Afrika-bulletin - Universität ...

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afrika-bulletin

                                                     Nummer 178
Mai 2020
Fr. 7.– / Euro 7.–   Afrikas Musik bewegt die Welt
Editorial

                                                                                                      Schon bei meinem ersten Forschungsaufenthalt in
                                                                                                 Ghana 1996 erweckte omnipräsente und unüberhörba-
                                                                                                 re Musik meine Neugier. Diese wurde weiter stimuliert,
                                                                                                 als ich bei der Archivforschung auf eine Sammlung von
                                                                                                 Musikaufnahmen aufmerksam wurde, welche die Basler
                                                                                                 Union Trade Company in den 1930er und 1950er Jahren
                                                                                                 in Ghana und Nigeria produziert hatte. In diesem Zusam-
                                                                                                 menhang durfte ich erstmals einen Beitrag zum Afrika-
                                                                                                 Bulletin beisteuern. Er hatte den Titel «Afrikanische Mu-
                                                                                                 sik – ein blühendes Geschäft» (Afrika-Bulletin August/
                                                                                                 September 2001). Seit 2010 bin ich nun im Redaktions-
                                                                                                 komitee des Afrika-Bulletins aktiv, und immer wieder
2
                                                                Veit Arlt ist Geschäftsführer    hiess es dort: «Wir sollten einmal eine Musiknummer
                                                            des Zentrums für Afrikastudien.      machen.» Hier ist sie nun.
                                                                   Seit 18 Jahren organisiert
                                                              er Konzerte mit afrikanischen           Der Tod von Afro-Funk und -Jazz Legende Manu Di-
                                                                Musikern – schwergewichtig       bango (Titelbild), der Ende März 84-jährig am Corona-
                                                             Jazz aus Südafrika (Bild: Derek
                                                                                                 virus verstarb, ruft uns in Erinnerung, dass Musik ein
                                                                              Li Wan Po 2017).
                                                               Kontakt: veit.arlt@unibas.ch.     Exportschlager und unsere populäre Musik stark von
                                                                                                 Afrika geprägt ist. In seinem einleitenden Beitrag nähert
                                                                                                 sich David Coplan der Bedeutung und bewegenden
                                                                                                 Kraft von Musik in Afrika an und zeigt deren weltweite
                                                                                                 Wirkungsmacht auf. Im Afrika-Bulletin ist diese Musik
                                                                                                 dank den CD-Besprechungen von Pius Frey regelmässig
                                                                                                 präsent, und so freut es uns ganz besonders, dass er
                                                                                                 unsere Einladung zu einem persönlichen Rückblick auf
                                                                                                 die rund 25 Jahre, in denen er schon fürs Bulletin schreibt,
                                                                                                 angenommen hat. Der Jazz Südafrikas hat die Befrei-
                                                                                                 ungsbewegung im Land und ihre internationalen Able-
                                                                                                 ger angetrieben und begleitet. Der Journalist, Publizist
                                                                                                 und Kulturvermittler Richard Butz gehörte zu den ersten,
     Impressum                                                                                   der Konzerte für südafrikanische Musiker im Exil orga-
                                                                                                 nisierte. Bis heute ist er dieser Leidenschaft treu geblie-
                                                                                                 ben. In seinem Beitrag beleuchtet er die langjährige
    Ausgabe 178 | Mai 2020                                                                       Beziehung der Schweiz zum Jazz Südafrikas und gibt
    ISSN 1661-5603                                                                               Einblick in die aktuelle Szene. Pius Vögele, der jüngst
    Das «Afrika-Bulletin» erscheint vierteljährlich im 45. Jahrgang.                             seine Masterarbeit zum Thema Afrofuturismus abge-
    Herausgeber: Afrika-Komitee, Basel, und Zentrum für Afrikastudien Basel.                     schlossen hat, nimmt uns in seinem Beitrag zur südafri-
    Redaktionskommission: Veit Arlt, Susy Greuter, Elísio Macamo,                                kanischen Hip Hop-Künstlerin Yugen Blakrok auf eine
    Barbara Müller und Hans-Ulrich Stauffer                                                      Reise durch Science-Fiction und Poesie und schliesst
    Das Afrika-Komitee im Internet: www.afrikakomitee.ch                                         damit den Reigen von der mächtigen globalen Wirkung
    Das Zentrum für Afrikastudien im Internet: www.zasb.unibas.ch
                                                                                                 afrikanischer Musik.
    Redaktionssekretariat: Beatrice Felber Rochat
                                                                                                     «Weder Krieg noch Frieden» so bezeichnet Hans-Ul-
    Afrika-Komitee: Postfach 1072, 4001 Basel, Schweiz
    Telefon: (+41) 61.692  51 88 | Fax: (+41) 61.269  80  50                                     rich Stauffer in unserem Hintergrundartikel die Situati-
    E-Mail Redaktionelles: afrikabulletin@afrikakomitee.ch                                       on in der Westsahara und setzt damit ein Zeichen wider
    E-Mail Abonnemente und Bestellungen: info@afrikakomitee.ch
                                                                                                 das Vergessen. Noch immer hält Marokko den grössten
    Postcheck-Konto: IBAN CH26 0900 0000 4001 77543
                                                                                                 Teil des Territoriums besetzt, und lebt ein Grossteil der
    Für Überweisungen aus dem Ausland:                                                           Sahrauis jenseits der Grenze im benachbarten Algerien.
    in Euro: Postkonto, IBAN CH40 0900 0000 9139 8667 9
    (Bic SwiftCode: POFICHBEXXX; Swiss Post, PostFinance, CH-3000 Bern)                          Die Lage ist verzweifelt und selbst die UNO vermag
    Mitarbeitende dieser Ausgabe: Veit Arlt (Red.), Richard Butz, David Coplan,
                                                                                                 nichts dagegen tun, dass Marokko das zugesicherte
    Pius Frey, Elisa Fuchs, Susy Greuter (Red.), Barbara Müller (Red.), Hans-Ulrich Stauffer     Referendum hintertreibt.
    (Red.), Pius Vögele                                                                               Im Namen des Redaktionskomitees bedanke ich
    Druck: Rumzeis-Druck, Basel                                                                  mich bei allen, die zu diesem Heft beigetragen haben. Ich
    Inserate: Gemäss Tarif 5/99, Beilagen auf Anfrage                                            wünsche Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, nicht nur ei-
    Jahresabonnement: Fr. 40.–/Euro 40.–
                                                                                                 ne gute Lektüre, sondern lade Sie auch ein, in den so-
    Unterstützungsabonnement: Fr. 50.–/Euro 50.–
    Im Mitgliederbeitrag von Fr. 60.–/Euro 60.– ist das Abonnement enthalten.                    zialen Medien der unglaublichen Kreativität nachzuspü-
    Redaktionsschluss Nummer 179: 30. Juni 2020                                                  ren, die Musikschaffende weltweit im Coronavirus-be-
    Schwerpunktthema: Bewegte Frauen                                                             dingten Lockdown an den Tag legen. Bleiben Sie ge-
    Schwerpunktthemen der nächsten Ausgaben: Klimawandel, Binnenmigration
                                                                                                 sund !                                                    •
    Interessierte an einer Mitarbeit sind eingeladen, mit der Redaktion Kontakt                                                                     Veit Arlt
    aufzunehmen.
    Unser Titelbild: Der legendäre Manu Dibango (hier am Festival Les Escales in
    St. Nazaire 2019) fiel Ende März 2020 dem Coronavirus zum Opfer (Bild: selbymay,
    wikimedia 2019).
Die Macht der Musik in Afrika
    Annäherung an ein universelles Phänomen

   Musik ist in Afrika seit jeher allgegenwärtig und         macht. Und natürlich formt das Medium Musik stark die
   spielt in allen Lebensbereichen eine wichtige             Botschaft im Text. Auf dem Gebiet von Medizin und Ge-
                                                             bet können Heilung und göttliche Wohltätigkeit nur über

                                                                                                                                                        Schwerpunktthema
   Rolle. Afrikanische Musik ist aber auch ein Export-       musikalische Kommunikationskanäle gesichert werden.
   schlager. Der Musikethnologe David Coplan führt           Im politischen Bereich wiederum sind Lieder, Lobreden
   in die Geschichte ein und schlägt einen Bogen bis         und Geschichten das, was schlussendlich von Königen,
                                                             Geistlichen, Propheten und Generälen bleibt. Auch heute
   hin zum aktuellen Musikschaffen.                          noch ist es keineswegs nur Arroganz, die Präsidenten
                                                             dazu bringt, kritische Lieder zu verbieten und ihre Ver-
                                                             fasser und Interpreten ins Gefängnis zu stecken. Die
    Musik gilt als eine der wenigen universellen Aus-        Lieder werden als eine echte Bedrohung der Macht wahr-
drucksformen. Ihr Einsatz – als Begleiterin anderer For-     genommen und sind es effektiv oftmals auch.
men oder zum «Selbstzweck» – ist so divers wie die                                                                                                 3
menschlichen Tätigkeiten an sich. In Afrika ist Musik mit        Globale Wirkung
allen Lebensbereichen verflochten, von der Selbstun-             Womit wir bei der afrikanischen Kulturszene der Ge-
terhaltung über die Kommunikation mit Tieren bis hin         genwart angelangt sind. Ab den 1960er Jahren brachte
zu Arbeit, Liebe, Religion, Medizin, Gruppenidentifika-      die Unabhängigkeit zunehmend eine afrikanische Mu-
tion, Politik und Krieg. Die frühesten und nachfolgen-       sikindustrie auf die Weltbühne, die bereits in der Nach-
den Wellen der Besiedlung Afrikas basierten auf dem or-      kriegszeit erblüht war. Der weltweite «Wind of change»
ganisierten sozialen Einsatz begrenzter und stets ge-        beflügelte die rasche Weiterentwicklung von Aufnah-
fährdeter menschlicher Ressourcen. Das Leben war ei-         me-, Rundfunk- und Vertriebstechnik und beförderte die
ne gewaltige Herausforderung und die Organisation von        Entstehung globalisierender afrikanischer Musikstile,
Arbeitskraft essentiell. Musik war sowohl Kunst als auch     die hauptsächlich auf der berauschenden Mischung ka-
Teil von Jagen und Sammeln, dem Knüpfen von Bezie-           ribischer sowie west- und zentralafrikanischer Rhyth-
hungen, der Tradierung von Erfahrungen, der Anerken-         men und Melodien beruhen. Es war das Resultat von
nung von Führerschaft und sozialer Hierarchie, der Hei-      Freiheit. Menschen aus dem südlichen Afrika flohen
lung von Krankheiten, der Stärkung von Individuum, Ge-       vor der Unterdrückung durch Minderheitsregime in die
meinsinn und Kampfesmut, und aller sozialer Bestre-          USA und Grossbritannien und wurden zu Leuchtfigu-
bungen.                                                      ren musikalischer und politischer Originalität und Wi-
                                                             derstandskraft. Afrikas Exporte werden nach wie vor
     Begleiter in allen Lebenslagen                          von Rohstoffen dominiert, und nur wenige Innovatio-
     Es ist eine virtuelle Welt, die der Mensch durch Ge-    nen oder Produkte haben einen Platz in der Weltwirt-
sang erschafft und mit Instrumenten ausgestaltet. Durch      schaft gefunden mit Ausnahme des kulturellen Bereichs.
die Zeit reguliert, schafft sie ihren eigenen existenziel-   Die explosionsartige Blüte der «Weltmusik» in den
len Fluss und über die Abfolge und Muster fester Ton-        1980er Jahren wurde weitgehend von Genres und In-
höhen formuliert sie eigene Erzählungen und Bedeu-           terpreten mit Wurzeln in Afrika vorangetrieben, die auch
tungen. In Afrika wurde niemand geboren, identifiziert,      die wichtigste Unterkategorie – den «World Beat» – do-
genährt, erwachsen, verheiratet, regiert, gepflegt, er-      minierten. Ihre Exponenten und Exponentinnen waren
zogen, gefeiert, in hohe Ämter eingeführt, verurteilt und    nicht nur in den darstellenden Künsten plötzlich allge-
bestraft, begraben oder verehrt, ohne dass dies von          genwärtig. Mode (sowohl Design als auch Models), vi-
Musik begleitet worden wäre. Indem Botschaften in Me-        suelle Künste, Film und Fernsehen, Literatur, soziale Me-
taphern und Melodien verborgen und verschlüsselt wur-        dien: all diese Bereiche werden gegenwärtig von afri-
den, sicherte Musik die poetische Freiheit, Raum für         kanischen Kreativen befruchtet, die in der Vielzahl der
Kritik und Autorität zu schaffen. So vermochte im süd-       Länder, in denen sie derzeit wirken, eine kontinentale
afrikanischen Kampf zur Überwindung der Apartheid            Präsenz aufbauen.
weder Repression noch Zensur den durch die Musik be-             Heute tanzt die ganze Welt zu einem afrikanisch ge-
förderten Widerstand zum Erliegen zu bringen. Um po-         prägten Beat, während in Afrika Musiker und Musike-
litisches Bewusstsein und Widerspruch auszudrücken           rinnen ihre seit langem etablierte Rolle als soziale und
musste ein Lied seine Bedeutung semantisch nicht of-         politische Kritiker und Mobilisatoren wahrnehmen. In
fenbaren, ja es konnte sogar ganz ohne Text auskom-          einigen Fällen, wie zum Beispiel im Falle des ugandischen
                                                                                                                           David Coplan ist Professor
men. Aber genauso wichtig war die Kraft, die es dem          Reggae-Stars Bobi Vine, geschieht dies sehr zum Miss-         emeritus für Sozialanthro-
kollektiven Geist zu vermitteln vermochte. Schon in den      fallen der Machthaber. Es überrascht kaum, dass Vines         pologie an der University
1970er Jahren antwortete mir Johnny Clegg auf die Fra-       jüngste Veröffentlichung ein Reggae-Rap-Monolog mit           of the Witwatersrand und
                                                                                                                           hat zahlreiche Studien zu
ge, warum schwarze Jugendliche trotz der blutigen Un-        Handlungsanweisungen angesichts der Coronavirus-              populärer Kultur und Musik
terdrückung des Soweto-Aufstandes, so herzhaft tanz-         Pandemie ist, oder dass 2012 in Senegal Macky Sall die        verfasst. Sein Buch In
                                                                                                                           Township Tonight ! (1985)
ten und feierten: «Wir singen und tanzen bis zum Ende        leidenschaftliche Unterstützung vieler beliebter Musiker
                                                                                                                           war die erste Studie,
des Wochenendes, damit wir uns am Montag wieder dem          nutzte, um eine erfolgreiche Präsidentschaftskampagne         die sich umfassend mit der
Tränengas, den Schlagstöcken und Schusswaffen entge-         zu starten. Es ist ein weit zurückreichendes, reiches Erbe,   Musik und dem Theater
                                                                                                                           des schwarzen Südafrikas
genstellen können.»                                          das Musik und Musikschaffende nach wie vor zu öffent-         auseinandersetzte und
     In Afrika werden alle Wissensgeschenke in Musik         licher Reflexion und sozialem und politischem Aktivis-        wurde zu einem Meilenstein
gehüllt. Die afrikanische Literatur und Geschichte bei-      mus innerhalb der afrikanischen Gesellschaftsformati-         der Ethnomusikologie.
                                                                                                                           Den Text hat Veit Arlt
spielsweise wurden in mündlichen Genres entwickelt           onen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene        übersetzt. Kontakt:
und über Musik bewahrt und vermittelt, deren repetiti-       beisteuern.•                                                 david.coplan@wits.ac.za.
ve, rhythmische Form ungeschrieben Text einprägsam
Die populäre Musik Afrikas im Wandel der Ze
                                  Ein persönlicher Blick zurück

                                  Seit 1994 trägt Pius Frey, Mitbegründer der                 Transmission durch die Befreiungssbewegungen
                                  St. Galler Buchhandlung Comedia, mit Musikkri-              Einen Schub zur Verbreitung der Musik gab auch der
                                                                                         Kampf gegen die Apartheid und Spätformen des Kolo-
                                  tiken zum Afrika-Bulletin bei. Wir haben ihn ein-      nialismus. Südafrikanische Musik, vom Jazz bis zur po-
                                  geladen, für dieses Themenheft auf das vergan-         pulären Musik, wurde in noch nie dagewesenem Aus-
                                  gene Vierteljahrhundert zurückzublicken und            mass vermarktet. Fusionen mit westlichen Musikschaf-
                                                                                         fenden wurden fast alltäglich, und es entstanden einige
                                  die Entwicklung der afrikanischen Musik in die-        grosse Hits. Immer mehr spezialisierte Plattenlabels wie
                                  ser Zeit in Bezug auf Stile, Inhalte, Produktion       Earthworks, Shanachie, Real World, Lusafrica, sowie ver-
                                  und Verbreitung zu reflektieren.                       schiedene französische Labels wurden aktiv. Das Inte-
                                                                                         resse an afrikanischer Musik stieg immer weiter. In
                                                                                         St. Gallen entstand dadurch der Verein AfriKaribik, wel-
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                                    Schon zur Zeit des Kolonialismus gab es in einigen   cher einige Jahre mit mehr oder weniger Erfolg aktuelle
                               Ländern, so zum Beispiel in Kongo (dem späteren Zaire,    Musik aus Afrika und der Karibik in die Schweiz brach-
                               heute DRC) und Nigeria, eine rege Musikproduktion.        te. Musik aus Nord- bis Südafrika und aus West- bis Ost-
                               Grosse internationale Musikkonzerne hatten dort Stu-      afrika war plötzlich greif- und hörbar, in ihrer ganzen
                               dios und warfen eine enorme Menge Platten auf den         Vielfalt, Traditionelles bis Modernes. Da war festzustel-
                               Markt. Nur das Wenigste erreichte aber den internatio-    len, dass westliche Hörgewohnheiten sich oft von afri-
                               nalen Vertrieb, und wenn, dann nur über wenige spe-       kanischen unterschieden.
                               zialisierte Shops. Erst in den 1980ern kamen plötzlich         Trommelmusik schlug ein – wenn möglich ohne Ge-
                               unzählige Produktionen in den weltweiten Handel. Gros-    sang – obgleich dies im Original so nicht vorkommt.
                               se Plattenfirmen, wie etwa Island-/Mango-Records, wel-    Oder die Musik wurde geschönt, verpoppt. So entpupp-
                               che zunächst ins Reggae-Geschäft eingestiegen waren,      te sich die Hoffnung von Island-Records, mit der Jùjú-
                               lancierten viele Titel. Fela Anikulapo Kuti oder King     Musik von King Sunny Adé (Nigeria) hier gross abzu-
                               Sunny Adé aus Nigeria, der Ende März in Paris verstor-    räumen, als Fehlschuss. Die Musik war zu komplex, zu
                               bene Manu Dibango aus Kamerun, Osibisa aus Ghana          radikal für die Mehrheit des westlichen Publikums. Ein
                               und Miriam Makeba aus Südafrika seien hier genannt.       bisschen besser lief es mit Fela Anikulapo Kuti. Dessen
                               Dazu kamen Festivals und engagierte Menschen, wel-        radikaler Afrobeat hatte funkige, jazzige Elemente, wel-
                               che sich für die afrikanische Musik einsetzten. So Gün-   che die Tanzbeine eher zum Vibrieren brachten. Zwar
                               ter Gretz aus Frankfurt mit seinem Label pam (popular     trennten sich grosse Plattenfirmen wieder von afrikani-
                               african music), die Gruppe um das Piranha-Label in Ber-   schen Interpretinnen, Interpreten und Bands, doch die
                               lin. Und diese Liebhaber und Liebhaberinnen afrikani-     Veröffentlichung der afrikanischen Musikvielfalt ging
                               scher Sounds brachten Bands für Tourneen nach Europa.     weiter. Dies ist dem Wirken unabhängiger Labels, Musi-
                                                                                         kerkooperativen, der Unterstützung westlicher Musiker
                                                                                         zu verdanken wie z. B. Damon Albarn von der englischen
     Die Band Konono No. 1
     des 2017 verstorbenen                                                               Rock Band Blur oder Peter Gabriel mit seinem Projekt
         Augustin Mawangu                                                                Real World. Es ging dabei auch darum, den Musikern
       Mingiedi, faszinierte
       mit der Kombination
                                                                                         und Musikerinnen eine garantierte Gage zu geben und
  aus Elektronik (innovativ                                                              Auftritte wie Produktionen zu ermöglichen, denn lange
     aus Recyclingmaterial                                                               Zeit wurde abgezockt und betrogen, was das Zeug hielt.
    erstellt) und Tradition.
       Der psychedelische,
verzerrte Sound vermochte                                                                    Musikalische Schatzsuche
    ein Publikum zwischen
                                                                                             Endlich kam auch wunderbare Musik auf den Markt,
    Weltmusik, Elektronika
   und Rock anzusprechen                                                                 welche jahrelang verschollen war, oder kurzfristig auf
     (Bild: Crammed Discs,                                                               obskuren Labels erschien. Liebevoll konzentrierten sich
                     2009).
                                                                                         Produzenten und Produzentinnen auf das Entdecken
                                                                                         und Wiederveröffentlichen. Die Labels Analog Afrika,
                                                                                         Network (Rough Guide), STRUT oder out-here brachten
                                                                                         und bringen nach wie vor Unerhörtes auf den Markt –
                                                                                         alte und neue Musik aus den verschiedensten Regionen.
                                                                                         Dazu öffneten Kenner ihre Sammlungen. So brachten
                                                                                         Francis Falceto oder Werner Graebner die Schätze der
                                                                                         äthiopischen Musik und des Taraabs der Swahili-Küste
                                                                                         ans Licht. Endlich wurde eine prachtvolle Vielfalt greif-
                                                                                         bar, was vorher nie möglich war. Neue Musikstile waren
                                                                                         zu entdecken. Jazz aus Äthiopien, 1001-Nacht-Musik aus
                                                                                         Sansibar, Melancholie von den Kap Verden oder Voodoo-
                                                                                         Musik aus Benin. Einige Musikstile machten hier kurz
                                                                                         ihren Siegeszug, verschwanden dann aber praktisch wie-
                                                                                         der. Der nordafrikanische Raï mit seinen ergreifenden
                                                                                         Gesängen sei hier als Beispiel genannt, oder auch die be-
                                                                                         sondere Musik aus Madagaskar.
it

        Tatsächlich wurde es einigen vergessenen, aber
     grossen Bands möglich, neu zu starten, neue Aufnahmen
     zu machen und auf Tournee zu gehen. Denken wir an Ebo
     Taylor aus Ghana oder das Orchestre Poly-Rythmo de
     Cotonou aus Benin. Leider erschienen und erscheinen
     jedoch immer wieder obskure Kompilationen. Zusam-
     menstellungen, mit denen schnell Kohle gemacht wird
     und bei denen das Gefühl aufkommt, dass hier einfach
     geklaut, aber nichts bezahlt wird.

         Starke Frauenstimmen
         Auch im südlichen Afrika tat sich einiges. Aus Alt-
     bekanntem wurde Neues. Roots Reggae afrikanischer
     Prägung entstand. Denken wir an Lucky Dube, der tra-                                                                                   Césaria Evora «La diva
                                                                                                                                            aux pieds nus» machte
     gischerweise 2007 in Johannesburg ermordet wurde.
                                                                                                                                            nicht nur die kapverdische
     Neue Bands kamen mit viel Kraft und Kreativität, so die                                                                                Morna sondern die ganze
     Band Mokoomba aus Zimbabwe. Und die Stimmen der                                                                                        Inselgruppe und ihre
                                                                                                                                            Geschichte weltweit be-
     Frauen mehrten sich: engagierte Sängerinnen, Musike-                                                                                   kannt (Bild Silvio Tanaka
     rinnen aus allen Regionen eroberten die Plätze und                                                                                     2008, Wikimedia).
     wurden zu wichtigen Botschafterinnen für Frauenrech-
     te und Menschenwürde. All die grossen Sängerinnen
     aus Westafrika, wie Sona Diabaté, Oumou Sangare oder       wickelte sich so noch nie Gehörtes. Dann die Verbin-
     Fatoumata Diawara; das Projekt Les Amazones d’Afri-        dung von Elektronik mit Rap, Kwaito, Mzansi Music,
     que; Hope Masike und Busi Mhlongo aus dem südli-           House, BLK JKS, Shangaan Electro, Shangaan Shake,
     chen Afrika, um nur ganz wenige zu nennen. Dazu wird       BCUL, Jagwa-Music, Kizomo, Kudoro, Baloji, Ekiti
     die Bedeutung von Rap und Hip-Hop in all seinen Facet-     Sound, Africa Express, DRC sind nur einige wenige
     ten immer bedeutender und in vielen Fällen in der Aus-     Bands und Stile neuer afrikanischer und eben auch glo-
     sage sehr politisch und radikal. Ein Vorteil ist gewiss,   baler Musik.
     dass schon mit einfachsten musikalischen Mitteln ge-           Und der weltweite Erfolg des Afrobeats ist sogar
     rappt werden kann. Heute ist Rap ein unverzichtbarer       hierzulande zu spüren. Begründet von Fela und Tony
     Teil der urbanen afrikanischen Musik. Überall erheben      Allen gibt es heute überall, auch in der Schweiz, Bands,
     Rapper und Rapperinnen ihre Stimme – von den Herr-         welche diesen radikalen Stil für ihre oft politischen Bot-
     schenden meist nicht gern gehört. Und junge Musike-        schaften nutzen. Wahrlich, die afrikanische Musik lebt
     rinnen und Musiker erneuern die traditionelle Musik        und brodelt, nimmt Neues auf, verbindet sich, stellt Tra-
     mit ihren speziellen Instrumenten erfolgreich. Aus Dau-    ditionen in neue Gewänder. Das sieht auch schön, wer
     menklaviermusik und einfachsten Instrumenten wird be-      die unzähligen Besprechungen im Afrika-Bulletin aus
     törende repetitive Musik, wie geschaffen für die neue      über 25 Jahren durchschaut. Ob Pop, Tradition, Elektro
     Musikzeit. Von Congotronics bis Msafiri Zawose ent-        oder Jazz – es tut sich was.                           •

                                                                Pius Frey ist Mitbegründer der alternativen Buchhandlung Comedia
                                                                in St. Gallen. Über den Verein AfriKaribik setzt er sich für afrikanische
                                                                und karibische Kultur ein. Kontakt: pius.frey@bluewin.ch.

                                                                Pius Frey mit der in Paris
                                                                ermordeten Dulcie
                                                                September (1935 –1988),
                                                                der südafrikanischen
                                                                ANC-Vertreterin für Frank-
                                                                reich und die Schweiz,
                                                                an der Krügerstrasse in
                                                                St. Gallen am 19. November
                                                                1986. Bis zu deren tat-
                                                                sächlichen Umbennung zur
                                                                Mandelastrasse sollten
                                                                noch viele Jahre vergehen
                                                                (Bild: zVg.).
Der südafrikanische Jazz und die Schweiz
                                    Eine langjährige Beziehungsgeschichte

                                    Jazz im südlichen Afrika ist gut 100 Jahre alt. Ri-      McGregor die Grossformation «The Brotherhood of
                                    chard Butz wirft Schlaglichter auf diese Ge-             Breath», in der sich verschiedene britische und andere
                                                                                             europäische Musiker mit den «Blue Notes» zusammen-
                                    schichte. Er berichtet von seiner über 50 Jahre          finden. Die «Brotherhood» prägt, ähnlich wie das drei
                                    andauernden Beschäftigung mit und Liebe zu               Jahre zuvor in Berlin entstandene «Globe Unity Orches-
                                    dieser Variante des Jazz, seiner Reise nach Süd-         tra», den europäischen Free- und Avantgarde-Jazz mass-
                                                                                             geblich mit. Die Geschichte der «Brotherhood» harrt
                                    afrika im letzten Februar und weist auf die lang-        noch einer umfassenden Würdigung. Immerhin ist sie
                                    jährigen Verflechtungen mit der Schweiz hin.             auf zahlreichen Alben, zu denen das grossartige «Live
                                                                                             at Willisau» (Ogun, 1974) gehört, gut dokumentiert.

                                     Die Jazzwelt ausserhalb von Südafrika nimmt des-            Erste Begegnungen mit südafrikanischem Jazz
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                                 sen Jazz erstmals zur Kenntnis, als der Trompeter und           Der in Sankt Gallen lebende, damals knapp 20 Jah-
                                 Komponist Hugh Masekela (1939 – 2018) geschockt vom         re alte Verfasser, Mitglied eines von ihm mitgegründe-
                                 Sharpeville-Massaker 1960 sein Heimatland in Richtung       ten Jazzclubs, hört das «Dollar Brand Trio» mit Johnny
                                 London verlässt. Im gleichen Jahr zwingt das Apartheid-     Gertze (Kontrabass) und Makaya Ntshoko (Schlagzeug)
                                 Regime die Sängerin Miriam Makeba (1932– 2008) für          zum ersten Mal im «Africana» und ist tief beeindruckt.
                                 30 Jahre ins Exil. Auch weitere Musiker verlassen Süd-      Diese Musik ist anders als der amerikanisch-orientierte
                                 afrika. Nur wenigen Jazzinteressierten ist zu dieser Zeit   Swing- und Bebop-Jazz. Der Rhythmus ist treibend, die
                                 bewusst, dass die Anfänge des Jazz in Südafrika auf die     Melodien sind bitter-süss und manchmal hymnisch. Die
                                 1920er Jahre zurückgehen und sich eine vielfältige und      Einflüsse etwa von Thelonius Monk und Duke Ellington
                                 bis heute lebendige Jazzszene entwickelt hat.               sind unüberhörbar, werden aber eigenständig verarbei-

                  alle Bilder:
    Kellerkonzert mit Dollar
          Brand, Sathima Bea
    Benjamin, Johny Gertze,           Dollar Brand (Abdullah Ibrahim)                        tet. Die Pianistin Irène Schweizer hört im «Africana» oft
         Makhaya Ntshoko in           kommt nach Zürich                                      zu. «Dollar hat», erinnert sie sich, «so hymnisch gespielt
St. Gallen. Abendessen gabs
                                      Im Zürcher «Jazzcafé Africana» nimmt im Jahre          und dann wieder ganz ruhig, das war wirklich Balsam
 «bei Muttern» – mit im Bild
der damals 20jährige Autor       1962 die weltumspannende Karriere des Pianisten und         für meine Seele.» Der Entschluss, Dollar Brands Trio für
  (Bild: Richard Butz 1962).     Komponisten Dollar Brand, der sich nach seinem Über-        ein Konzert nach Sankt Gallen zu holen, ist bald ge-
                                 tritt zum Islam Abdullah Ibrahim nennt, ihren Anfang.       fasst. Das Konzertplakat ist handgemacht, der Eintritt
                                 Zwei Jahre später folgen ihm die «Blue Notes» ins «Afri-    beträgt 3.30 Franken, das Abendessen findet «bei Mut-
                                 cana». Das Sextett des Pianisten Chris McGregor             tern» statt. Gespielt wird in einer Kegelbahn, das Kla-
                                 (1936–1990) besteht aus Dudu Pukwana (Altsax), Nikele       vier ist heruntergespielt und leicht verstimmt. Dieser
                                 Moyake (Tenorsax), Mongezi Feza (Trompete), Louis           erste Auftritt des Trios in Sankt Gallen wird – trotz den
                                 Moholo (Schlagzeug) und Johnny Dyani (Kontrabass).          eigentlich unwürdigen Bedingungen – zu einem gros-
                                 Moyake kehrt, von einer tödlichen Krankheit gezeichnet,     sen Erfolg. Ein zweites, wiederum begeistert aufgenom-
                                 nach Südafrika zurück. Die anderen «Blue Notes» ziehen      menes Konzert, dieses Mal in einem ehemaligen Wein-
                                 schon bald nach London, geben aber zuvor noch ein           keller, folgt schon bald. Neu ist die Sängerin Sathima
                                 fantastisches Konzert im thurgauischen Bischofszell.        Bea Benjamin (1936 – 2013), die 1965 den Pianisten hei-
                                 London wird das Zentrum der südafrikanischen Jazz-          ratet, mit dabei. Sankt Gallen wird für Abdullah Ibra-
                                 Diaspora. Vor allem sind es die «Blue Notes», die mit       him zu einem immer wieder gerne aufgesuchten Kon-
                                 ihren regelmässigen Gigs im alten «Ronnie Scott’s Jazz      zertort. Es sind bis heute, nebst einigen privat gespiel-
                                 Club» die britische Jazzszene beleben. 1969 gründet         ten Konzerten, mindestens zehn Auftritte dokumen-
tiert. Wenig bekannt ist: Das vom Pianisten im Duo mit
dem Kontrabassisten Johnny Dyani aufgenommene Al-
bum-Glanzstück «Good News from Africa» ist zuerst auf

                                                                                                                                                           Schwerpunktthema
dem kurzlebigen Sankt Galler Label «Cameo» erschie-
nen und wurde später an das Label «Enja» verkauft.
Weitere persönliche Begegnungen mit südafrikani-
schem Jazz folgen in London und in der Schweiz bei
Konzerten des inzwischen als verschollen geltenden
Altsaxofonisten Joe Malinga. Auf dem Album «Ithi Gqi»
(Brambus) ist nachzuhören, wie tief im Südafrikanischen
verwurzelt dieser Musiker war.

    2020: Reise-Notizen aus Südafrika                                                                                                                  7
    Es dauert fast sechs Jahrzehnte, bis der Verfasser
erstmals eine Reise nach Südafrika unternehmen kann.
Als Hintergrund dienen zwei Bücher des südafrikani-
schen Musikers, Produzenten und Publizisten Struan
Douglas *. Er teilt im zweiten Band den südafrikanischen
Jazz in fünf Abschnitte oder Generationen ein: Die «gol-
dene Ära» (z. B. Hugh Masekela), die «Zeit des Exils» (z. B.
Dollar Brand, «Blue Notes»), die «Befreiungskampf-Ge-
neration» (z. B. der Pianist Bheki Mseleku), die «befreite          Live-Begegnungen in Johannesburg
Generation» und die «neue Generation». Eine wichtige                In einer Kneipe im Johannesburger Stadtteil Mel-
Figur der vierten Generation ist beispielsweise der Bass-      ville jammt einmal wöchentlich der Trompeter Marcus
gitarrist und Komponist Carlo Mombelli, der ab dem             Wyatt mit jüngeren Musikern zusammen, so etwa mit
Jahre 2009 wiederholt in der Schweiz zu hören ist. Das         dem virtuosen Gitarristen Keenan Ahrends oder dem
vor kurzem erschienene Album «Live at the Birds Eye            hart swingenden Schlagzeuger Peter Auret. Auch Wy-
2009 – 2018» (Mombelli Music) ist dafür ein eindrückli-        att ist seit einer Residency in Basel im Jahr 2012 immer
cher Beleg. In einem Gespräch in Johannesburg weist            wieder in der Schweiz unterwegs. Jazz habe es nicht
Mombelli auf eine vibrierende Szene hin, die aber mit          immer leicht, meint er im Gespräch, aber die Szene sei
vielen Schwierigkeiten zu kämpfen habe. Es fehle an            trotzdem lebendig. Ein Grund für die Schwierigkeiten
Auftrittsmöglichkeiten, an Geld und an gut funktionie-         für Live-Jazz ist laut Shane Cooper die finanzielle Lage
renden Plattenlabels. Aktuell produzieren die meisten          vieler Menschen in Südafrika, denen schlicht das Geld
Musiker und Musikerinnen ihre Alben selber, zuneh-             für den Besuch von Live-Konzerten fehle. Eindrücklich
mend auf Vinyl. Die Probe aufs Exempel gibt Mombelli           ist die Vermittlungsarbeit, die Sifiso Ntuli und seine Frau
recht. In vier aufgesuchten Plattenläden sind nur weni-        Ashley in der «Roving Bantu Kitchen» im Stadtteil Brix-
ge CDs zu finden, Vinyl dagegen ist gut vertreten.             ton leisten. Hier treffen Musik, Kunst, Literatur, Film
                                                               und afrikanische Küche aufeinander. Bei einem Besuch
    Zwischenruf:                                               verbindet sich ein nigerianischer Gitarrist und Sänger
    Die Südafrika-Schweiz-Connection                           mit Musikern aus Johannesburg. Unvergessen bleibt ein
    Zur vierten Generation gehört für Struan z. B. der         Auftritt voller Drive und musikalischer Tiefe des Pianis-
Drummer Kesivan Naidoo, der neuerdings in der Schweiz          ten Nduduzo Makhathini mit einem Quintett im Club
lebt und auf dem Album «Beat Bag Bohemia» (Intakt) zu          «54 Houses of Africa». Makhathini ist ein sehr spirituel-
hören ist. Er wie Mombelli sind des Lobes voll für die         ler Musiker, hervorgegangen wie viele andere aus dem
Vermittlungsarbeit von Veit Arlt, Geschäftsführer des          «Zimology Institute» des legendären und viel zu früh
Basler «Zentrums für Afrikastudien». Nirgends ausser-          verstorbenen Saxofonisten Zim Ngqawana (1959 –
halb ihrer Heimat, finde, mit Ausnahme von Grossbri-           2011). Zu berichten wäre auch über ein aufschlussrei-
tannien, ihre Musik so viel Zuspruch wie in der Schweiz,       ches Gespräch mit dem Pianisten Bokani Dyer, der von
sagen beide übereinstimmend. Ein Ergebnis dieser Ver-          seinen Auftritten in der Schweiz schwärmt. Zu schrei-
mittlungsarbeit ist das Zusammenfinden von Schwei-             ben wäre noch über eine Vielzahl von Musikern und Mu-
                                                                                                                             Richard Butz ist Publizist,
zer Jazzmusikern mit Kollegen und -innen aus Südafrika.        sikerinnen. So etwa über den Pianisten und Komponis-          Buchautor und Kultur-
Schon der Schlagzeuger Makaya Ntshoko hat in Basel             ten Paul Hanmer, der demnächst in der Schweiz seine           vermittler in Sankt Gallen,
                                                                                                                             wo er die Konzertreihe
eine Heimat gefunden, ist etwa mit Andy Scherrer, Irène        Zusammenarbeit mit dem in Luzern lebenden klassi-
                                                                                                                             «kleinaberfein.sg» organi-
Schweizer oder Omri Ziegele aufgetreten und hat mit            schen Klarinettisten und Landsmann Robert Pickup              siert. In den 1960ern
ihnen Alben aufgenommen. Bei den «Rainmakers», dem             vorstellen wird. Und über Kyle Shepherd (Piano), Siya         arbeitete er als Buchhändler
                                                                                                                             am Fourah Bay College
Quartett des Kontrabassisten Bänz Oester, wirken Afrika        Makuzeni (Gesang), Thandi Ntuli (Piano), Herbie Tsoae-        (University of Sierra Leone).
Mkhize (Piano) und Ayanda Sikade (Drums) mit. Naidoo,          li (Bass) oder den Altmeister Hilton Schilder (Piano) und     Kontakt: buewik@bluewin.ch.
der Pianist Kyle Shepherd und der Bassist Shane Cooper         und . . .
bilden mit Marc Stucki (Sax) sowie Andreas Tschopp
(Posaune) das Quintett «Skyjack». Der Schlagzeuger
                                                               Download: Auf unserer Webseite stellen wir eine Liste
Dominic Egli arbeitet regelmässig mit dem stilbilden-          mit Hörempfehlungen von Richard Butz zum Download zur
den Trompeter Feya Faku zusammen – die Liste wird              Verfügung: www.afrikakomitee.ch/afrika-bulletin
ständig länger.
Afrofuturismus und südafrikanischer Hip Hop
       Yugen Blakroks Sonic Fictions

       Der Film Black Panther öffnete einem breiten Publikum die Augen für ein Phänomen, das schon seit den
       1990er Jahren als Afrofuturismus diskutiert wird, und das sich als Teil des afro-amerikanischen Kunst-
       schaffens bis in die Harlem Renaissance zurückverfolgen lässt. Pius Vögele gibt anhand des Werks der
       südafrikanischen Rapperin Yugen Blakrok Einblick in eine faszinierende Welt.

        Als 2018 die Blockbuster Verfilmung Black Panther      und Musik, darunter die Novelle Der Komet von W.E.B.
    weltweit Wellen schlug und sich ausgehend von der          DuBois (1920), ein frühes Science-Fiction Gedankenex-
    afro-amerikanischen Bevölkerung in der gesamten af-        periment. Am stärksten geprägt ist dieser Kanon aber
    rikanischen Diaspora wie auch in Afrika selbst rund um     von den drei Musikern Sun Ra, Lee Perry und George
    den Film im Prozess der positiven Selbstidentifikation     Clinton. Alle drei haben beinahe unabhängig voneinan-
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    eine virale Bewegung bildete (#Wakandaforever), nahm       der in ihre täglich gelebten Performances theatralische
    der Soundtrack zum Film eine wichtige Rolle ein. Ken-      Elemente eingebaut, um damit eine ausserirdische Iden-
    drick Lamar hatte dafür zu gleichen Teilen amerikani-      tität zu kreieren. Sun Ra war neben Ray Charles der
    sche und afrikanische Künstlerinnen und Künstler en-       erste Musiker, der elektronische Pianos für die Aufnah-
    gagiert. Dieser Schachzug des selber im Mainstream         men mit seinem Intergalactic Space Arkestra verwen-
    etablierten Musikers war besonders lobenswert, da er       dete, und er experimentierte Zeit seines Lebens mit
    so weniger bekannten Stimmen über Nacht eine Platt-        Synthesizern aller Arten sowie mit selbst gebauten Ins-
    form und damit ein globales Publikum bot. Das Maga-        trumenten. Dies fand wohl seinen Höhepunkt mit dem
    zin Rolling Stones war insbesondere von der Einlage der    OVC (Outer Space Visual Communicator), eine eigens
    südafrikanischen Rapperin Yugen Blakrok begeistert,        für Sun Ra entwickelte analoge Maschine, welche die
    welche in den Augen der Kritikerin Jody Rosen sämtli-      gespielten Musiktöne synchron in psychedelisch-visu-
    che amerikanischen Grössen in den Schatten stellte. Da-    elle Farbmuster wandelte und projizierte. Aber auch
    mit liess Rosen implizit auch Kendrick Lamar Lorbee-       andere technische Komponenten wie der Vocoder, ein
    ren zukommen, denn dieser hatte sich augenscheinlich       Stimmenverzerrer, oder Hall-Effekte wie das legendäre
    etwas Grösserem untergeordnet. Aber was war dieses         Space Echo, wurden gezielt dazu eingesetzt, um das
    Grössere?                                                  Studio in ein Raumschiff zu verwandeln und damit mu-
                                                               sikalisch durch Raum und Zeit zu reisen.
        Futurismus als Programm                                     Sun Ra wandelte auf der Erde als pharaonische Re-
        Die Vision einer afrikanischen Nation, die aufgrund    inkarnation vom Planeten Saturn und mythologisierte
    ihrer technologischen Überlegenheit von der europäi-       somit sein eigenes Leben, wozu er sowohl sein Geburts-
    schen Kolonialisierung nicht betroffen wurde, war nicht    datum als auch seinen Geburtsort verschleierte. Der An-
    nur utopisches Zukunftsszenario, sondern auch histo-       eignung von altägyptischer Symbolik und Mythologie
    rische Revision. Die Dekolonisierung sowohl der Ge-        in Kombination mit futuristischer Vorwärtsgewandtheit
    schichte als auch der Zukunft ist eine charakteristische   und Technologiebegeisterung lag somit das Aufheben
    Eigenschaft des Afrofuturismus, ein weit umfassender       zeitlicher Linearität zugrunde, wie auch ein Verschwim-
    Begriff, der plötzlich in aller Munde war. Der Terminus    men der Trennlinie zwischen Rationalität und Irrationa-
    wurde 1994 von Mark Dery geprägt und verbreitete sich      lität. George Clinton von der Band Funkadelic landete
    rasch. Dery versuchte der Frage nachzugehen, wieso         mit dem Mutterschiff auf der Erde, Lee Perry tüftelte an
    es relativ wenige afro-amerikanische Schriftsteller gab,   Raum und Zeit auflösenden Dubs in seinem Black Ark
    die Science-Fiction schrieben, wobei er gerade die Le-     Studio – viele dieser Elemente hatten eine starke Strahl-
    bensrealitäten der afro-amerikanischen Bevölkerung         wirkung und wurden teilweise aufgegriffen, als sich
    nahe an solchen fiktiven Szenarien verortete und darin     die Hip Hop-Kultur zu manifestieren begann. Die inno-
    ein grosses Potential für dieses Genre erkannte. Dery      vative Verwendung von technischem Equipment für die
    hob hervor, dass wesentliche Merkmale der Science          Produktionen (z. B. Scratching und Sampling), das pha-
    Fiction wie Verfremdung und Defamiliarisierung prak-       raonische Auftreten von Afrika Bambaataa, oder der
    tisch deckungsgleich seien mit der Geschichte der Ver-     elektrische Boogietanz, welcher Roboterbewegungen
    schleppung von afrikanischen Menschen in die Verskla-      imitierte, können allesamt in diese Tradition eingeord-
    vung in den Amerikas. Diese Geschichte ist geprägt von     net werden. Somit ist es letzten Endes kaum erstaun-
    Rassismus, welcher von der Sklaverei über unethische       lich, dass der Black Panther Soundtrack vorwiegend auf
    Versuche, wie der Syphilis-Studie des nationalen Ge-       dieses Genre aufbaut.
    sundheitsdienstes an 600 schwarzen Farmpächtern in              Die Wahl von Yugen Blakrok war äusserst treffend.
    Tuskegee zwischen 1932 und 1972, und unrechtmäs-           Mit ihrem Debut-Album The Return of the Astro-Goth
    sige Polizeigewalt gegenüber der schwarzen Bevölke-        (Iapetus Records, 2013) machte sie sich in der interna-
    rung, bis in die heutige Zeit anhält.                      tionalen Untergrundszene einen Namen. Das Johannes-
                                                               burger Label Iapetus Records ist benannt nach einem
       Das Erbe von Sun Ra                                     der 62 Monde, die den Saturn umkreisen, und fügt sich
       Es zeigte sich, dass Afrofuturismus einem Phäno-        damit in eine Linie ein, die sich direkt auf Sun Ras Erbe
    men eine Begrifflichkeit bot, das schon wesentlich frü-    bezieht. Zudem bedient sich Yugen Blakrok in ihren
    her im Kunstschaffen afro-amerikanischer Menschen          Texten gängiger afrofuturistischer Tropen. Mit ihren
    Ausdruck fand. In der Retrospektive formte sich nach       Referenzen zu griechischer Mythologie, buddhistischen
    und nach ein Kanon von Literatur, bildnerischer Kunst      Konzepten, Okkultismus und Verweisen quer durch die
links:
                                                                                                                                   Der Science Fiction-Film
                                                                                                                                   Black Panther befeuerte
                                                                                                                                   mit seinen futuristischen
                                                                                                                                   Visionen über Afro-
                                                                                                                                   Futurismus (Bild: Marvel
                                                                                                                                   Studios 2018).

                                                                                                                                   rechts:
                                                                                                                                   Die Grafik von Yugen
                                                                                                                                   Blakroks Albums Anima
                                                                                                                                   Mysterium verweist
                                                                                                                                   wie ihre Musik auf die Welt
                                                                                                                                   des Afrofuturismus
                                                                                                                                   (Bild: Christopher Terhart/
                                                                                                                                   Iapetus Records).

Populärkultur zu Science Fiction Filmen oder zum Beat-     zugeordnet ist, wird zur höchsten rationalen Logik. In
Poeten William S. Burroughs entwickelt sie dabei einen     der folgenden Textstelle lässt sich zudem eine weitere
ganz eigenen Stil. Dessen herausstechendes, wesent-        für den Afrofuturismus wesentliche Referenz heraus-
liches Charakteristikum ist u.a. die Vereinigung von In-   arbeiten:
nerlichkeit mit dem Weltraum mittels der konzeptuel-
len Metapher «der Weltraum ist ein Ozean».                     Seeing without being seen, chasing phantasms
                                                               Through libraries of portals, arranged in bizarre
     Cyborg erforscht Anderwelten                              fashions
     Der Song Opps, in welchem Yugen Blakrok neben             Moving faster than the speed of light –
Kendrick Lamar und Vince Staples den dritten Vers über-        time-lapsing
nimmt, greift bereits einige dieser Aspekte auf. Yugen         And grabbing the stone tablets
stilisiert sich als transhumanides Wesen zwischen Cy-          A thief in the night, passing
borg, Löwin und einer ein Lichtschwert tragenden him-
mlischen Kriegerin, wobei sich jedoch die Unterwas-            Die Zeilen evozieren den Datendieb aus dem Essay-
serwelt des weiten Ozeans als Resonanzraum auftut,         film Der letzte Engel der Geschichte (1998), produziert
der mit starker Symbolkraft aufgeladen ist. Das Habi-      von der Black Audio Film Collective unter der Regie von
tat, worin sich Yugen Blakrok bewegt, ist aus afrofutu-    John Akomfrah, in dem Kritiker wie Kodwo Eshun zu
ristischer Perspektive angelehnt an die Unterwasser-       Wort kommen, um verschiedene Musikströmungen mit
welt der Detroiter Technopioniere Drexcyia. In den Liner   afrikanischen Wurzeln und deren afrofuturistische As-
Notes des Albums The Quest (1997) zu deren ansons-         pekte zu diskutieren. Der Datendieb reist durch die Zeit
ten gänzlich ohne Worte auskommenden elektroni-            und sammelt Fragmente, um dem Schlüsselwort mother-
schen Musik erschufen Drexciya einen Mythos von            ship connection auf den Grund zu gehen, und landet
amphibisch-humanoiden Wesen: Mutierte Nachfahren           schliesslich in Afrika. Yugen Blakrok tut dies dem Da-
von auf der Mittelpassage über Bord geworfenen             tendieb gleich. Auf ihrer Jagd nach Steintafeln, die so-
schwangeren Sklavinnen machten ihren ersten Atem-          wohl auf Moses verweisen als auch auf Thot, den alt-
zug unter Wasser und leben seither mit Kiemen und          ägyptischen Gott der Schrift und der Hermeneutik, reist
Speerharpunen gerüstet in den Tiefen des Atlantiks –       sie durch diverse Portale. Bibliotheken, und damit Bü-
dem Black Atlantis. Am Ende ihres Verses eröffnet sich     cher und Schrift, letzten Endes aber auch das gespro-
mit dem Selbstvergleich mit Kathleen Cleaver eine re-      chene und sogar das gedachte Wort, verwandeln sich
volutionäre Position durch deren Assoziation mit der       in Zeitmaschinen.
militanten Black Panther Partei. Während dieser Bezug          In Yugen Blakroks Musik lebt damit Sun Ras Erbe
als Eigenheit des Black Panther Soundtracks einzuord-      weiter. Sowohl für Sun Ra als auch für Yugen Blakrok
nen ist, kommen die aquatischen Metaphern rund um          dient Musik als Vehikel zum Ausdruck universeller Lie-
submarine Gefilde auch in Yugen Blakrok’s zweitem          be, was deren gemeinsame Ablehnung irdischer Gren-
Album Anima Mysterium (2019) zur Anwendung.                zen unterstreicht. Die Entwicklung der kommenden
     Exemplarisch dafür ist der Song Monatonic Mush-       Jahre wird zeigen, ob und wie sich dieses «kosmospoli-
room, in dem kosmische Dimensionen und planetari-          tische» Bewusstsein, welches ihre Musik transportiert,
sche Wirkungsfelder der Astrologie mit einer Innerlich-    in der breiten Gesellschaft abzeichnen wird.          •
keit verfliessen – den Wogen des inneren Ozeans. Yu-
gen Blakrok erforscht nie zuvor gesehene Welten – An-
derwelten, welche parallel zu unserer sichtbaren Wirk-     Pius Vögele hat sein Studium der Anglistik und Geschichte an
lichkeit existieren – und hebt dabei Gegensätze inein-     der Universität Basel jüngst mit einer Masterarbeit zu Afrofuturismus
                                                           abgeschlossen. Als Hilfsassistent am Zentrum für Afrikastudien
ander auf. Das Delirium, als Rausch, der Sinne und         wirkt er regelmässig im Hintergrund am Entstehen des Afrika-
Verstand raubt und somit traditionell der Irrationalität   Bulletins mit. Kontakt: pius.voegele@unibas.ch.
Afrika in Kürze

         Urbanisierung                             Malawi                                    Äthiopien und Ägypten

          60 Prozent in Elendsquartieren?          Die Wahlkommission ist                    Einigung über den Blauen Nil?
          Schon jetzt lebt möglicherweise          nicht (mehr) sakrosankt                   Seit 14 Jahren schon wird in
     die Mehrheit der Bevölkerung im sub-          Zum zweiten Mal in Afrikas            Äthiopien der dereinst grösste Stau-
     saharischen Afrika in Städten, denn       Geschichte ist der Rekurs der Opposi-     damm für Hydroelektrik geplant, seit
     nicht allen Stadtverwaltungen ist         tionsparteien gegen ein Wahlresultat      neun Jahren auch gebaut – und über
     bekannt, wieviele Menschen sie eigent-    vom obersten Gericht gutgeheissen         all diese Jahre gab es «Verbote»,
     lich bedienen müssten. Vor allem          worden (siehe Afrika-Bulletin 169). Die   Proteste vor der UNO und Drohungen
     die Haupt- und Grossstädte haben sich     Richter befanden, dass das Wahlver-       durch Ägypten gegen diese Mega-
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     durch informelle Ansiedlung von           fahren an sich so schludrig organisiert   Investition. Letzteres berief sich
     Land- und Kriegsflüchtenden ausgewei-     war, dass dem Resultat nicht zu trauen    zunächst auf einen «Vertrag» mit der
     tet und wachsen auch wegen des            sei, und die Wahl deshalb wiederholt      englischen Kolonialverwaltung des
     Klimawandels weiter an. In Nairobi        werden müsse. Der bisherige Präsident     Sudan aus dem Jahr 1929, der Sudan
     wohnen 60 Prozent der Bevölkerung         Mutharika war, mit einem Wahlvor-         und Ägypten sämtliche Wasserrechte
     in improvisierten, ungeplanten            sprung von kaum drei Prozent, im          über den Nil zuschrieb und letzterem
     Quartieren. Kinshasa, das vier Jahre      vergangenen Mai bereits eingeschwo-       ein Vetorecht gegenüber Bewirtschaf-
     von einem Kontinentalkrieg umtost         ren und ein Kabinett gebildet worden,     tungen am Oberlauf verlieh. Dieses
     war, dürfte diese Quote bei Weitem        das seither die Regierung führt. Die      Dokument hielt allerdings bei Verhand-
     übertreffen. Das Anwachsen der Städte     Richter beanstandeten jedoch gerade,      lungen (die in den letzten Jahren unter
     ist also gerade nicht, wie in der euro-   dass entgegen der Verfassung der          amerikanischer Obhut geführt wurden)
     päischen und asiatischen Geschichte,      Gewählte keine absolute Mehrheit (also    nicht lange stand, sodass Ägypten
     durch eine Nachfrage nach Arbeits-        über 50 Prozent der Stimmen) erreicht     seine eigentliche Sorge darlegen
     kräften aufgrund neu entstehender         und die Wahlkommission mit ihrer          musste: Ein Staudamm verringert die
     Industrie begründet. Fabriken, die        Ernennung des bisherigen Präsidenten      Wassermenge am Unterlauf eigentlich
     Gebrauchsgüter herstellten, sind in       eine Stichwahl umgangen hatte. Somit      nicht – ausser in der Zeit, in der er
     Afrika aufgrund der eher gezwunge-        muss vor Juli 2020 erneut eine Wahl       angefüllt wird. Da der Blaue Nil aus
     nermassen eingeführten Freihandels-       stattfinden. Die Opposition will diese    dem äthiopischen Hochland der
     abkommen grossenteils abgebaut            mit einem Bündnis bestreiten und          grösste Wasserträger ist (das Wasser
     worden. Die Bewohnerinnen dieser          hat somit gute Chancen. Egal wie          des Weissen Nils verdampft hingegen
     informellen neuen Quartiere sind also     einschneidend das Ereignis schlussend-    zu grossen Teilen in den Sümpfen
     meist auch nur informell oder prekär      lich für Malawi sein wird, es wird die    zwischen Süd-Sudan und Sudan) und
     beschäftigt und daher nicht imstande,     Art und Weise bestimmen, wie Wahl-        der Damm 70 Milliarden Kubikmeter
     sich genügend Baugrund, stabiles          kommissionen in ganz Afrika an            fasst, könnte sich während des Auf-
     Baumaterial und Fachleute zum Bau         die Organisation ihres Geschäfts          füllens die Restwassermenge stark
     ihrer Unterkünfte zu leisten. Somit       herangehen. •                             reduzieren. Nachdem die übrigen
     leben 60 Prozent der Einwohner                                                      Anrainerstaaten den Dammbau dank
     Nairobis sehr beengt in Hütten aus                                                  der Aussicht auf Stromlieferungen
     Wellblech, Plastik und Bruchholz auf                                                begrüssen, musste Ägypten in den
     nur zehn Prozent der Stadtausdehnung.                                               Verhandlungen seine Anliegen auf
     Auch nachträglich wird selten Infra-                                                diese Auffüllzeit konzentrieren. Nun,
     struktur wie Wasser- und Stromleitun-                                               da der Damm fast fertig gebaut ist,
     gen, geschweige denn eine Kanali-                                                   wurde endlich eine Einigung erreicht:
     sation in diesen Quartieren errichtet.                                              Äthiopien verpflichtet sich, in Zeiten
     Wenn sich das Stadtbauamt einmal                                                    einer Dürre im Sudan oder Ägypten
     mit diesen befasst, dann um Parzellen                                               ein höheres Volumen an Restwasser
     für städtische Bauten oder gar private                                              abfliessen zu lassen. Im Juli 2020 soll
     Interessenten zu sichern – da fehlt oft                                             die Stauung für den See beginnen,
     jede Rücksicht: Amnesty International                                               dessen Druck dereinst jährlich 6000
     rechnet vor, dass im Süden Nigerias                                                 Megawatt elektrischen Strom produzie-
     in den vergangenen zehn Jahren an die                                               ren soll. •
     zwei Millionen Slumbewohner ent-
     schädigungslos vertrieben wurden.
     Wofür einst das Apartheidregime in
     Südafrika berüchtigt war, passiert nun
     in ähnlicher Form in Lagos, Addis
     Abeba, Nairobi und anderswo. •
Mozambique                                Coronavirus

                                                                                                                                  Afrika in Kürze
    Nur ausländische Journalisten              Gesundheitssysteme aufgrund            spricht wieder einmal aus, dass die
    dürfen von «Krieg» sprechen                der Strukturanpassungsprogramme        hohe Verschuldung, respektive die
    Was vor einem Jahr noch verein-            zu schwach                             Zinspflichten, die Gesundheitsbudgets
zelte Terrorakte von kleinen, islamis-         Experten zeigten sich erstaunt,        schrumpfen liessen. Er erklärte, dass
tisch gefärbten Banden waren, hat          dass im sub-saharischen Afrika die Ver-    er eine substantielle Hilfe von den G20-
sich zu einem eigentlichen Aufstand in     breitung des Coronavirus noch immer        Staaten erwarte. Der IWF sicherte
der nördlichsten Provinz Mozambiques,      relativ gering ist. Ausser in Südafrika    inzwischen eine Stundung der Zinszah-
Cabo Delgado, entwickelt. Schon im         sind noch keine exponentiellen             lungen von 19 überschuldeten Ländern
                                                                                                                                 11
Januar zogen gutbewaffnete Truppen         Zunahmen zu bemerken, sodass               in Afrika zu. Die AU hat eine Task Force
brandschatzend und relativ ungehin-        Fachleute leise hoffen, dass vielleicht    mit hochrangigen Experten aufgestellt,
dert von Dorf zu Dorf. Inzwischen          das heisse Klima oder auch die             um entsprechende Forderungen und
scheint ihre Motivation weniger religiö-   Jugendlichkeit der Bevölkerung einen       eine weitergehende Schuldenstrei-
ser Fanatismus, als wütende Gegner-        gewissen Schutz gegen die gefürchtete      chung der G20, der EU und der Finanz-
schaft gegen die staatliche Politik zu     Explosion bietet. Man wagt gar nicht       institute zu begründen. Zu den
sein. Tatsächlich lässt diese sehr wenig   sich vorzustellen, was das hochan-         Experten gehört auch Tidjane Thiam,
Einsicht in oder gar Rücksicht auf die     steckende Virus in den engen, unhygie-     der frühere CEO von Credit Suisse –
Probleme der Bevölkerung erkennen:         nischen, kaum versorgten Shanties          Erfahrungswissen ist also gesichert. •
Die grossflächigen Landvergaben            rund um die grösseren Städte vieler
an Bergbau- und Agrarfirmen und von        Länder anrichten könnte. Seit einigen
Fischereirechten an ausländische           Tagen sind nun in fast allen Ländern
Gesellschaften, das Durchgreifen der       Massnahmen ergriffen worden, nach-             Ultrakurz
Polizei gegen handwerklichen Rubin-        dem zuvor über vier Wochen fast
abbau ebenso wie gegen Proteste der        überall strenge Gesundheitskontrollen
Jugend, die sich Jobs bei den anlaufen-    und sogar Zwangs-Quarantäne für                Kweku Aboboli, der UBS-Invest-
den Infrastrukturbauten für die Gas-       zurückkehrende Reisende eingeführt         ment-Banker in Singapore, der 2012
förderung erhofft, zeugen von blinder      worden waren. Mehrere Länder               aufgrund seiner betrügerischen
Arroganz. Es ist dieselbe Jugend, die      schlossen ihre Grenzen, Südafrika will –   Verluste in England in Haft kam, wurde
sich nun mit Geldern unbekannter           zum strengen Lockdown hinzu – einen        in seine Heimat Ghana abgeschoben.
Herkunft für immer bedeutendere            Grenzzaun gegen Zimbabwe errichten,        Hier bekundete er seinen Plan, ein
Aktionen der Aufständischen rekrutie-      um den regen Grenzverkehr zu brem-         Hypotheken-System einzuführen und
ren lässt. Sie gipfeln zurzeit in          sen. Für einmal scheinen sich viele        so heimisches Kapital zu binden. •
mehrtägigen Besetzungen von kleinen        Regierungen bewusst, wie heikel die            —
Städten (Mocimboa, Quissanga), und         gängige Massierung von Leuten auf              In Angola verfügte ein Gericht die
nähern sich immer mehr der Provinz-        Märkten, im Transport, in den Gefäng-      Beschlagnahmung des Vermögens
hauptstadt Pemba. Ziel der Aktionen        nissen und eben auch in Wohnquar-          von Isabel dos Santos. Die Tochter des
scheint inzwischen nicht mehr reiner       tieren ist. In Kampala (Uganda) ist der    früheren Staatspräsidenten gilt als die
Terror und Vertreibung zu sein. Viel-      Bus- und Taxiverkehr schlicht verboten     reichste Frau Afrikas. Die erfolgreiche
mehr erkaufen sich die Trupps durch        worden, was praktisch denselben            Geschäftsfrau hat allerdings inzwi-
die Verteilung von Geld eine gewisse       Effekt hat wie eine partielle Ausgangs-    schen in diverse Unternehmen ausser-
Akzeptanz und lassen diese durch           sperre. Um Luft in die Gefängnisse         halb Angolas investiert, sodass sie,
die Bevölkerung formell verabschie-        zu bringen, entlassen einzelne Staaten     auch wenn ihr Rekurs keinen Erfolg
den. Das ändert allerdings nichts          Gefangene vor Ende ihrer Strafzeit.        haben sollte, keine Sozialhilfe bean-
daran, dass die Furcht vor ihrem Terror    Aber die Mittel sind vielerorts be-        spruchen muss. •
über die zwei letzten Jahre an die         schränkt: Wasserversorgung fürs Hände-         —
100 000 Bauern und Fischer aus ihren       waschen, Raum für «social distancing»          Mit der Verwüstung grosser
Dörfern in Lager nahe der besser           und Schutzkleidung für das Spital-         Landstriche in Mozambique, Malawi
befestigten Stadt getrieben hat (siehe     personal lassen sich nicht in ein paar     und Kenya durch klimabedingte
auch Afrika-Bulletin 171). •               Wochen beschaffen. In Zimbabwe             Überschwemmungen und wegen den
                                           streikt das Gesundheitspersonal, weil      furchterregenden Heuschrecken-
                                           keine Schutzkleidung zur Verfügung         schwärmen in Somalia, Uganda, Kenya
                                           steht. Fast überall fehlt es an Geld.      und Äthiopien zum Jahreswechsel
                                           Der äthiopische Premier Ahmed Abiy         dürfte in Afrika die Abhängigkeit von
                                                                                      Nahrungsmittelimporten noch einmal
                                                                                      gewaltig steigen. •

Zusammengestellt von Susy Greuter.
Demokratische Arabische Republik Sahara
                                     Wachsende Unmut der Sahrauis

                                    Vor nahezu einem halben Jahrhundert zog sich Spanien aus der Westsahara zurück. Seither ist ein Gross-
                                    teil des Landes von Marokko besetzt. Gegen diese Fremdherrschaft kämpft die Frente Polisario. Die
                                    Durchführung des 1991 von der UNO versprochenen Referendums wird von Marokko bis heute hinter-
                                    trieben. Unter der sahrauischen Bevölkerung wächst der Unmut, und Stimmen werden laut, die eine
                                    Rückkehr zum bewaffneten Befreiungskampf fordern. Hans-Ulrich Stauffer hielt sich Ende 1999 in den
                                    Lagern der Sahrauis in Algerien und in dem von der Frente Polisario kontrollierten Gebiet der Westsaha-
                                    ra auf.

                                      1976 kündigte Spanien an, fortan nicht mehr für die       Am 12. Januar 1976 wurde in Villa Cisneros – dem
12
                                 ehemalige Kolonie Spanisch Sahara verantwortlich zu        heutigen Ad-Dakhla – die letzte spanische Flagge ein-
                                 sein, und zog seine Truppen ab. Schon 1963 war das         geholt. Die spanische Kolonialherrschaft war nach 92
                                 Gebiet von der UNO auf die Liste der Gebiete ohne          Jahren zu Ende, nicht jedoch das enge Verhältnis mit
                                 Selbstbestimmung gesetzt worden, und mehrfach hat-         dem marokkanischen Herrscherhaus, das bis zum heu-
                                 te die UN-Vollversammlung die Gewährung der Unab-          tigen Tag auf die Unterstützung des offiziellen Spanien
                                 hängigkeit gefordert. Spanien stimmte schliesslich zu,     zählen kann, sei dies unter einer bürgerlichen oder so-
                                 die Bevölkerung über ihre Zukunft entscheiden zu las-      zialistischen Regierung.
                                 sen. Doch dieses Versprechen wurde nicht gehalten.
                                      Ein paar Monate vor dem spanischen Rückzug hat-           Marokkos Griff nach den
                                 te sich die ehemalige Kolonialmacht bereits mit Marokko        reichen Bodenschätzen
                                 und Mauretanien, den nördlichen und südlichen Nach-            1947 wurden erstmals Gesteinsproben entnommen,
                                 barn der Kolonie, darauf verständigt, ihre Herrschaft      die einen Phosphatanteil von 60 bis 70 Prozent aufwie-
                                 über die Westsahara in Zusammenarbeit mit der Dje-         sen – ein für den kommerziellen Abbau lohnender Ge-
                                 maa, der Vertretung des sahrauischen Volkes, bis spä-      halt. Die weitere Erforschung führte zur Entdeckung
                                 testens am 28. Februar 1976 zu beenden und ihre Trup-      riesiger Phosphatlager bei Bou Craa. Auf einer Fläche
                                 pen abzuziehen. Spanien verpflichtete sich, eine vor-      von 1200 Quadratkilometern wurde ein Lager mit
                                 läufige Verwaltung zu schaffen, welche durch je einen      2000 Millionen Tonnen gefunden. Damit befand sich
                                 von Marokko und Mauretanien gestellten Gouverneur          die Sahara schlagartig in der Topliga der Phosphatpro-
                                 unterstützt werden sollte. Ferner wurde festgehalten,      duzenten, gleich hinter den USA und der damaligen So-
                                 dass die Meinung der Djemaa respektiert werden müsse.      wjetunion und gleichauf mit Marokko, wo seit 1921 das
                                                                                            «Office Chérifien des Phosphates» die reichhaltigen La-
                                                                                            ger abbaut.
          Die Situation in der
Westsahara auf einen Blick:                                                                     Der gigantische Bodenschatz just jenseits der süd-
       Die befreiten Gebiete                                                                lichen Grenze weckte ab 1972 zunehmend auch das
     (weiss) werden von der
 Polisario verwaltet und als
                                                                                            Interesse Marokkos. 1974 erhob das Königreich Marok-
    Teils des sahraouischen                                                                 ko erstmals formell Anspruch auf die spanische Kolo-
Staates betrachtet. Marokko                                                                 nie. Damit öffnete das marokkanische Königshaus ein
    betrachtet das besetzte
 Gebiet (schraffiert) als Teil                                                              Ventil, um dem innenpolitischen Druck gegen die auto-
des eigenen Staates und hat                                                                 kratische Feudalherrschaft zu begegnen. 1971 und
      es in seine Verwaltung
                                                                                            1972 waren Staatsstreiche versucht worden. Eine neue
        eingegliedert (Karte:
Geographisches Institut der                                                                 nationale Herausforderung, die Heimführung der Saha-
     Universität Bern 2019).                                                                ra, schien geeignet Druck abzuleiten.
                                                                                                Im Oktober 1975 setzte das marokkanische Königs-
                                                                                            haus im «Grünen Marsch» 350 000 Marokkanerinnen
                                                                                            und Marokkaner in Bewegung. Sie sollten sich als Land-
                                                                                            wirte auf dem brachliegenden Gebiet der Sahara nieder-
                                                                                            lassen. Im Windschatten des Grünen Marsches besetz-
                                                                                            ten gleichzeitig 40 000 marokkanische Soldaten den
                                                                                            nördlichen Teil der aufgegebenen spanischen Kolonie.
                                                                                                Marokkos Vorstoss wurde von der damaligen US-Re-
                                                                                            gierung unter Gerald Ford begrüsst. Diese befürchtete
                                                                                            nach dem Sturz des äthiopischen Langzeitherrschers
                                     Wer war die Djemaa? Diese von der Regierung des        Haile Selassie und den Befreiungskämpfen in den por-
                                 Generalissimus Franco ins Leben gerufene Nationalver-      tugiesischen Kolonien das Entstehen eines weiteren Un-
                                 sammlung bestand aus sahrauischen Notabeln, welche         ruheherds in Afrika. Auch von Frankreichs Präsident
                                 von der spanischen Behörde zu «Volksvertretern» er-        Giscard d’Estaing kam Zustimmung. Frankreich betrach-
                                 nannt worden waren. Kein Wunder, stimmte die Ver-          tete Marokko schon seit langem als sein Einflussgebiet,
                                 sammlung den Vorschlägen des Kolonialherrn zu. Aber        war es doch während Jahrzehnten als Marokkos «Schutz-
                                 selbst in der von Spanien eingesetzten Djemaa fand das     macht» aufgetreten. Auch Mauretanien wurde in der
                                 eingefädelte Vorgehen nicht lange Unterstützung. Am        Folge von Frankreich ermuntert, den ihm zugedachten
                                 28. November 1975 erklärten 67 Mitglieder der Natio-       Teil der Kolonie zu besetzen – eine enge Interessenver-
                                 nalversammlung ihren Austritt.                             flechtung, die bis zum heutigen Tag anhält.
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