Heimat heute 2020 - "Systemrelevant" | 100 Jahre Wohlensee - Berner Heimatschutz, Region Bern Mittelland
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2020 heimat heute «Systemrelevant» | 100 Jahre Wohlensee BERNER HEIMATSCHUTZ REGION BERN MITTELLAND Postfach, 3001 Bern www.heimatschutz.be info@heimatschutz-bernmittelland.ch heimat heute 2020 | 1
Impressum Herausgeber Berner Heimatschutz Region Bern Mittelland Postfach, 3001 Bern www.heimatschutz.be info@heimatschutz-bernmittelland.ch Redaktion Raphael Sollberger Korrektorat Margrit Zwicky Satz und Gestaltung www.dessign.ch Titelbild Aare-Talsperre in der Aumatt mit dem Wasser- kraftwerk Mühleberg, erbaut 1917–1920. Zum Bau des Wohlensees vgl. S. 10–17. Zur Geschichte von Mühleberg vgl. S. 30–37. Druck Länggass Druck AG www.ldb.ch Auflage 1 500 Exemplare 2 | heimat heute 2020
Inhalt Editorial 4 Neue Herausforderungen, lokale Verbundenheit Stefan Rufer Interview 6 Heimatschutz gestern, heute und morgen Sara Calzavara Aus der Politik 8 Präzedenzfall im Tscharnergut: Abbruchbewilligung für ein schützenswertes Scheibenhaus Raphael Sollberger Aus der Forschung 10 100 Jahre Wohlensee Raphael Sollberger Archivperlen 18 Systemrelevante Betriebe Rolf Hürlimann Aus der Politik 22 Barrierefreiheit im Weltkulturerbe: Abfahrtsanzeigetafeln in der unteren Altstadt Enrico Riva Aus der Praxis – Heimatschutz 26 BLS-Werkstätte Chliforst und Monbijou-Allee: Einblicke in das Engagement der Bauberatung Tom Stettler Spaziergang durch die Region 30 Mühleberg Jasmin Christ In eigener Sache 38 Corona-Pandemie: Neue Daten für die ArchitekTOURen und die Stadtführungen 2020 38 Abbildungsverzeichnis 39 Adressen heimat heute 2020 | 3
EDITORIAL Neue Herausforderungen, lokale Verbundenheit Stefan Rufer Liebe Leserinnen und Leser Heimat heute steht 2020 ganz im Zeichen «Verdichtung nach innen» ist es zentral, die eines Begriffs, der es dieses Jahr in unseren Charakteristika des Kontexts aufzunehmen und aktiven Wortschatz schaffte: Wir beschäfti- weiterzuführen. Die Auseinandersetzung mit gen uns mit «systemrelevanten» Bauwerken dem Bestand kann sowohl mit einer subtilen wie dem heuer 100-jährigen Wohlensee Abgrenzung als auch mit einer wohldosierten (S. 10–17), mit bedeutenden historischen Annäherung angestrebt werden. Dabei legen Industrie- und Gewerbebauten (S. 18–19) es die Ziele der Nachhaltigkeit oftmals nahe, und blicken mit Enrico Riva zurück auf sei- mit dem Bestand weiterzuarbeiten, anstatt ne vierjährige Präsidentschaft (S. 6–7). vorschnell einen Ersatzneubau zu konzipieren. Die vom Regierungsstatthalteramt der Stadt Die aussergewöhnlichen Umstände, die Bern im Juli erteilte Abbruchbewilligung für ein die erste Hälfte des Jahres prägten, hatten schützenswertes Scheibenhaus in der berühm- zwangsläufig auch Einfluss auf die Aktivi- testen Siedlung der Nachkriegszeit in Bern, täten unserer Regionalgruppe: Sowohl die der Überbauung Tscharnergut (vgl. S. 8–9), alljährliche Mitgliederversammlung als auch zeigt, dass ein solch nachhaltiges Denken zahlreiche Führungen und Veranstaltungen nicht selbstverständlich und unsere Arbeit als mussten abgesagt oder verschoben werden. Heimatschutz nach wie vor unentbehrlich – um nicht zu sagen: systemrelevant – ist. Im Artikel Für die meisten von uns bedeutete der Lock- «Chliforst und Monbijou-Allee: Einblicke in down eine starke Verkleinerung des Aktions- das Engagement der Bauberatung» (S. 26–29) radius. Bei mir führte er zu einer intensiveren gehen wir anhand zweier weiterer aktuel- Wahrnehmung der unmittelbaren Umgebung. ler Beispiele näher auf unsere Arbeit ein. S Stefan Rufer ist dipl. Die ortsspezifischen Charakteristika der Architekt, ehem. Bau- Häuser, des Quartiers, des Dorfs oder der Stadt Neben der Bauberatung und der Öffentlichkeits- berater und führte wurden in den vergangenen Monaten wie durch arbeit vermitteln wir die Idee der nachhaltigen als Vizepräsident seit ein Brennglas deutlicher sichtbar. Vermeintlich Baukultur und den Wert des Bestands gezielt März 2020 die Geschäfte Alltägliches offenbarte unvermittelt Aspekte in Form von Führungen, Veranstaltungen sowie des Berner Heimatschutzes, des Besonderen. Und damit einher ging die mit differenzierten Aussagen in der Lokalpres- Region Bern Mittelland. Gewissheit, dass es die unverwechselbaren se und auf unseren Social-Media-Kanälen. Im September wurde er landschaftlichen und architektonischen Werte von den Mitgliedern per sind, die es zu erhalten und weiterzuentwick- Unserem breit abgestützten Wirken als Regio- Briefwahl zum neuen eln gilt. Als zentrale Qualitäten und sichere nalgruppe kommt eine entscheidende Be- Präsidenten gewählt. Konstanten innerhalb unseres Lebenskontex- deutung zu in Anbetracht der Schwierigkeit, tes schaffen sie Verbundenheit und Identi- neue Mitglieder zu gewinnen. Zusammen mit tät. Gerade auch in einer Krisensituation. einem dynamischen Vorstand sowie einem engagierten Team von Bauberaterinnen und Es braucht viel Fachwissen, Sensibilität und Bauberatern freue ich mich darauf, mich manchmal auch Bescheidenheit, um diese diesen Herausforderungen zu stellen. Identität im Rahmen von baulichen Eingriffen nicht zu unterwandern, sondern sie zu stär- ken. Dafür braucht es auch einen mentalen Wandel hin zu einem Denken über mehrere Generationen hinweg, das über kurzfristigen Renditeüberlegungen stehen sollte. Gerade im Zusammenhang mit dem Raumplanungsziel 4 | heimat heute 2020
S So menschenleer wie im März und April 2020 waren die Berner Innenstadt und der Bundesplatz wohl noch nie anzu- treffen. Kein Parlamentsbetrieb im Innern, kein Markttreiben draussen. Soziale und kulturelle Aktivitäten auf Sparflamme. Die beinahe apokalyptische Stimmung führt uns unmissver- ständlich vor Augen: Baukultur ist ohne Kultur nur Bau. heimat heute 2020 | 5
INTERVIEW Heimatschutz gestern, heute und morgen Interview: Sara Calzavara Das Interview mit Enrico Riva, mer wieder junge und motivierte Per- Was würdest du als Präsident der Regio- unserem abtretenden sonen finden konnte, die die zurücktre- nalgruppe rückblickend anders machen? Präsidenten. tenden Vorstandsmitglieder ersetzten. Ich hätte als Präsident mehr Öffentlich- keitsarbeit leisten sollen. Ich denke Was war die grösste Herausforderung «Die Behörden haben nicht dabei insbesondere an Kontakte mit während deiner Präsidentschaft? mit fairen Karten gespielt.» Lokalmedien, an Regionalradios, an Die schwindende Gesetzestreue der Social Media. Damit bin ich aber völlig Behörden. Sie sagen ungern «Nein» Enrico Riva unvertraut. Ich hätte gar nicht recht zu den vielen Begehren, die auf sie gewusst, wo und wie anfangen. Glück- zukommen. Sie sehen sich immer Welche konkreten Ereignisse freuten dich licherweise haben wir im Vorstand wieder mit der Forderung konfrontiert, am meisten in den letzten vier Jahren? nun in der Person von Lea Muntwyler weniger Sturheit im Umgang mit den Spontan kommt mir die Publikation jemanden, der sich gut auskennt. Kulturdenkmälern zu zeigen oder den des Kunstführers über die Siedlungen Das Erklären unserer Tätigkeiten öffentlichen Raum für irgendwelche der Nachkriegszeit in Bümpliz–Beth- ist extrem wichtig, damit die Bevöl- Aktivitäten zur Verfügung zu stellen, lehem im Jahr 2018 in den Sinn. Als kerung unseren Einsatz versteht. oft auch rein kommerzielle. Die ge- sehr erfreulich empfinde ich auch die stellten Begehren sind jedoch oft geglückte Stabübergabe im Präsidium Wie wesentlich sind juristische Kennt- nicht vereinbar mit den Anforderun- des Berner Heimatschutzes, unse- nisse für die Arbeit in einer Regional- gen des Gesetzes. Trotzdem wird rer Kantonalsektion, von Dorothée gruppe des Heimatschutzes? ihnen nachgegeben. Schindler-Zürcher zu Luc Mentha. Sie sind wichtig, weil alles Recht- Dorothée Schindler-Zürcher hat den liche ständig komplizierter wird. Was hat dich während deiner Amts- BHS viele Jahre lang präsidiert und Berufsbedingt sehe ich aber wohl zeit besonders geärgert? sich für die Anliegen des Kulturerbes alle Dinge etwas zu stark unter Das Verhalten der Stadt und des mit grossem Engagement eingesetzt. dem Blickwinkel des Rechts. Kantons bei der Ausarbeitung des Bauinventars der Stadt Bern. Wichtige Bauten fehlten bei der öffentlichen Auflage. Unsere fachlich fundierte Stellungnahme, gemeinsam mit der Präsident/innenkonferenz bernischer Bauplanungsfachverbände PKBB, hätte der Denkmalpflege eine gewinnbrin- gende Überarbeitung ermöglicht. Die Behörden wollten das Inventar aber um jeden Preis und so rasch als möglich verabschieden und haben uns gegen- über nicht mit fairen Karten gespielt. War dies der grösste Misserfolg wäh- rend deiner Amtszeit? Ja. Seit seiner Verabschiedung weist das Inventar schmerzliche Lücken im Bereich der Bauten nach 1945 auf. Kommen wir zum Positiven: Was war der grösste Erfolg während deiner Amtszeit? Äusserst erfreulich war für mich, dass der Vorstand der Regionalgruppe im- S 1 Enrico Riva war vier Jahre lang Präsident des Berner Heimatschutzes, Region Bern Mittelland ... 6 | heimat heute 2020
INTERVIEW Was wünschst du dir für die Zukunft Wie wirst du die gewonnenen von den Mitgliedern, vom Berner und Ressourcen künftig einsetzen? vom Schweizer Heimatschutz? Um zuhause schon bald mehrere Von den Mitgliedern möchte ich mir Kubikmeter aufgehäuften Papiers wünschen, dass sie unsere Veranstaltun- durchzusehen und zu entsorgen. gen weiterhin so zahlreich und mit so grossem Interesse besuchen und dass Und worauf freust du dich nach sie uns mittels Geschenkmitgliedschaf- deinem Amt am meisten? ten und Mund-zu-Mund-Propaganda Aus persönlicher Sicht freue ich mich dabei helfen, weiterhin neue, junge und darauf, dass ein Teil der Spannung engagierte Mitglieder zu gewinnen. wegfällt, die ich als Präsident ständig Dem Schweizer Heimatschutz wünsche spürte, wenn mit unserem wertvollen ich in Zukunft etwas mehr Biss und et- kulturellen Erbe etwas schieflief. was weniger Publikationen. Mit dem jet- zigen Präsidenten, Martin Kilias, ist der Was wirst du vermissen? Biss bereits merklich zurückgekehrt. Im Moment nichts, da ich ja weiter- hin Mitglied des Vorstands bleibe. «Ich freue mich darauf, schon S 2 ... und wird ihm in Zukunft als Vorstands- bald mehrere Kubikmeter an- Kannst du uns drei Adjektive nennen, mitglied erhalten bleiben. die den Heimatschutz charakterisieren? gehäuften Papiers durchzu- Modern, nachhaltig, unentbehrlich. sehen und zu entsorgen.» Wie hast du die Zusammenarbeit mit der Bauberatung, dem Berner Heimat- Enrico Riva schutz und anderen Institutionen erlebt? Die Zusammenarbeit mit der Baubera- Welches sind die grössten Heraus- ZUR PERSON tung war eng und wichtig. Auch die- forderungen in der näheren Zukunft? jenige mit dem Berner Heimatschutz Aus Sicht der Regionalgruppe ist es Enrico Riva wurde 1948 als Sohn war gut. die Erhaltung und wenn möglich die einer Solothurnerin und eines Verbreiterung ihrer Mitgliederbasis. Tessiners in Bern geboren und «Ich hätte als Präsident mehr In allgemeinpolitischer Hinsicht ist es wuchs hier mit zwei Schwestern Öffentlichkeitsarbeit leisten die Vermittlung des Sinns von Heimat, auf. Die Schule und das Studium des Sorgetragens zur Substanz unse- absolvierte er in Bern. Das Für- sollen.» res kulturellen Erbes, unserer Ortsbil- sprecherpatent erlangte er 1974. Enrico Riva der und unserer Landschaft, nicht nur Fünf Jahre später erlangte er mit Sinn für Investoren und Heimatkitsch. seiner Dissertation Die Beschwer- Weitere ausgezeichnete Zusammen- delegitimation der Natur- und arbeiten ergaben sich, teilweise Wieviele Stellenprozente nahm dein Heimatschutzorganisationen im zwar nicht mit mir persönlich, aber Präsidentenamt in Anspruch? schweizerischen Recht die Dok- projektbezogen zwischen den Ressort- Die Beanspruchung variierte jeweils torwürde, 1989 habilitierte er verantwortlichen im Vorstand und im Lauf des Jahres. Am meisten Arbeit an der Juristischen Fakultät der Institutionen wie der Hochschule der fiel jeweils in den ersten drei Monaten Universität Bern mit der Habilita- Künste Bern (Führungen), der Stiftung an. Hier nahm die Regionalgruppe tionsschrift Hauptfragen der mate- BERNMOBIL historique (Architek- rund 30 Stellenprozente oder mehr in riellen Enteignung. 1995–2013 war TOUR), der PKBB (Einsprache gegen Anspruch. Über das Jahr gesehen, lag er Professor für öffentliches Recht das Bauinventar), dem Kino Lichtspiel die Beanspruchung bei ca. 15 Prozent. an der Universität Basel. Enrico (Filmvorführungen) und anderen. Riva ist verheiratet, hat eine Toch- ter, einen Sohn und zwei Enkel. heimat heute 2020 | 7
AUS DER POLITIK Präzedenzfall im Tscharnergut: Abbruchbewilligung für ein schützenswertes Scheibenhaus Raphael Sollberger Am 10. Juli 2020 entschied das Regierungsstatthalteramt eingestuft sind. Das kantonale Baugesetz Bern Mittelland, den Abbruch eines Scheibenhauses verbietet den Abbruch schützenswerter Ge- der Überbauung Tscharnergut in Bümpliz-Bethlehem zu bäude grundsätzlich, sofern der Erhalt für die Eigentümerschaft zumutbar ist.3 bewilligen. Mit seinem Entscheid stellt der Regierungsstatt- halter das wirtschaftliche Interesse der FAMBAU Genos- Zumutbare Sanierung senschaft klar über das öffentliche Interesse am Erhalt Der Heimatschutz wies im Einspracheverfahren eines national bedeutenden Schutzobjekts. Ein gefährlicher mehrfach darauf hin, dass im oben erwähnten Präzedenzfall für andere schützenswerte Bauten in unserer Gutachten die falschen Fragen gestellt worden Region, der das kantonale Baugesetz sowie eine Planungs- seien. Es müsse nicht untersucht werden, ob vereinbarung missachtet, die sowohl die FAMBAU als auch die ein Neubau für die Eigentümerschaft gegen- Stadt Bern mitunterzeichneten. Der Berner Heimatschutz hat über einer Sanierung gewinnbringender sei, sondern, ob eine Sanierung aus bautechni- entschieden, Beschwerde gegen die Abbruchbewilligung scher Sicht möglich und wirtschaftlich trag- zu erheben. bar sei. Dass dem so ist, belegen die beiden bereits durchgeführten und mitunter preis- Bereits 2017 wollte die FAMBAU ein zur Über- gekrönten Sanierungen der beiden anderen bauung Tscharnergut (1959–1965) gehörendes Scheibenhäuser an der Waldmannstrasse 25 Scheibenhaus an der Fellerstrasse 30 abbre- und 39: Für sie verlieh der Kanton Bern den chen und neu bauen, eine Sanierung lohne sich städtischen Behörden 2012 nota bene den nicht.1 Fachleute aus der ganzen Schweiz sowie «Preis zur innovativen Wohnbauförderung».4 die städtische Denkmalpflege protestierten, der Heimatschutz erhob Einsprache gegen Missachtung der Planungsvereinbarung als das eingereichte Abbruchgesuch. Schliesslich Akt gegen Treu und Glauben entschied der Regierungsstatthalter, dass das Im Rahmen des Pilotprojekts Waldmannstras Scheibenhaus abgebrochen werden darf: «Die se 25 und in der auf ihm basierenden «Planungs- Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse vereinbarung Tscharnergut» einigten sich am Erhalt des Gebäudes und dem privaten Inte- alle beteiligten Parteien – die Stadt Bern, die resse am Abbruch hat ergeben, dass keine über- FAMBAU und die anderen Wohnbaugenossen- S 1 Vorläufer des ragende Schutzwürdigkeit vorliegt»2. Zudem sei schaften im Tscharnergut wie z. B. die Wohn- Vollelementbaus in Bern: eine Sanierung für die FAMBAU nicht zumutbar. baugenossenschaft Brünnen-Eichholz – im Jahr Die aus vorfabrizierten Ein Gutachten dazu kam zum bemerkenswerten 2011 darauf, alle zukünftigen Sanierungen Sandwich-Betonelementen Schluss, dass die Wohnungen im Gebäude nach in derselben Art und Weise anzugehen. Mit bestehenden Fassaden des der Sanierung nicht zu Mietpreisen vermietet ihrem Abbruchgesuch handelt die FAMBAU 1959–1965 errichteten werden köntnen, die es der FAMBAU ermög- als Mitunterzeichnerin des Vertrags mit der Tscharnerguts verleihen lichen würden, die nach weiteren 30 Jahren Stadt Bern und den für das Baubewilligungs- den Hoch- und Scheiben- anstehende Tragewerksanierung mit den bis verfahren zuständigen Behörden gegen Treu häusern den Charakter dahin erzielten Mieterträgen zu finanzieren. und Glauben. Auch die vom Regierungs- von Plattenbauten. statthalter erteilte Abbruchbewilligung Schutzobjekt der höchstmöglichen Kategorie steht zu den Abmachungen und Zielen der Dem Argument, es läge «keine überragende Vereinbarung diametral im Widerspruch. Schutzwürdigkeit» vor, ist entgegenzuhal- ten, dass sich die Hoch- und Scheibenhäuser Gefährliches Präjudiz des Tscharnerguts im Bauinventar der Stadt Der Entscheid vom Juli schafft ein gefähr- Bern in der höchstmöglichen Kategorie liches Präjudiz für die Baukultur und öffnet «schützenswert» befinden und im Bundes- dem fortschreitenden Verlust des kulturellen inventar der schützenswerten Ortsbilder der Erbes der Nachkriegszeit in unserer Region Schweiz (ISOS) sogar als national bedeutend Tür und Tor. Auf der Basis des Entscheids 8 | heimat heute 2020
AUS DER POLITIK könnten theoretisch sämtliche schützenswerten lichen Einbezug der bauzeitlichen Substanz S 2 Hoch- und Scheiben- Gebäude abgebrochen werden. Das Regie- erhalten bleiben. Es ist nicht akzeptabel, häuser, dazu noch Mehr- rungsstatthalteramt Bern Mittelland schreibt dass einzig aufgrund wirtschaftlicher Inte- und Einfamilienhäuser: in seiner Medienmitteilung, der geplante ressen der Eigentümerschaft einzelne Teile Mit ihrer differenzierten Neubau würde «zeitgemässen Wohnraum» des Gesamtdenkmals zerstört werden, wenn Bebauung und ihrer ver- bieten und die Erdbebensicherheit sowie den doch eine denkmalpflegerische Sanierung kehrsfreien, kinderfreund- Brandschutz verbessern. Dass dies bei den erwiesenermassen möglich und zumutbar ist. lichen Aussenraumgestal- beiden anderen Scheibenhäusern im Rahmen tung fand die Überbauung der Sanierung gemäss Planungsvereinbarung Anmerkungen Tscharnergut als seinerzeit 1 Trotz Denkmalschutz droht im «Tscharni» der erste (mittels Anfügung einer zusätzlichen Raum- Abbruch, in: Der Bund, 03.02.2017. grösstes Wohnbauprojekt der schicht und Rekonstruktion der Westfassade) 2 Regierungsstatthalter erteilt Abbruchbewilligung für Schweiz international Gebäude im Tscharnergut in Bern (Medienmitteilung auch möglich war, bleibt schlicht unerwähnt. der Direktion für Inneres und Justiz des Kantons Beachtung. Bern vom 10.07.2020). 3 «Schützenswerte Baudenkmäler dürfen grundsätz- Berner Heimatschutz kämpft für den Erhalt lich nicht abgebrochen werden. Innere Bauteile, Für den Berner Heimatschutz ist klar: Das Raumstrukturen und feste Ausstattungen sind […] zu erhalten, sofern dies [...] für die Eigentümerin oder Tscharnergut muss als eine der schweizweit den Eigentümer zumutbar ist.» – Baugesetz (BauG) vom 09.06.1985, Artikel 10b Abs. 2. wichtigsten und wertvollsten Wohnüber- 4 Sanierung der Scheibenhäuser Tscharnergut bauungen der Nachkriegszeit zwingend prämiert (Medienmitteilung der Stadt Bern vom 26.01.2012), online unter: www.bern.ch/mediencen- mit all ihren Einzelbauten und – wie es das ter/medienmitteilungen/aktuell_ptk/2012-01-san- Baugesetz vorsieht – unter dem grösstmög- tscharnergut. heimat heute 2020 | 9
AUS DER FORSCHUNG 100 Jahre Wohlensee Raphael Sollberger Lebensmittelproduktion, Medizin, öffentlicher Verkehr, Home-Office: ohne Strom geht nichts. Die Versorgung des Landes mit elektrischer Energie ist von zentraler Bedeutung für unsere Gesellschaft, sie ist systemrelevant. Erst recht in Krisenzeiten, wie uns das Jahr 2020 eindrücklich vor Augen führte. Genauso war es auch vor 100 Jahren, während des Ersten Weltkriegs. Damals, als Kohle und Petrol langsam auszugehen drohten, erkannten Behörden und Private das Potenzial der Wasserkraft, der Wohlensee wurde aufgestaut. Der Bau des Sees mit einem der damals modernsten und leistungsstärksten Flusskraftwerke Europas ist ein sozial-, technik- und architekturgeschichtlich herausragendes Ingenieurbauprojekt; Flora und Fauna des Sees sind bemerkenswert. In der folgenden Geschichte des Wohlensees finden sich erstaunlich viele Parallelen zu unserer heutigen Zeit. Der rund 13 km lange Wohlensee, den man Die Kraft des Wassers nutzen auch als etwas breiteren Abschnitt der Aare Die Kraft von Fliessgewässern wurde nicht beschreiben könnte, erstreckt sich von der erst mit dem Bau von Wasserkraftwerken im Neubrücke zwischen Bern und Stuckishaus Zuge der Industrialisierung systemrelevant. T 1 Der Wohlensee. Luftbild (Kirchlindach) über die Gemeindegebiete von Seit jeher wussten die Menschen sie für ihre des letzten Abschnitts mit Wohlen und Frauenkappelen bis zur Talsperre Zwecke zu nutzen. Man denke dabei etwa der Talsperre in der Aumatt. mit dem Wasserkraftwerk in Mühleberg. an Flosse, mit denen Hölzer von weit her auf städtische Baustellen transportiert wurden, oder an Wasserräder, die bei Mühlen und Sägereien die Maschinen antrieben. Mussten sich Gewerbetreibende anfangs noch direkt am Wasser niederlassen, um seine Kraft zu nutzen, so förderten schon bald Transmissionsanlagen, Dynamos und Turbinen immer mehr das stand- ortunabhängige Produzieren. Für die Elektro- technische Ausstellung in Frankfurt 1891 baute die Maschinenfabrik Oerlikon gemeinsam mit der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft in Berlin (AEG) eine viel beachtete Hochspan- nungsleitung zwischen Lauffen am Neckar und Frankfurt am Main. Mit ihr bewiesen die beiden Unternehmen dem internationalen Publikum, dass sich Strom aus Wasserkraft auch über grössere Strecken transportieren liess. Was folgte, war der grösste Boom in der Geschichte der Wasserkraft: Spekulanten erwarben in ganz Europa vergleichsweise günstige Konzessionen Q 2 Die 1534–1535 erbaute Der See ist mehr als nur ein Stromlieferant; Neubrücke zwischen Bern er ist ein lebendiger Zeuge eines der gröss- und Stuckishaus: Hier wird ten menschlichen Eingriffe in die Natur, den die Aare offiziell zum See. unsere Region je gesehen hat. Den Menschen dient er als beliebtes Ausflugsziel und Nah- erholungsgebiet, den Reptilien, Amphibien und Kleintieren als Lebensraum, verschie- denen Wat- und Wasservögeln als Rast- platz und gar als Überwinterungsgebiet. 10 | heimat heute 2020
AUS DER FORSCHUNG R 3 Das ehemalige Hasligut mit seinem Herrenhaus aus dem 17. Jahrhundert steht am Südrand des Sees kurz vor Hinterkappelen. Heute beherbergt es die ethologische Station der Universität Bern. an Fliessgewässern, um Strom zu produzieren aber als unverkäuflich, und so verfolgten und ihn danach gewinnbringend an die Ge- die BKW ihre Idee vorerst nicht weiter.1 meinden, Eisenbahn- und andere Unternehmen verkaufen zu können. Aktiengesellschaften Grösser denken sprossen aus dem Boden, neu gegründete Nach Kriegsbeginn änderte sich die Haltung ebenso wie durch Übernahmen und Fusionen der Berner Kantonsregierung schlagartig. entstandene. Unter ihnen auch die 1909 aus Angesichts des sich abzeichnenden Kohle- und den Vereinigten Kander- und Hagneckwerken Petrolmangels konnte es ihr mit dem Bau eines entstandene Bernische Kraftwerke AG (BKW). grossen Kraftwerks nun nicht mehr schnell Zur Nutzung des Aarewassers zwischen Bern und Aarberg wurden vom Kanton Bern mehrere Konzessionen vergeben. Um die Überflutung grösserer, mitunter auch besiedelter Gebiete zu verhindern, bewilligte die Baudirektion vor dem Ersten Weltkrieg nur den Bau kleiner Staustu fen oder einzelne Laufwasserkraftwerke. Für die grossen Aktiengesellschaften schienen solche aber zu wenig rentabel; die Praxis stellte aus ihrer Sicht einen unerhörten staatlichen Eingriff in die freie Marktwirtschaft dar. Nichtsdesto- trotz wurden die Konzessionen zu einem be- gehrten Gut, die Preise stiegen, ein regelrechter «Konzessionsmarkt» mit regelmässigen Über- nahmen und Zusammenlegungen benachbarter konzessionierter Flussabschnitte entstand. genug gehen. 1916 reichten die BKW das S 4 Die Bauten des Kraft- Auch die BKW verhandelten ab 1911 mit der mittlerweile vom Wasserbauingenieur Gabriel werks Mühleberg gehören Stadt Bern, der Inhaberin der Konzession Narutowicz (1865–1922) überarbeitete Pro- zu den frühesten Sicht- Wohlei–Oltigen, über eine Übernahme «ihres» jekt – ohne Rücksprache mit der Stadt – zur betonbauten der Schweiz Aareabschnitts. Das Ziel war der Bau einer Konzessionierung ein. Die Stadt, die selbst ein und gelten als bedeutendste grossen Talsperre in der Aumatt, dieser ein- Projekt mit einem Staubauwerk an der Gäbel- Vertreter des Neoklassizis- drücklichen Aareenge bei Mühleberg, die dank bachmündung erarbeitet hatte, protestierte mus im Kanton Bern. der beidseits des Flusses emporragenden aufs Heftigste, doch ihr Projekt wurde von dem Molassefelsen ein idealer Standort für ein der BKW mit seinem renommierten Verfas- grosses, gewinnbringendes Speicherkraft- ser (siehe Kasten S. 14) «technisch wie auch werk zu sein schien. Die Stadt erachtete ihr politisch überrumpelt»2. Da das BKW-Projekt Nutzungsrecht unter Berufung auf die zu- schon bei Auflage so weit fortgeschritten war, künftige Versorgung der Stadtbevölkerung dass umgehend mit dem Bau begonnen werden heimat heute 2020 | 11
in der «Traube» in Mühleberg austauschte, dass «jeder nach Noten über das Wasser- werk schimpfen und zugleich im Hinterstübli berechnen werde, was etwa dabei herauszu- schlagen sei […]»4. Der einzige Grundeigen- tümer, der sich bis zuletzt gegen den Verkauf S 5 Die alte Kappelen- konnte, bewilligte es der Regierungsrat am zur Wehr setzte, wurde schliesslich enteignet. brücke, hier im Jahr 1907 29. Dezember 1917. Die Stadt ging vor Bundes- mit einem Fahrzeug der gericht, doch dieses bestätigte den Entscheid «Wohlfeil überchöme si mys Stöckli ersten Schweizer Postauto- des Kantons unter Berufung auf höhere Interes- nid, u das Gärtli müeße si mer zahle linie von Bern nach Detligen, sen. Gänzlich freie Hand wurde den BKW aber wie ne Bouplatz a der Bundesgaß.»5 war Teil der alten Landstras- nicht gelassen: Bevor sie mit dem Bau beginnen se von Bern nach Aarberg. durften, mussten sie sich mit allen 108 an- Jakob Jüni, pensionierter Als Ersatz für diese hölzerne sässigen Landeigentümern gütlich einigen. Spediteur aus Buttenried Brücke zwischen der Eymatt und Hinterkappelen … Das Risiko, das die Behörden mit dieser Bedin- gung eingingen, war jedoch äusserst klein und Dass sich die BKW ihrer Sache sicher wa- vermutlich wohlkalkuliert: Obwohl man sich ren, belegt nicht zuletzt die Tatsache, dass anfangs unter den Bauersleuten noch einig zu sie mit dem Bau schon vorzeitig, im Herbst sein schien, «die Heimwesen mit dem zähesten 1917, begannen. Wegen der grossen Höhe Widerstand gegen die Ersäufung zu verteidi- der Talsperre durften sie auf den Bau einer gen»3, willigten 107 der Betroffenen rechtzeitig Fischtreppe verzichten, wurden jedoch zum ein. Kein Wunder angesichts der grossen Macht jährlichen Aussetzen von Fischen im See ver- der BKW, die sich etwa in der Person ihres pflichtet. Zur Aufrechterhaltung der Schifffahrt Direktors, Oberstkorpskommandant und Natio- mussten sie einen Aufzug für Kähne von bis nalrat Eduard Will (1854–1927), manifestierte. zu 18 m Länge sowie zwei neue, für Schiffe passierbare und gleichzeitig mit Automobilen T 6 … wurden die BKW Auch der stattliche Quadratmeterpreis von befahrbare Brücken über den See errichten: 1917 zum Bau der neuen, einem Franken, den die BKW anboten, war die Hinterkappelen- und die Wohleibrücke. 174 m langen und zwei- wohl ein schlagendes Argument. Der vom spurigen Hinterkappelen- Journalisten und Schriftsteller Rudolf von Einen See bauen – mitten im Krieg brücke verpflichtet. Die Tavel (1866–1934) zitierte Bauer Hans Ueli Aus wirtschaftlichen Gründen vergaben die armierte Betonbogenbrücke Böhlen aus Oberei unterstellte seinen Kolle- BKW den Bauauftrag für die Talsperre und wurde 1920 eröffnet. gen, mit denen er sich nach der Arbeit jeweils das Kraftwerk nicht wie üblich an eine Bau- unternehmung, sondern organisierten den Bau selbst. Dies ermöglichte dem Unternehmen, durch leicht höhere Löhne, als die Bauern im Umland zu zahlen bereit waren, ungelernte Bauernsöhne und Knechte für die Arbeit am Werk zu gewinnen. Zudem konnten die BKW Gastarbeiter aus Russland beschäftigen (ob es sich bei den Russen wirklich um Gastarbeiter oder vielmehr um Gefangene handelte, konn- te aufgrund der verfügbaren Quellen nicht abschliessend geklärt werden6). Andererseits mussten aber das gesamte Baustellenmate- rial, Kräne und Lastwagen beschafft und die gesamte Baustelleninfrastruktur unterhalten 12 | heimat heute 2020
AUS DER FORSCHUNG Kuriosum stellte die gleislose Oberleitungs- R 7 Anstelle eines eisernen Lastwagenbahn dar, die mithilfe akku- Fussgänger- und Kleinfuhr- betriebener Traktoren das Baumaterial werkstegs in der Wohlei vom Bahnhof Gümmenen ressourcenscho- bauten die BKW die neue, nend zur Baustelle befördern konnte. 200 m lange und einspurig befahrbare Wohleibrücke. Aber nicht nur technisch-organisatorische, Die eisernen Träger des auch wirtschaftliche und soziale Schwierig- Hauptbogens haben eine keiten begleiteten den Bau des Kraftwerks lichte Weite von 30 m. werden. Unterkünfte waren vor Ort nicht vorhanden, Nahrungsmittel waren knapp, erst recht während der Kriegsjahre. Arbei- terwohnhäuser, Baracken als provisorische Mannschaftsunterkünfte und eine Kantine für 600 Arbeiter wurden eingerichtet, Schweine wurden für den Verzehr vor Ort gehalten. Die einzigen dieser Bauten, die heute noch stehen, sind sechs erhaltenswerte Wohnhäuser der Werksiedlung Krähenfeld (Aumattweg 3–8 und Wehrstrasse 44) auf der westlichen Felskuppe. «In jedem Haus, weit herum, haben sich Arbeiter einquartiert. Und dabei weiß unsereiner bald nicht mehr, wo er einen schaffigen Knecht herneh- men soll. Löhne, wie sie da drunten von Anfang an: Streiks, Alkoholismus unter bezahlt werden, vermag unsereiner S 8 Trolleybus avant la den Arbeitern und die auch damals vor der lettre: Die eigens zum nicht. Und dazu brauchen sie dort des Schweiz nicht haltmachende Grippeepide- Materialtransport zur Bau- Tags nicht so lang zu arbeiten wie in mie: In drei Wellen forderte die «spanische stelle errichtete gleislose einem Bauerngwerb.»7 Grippe» zwischen 1918 und 1920 weltweit Lastwagenbahn zwischen mehr Todesopfer als der Krieg selbst. In der dem Bahnhof Gümmenen Bauer Hans Ueli Böhlen aus Oberei Aumatt, wo sich die zeitweise mehr als 1 000 und der Kraftwerkbau- Arbeiter die Betten in den Baracken, Werk- stelle in Mühleberg. Ein aufgrund des Mangels an Pferden und zeuge und Toiletten teilen mussten, hatte das Kohle ebenfalls kriegsbedingtes, aber aus Virus leichtes Spiel. Eine Spitalbaracke wurde heutiger Sicht äusserst zukunftsträchtiges errichtet, trotzdem waren Dutzende Opfer R 9 Der Giebel des Maschinenhauses mit einer Inschrift, die an den Bau des Kraftwerks unter schwieri- gen Umständen erinnert. heimat heute 2020 | 13
AUS DER FORSCHUNG Maschinenhaus, dem Schalthaus, dem Ölhaus und dem Grundwasserablasspavillon (siehe Artikel «Mühleberg», S. 30–37), bauten die Arbeiter einen Übergangsstollen (der im Notfall noch heute die Entleerung des Sees ermög- lichen würde) und das eigentliche Überfallwehr mit dem Schiffsaufzug. Die Gewichtsstaumauer mit aufgesetzten Gleitschützen wurde mithilfe von Senkkästen, sogenannten Caissons, er- stellt. Das Maschinenhaus, das als westliche Verlängerung des Wehrs und zugleich als eine Art Reiterbauwerk funktioniert, wurde mitsamt seinem Dachstuhl komplett in Eisenbeton- skelettbauweise errichtet. Ebenso das Schalt- S 10 Die Talsperre in der zu beklagen. Im November 1920 schliesslich, haus und das Ölhaus sowie ein Werkstatttrakt Aumatt im Bau, 1918. während des Landesstreiks, trat die gesamte zwischen dem Maschinen- und dem Schalthaus. Arbeiterschaft in den Ausstand, um die 48-Stun- Der Rechen, die Gleitschützen und die Kräne den-Woche zu erzwingen. Zeitweise musste die im Maschinenhaus sind Eisenkonstruktionen Baustelle von einem Kavallerie-Detachement der Giesserei Bern, einer Abteilung der von der Armee vor Sabotage beschützt werden. Roll’schen Eisenwerke (vgl. «Archivperlen», S. 18–19). Ebenso der Schiffsaufzug mit einem Das Kraftwerk: architektonisches Meisterwerk auf Schienen laufenden Wagen mit Aufzug- Trotz all diesen Umständen kamen die Bau- winde.8 Die Bauleitung hatte Narutowicz inne, arbeiten zügig voran. Neben den repräsen- die architektonische Gestaltung der Bauten tativen neoklassizistischen Gebäuden, dem geht auf den Bieler Architekten Walter Bösi- GABRIEL NARUTOWICZ (1865–1922) Kraftwerks Mühleberg im Auftrag der BKW stellten den Höhepunkt seiner Schaffens- Gabriel Narutowicz aus Polen kam 1886 zur zeit dar. Obwohl er seit 1896 das Schweizer Kur seiner Tuberkuloseerkrankung nach Bürgerrecht besass, unterhielt der politisch Davos. 1887 begann er ein Studium am Poly- engagierte Narutowicz stets Kontakte zu technikum Zürich. Als Mitarbeiter im St. Gal- Exilorganisationen wie z. B. der sozialis- ler Ingenieurbüro von Louis Kürsteiner tischen Diaspora-Partei Proletariat. Nach (1862–1922) befasste er sich bereits mit Kriegsende, noch vor der Fertigstellung des dem Bau von Wasserkraftwerken, bevor er Kraftwerks in Mühleberg, zog es ihn in seine Büroleiter und schliesslich Teilhaber wurde. Heimat zurück. 1920 wurde er polnischer Unter seiner Leitung entstand 1906–1908 Minister für öffentliche Angelegenheiten eines der grössten Wasserkraftwerke Öster- (Verkehr und Bauwesen), 1921 Präsident der reich-Ungarns in Andelsbuch in Vorarlberg. polnischen Akademie der technischen Wis- S 11 Die Büste Narutovicz’ 1907 oder 1908 wurde er vom Bundesrat senschaften und – als Krönung seiner politi- auf dem Platz vor dem Ma- zum Professor für Wasserbau an die ETH schen Karriere – 1922 Aussenminister, kurz schinenhaus des Kraftwerks. berufen, nebenbei führte er mittlerweile ein darauf erster Präsident der Republik Polen. eigenes Ingenieurbüro für Wasserbau. 1916 Nur fünf Tage nach seiner Wahl, am 16. De- wurde er zum Mitglied der eidgenössischen zember 1922, fiel er einem antisozialistisch Wasserwirtschaftskommission ernannt. motivierten Mordanschlag zum Opfer. Sein Die Projektierung des Wohlensees und des Nachlass befindet sich an der ETH Zürich. 14 | heimat heute 2020
AUS DER FORSCHUNG R 12 Die Gesamtanlage des Kraftwerks vom Unter- lauf aus gesehen: links die Talsperre mit dem Wehr und dem Maschinenhaus, rechts angewinkelt das Schalthaus, dahinter das freistehende Ölhaus. ger (1878–1960) zurück, der sich 1915–1916 bereits für den Hauptsitz der BKW am Vikto- riaplatz in Bern verantwortlich zeigte. Bösiger wurde 1923 in den Regierungsrat gewählt, kurz darauf ebenso in den Verwaltungsrat der BKW.9 Im Frühling 1920 erfolgte die Schliessung der Talsperre. Langsam begann die Aare, die Pfeiler der neuen Brücken zu umspülen und das Tal zu fluten. Das letzte, haushohe Beton- element des Wehrs – sozusagen der am Ufer bereitstehende Schlussstein – wurde publi- kumswirksam vom Wasser angehoben und an seinen Bestimmungsort geflösst. Am 23. August nahmen die ersten sechs Francis-Turbinen der Maschinenfabrik Escher-Wyss & Cie. und grössten Landeinbussen zu verzeichnen ST 13 & 14 Die Architek- die Generatoren der A.-G. Brown, Boveri & hatte, auf den Namen «Wohlensee». tur der von Walter Bösiger Cie. (heute ABB) im Maschinenhaus ihren entworfenen Bauten mit Betrieb auf. Sie funktionieren noch heute. Dass die teilweise kartellartigen personellen ihren hohen Fensterbän- Im September wurde zur offiziellen Einwei- Gefüge – oder positiv ausgedrückt: die guten dern und Thermenfenstern hung der Gesamtbundesrat mit einem Boot Beziehungen der Gründerväter – anfangs erinnert stark an Sakral- bis an die Staumauer gefahren. Einen Na- entscheidend dazu beitrugen, dass der See bauten. Oben das Wehr men hatte der See noch nicht; «Bernersee» und mit ihm eines der damals modernsten und das Maschinenhaus, oder «Elektrosee» standen zur Debatte, Flusskraftwerke Europas überhaupt erst ge- unten der Grundwasser- schliesslich einigte man sich zu Ehren der- baut werden konnten, ist unbestritten. Ob die ablasspavillon. jenigen Gemeinde, die flächenmässig die eigenwillige Baustellenorganisation der BKW sich im Nachhinein bewährte, darf bezweifelt werden. Die Kosten jedenfalls explodierten: Den 1917 veranschlagten rund 17 Mio. Fran- ken stand 1920 eine Schlussabrechnung über rund 40 Mio. Franken gegenüber. Mit den Folgen leben Die bis zu 100 000 m3 Sand und Kies, die jähr- lich als Geschiebe der Aare den Wohlensee erreichen, sind der Grund für die bis heute R 15 Vorplatz zwischen andauernde Verlandung des Sees. Von Anfang Maschinen- und Schalthaus an bildeten sich grössere seichte Abschnitte mit Verbindungshalle. heimat heute 2020 | 15
AUS DER FORSCHUNG entlang der Ufer. Da vor dem Zweiten Weltkrieg Schutzobjekt Wohlensee weder die Stadt Bern noch die anderen Anrai- Die Hochbauten bei der Talsperre in Mühleberg nergemeinden über Kläranlagen verfügten und und die Wohleibrücke sind im Berner Bau- man Fäkalien und Schlachtabfälle in der Aare inventar als «schützenswert» eingestuft. Die «entsorgte», lagerten diese sich schliesslich an Hinterkappelenbrücke, als Nachfolgebau der den Seeufern ab. Nachdem die Betroffenen sich alten Kappelenbrücke nicht weniger bedeutend, organisiert hatten und beim Kanton intervenier- figuriert im Bundesinventar historischer Ver- ten, kamen die BKW in den 1940er Jahren ihren kehrswege.12 Sie alle gehören zu den frühes- VERLANDUNG Grundsätzlich ist die Verlandung eines Sees kein Problem. Die damit einher- gehenden Hochwasser bedrohen jedoch Anwohnende und angrenzende Infra- strukturen. Der Endzustand des Pro- zesses ist bei Stauseen dann erreicht, wenn die sogenannte Verlandungsfront bei der Talsperre angelangt ist. Dann werden keine Feinsedimente mehr ab- gelagert, sondern durch das Wehr hindurch in den Unterlauf des Flusses weitertransportiert, die «Feinsediment- kontinuität» ist dann wiederhergestellt. S 16 Verlandung der Konzessionsverpflichtungen nach und began- ten Sichtbetonbauten der Schweiz und sind Inselrainbucht zwischen nen mit ersten Ausbaggerungen der seichten von herausragendem sozial-, ingenieur- und Hinterkappelen und der Stellen. Seit dem Bau der Abwasserreinigungs- architekturgeschichtlichem Wert. In den von Wohlei. Feinsedimente und anlage bei der Neubrücke erreicht nur noch Menschen weniger stark genutzten Uferzonen organische Materialien geklärtes Berner Abwasser den Wohlensee. leben bis heute verschiedenste Tierarten, an lagern sich auf dem Fluss- Trotzdem sind vom ursprünglichen Seevolumen denen sich die vielfältigen Anpassungsvor- geschiebe ab; einerseits von 25 Mio. m3 heute bereits rund 10 Mio. m3 gänge der Evolution ablesen lassen. Reptilien ein idealer Nährboden mit Sedimenten aufgefüllt. Schon in den späten wie Ringelnattern und Blindschleichen, Am- für Wasser- und Sumpf- 1960er Jahren kam eine Studie der ETH zum phibien wie Wasserfrösche, Feuersalamander pflanzen, wegen der sich Schluss, dass sich die Aare in den nächsten und Erdkröten, aber auch Libellen und andere verengenden Fliesswasser- 200 Jahren wieder in einen mäanderartigen Kleintiere sind am Wohlensee heimisch.13 Im zonen steigt aber auch Fluss zurückverwandelt haben würde. 10 Bundesinventar der Wasser- und Zugvogelre- der Hochwasserspiegel. servate ist der östliche Teil des Wohlensees als Eine Studie des Amts für Wasser und Abfall national bedeutender Rastplatz für Watvögel des Kantons Bern und der BKW von 2011 sowie als Überwinterungsort für Wasservö- bestätigt diese Erkenntnisse: Ohne gross- gel beschrieben. Schwimm- und Tauchenten, flächige Sedimententnahmen oder aber den Möwen und Rallen aus dem Norden Europas «Rückbau der Talsperre zur Wiederherstellung bevölkern ihn im Winterhalbjahr.14 Unter all der Sedimentkontinuität» (was jedoch «keine diesen Gesichtspunkten ist es mehr als an- anzustrebende Option» sei) ist die vollständige gezeigt, den vor 100 Jahren entstandenen Verlandung des Sees nicht zu verhindern.11 See, seine Bauten sowie die ihn begleitende 16 | heimat heute 2020
Tier- und Pflanzenwelt als «Schutzobjekt Wohlensee» gesamtheitlich zu betrachten. Energieproduktion, Naherholung, Kultur- erbe, Landschaftsschutz, Artenschutz. Das Schutzobjekt hat heute unterschiedlichsten Ansprüchen gerecht zu werden. Verschiede- ne Interessen, die sich manchmal durchaus widersprechen können, müssen laufend für alle Seiten gewinnbringend in Einklang ge- bracht werden. Man denke dabei etwa an den erwähnten Rückbau der Talsperre: Aus energiepolitischen und denkmalpflegerischen Publikum die Geschichte und die Bedeutung S 17 Flugaufnahme des Gesichtspunkten undenkbar, gegen die Verlan- des Sees, der Bauten sowie den Wert der Flora Wohlensees von Westen, dung des Sees hingegen ein mögliches Mittel. und der Fauna im, am und um den Wohlensee. Juni 1950. Im Vordergrund Oder: Ein Uferweg entlang der Inselrainbucht der Bremgartenwald, unten zwischen Hinterkappelen und der Wohlei: Zur Anmerkungen rechts die Eymatt und die 1 Mehr zur Vorgeschichte und den verschiedenen Kon- Erschliessung der Uferzonen und zu Nah- Hinterkappelenbrücke, in zessionierungen: Wohlensee. Entstehung – Geschich- erholungszwecken mehr als erwünscht, für die te – Fauna – Flora – Schutz …, hg. von Verein Heit der Bildmitte die Halbinsel, Sorg zum Wohlesee, Bern 1995, S. 7–10. brütenden Vögel und die restliche Fauna sowie auf der heute die Über- 2 Wohlensee. Entstehung – Geschichte ... 1995, S. 10. für die Anwohnenden ein Horrorszenario.15 3 Rudolf von Tavel, Von großer Arbeit. Kraftwerk und bauung Kappelenring aus Stausee von Mühleberg in ihrer Entstehung, Bern den 1970er Jahren steht, 1921, S. 15. Privatrechtliche Vereine wie z. B. der Schutz- 4 Von Tavel 1921, S. 17. dahinter die Inselrainbucht 5 Von Tavel 1921, S. 16. verband Wohlensee oder der Verein Heit Sorg 6 Rudolf von Tavel lässt in seiner Geschichte ein und die Wohleibrücke. zum Wohlesee16, aber auch NGOs wie z. B. Mädchen, das Vreneli, ihrer Mutter von der Baustelle berichten: «Öppe schier sind Russen da […]. Man pro natura, BirdLife Schweiz oder der Heimat- behält sie immer schön an einer Kuppele. Ich glaub’, schutz verstehen sich als Bindeglieder zwischen es seien Gefangene. Zum Schaffen sind sie nicht viel nutz. Aber, was willst, Mutter? Wo das Mannevolch den verschiedenen Interessengruppen und fehlt! Die Unsrigen stehen ja immer noch an der den Behörden. Sie leisten – grösstenteils in Grenze.» – von Tavel 1921, S. 27. 7 Von Tavel 1921, S. 24. freiwilliger Arbeit – umfangreiche Beratungs- 8 Ausführlich zu den einzelnen Bauten und zum dienstleistungen für diejenigen Ämter und Bauablauf vgl. E. Meyer, Das Kraftwerk Mühleberg der Bernischen Kraftwerke A.-G. (insg. vier Teile), Fachstellen, die Massnahmen planen. Daneben in: Schweizerische Bauzeitung, 1926, Nr. 22, S. vermitteln sie mit Veranstaltungen wie Füh- 275–280; Nr. 23, S. 287–291; Nr. 24, S. 300–304 und Nr. 25, S. 311–316. rungen, Vorträgen oder Apéro-Flossfahrten, 9 Peter Stettler, Walter Bösiger, in: Historisches aber auch mit der Herausgabe von Büchern Lexikon der Schweiz, www.hls-dhs-dss.ch, Stand: 01.06.2020. oder Artikeln wie diesem hier einem breiten 10 Wohlensee. Entstehung – Geschichte ... 1995, S. 25. 11 Verlandungsstudie Wohlensee, bearbeitet von der Flussbau AG Bern, 21.03.2011. 12 Vgl. Bauinventar des Kantons Bern (www.erz.be.ch/ erz/de/index/kultur/denkmalpflege/bauinventar.html) R 18 Höckerschwäne, die grössten in Mitteleuropa und Inventar historischer Verkehrswege der Schweiz, insb. Objekt Nr. BE 507.4. heimischen Wasservögel, 13 Eine ausführliche Auflistung findet sich in leben das ganze Jahr über Wohlensee. Entstehung – Geschichte … 1995, S. 48–65. am Wohlensee. Im Winter 14 Bundesinventar der Wasser- und Zugvogelreserva- erhalten sie jeweils Besuch te von internationaler und nationaler Bedeutung, hg. von Bundesamt für Umwelt BAFU, Bern 2015, von diversen anderen S. 61–63. Entenarten, unter ihnen 15 Zum Uferweg: Hans Ulrich Schaad, Das Bundesge- richt versenkt den Uferweg, in: Berner Zeitung BZ, Rallen und Möwen 23.11.2018, S. 2–3. aus dem Norden. 16 www.schutzverband-wohlensee.ch, www.verein-wohlensee.ch. heimat heute 2020 | 17
ARCHIVPERLEN Systemrelevante Betriebe Rolf Hürlimann Im späten 19. und im 20. Jahrhundert gab es in unserer Region deutlich mehr systemrelevante Industrie- und Gewerbebetriebe als heute. Unter ihnen solche der Gas-, Chemikalien-, Textil-, Nahrungsmittel- und Baustoffproduktion. Oft wurden sie, die einst von ihrer Nähe zur Wasserkraft und zu den Eisenbahnen profitiert hatten, zugunsten billigerer Herstellungsorte aufgegeben und ihre Bauten umgenutzt. T 2 Der Sichtbacksteinbau der einstigen Ryff-Fabrik an der Sandrainstrasse grenzte ursprünglich wie die benachbarte Dampfzentrale an die Kleine Aare, die das Marzilibad durch- floss und 1969 zugeschüttet wurde. 1895 von Lindt & Hü- nerwadel erbaut, beherbergte er bis 1955 eine mechanische Strickerei. Seit dem Übergang an die Stadt, die zunächst eine Nutzung als Hallenbad erwog, dient er als Gewerbepark mit Ateliers und Architekturbüros, seit 2012 befindet sich in seinem DG das Kino Lichtspiel samt Kinemathek. März 1997. S 1 Der «Stufenbau» von Ittigen zwischen der Worblen- talbahn und der A1 ist mit seiner terrassierten, geschickt die Hanglage nutzenden Architektur, seinem turmartigen Mittelbau und seinem Schräglift ein Industriedenkmal von nationaler Bedeutung. Erbaut 1924, war er bis 1971 Produktionsstätte von Nitrozellulose. Seit 1985 beherbergt er Räume für Kultur sowie Büros und Ateliers. März 1997. T 5 Obwohl recht nüchtern wirkend, gilt der Industrie- komplex an der Fellerstrasse 11 von Architekt Henry Daxelhofer neben dem Bahnhof Bümpliz Nord als schüt- zenswert. Erstellt wurde der Skelettbau mit seinem S 3 Das «Oktogon» im welleternitverkleideten Überbau und seinem markanten Marzili entstand 1888 auf Sheddach 1958–1960 für die Tuchfabrik Schild. Seit 2005 den Fundamenten des ersten ist er Sitz der Hochschule der Künste Bern. April 2001. Gasometers der Schweiz von 1843. Jahrzehntelang von S 4 Am Dalmaziquai 33–37, wo heute ein langgezogener der Billardfabrik Morgen- Bau mit schmucken Eigentumswohnungen steht, war thaler genutzt, war der von von 1919 bis 1978 die Ramseier & Jenzer AG ansässig. Backsteinlisenen gegliederte Bekanntheit erlangte die Firma, die von Beginn an Bau mit Laternenaufsatz Limousinen und Cabriolets baute, vor allem durch die 1971–2001 Ausbildungs- Konstruktion zahlreicher Karosserien für Busse, Postautos ort der Lehrwerkstätten und Reisecars, von Frontmotorwagen der 1920er und Bern, ehe er 2006 zu einem 1930er Jahre bis zu Gelenkfahrzeugen der Nachkriegs- Hammam und Spa umge- zeit. Diesem Geschäftszweig blieb «R & J» auch nach der staltet wurde. April 1990. Verlegung der Produktion nach Biel treu. Sept. 1977. 18 | heimat heute 2020
ARCHIVPERLEN T 8 In der Fabrik von 1879 in der Berner Matte entwickelte Rodolphe Lindt (1855–1909) ein Conchierverfahren, das zum Weltruhm der Schweizer Schokolade beitragen sollte. Der Bau, in dem auch nach dem Verkauf an die Zürcher Firma Sprüngli noch Zart- schmelzendes entstand, wurde 1934 zu Wohnzwe- cken umgebaut, gilt aber mit seiner Beschriftung in Belle-Époque-Lettern aber ungeachtet der damals vor- genommenen Verkleinerun- S 6 Lange war die 1899 errichtete «Giesserei Bern» gen und Fensterausbrüchen am Rand der Länggasse mit ihrem vergoldeten Schrift- als erhaltenswertes Indus- zug der Blickfang der von Roll’schen Eisenwerke. In triedenkmal. März 1991. grosser Zahl entstanden hier verschiedenste Produkte, von Schachtdeckeln bis zu Seilbahnen. Auch die Rechen und Kräne für das Wasserkraftwerk Mühleberg (vgl. Artikel «100 Jahre Wohlensee», ab S. 10) entstanden hier. Im Gegensatz zum mittlerweile von der Universität genutzten Verwaltungsgebäude und der Weichenbau- halle wurde die reizvolle Backsteinkonstruktion 1998 wegen Einsturzgefahr abgebrochen. Jan. 1968. S 7 Die erste Kehrichtverbrennungsanlage Berns mit ihrem Fernheizwerk und ihren Hochkaminen, deren Ausstoss weitherum sichtbar war, nahm ihren Betrieb am Warm- bächliweg in Holligen 1954 auf und beendete die Zeiten der Transporte städtischen Abfalls nach Witzwil. Sie wurde 2012 von der heutigen Energiezentrale Forsthaus an der V 10 Bis zum Beginn der Murtenstrasse abgelöst und danach rückgebaut. Auf ihrem 2000er Jahre prägten Gelände sollen bald Wohnungen entstehen. April 2012. zahlreiche Gebäude der Bau- stofffirma Hunziker ein weit- läufiges Gebiet entlang der Könizstrasse zwischen dem S 9 In Worblaufen erinnert neben der Mündung der Worbla Weissensteinquartier und in die Aare ein Fabrikkomplex an glanzvolle Zeiten. Er wur- den Vidmarhallen. Die 1876 de bis 2014 vom Eisenwerk Müller genutzt und beherbergt gegründete Unternehmung mit einer historischen Hammeranlage, einer Esse und einem produzierte hauptsächlich Wasserrad bis heute bedeutende technikgeschichtliche Betonwaren und baute an Relikte. Die Schmiede dürfte bereits im 16. Jh. bestanden Ort und Stelle Kies ab. Heute haben. Die aktuellen Gebäude allerdings sind zur Haupt- stehen hier Turnhallen und sache nach einem Brand ab 1871 entstanden. Nov. 2016. Wohnbauten. Sept. 1997. heimat heute 2020 | 19
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AUS DER POLITIK Barrierefreiheit im Weltkulturerbe: Abfahrtsanzeigetafeln in der unteren Altstadt Enrico Riva Als Benützerinnen und Benützer des öffentlichen Verkehrs Weltkulturerbes gehörenden Bereich nicht sind wir oft froh, an einer Haltestelle auf den Anzeigetafeln bewilligungsfähig seien. Dies beachtete der zu sehen, wann unser nächster Tram- oder Buskurs abfährt. Gemeinderat nicht; er unterliess es auch, für die Installation der Anzeigetafeln die gesetz- Manchmal merken wir, dass wir einen kürzeren Weg auf- lich vorgeschriebene Bewilligung einzuholen. grund der Wartezeit genau so gut zu Fuss gehen können. An Haltestellen mit mehreren Verbindungen sehen wir, Die untere Altstadt von Bern als beson- ob der nächste Kurs einer anderen Linie für uns praktischer ders schutzwürdiges Baudenkmal wäre. Wie kommt es dazu, dass der Heimatschutz sich nun 1983 hat die UNESCO die Altstadt von Bern in einem Beschwerdeverfahren gegen solche Anzeigetafeln vom Bubenbergplatz bis zur Nydeggbrücke wehrt? Eine etwas längere Geschichte, die hier erzählt zum Weltkulturerbe erhoben. Im Bundes- werden soll. inventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz (ISOS) ist die Altstadt von Bern als Schutzobjekt von nationaler Bedeutung ge- Eigenmächtiger Beschluss des Gemeinderats mäss Natur- und Heimatschutzgesetz (NHG) Bis 2016 gab es im Bereich zwischen Zytglogge verzeichnet. In der Bauordnung der Stadt und Nydeggbrücke keine solchen Anzeigeta- Bern1 wurde entsprechend für die Altstadt ein feln. Auf Antrag der Tiefbaudirektion der Stadt besonderes baurechtliches Regime geschaffen. Bern beschloss der Gemeinderat im Februar 2016, den Kornhausplatz und die Haltestellen Innerhalb der Altstadt kommt der unteren der Trolleybuslinie 12 in der Kram- und der Altstadt der höchste Wert zu. Hier befindet Gerechtigkeitsgasse mit denselben Anzeige- sich am meisten historische Bausubstanz; das tafeln zu versehen, die wir aus dem restlichen Bild der Gassen und Plätze, der Fassaden und Stadtgebiet kennen. Die Denkmalpflege und Dächer präsentiert sich weitgehend unver- das Stadtplanungsamt informierten den Ge- sehrt. Aufgrund seiner nationalen Bedeutung meinderat darüber, dass solche Tafeln in verlangt das eidgenössische Recht die «un- diesem empfindlichen, zum Kern des UNESCO- geschmälerte Erhaltung» dieses Stadtteils.2 Q 1 Die 2016 an den Fassa den der unteren Altstadt montierten Abfahrts-An- zeigetafeln stellen aus Sicht des Heimatschutzes einen empfindlichen Eingriff in das UNESCO-Weltkulturerbe der Altstadt von Bern dar. 22 | heimat heute 2020
AUS DER POLITIK Das bedeutet nicht, dass die untere Altstadt unter eine Glasglocke gestellt ist und keine Änderungen mehr erfahren darf; wir wollen hier kein Museum, sondern einen lebendigen Teil der Stadt. Alle Veränderungen müssen sich aber dem Schutzziel unterordnen, vermeid- bare Beeinträchtigungen sind zu unterlassen. Gemessen an diesen Vorschriften sind die 2016 installierten Anzeigetafeln ungesetzlich, weil sie zu wenig Rücksicht auf das Denkmal untere Altstadt nehmen. Sie ragen als unbeweg- liche Körper in den Raum der Kram- und der Gerechtigkeitsgasse bzw. des östlichen Korn- hausplatzes hinein, und sie sind Tag und Nacht beleuchtet. Das geltende Recht der Stadt Bern erlaubt solche Körper an diesem Ort nicht; auch Geschäftsschilder dürfen in der unteren Altstadt ausserhalb der Lauben nicht leuchten. und hat zum Ziel, «Benachteiligungen zu S 2 Die Tafeln wurden verhindern, zu verringern oder zu beseitigen, mitunter an prominentesten Nachträgliches Bewilligungsverfahren denen Menschen mit Behinderungen ausgesetzt Stellen montiert, obwohl Der Berner Heimatschutz, Region Bern Mit- sind»4. Ein wichtiger Bereich, in welchem das sie ein eidgenössisches telland, hat im Frühjahr 2017 mit einer bau- Behindertengleichstellungsgesetz Wirkung Plangenehmigungsverfahren polizeilichen Anzeige auf die Irregularität entfaltet, ist der öffentliche Verkehr. Mehrere durchlaufen müssten. der Anzeigetafeln hingewiesen und verlangt, Verordnungen und auch Praxisanweisungen dass sie wieder entfernt werden. Die Anzeige wurden erlassen. Das Grundprinzip ist Fol- führte zu einem eidgenössischen Plangeneh- gendes: Behinderte Personen, die in der Lage migungsverfahren nach Eisenbahnrecht. Der sind, den öffentlichen Raum ohne fremde Hilfe Grund dafür, dass in diesem Fall eine Bundes- zu benützen, sollen auch die Dienstleistungen behörde und nicht eine kantonale Behörde die des öffentlichen Verkehrs autonom in Anspruch Sache zu prüfen hatte, liegt in einer Eigenheit nehmen können.5 Fahrzeuge und Haltestellen des Eisenbahnrechts: Trolleybus- und Tram- sollen behindertengerecht gestaltet sein. Dies linien fallen unter die Eisenbahngesetzge- verlangt neben der Möglichkeit des selbststän- bung, und demgemäss müssen alle Bauten digen Besteigens der Verkehrsmittel auch den und Anlagen, die damit zusammenhängen, Zugang zu den erforderlichen Informationen. ein eidgenössisches Plangenehmigungsver- fahren durchlaufen, bevor sie erstellt werden Das Behindertengleichstellungsgesetz stellt können. Am 11. Februar 2020 entschied das den Umfang der zu treffenden Massnahmen Bundesamt für Verkehr (BAV), es werde kei- ausdrücklich unter das Gebot der Verhältnis- S 3 Laut den Behörden ne Genehmigung für die aufgestellten Tafeln mässigkeit: Die Beseitigung einer Benach- genügen analoge Infostelen erteilt. Sie seien innert Frist zu entfernen. teiligung hat zu unterbleiben, «wenn der für wie diese hier bei der Halte- Behinderte zu erwartende Nutzen in einem stelle Nydegg den Anfor- Behindertengerechte Haltestellen Missverhältnis steht, insbesondere […] zum derungen des öffentlichen des öffentlichen Verkehrs wirtschaftlichen Aufwand [oder] zu Interessen Verkehrs nicht mehr. 2002 verabschiedeten die eidgenössischen des Umweltschutzes sowie des Natur- und Räte das Behindertengleichstellungsgesetz.3 Heimatschutzes»6. Interessen des Heimat- Das Gesetz stützt sich auf den Rechtsgleich- schutzes können also Anlass dazu geben, dass heitsartikel der Bundesverfassung (Artikel 8) auf bestimmte Massnahmen verzichtet wird. heimat heute 2020 | 23
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