maximal 600 Gramm pro Woche
mittags über 50 Prozent der Bevölkerung beim Essen.       – das sind maximal 31 Kilogramm. Hier müssten wir
Auch in unseren Studien sehen wir ganz ausgepräg-         schon allein mindestens 50 Prozent reduzieren.
te zeitliche Synchronisierungen, mit drei klaren und
ausgeprägten zeitlichen Peaks. In den USA findet sich     Und wie soll diese Transformation erreicht werden?
hingegen eher ein sogenanntes „grazing behavior“,             Die Menschen zu informieren und zu motivieren,
d.h. es gibt deutlich weniger synchronisierte, sozial     ihr Verhalten zu ändern, ist wichtig, reicht aber nicht.
definierte Essenszeiten. Durch eine solche Entstruk-      Wir müssen eine Umgebung schaffen, die auf unsere
turierung von Mahlzeiten können dann wichtige sozi-       Wahrnehmungs- und Verhaltensmöglichkeiten abge-
ale und regulative Funktionen verloren gehen. Wann,       stimmt ist. Wir müssen die Sache quasi von der Sei-
was und wie viel Sie essen, müssen Sie dann indivi-       te der Konsumentinnen und Konsumenten angehen.
duell regulieren, und das Verhalten ist wenig „sozial“    Die Entscheidungsphase, esse ich den Apfel oder die
bestimmen. Essen wird dadurch auch eher eine Par-         Schokolade, steht bereits relativ am Ende eines Ver-
alleltätigkeit, was bezüglich des Intake-Monitorings      haltensprozesses.
– der Wahrnehmung und Steuerung dessen, was und
wie viel wir essen – durchaus problematisch sein kann.    Was kommt vorher?
                                                              Wir haben ein Modell entwickelt, das die Ernäh-
Essen ist also mehr als Nahrungsaufnahme. Das             rungsumgebung in einen vierphasigen Verhaltens-
Gutachten „Politik für eine nachhaltige Ernährung“        prozess aufteilt und mit der Exposition beginnt. Alles,
des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik,          was Sie in Ihrer Umgebung sehen, auch wenn Sie ge-
Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz          rade gar nicht essen wollen, kalibriert Ihre Wahrneh-
(WBAE), dem Sie auch angehören, spricht davon,            mung, beeinflusst Ihre Einstellungen und letztlich
dass eine „faire Ernährungsumgebung“ geschaffen           auch Ihr Verhalten. Wie oft sehen Sie in den Medien
werden muss. Was ist damit gemeint?                       oder überhaupt in Ihrem Alltag Bilder, auf denen et-
   Die Ernährungsumgebung ist ein Teil der Umge-          was zu sehen ist, das einen Zusammenhang mit Essen
bung. Das sind sämtliche Umweltfaktoren, die unser        herstellt? Die vielen Geschäfte, an denen Sie vorbei-
Essverhalten beeinflussen. Dahinter steckt die Idee,      laufen, die ganze Werbung – das ist eine enorme Fülle
dass die Ernährungsverantwortung nicht einfach in-        an assoziierten Reizen. Das nehmen wir zwar in der
dividualisiert werden kann, sondern dass wir Umge-        Regel nur aus den Augenwinkeln wahr, aber es kalib-
bungen schaffen sollten, die es leichter machen, sich     riert natürlich unsere Wahrnehmung.
nachhaltiger zu ernähren.
Forschung
Ernährungsumgebung

Wir werden also ständig mit dem Thema          Können Sie ein Beispiel nennen?
Essen konfrontiert.                                Die Quetschies sind so ein Produkt,
    Ja, genau. Wir haben inzwischen einen      das vor allem für Kinder bestimmt ist.
sehr hohen und auch asymmetrischen Ex-         Man muss nicht mehr kochen, kann es mit
positionsdruck in Richtung auf Produkte        sich herumtragen, es ist jederzeit griffbe-
mit einem ungünstigen Nährwertprofil und       reit. Damit entstrukturieren Sie auch den
schlechter Klimabilanz. Nur um ein Bei-        Tag, was feste Zeiten für die Mahlzeiten
spiel zu nennen, neuseeländische Kinder,       angeht.                                           Di Fabio argumentiert, die Verbrau-
deren Expositionsraten mittels einer Body-                                                   cherinnen und Verbraucher seien mündig,
cam aufgenommen wurden, waren täglich          Bei Kindern denken wir an die Ver-            und deshalb sollte und darf der Staat nicht
rund 40 Mal lebensmittelbezogenem Mar-         pflegung an Kitas und in Schulen. Was         eingreifen, also keine Ernährungsumge-
keting ausgesetzt. Mehrheitlich sind dies      müsste hier eine Ernährungsumgebung           bung gestalten. Der WBAE zeigt hingegen
sogenannte non-core foods – wie zuckerge-      im Sinne des Gutachtens aufweisen?            umfassend auf: Der Staat muss diese Er-
süßte Getränke, Fastfood und Süßigkeiten.          Wir haben uns im Gutachten für eine       nährungsumgebung gestalten, damit wir
Auch in Deutschland finden wir hier sehr       hochwertige und kostenfreie Kita- und         Wahlfreiheit haben. Beispielsweise beim
hohe Expositionsraten, weshalb der Beirat      Schulverpflegung ausgesprochen. Hoch-         Einkaufen: Wie gelingt die Orientierung
in seinem Gutachten eine Einschränkung         wertig aber eben nicht nur im Sinne von       bei Tausenden von Labeln?
des an Kinder gerichteten Marketings ge-       Nährstoffen, sondern auch im Sinne der            Auch im Positionspapier der DGE wird
fordert hat. Wir müssen aber auch generell     Essensumgebung. Die Kinder müssen             nun die veränderte Sichtweise deutlich;
gesellschaftlich diese permanente Expositi-    zusammenkommen können. Das ist ein            anstelle individueller Gesundheit und
on viel stärker diskutieren und faire Ernäh-   Motor für Integration. Es gibt hier ein-      Nährstoffbedarfe zeigt sich eine Öffnung
rungsumgebungen schaffen.                      drückliche kulturwissenschaftliche und        hin zu einem erweiterten Gesundheits-
    Es gibt aber noch weitere Faktoren,        psychologische Studien, die zeigen, dass      konzept, bei dem es nicht nur um die
die der Entscheidungsphase vorausgehen,        die Bereitschaft, mit jemandem Essen zu       Physiologie und individuelle Gesundheit,
wie den Zugang zu Essen. Nicht zu allen        teilen, immer auch eine gewisse Art von       sondern auch um die Umwelt und die pla-
Lebensmitteln, denen ich exponiert bin,        Anerkennung und positive Emotionalität        netare Gesundheit geht. Das ist ein echter
habe ich Zugang. Das kann daran liegen,        bedeutet.                                     Schritt nach vorne und bedeutet, dass bei
dass sie zu teuer sind. Aber auch soziale                                                    den Empfehlungen für eine ausgewogene
Normen sind entscheidend.                      Der ehemalige Verfassungsrichter Udo di       Ernährung nun auch Klima- und Nach-
    Hieraus resultieren die Unterschiede       Fabio geht in seinem Gegengutachten für       haltigkeitsaspekte einbezogen werden. Im
dabei, wie leicht ein Lebensmittel zugäng-     den Lebensmittelverband (siehe Infokas-       Prinzip bedeutet das einen Anschluss an
lich ist. Die momentane Entwicklung läuft      ten, Red.) davon aus, dass die Gestaltung     die Position des WBAE, der fordert, mit fai-
darauf hinaus, dass der Zugang zu den          einer solchen Ernährungsumgebung ein          ren Ernährungsumgebungen zur Erhaltung
ungünstigen Produkten möglichst leicht         Eingriff in die Grundrechte wäre. Was ist     unserer Lebensgrundlagen beizutragen.
gemacht wird.                                  Ihre Position?                                | Die Fragen stellte Maria Schorpp.
Im August 2020 hat der Wissenschaftliche Beirat für      Das Gutachten hat eine breite öffentliche Reso-
                                             Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Ver-        nanz gefunden. So hat die Zukunftskommission
                                             braucherschutz (WBAE) dem Bundesministerium für          Landwirtschaft (https://www.bmel.de/DE/themen/
                                             Ernährung und Landwirtschaft das Gutachten „Po-          landwirtschaft/zukunftskommission-landwirtschaft.
                                             litik für eine nachhaltige Ernährung. Eine integrierte   html) und die Deutsche Gesellschaft für Ernährung
                                             Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungs-       (DGE) Empfehlungen des Gutachtens aufgenom-
                                             umgebungen gestalten“ vorgelegt. Das Gutachten           men. Nun hat Anfang Oktober 2021 der ehemalige
                                             analysiert umfassend das Ernährungssystem und            Verfassungsrichter Udo di Fabio in einer im Auftrag
                                             seine politische Steuerung in Deutschland. Ein           des Lebensmittelverbands Deutschland erstell-
                                             Kernergebnis ist, dass der Einfluss von Ernährungs-      ten umfassenden Stellungnahme das Gutachten
                                             umgebungen in der öffentlichen und politischen           kritisch diskutiert. Prof. Dr. Britta Renner, Gesund-
                                             Diskussion unterschätzt wird, während die individu-      heitspsychologin an der Universität Konstanz, ist
                                             elle Handlungskontrolle überschätzt wird und wir         stellvertretende Vorsitzende sowohl des WBAE als
                                             mehr konsumseitige Steuerungsimpulse brauchen.           auch der DGE.

          „Die Entscheidungsphase, esse
            ich den Apfel oder die Schokolade,
           steht bereits relativ am Ende eines
           Verhaltensprozesses.“

            Prof. Dr. Britta Renner

Prof. Dr. Britta Renner hat seit 2007 die Profes-
sur für Psychologische Diagnostik und Gesund-
heitspsychologie an der Universität Konstanz inne.
Sie forscht zu psychologischen Determinanten
des Gesundheitsverhaltens, fokussiert auf das Er-
nährungsverhalten sowie die Entwicklung mobiler
Interventionen zur Verhaltensänderung.
S. 16

Forschung

                    Verstellte
Verstellte Alarmsysteme

                  Alarmsysteme
Der Neuropsychologe Prof. Dr. Jens Pruessner untersucht mit seiner
Arbeitsgruppe, was es heißt, wenn Stresssysteme nicht mehr richtig
an- und abgeschaltet werden und was eine solche Verstellung für
­Gesundheit und Krankheit bedeutet. Mittels der Bildgebung durch
 einen Magnetresonanztomographen, welcher durch die Kliniken
 Schmieder zur Verfügung gestellt wird, lassen sich stressbedingte
 Ver­änderungen im Gehirn sichtbar machen. Dies kommt der Erfor-
 schung von Krankheiten wie Burnout, Multipler Sklerose und Long
 Covid zugutekommen könnte.

    Das moderne Leben ist dem Jahrtau-       perlicher Art wie metabolisches Syndrom      Gedächtnisverlust. Der Hippocampus
sende alten menschlichen Stresssystem        oder Diabetes.                               spielt jedoch auch bei der Stressregulati-
davongeeilt. Insbesondere dem autono-            „Wenn man zu viel Belastung um die       on mit, und zwar in Zusammenhang mit
men Nervensystem mit Sympathikus,            Ohren hat, reagieren die Stresssysteme       der HPA-Achse. Tatsächlich konnten hier
das für die im wahrsten Sinne des Wor-       sehr schnell und sehr deutlich und stel-     Arbeiten der Gruppe von Jens Pruessner
tes Kampf-Flucht-Reaktion zuständig ist.     len Energie zur Verfügung. Eine dauer-       zeigen, dass sich der Hippocampus bei
Heutige Stressoren bestehen aber weniger     hafte Aktivierung kann aber dazu führen,     Stress abschaltet. Dieses Abschalten hat
in der Begegnung mit Säbelzahntigern, die    dass diese irgendwann nicht mehr so gut      einen Grund: „Der Hippocampus ist mit
es irgendwie zu überleben gilt, sondern in   ausschalten“, sagt der Neuropsychologe       dem Hypothalamus so verbunden, dass
Zeitdruck, zu vielen Aufgaben gleichzeitig   Jens Pruessner. In seinem aktuellen For-     ein Abschalten des Hippocampus zum An-
und kognitiver Belastung. Die Bedrohung      schungsansatz fokussiert er nicht – wie      schalten des Hypothalamus führt“, erklärt
kommt eher als berufliche Herausforde-       die Mehrzahl der Untersuchungen – auf        der Neuropsychologe.
rung daher sowie in der geforderten Per-     den Anschaltmechanismus, sondern auf             Das Stresshormon Cortisol der HPA-
formance maximaler Leistungsfähigkeit.       den Abschaltmechanismus von autono-          Achse wird ausgeschüttet, wenn der Hy-
    Das Fatale daran ist: Der Mensch fühlt   mem Nervensystem und Hypothalamus-           pothalamus angeht, und der geht unter
sich bedroht, weil ein anspruchsvoller       Hypophysen-Nebennierenrinden-System,         anderem deshalb an, weil der Hippocam-
Termin ansteht, und das Stresssystem         kurz: HPA-Achse, dem anderen Stresssys-      pus ausgeht. Obschon aus der Energieper-
stellt in Form von Adrenalin Energie für     tem. Wer nicht mehr so gut abschalten        spektive sinnvoll, hat das für den Men-
die Flucht bereit. Er kann jedoch nicht      kann, greift vielleicht am Abend zu phar-    schen des 21. Jahrhunderts ungünstige
aufspringen und losrennen, sondern muss      makologischen Mitteln wie Alkohol, um        Konsequenzen. Unter Stress ist er nicht
sitzen bleiben und konzentriert an seiner    Abstand zu bekommen von der Alltags-         mehr in der Lage, Informationen aus dem
Aufgabe arbeiten, muss also genau das        hektik. Das funktioniert zwar kurzfristig,   Gedächtnis abzurufen, weil sich der „Ge-
Gegenteil dessen machen, was ihm der         ist aber auf Dauer ebenso gesundheits-       dächtnissekretär“ abgeschaltet hat. Black-
Körper signalisiert. Die bereitgestellte     schädigend wie ein dauerhaft angeschal-      outs bei Prüfungen gehen zum Beispiel
Energie kann der Mensch im physiologi-       tetes Stresssystem.                          auf diesen Umstand zurück. Man kann
schen Fluchtmodus nicht nur nicht nut-                                                    nicht mehr so gut denken, wie es erfor-
zen, sondern diese kann ihn auf Dauer        Wenn sich der Gedächtnissekretär             derlich wäre – es sei denn jemand schafft
sogar krank machen.                          verabschiedet                                es, die Situation nicht als Bedrohung, son-
                                                 Eine Struktur, die an dem Abschalt-      dern als bewältigbare Herausforderung zu
Eine ganze Palette an Krankheiten            Anschaltmechanismus besonders beteiligt      sehen.
aufgrund verstellter Stresssysteme           ist, ist der Hippocampus. Dessen Rolle hat
   Es kann nämlich zu einer Verstel-         die Arbeitsgruppe für Neuropsychologie       Bilder vom Hirn geben Auskunft
lung des Stresssystems führen, wenn die      von Jens Pruessner vor einigen Jahren ex-        Ein wesentlicher Pfeiler der Forschung
bei Belastungen vom Körper zur Verfü-        akt beschrieben. Die Hauptaufgabe dieser     von Jens Pruessner stellen bildgeben-
gung gestellte Energie nicht zum Einsatz     Hirnregion ist, abgespeicherte Informati-    de Verfahren dar, mit denen Aktivitäten
kommt. Es gibt eine ganze Palette an         onen ins Bewusstsein zu holen. „Gedächt-     einzelner Hirnregionen sichtbar werden.
Krankheiten, die als Folgeerkrankungen       nissekretär“ nennt ihn Jens Pruessner. Bei   Zum ersten Mal in Berührung gekommen
diskutiert werden – seelischer Art wie       Demenz ist der Hippocampus als erstes        ist er mit dieser auch heute noch jungen
Depressionen oder Angststörungen, kör-       betroffen, die Erkrankten erleben einen      Technik während seines Forschungsauf-
Forschung
Verstellte Alarmsysteme

                                „Ein MRT-Scanner                                                Ohnehin muss hier differenziert werden
                                                                                            zwischen einzelnen psychischen Erkran-
                          ist aus der Neurologie und aus
                                                                                            kungen. Jens Pruessner hat sich in dieser
                               der Neuropsychologie                                         Hinsicht das Burnout-Syndrom näher ange-
                            nicht mehr wegzudenken.“                                        schaut. Die Ergebnisse legen nahe, dass die-
                                                                                            ser sowohl körperliche als auch emotionale
                                                                                            Erschöpfungszustand mit einer Unterakti-
                                 Prof. Dr. Jens Pruessner
                                                                                            vität der Stresssysteme einhergeht, was an-
                                                                                            gesichts dessen, dass die Systeme Energie
                                                                                            bereitstellen, intuitiv einsichtig ist. Wenn
enthalts im kanadischen Montreal in den           Auch umgekehrt, bei der Blockade des      es um die Krankheit Multiple Sklerose (MS)
2000er Jahren. Heute ist es die im Rahmen      autonomen Nervensystems, war das Phä-        geht, wird statt von Burnout von Fatigue
des Lurija Instituts (siehe Infokasten S. 6)   nomen zu beobachten. Hier wurde Prop-        gesprochen, womit die Kliniken Schmieder
stattfindende Kooperation mit den Kli-         ranolol gegeben, ein Betablocker, der ver-   als Rehabilitationskliniken wieder ins Spiel
niken Schmieder, die es erlaubt, mit dem       hindert, dass es bei Stress zur Erhöhung     kommen, die als einen Schwerpunkt MS-
am Standort Allensbach verfügbaren Ma-         der Herzrate und des Blutdrucks kommt.       Erkrankte behandeln.
gnetresonanztomographen (MRT) anzu-            Im Stresstest wurde deutlich, dass die           In einem Kooperationsprojekt mit de-
schauen, was im Hirn passiert, wenn eine       Menschen, deren autonomes Nervensys-         ren ärztlichem Leiter in Konstanz, Prof. Dr.
Person gestresst ist.                          tem blockiert war, eine höhere Cortisol-     Michael Jöbges, untersucht die Forschungs-
   In Montreal war der Neuropsycho-            Freisetzung aufwiesen. Auch hier ist also    gruppe von Jens Pruessner, inwieweit bei
loge an der Entwicklung einer Methode          das Konkurrenzsystem, in diesem Fall die     MS eine Verstellung der Stresssysteme be-
beteiligt, Personen Stress zu induzieren,      HPA-Achse, eingesprungen.                    obachtet werden kann. Auch zur Long Co-
während sie im MRT-Scanner liegen. Man                                                      vid-Erkrankung verspricht man sich unter
sagte ihnen, dass sie bei einem zuvor          Wenn beide Stresssysteme                     dem Vorzeichen verstellter Stresssysteme
durchgeführten Test, verglichen mit an-        unterdrückt werden                           mittels MRT-Bildgebung neue Erkenntnisse
deren Testteilnehmenden, schlecht abge-            Und es ging noch einen Schritt wei-      zu eventuellen hirnorganischen Verände-
schnitten hätten. Jens Pruessner: „Es gab      ter. Was passiert, wenn wir beide Stress-    rungen. Die Forschung zu Long Covid ist
zu dem Zeitpunkt schon Vermutungen,            systeme unterdrücken? Die subjektive         dabei eine der Hauptinteressen von Michael
was im Hirn bei Stress passiert. Dass wir      Stress-Wahrnehmung war jeweils erhöht,       Jöbges, der die immer größer werdende Zahl
das dann aber tatsächlich im Scanner zei-      wenn eines der Systeme unterdrückt war.      von Patienten mit diesem Syndrom mit ver-
gen konnten, war neu.“                         „Ist sie noch viel deutlicher erhöht, wenn   schiedensten Diagnostikverfahren im Rah-
   Der Befund, dass Hypothalamus und           kein System mehr zu Verfügung steht?“,       men eines größeren Projekts, bei dem ver-
Hippocampus interagieren, legte die Frage      formuliert der Psychologe die anschlie-      schiedene Arbeitsgruppen der Universität
nahe, ob nicht auch die beiden Stresssys-      ßenden Überlegungen, um herauszufin-         Konstanz beteiligt sind, untersuchen wird.
teme, die HPA-Achse und das autonome           den, wie weit die Interaktion der beiden         Die gemeinsame Anstrengung der Ar-
Nervensystem, miteinander verschaltet          Systeme geht. Das Ergebnis war abermals      beitsgruppe Pruessner und der Kliniken
sind. Was passiert also, wenn ein Stress-      überraschend: Es kam nicht nur zu keiner     Schmieder am Standort Allensbach in
system ausgeschaltet wird, mit dem an-         weiteren Erhöhung der subjektiven Stress-    Kooperation mit dem dortigen Leiter der
deren? Auch hierzu hat die Arbeitsgruppe       wahrnehmung, sondern zu einer Normali-       Neuroradiologie Prof. Dr. Christoph Stip-
von Jens Pruessner einige Forschungs-          sierung der subjektiven Empfindung. Die      pich gilt auch der Verbesserung der hoch-
arbeiten durchgeführt. Zuerst wurde die        Höhe der subjektiven Stressantwort war       auflösenden MRT-Verfahren, um die Genau-
HPA-Achse, die das Stresshormon Cor-           dieselbe wie in der Kontrollgruppe.          igkeit bei der Erfassung der Hirnstrukturen
tisol produziert, blockiert. Was passiert          „Wenn wir die Stresssysteme nicht        zu erhöhen. Derzeit liegt die Standardauflö-
also mit dem anderen Stresssystem, dem         mehr anschalten, dann sehen wir kei-         sung bei einem Kubikmillimeter, das heißt,
autonomen Nervensystem, das mit seiner         ne Veränderung mehr in der subjektiven       die Strukturen sind bis auf einen Kubikmil-
Adrenalin-Produktion für die Herzrate          Stresswahrnehmung“, so Jens Pruessner.       limeter genau zu sehen. Ziel ist hier, die
und den Blutdruck verantwortlich ist?          Alles gut also? „Nein, denn wahrschein-      Genauigkeit auf einen halben bis zu einem
Tatsächlich waren genau diese Werte bei        lich ist es ein langwieriger Prozess, bis    viertel Kubikmillimeter zu erhöhen. Für
den Probanden mit der verhinderten Cor-        es zur Verstellung und der Entwicklung       Jens Pruessner steht jetzt schon fest: „Ein
tisol-Ausschüttung erhöht. Befragungen         psychischer Erkrankungen kommt.“ Das         MRT-Scanner ist aus der Neurologie und
ergaben außerdem, dass die Personen die-       heißt: Erst der wiederholte Ausfall der      aus der Neuropsychologie nicht mehr weg-
ser Gruppe sich subjektiv mehr gestresst       Stresssysteme führt zu einer Erhöhung        zudenken und unentbehrlich für Diagnostik
fühlten als die in der Kontrollgruppe, die     von subjektivem Stressempfinden, und         und Beobachtung des Therapieverlaufs.“
ein Placebo erhalten hatten.                   damit zu Angst und Depression.               | msp.
S. 19

                                                     Prof. Dr. Michael Jöbges, ärztlicher Leiter
                                                     der Kliniken Schmieder Konstanz, trifft
                                                     Prof. Dr. Pruessner, Leiter des Lehrstuhls
                                                     Neuropsychologie an der Universität
                                                     Konstanz, zur Besprechung gemeinsamer
                                                     Projekte im Foyer der Schmieder-Klinik in
                                                     Konstanz.

                Eines der Instrumente an der
                Schmieder-Klinik Konstanz zur Dia-
                gnose möglicher gestörter Motorik
                bei Long Covid-Patienten.

– uni.kn/unikon/stress /gehirn
Forschung
Wenn das Mitgefühl fehlt

             Wenn das
             Mitgefühl fehlt

             Prof. Dr. Daniela Mier (2.v.l.) leitet seit 2018 den Arbeitsbereich Klinische Psychologie
             an der Universität Konstanz. Auf dem Bild sind außerdem Matthias Burghart (rechts)
             zu sehen, der im Bereich der Empathie und Emotionsregulation im Maßregelvollzug promo-
             viert, und PD Dr. med. Jan Bulla (links), der medizinische Direktor des Maßregelvollzugs
             am ZfP Reichenau, mit dem die Studie gemeinsam durchgeführt wird, sowie einer der
             Studienteilnehmer (2.v.r.).
Die Klinische Psychologin Prof. Dr. Daniela Mier
arbeitet mit Patient*innen im Maßregelvollzug des
Zentrums für Psychiatrie Reichenau zusammen,
um Modelle für mangelnde soziale Kognition und
entsprechende Therapieansätze zu evaluieren.
Zu dieser wichtigen Grundlage für Gutachten und
Sozialprognosen gibt es bislang erstaunlich
wenig Forschung.

           Wenn ein Mensch im Maßregelvollzug ankommt,          Gesunde schließen automatisch von sich
       ist zuvor ein gewichtiges Urteil über ihn als Person     auf andere
       gesprochen worden: Er wurde für seine Tat als ver-           Auch bei der neuronalen Grundlage der antisozia-
       mindert oder voll schuldfähig begutachtet, was be-       len Persönlichkeitsstörung ist die Forschung bislang
       deutet, dass seine Willensfreiheit bei seiner Tat        auf Hypothesen angewiesen. Ein Modell, das Daniela
       eingeschränkt, wenn nicht gar ganz aufgehoben war        Mier mit der funktionellen Magnetresonanztomogra-
       – ein einschneidender Akt für die persönliche Integ-     phie (fMRT) erforscht, besagt, dass die sogenannte
       rität eines Menschen, der Fragen nach der weiteren       verkörperte Simulation im menschlichen Spiegelneu-
       Behandlung aufwirft. Die Klinische Psychologin Prof.     ronensystem bei der Personengruppe mit dem anti-
       Dr. Daniela Mier trägt mit ihrer Forschung dazu bei,     sozialen Defizit fast oder ganz ausfällt. Bei gesunden
       dass Menschen im Maßregelvollzug geholfen wird.          Menschen funktioniert sie, indem diese automatisch
       Tatsächlich ist das nicht so einfach. Die Personen-      von sich auf andere schließen. Sehen sie, dass ihr Ge-
       gruppe mit eingeschränkter Schuldfähigkeit ist sehr      genüber lächelt, reagiert der Motorkortex des Gehirns
       heterogen: Die Störungsbilder reichen von Psychosen      in genau denselben Regionen, die aktiv sind, wenn
       bis hin zur Abhängigkeit von Substanzen.                 sie selbst lächeln. Und da sie wissen, dass ihr Lächeln
           Diese Uneinheitlichkeit ist für Daniela Mier ein     für gewöhnlich zum Beispiel aggressive Gefühle aus-
       möglicher Grund, weshalb es trotz der gesellschaftli-    schließt, erfolgt der Schluss, dass dies bei der anderen
       chen Bedeutsamkeit des Themas sehr wenig Forschung       Person ebenso ist.
       zu dieser Personengruppe gibt. Sie selbst arbeitet           Tatsächlich geht man allgemein davon aus, dass
       zum Thema soziale Kognition, worunter die Fähigkeit      bei Menschen mit antisozialer Störung dieses Spie-
       zu verstehen ist wahrzunehmen, was andere Perso-         gelungsprinzip nicht funktioniert, weshalb sie bei-
       nen denken, was sie fühlen und auch was sie vorha-       spielsweise anderen große Schmerzen zufügen kön-
       ben. Auf ihr konkretes Forschungsfeld angewendet         nen, ohne dass sie von Empathie gestoppt würden,
       untersucht sie die mangelnde Fähigkeit, Empathie,        geschweige denn, dass sie selbst mitfühlen würden.
       also Mitgefühl, zu empfinden. Wenn sie vom aktuel-       Daniela Mier untersucht in ihrer Forschung noch ei-
       len Wissensstand in diesem Bereich berichtet, ist auf-   nen zweiten Aspekt, von dem in der psychiatrischen
       fallend oft von Vermutungen die Rede. Zum Beispiel       Praxis ausgegangen wird und der ebenfalls auf nur
       bei praktizierten Empathie-Trainings, denen in der       wenigen empirischen Grundlagen fußt: Es gibt Hin-
       Behandlung eine bedeutsame Rolle zukommt. „Das           weise, dass die Menschen mit einem solchen Stö-
       ist nicht evaluiert“, sagt Daniela Mier, „wir wissen     rungsbild auch ihre Emotionen nicht gut regulieren
       überhaupt nicht, ob das Training wirksam ist.“           können. Überhaupt spüren sie, hirnphysiologisch
Titel
Innovationskraft in der

                                                                                 Die Forschung von Prof. Dr. Daniela
                                                                                 Mier fokussiert auf soziale Kognition
                                                                                 bei psychischen Störungen. Für
                                                                                 ihre Arbeiten verwendet sie Frage-
                                                                                 bögen, experimentelle Paradigmen
                                                                                 sowie verschiedene neurowis-
                                                                                 senschaftliche Methoden wie die
                                                                                 funktionelle Bildgebung.

              nachweisbar, ihre eigenen Emotionen und die der            Auf die Vorlage zum Beispiel eines Bildes mit ei-
              anderen sehr reduziert – mit einer Ausnahme: Är-        nem leidenden Menschen geben sie ohne Weiteres
              ger, den sie durch die mangelnde Emotionsregulation     an, mit der Person mitzuempfinden. „Es besteht die
              auch noch schwer in den Griff bekommen.                 Befürchtung, dass die Veränderung im Mitgefühl vor-
                                                                      getäuscht ist, und je mehr Therapie sie bekommen,
              Einzigartiges Kooperationsmodell mit                    desto besser werden sie darin“, sagt Daniela Mier. Was
              dem Zentrum für Psychiatrie Reichenau                   Gesunde automatisch machen, leiten sie sich kognitiv
                 Ob beides auch in Kombination eine Rolle spielt,     her. Gerade für Gutachten und Sozialprognosen stellt
              wird in Miers Forschungsprojekt zunächst anhand         dies ein Problem dar.
              von Fragebögen und Bildmaterial evaluiert. Die Klini-
              sche Psychologin arbeitet dabei eng mit dem Zentrum     Maßstab für Empathie ist die
              für Psychiatrie Reichenau zusammen, dem akademi-        Allgemeinbevölkerung
              schen Lehrkrankenhaus der Universität Konstanz,            Umso wichtiger, dass empirische Grundlagen für
              und PD Dr. med. Jan Bulla, dem medizinischen Direk-     gesicherte Evaluationen gelegt werden. Die Mier-
              tor des dortigen Maßregelvollzugs.                      Gruppe plant bereits eine Untersuchung zu Simulati-
                 Den Fragebögen und Selbstauskünften der an der       on von Empathie. Aktuell ist sie dabei, erste Runden
              Studie beteiligten Patient*innen werden zu einem        mit Fragebögen auszuwerten, wobei immer zuerst
              späteren Zeitpunkt physiologische Untersuchungen        mit Kontrollgruppen aus der Allgemeinbevölkerung
              folgen. Anhand von Hautleitfähigkeit und Herzraten      begonnen wird, die in Alter und Bildung zu den Pa-
              sollen die Auskünfte aus den verbalen Tests mit den     tienten im Maßregelvollzug passen. Normwerte, was
              physiologischen Reaktionen der Personen verglichen      gute und was schlechte Empathiewerte sind, gibt es
              werden. Diese doppelte Methodik hat einen heik-         nicht. Stattdessen wird verglichen. Daniela Mier:
              len Grund: Es wird vermutet, dass die Klientel, mit     „Sind die Werte beispielsweise beim Mitgefühl in der
              der Daniela Mier arbeitet, im Laufe der Behandlung      Allgemeinbevölkerung höher, sagen wir, dass die Pa-
              gelernt hat, wie sie auf bestimmte Fragen reagieren     tienten im Maßregelvollzug ein Defizit haben.“
              muss, um als geheilt begutachtet zu werden.
Eine Verlaufsmessung, die jedes Jahr und vor einer         Aktuell kommen häufig tiefenpsychologische Kon-
       eventuellen Entlassung durchgeführt wird, soll ein         zepte zum Einsatz wie die Mentalisierungstherapie,
       Gesamtbild ergeben. „Das Thema Veränderung von             die den Bereich der sozialen Kognition trainiert. Au-
       Empathie und Emotionsregulation im Maßregelvoll-           tomatisches Verhalten wie Empathie beizubringen ist
       zug gibt es so in der Literatur überhaupt noch nicht“,     jedoch schwer, da macht sich die Psychologin keine
       stellt die Klinische Psychologin fest. Ein erstaunlicher   Illusionen. Bei der Emotionsregulation sieht es besser
       Umstand auch für die Wissenschaftlerin, zumal es ge-       aus, hierzu gibt es bereits erfolgreiche Trainings. Auf
       rade für Gutachten und Prognosen von entscheiden-          jeden Fall hat sich Daniela Mier auf einen langen Weg
       der Bedeutung ist.                                         eingestellt.
           Aufgrund der Täuschungsmöglichkeit und ihrer           | msp.
       mangelnde Nachweisbarkeit geht sie davon aus, dass
       ihre Fragebögen keine allzu aussagekräftigen em-
       pirischen Befunde liefern. Als Konsequenz steht als
       nächste Aufgabe die Verbesserung der klassischen
       experimentellen Methoden an. Das Ziel ist langfris-
       tig, tatsächlich belastbare Aussagen zum Empathie-
       wert und zur Emotionsregulation zu bekommen. Da-
       mit wäre erst eine Evaluation dessen möglich, was
       sich im Maßregelvollzug durch die Therapie bei den
       Patient*innen verändert und wie wirksam Behand-
       lungsmethoden überhaupt sind.

Das Zentrum für Psychiatrie Reichenau ist das
akademische Lehrkrankenhaus der Universität
Konstanz. Einzigartig in Deutschland ist die
gemeinsame Leitung einer Forschungsstation
Psychose durch eine Klinische Psychologin der
Universität und ein Zentrum für Psychiatrie.
Durch die sehr gute Kooperation mit der Allge-
meinpsychiatrie und dem Maßregelvollzug ent-
steht eine enge Vernetzung von Forschung und
Praxis sowie die Möglichkeit, Krankheitsverläufe
über lange Zeiträume hinweg zu untersuchen, die
deutschlandweit einmalig ist. Die Erkenntnisse
aus den Forschungsarbeiten geben wertvolle
Impulse für die Entwicklung neuer, innovativer
Therapiestrategien.
Forschung
Der Wirkstoff von Sport

Der
Wirkstoff
von
Sport                     Mit nur wenigen Minuten Sport am Tag einen maximalen
                          Gesundheitseffekt erzielen – diesen Traum aller Bewegungs­
                          muffel wollen Konstanzer Sportwissenschaftler*innen wahr
                          machen. Sie erforschen hierfür im Zentrum für Trainings- und
                          Bewegungsforschung (HPRC), wie genau Sport auf unseren
                          Körper wirkt – und wie wir dies für ein alltagstaugliches Gesund-
                          heitstraining nutzen können.
Der natürliche Feind des Menschen ist der Sessel.            Was also ist zu tun? Ausreichend Bewegung ist
Zu seinen weiteren Feinden zählen der Bürostuhl, das         leichter gesagt als getan. Folgen wir den Empfeh-
Sofa und natürlich der Liegestuhl. Kurzum: All jene          lungen führender sportmedizinischer Verbände (z. B.
Sitzgelegenheiten, die uns dazu verführen, im Alltag         American College of Sports Medicine), so müssen wir
längere Zeiträume sitzend oder liegend zu verbrin-           „nur“ etwa drei- bis fünfmal pro Woche Ausdauer-
gen. Kaum etwas im Alltag hat so erhebliche negative         sport wie Schwimmen oder Radfahren betreiben. Hin-
Auswirkungen auf unsere Gesundheit, wie nichts zu            zu kommen Kraftübungen an drei Tagen pro Woche,
tun. Körperliche Inaktivität zählt zu den größten Ge-        etwa Liegestützen oder Kniebeugen, sowie Gleichge-
sundheitsrisiken unserer Zeit, ihre Folgeerscheinun-         wichts- und Beweglichkeitsübungen an zwei Tagen in
gen stehen in Zusammenhang mit Volkskrankheiten              der Woche.
wie Herz-Kreislauferkrankungen, Typ-2-Diabetes,                 Oder, mit anderen Worten ausgedrückt: „Das
verschiedenen Krebserkrankungen sowie sturzbe-               macht kein Mensch“, schätzt der Konstanzer Sport-
dingten und osteoporotischen Knochenbrüchen.                 wissenschaftler Prof. Dr. Markus Gruber die Praxist-
   Der coronabedingte Lockdown hat diesen Effekt             auglichkeit ein. „Für die Gesundheit wäre das toll –
noch verstärkt. Inaktivität verringert nachweislich          aber dieser Umfang an Sport ist nicht auf die breite
unsere Lebenserwartung, sie gilt unter Gesund­               Gesellschaft übertragbar. Mit diesen Empfehlungen
heitswissenschaftler*innen als „versteckte Pandemie          bewegen wir uns fast schon im Bereich des Leistungs-
innerhalb der Pandemie“. Gemäß der Weltgesund-               sports“, so Gruber.
heitsorganisation (WHO) ließen sich jährlich rund               Der Sportwissenschaftler ist überzeugt, dass ein
fünf Millionen Todesfälle weltweit durch ausreichend         effektives Gesundheitsprogramm vor allem eines sein
körperliche Aktivität vermeiden. „Sitzen ist das neue        muss: kurz. Ein effizientes Übungsprogramm muss an
Rauchen“, warnen Sportwissenschaftler*innen schon            erster Stelle diejenigen ansprechen, die nicht schon
seit Jahren.                                                 von sich aus Lust auf Sport verspüren. Denn wer oh-
                                                             nehin viele Stunden in der Woche freiwillig auf dem
                                                             Sportplatz oder im Fitnessstudio verbringt, bewegt

           Prof. Dr. Markus Gruber forscht im Bereich Trainings- und
           Bewegungswissenschaft und leitet das „Human Performance
           Research Centre“ (HPRC) der Universität Konstanz.
Forschung
Der Wirkstoff von Sport

sich bereits im grünen Bereich. Das Trai-         würden nach dem Wirkstoff fragen, dem        ven der Labore werden im HPRC zusam-
ningsprogramm muss also in erster Linie           ‚Wirkstoff von Sport‘. Diesen Wirkstoff      mengeführt, um ein umfassendes Bild zu
die Bewegungsmuffel unter uns erreichen           oder diese Wirkstoffe wollen wir finden      erhalten, wie genau sich Bewegung und
und darf möglichst keine Überwindung              und als Grundlage für ein Fitnesspro-        Sport auf die Gesundheit auswirken. Aus
erfordern.                                        gramm nutzen.“                               den Ergebnissen werden dann Trainings-
   Die Übungen müssen folglich kurz und               Markus Gruber und sein Team haben        programme abgeleitet, die mit möglichst
mit wenig Aufwand zu bewältigen sein,             hierfür das Zentrum für Trainings- und       geringem Aufwand einen möglichst hohen
sollten dabei aber einen möglichst ho-            Bewegungsforschung an der Universität        Gesundheitseffekt erzielen sollen.
hen Effekt für die Gesundheit erzielen.           Konstanz eingerichtet, das „Human Per-
Das Training sollte sich zudem möglichst          formance Research Centre“ (HPRC). Die-       Aus zwei Stunden Training
reibungslos in den Alltag integrieren las-        ses Forschungszentrum untersucht die         drei Minuten gemacht
sen. „Wie Zähneputzen“, vergleicht Mar-           Zusammenhänge zwischen Sport, Leis-             Wie genau das in der Praxis aussehen
kus Gruber: eine Tätigkeit, die nur wenige        tung und Gesundheit. Vereinfacht gesagt      kann, zeigt ein Trainingsprogramm für
Minuten am Tag beansprucht, aber einen            kann im HPRC jede einzelne Bewegung          Astronaut*innen, das Markus Grubers
großen Effekt für den Erhalt der Gesund-          des Körpers unter die Lupe genommen          Team in Zusammenarbeit mit der Europä-
heit verspricht.                                  werden, welches Zusammenspiel sie mit        ischen Raumfahrtagentur (ESA) und dem
                                                  den Muskeln, dem Nervensystem und dem        Deutschen Zentrum für Luft- und Raum-
Was genau ist gesund am Sport?                    Energiehaushalt des Körpers hat.             fahrt (DLR) entwickelt hat. Bislang ver-
   Wie aber sieht eine solche Übung aus?              In den vier Laboren des HPRC werden      bringen Astronaut*innen zwei Stunden
Welches Training ist geeignet, um in we-          (1) die Interaktion zwischen Nervensys-      täglich mit einem Sportprogramm, um
nigen Minuten einen maximalen Effekt              tem und Bewegungskontrolle untersucht,       den körperlichen Verschleißerscheinun-
für den ganzen Körper zu erbringen? „Um           (2) die Bewegung des Menschen und die        gen in der Schwerelosigkeit entgegenzu-
solch eine Übung zu entwickeln, müssen            Kräfte, die zu dieser Bewegung führen, (3)   wirken. Dennoch erleiden sie signifikan-
wir zunächst herausfinden: Was ist wirk-          das Herz-Kreislaufsystem, der körperliche    ten Muskel- und Knochenschwund durch
lich gesund am Sport? Wie genau wirkt             Energiehaushalt und Stoffwechsel sowie       ihren üblicherweise sechsmonatigen Auf-
sich Bewegung auf unseren Körper aus?“,           (4) das Gleichgewicht und die Haltung des    enthalt im All.
führt Markus Gruber aus: „Biomediziner            Körpers. Diese vier einzelnen Perspekti-        Markus Gruber und sein Team nah-
                                                                                               men die Trainingssituation und die kör-
                                                                                               perlichen Belastungen unter Bedingun-
                                                                                               gen der Schwerelosigkeit nochmals neu
                                                                                               unter die Lupe. Sie analysierten präzise,
        Das Human Performance Research Centre (HPRC) im Video:
                                                                                               welche Trainingsformen am effektivsten
        – uni.kn/unikon/hpcr
                                                                                               den Schwunderscheinungen im Weltraum
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