Arbeit - Arbeit im Konflikt - Nr. 25 / 2021 - Freunde des Museums der Arbeit e.V.

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             arbeit
Nr. 25 / 2021

                Arbeit im Konflikt
Bildnachweis:
Altonaer Museum: 61
Archiv Museum der Arbeit: U1 (2), U4 (3), 11, 12, 14, 16, 20, 21, 22, 23, 31, 32,
33, 34, 35, 44, 48
Daniel Bockwoldt/dpa: 51
Jürgen Bönig: 36, 47
creative commons: U1, 37, 49
Carl-Victor Dahmen, Wikimedia Commons: 25
Martin Dieckmann: 41, 42, 43, 46
W. Hermann (Fotostab am IfP – Institut für Publizistik FU Berlin): 53
Archiv Katja Karger: 26
Sabine von Kessel: 38, 39
MPZ Medienpädagogik Zentrum, Hamburg: 59
Daniel Nide: 8, 9
Arnold Rekittke: 55, 56
Christoph Schmidt/dpa: 50
Agnes Schreieder: 29

Umschlag:
Streikführer Baha Targün beim »wilden« Streik bei Ford in Köln 1973
Streikausweis des Hafenarbeiterstreiks 1896/97
Demonstration der IG Druck und Papier zum Gänsemarkt 1979
um neue Technologien und Aussperrung, Foto Karl Sauer
Leser des Hamburger Fremdenblattes nach Ende des Streiks 1954, Foto Germin
Betriebsratswahl Unilever Mannheim 1959, Foto G. Dieball
Frühstückspause Phoenix-Gummiwerke 1963, Foto H. Janke
3

Editorial
VON KERSTEN ALBERS

Liebe Leserin, lieber Leser,                                   erzählen die Beiträge immer von den Schwierigkeiten,
                                                               aber auch von Chancen einer selbstbewussten Interes-
das vorliegende Heft unserer etwa jährlich erscheinen-         senvertretung der Beschäftigten.
den Vereinszeitschrift Mitarbeit begleitet eine Sonder-           Ein paar Stichworte zu den einzelnen Beiträgen und
ausstellung des Museums der Arbeit in Hamburg im               Schwerpunkten: Mario Bäumer skizziert die Grundge-
Herbst / Winter 2021 und im Frühjahr 2022. Thema der           danken und die Entstehungsgeschichte der Sonderaus-
Ausstellung sind »Konflikte«. Konflikte prägen unser           stellung, die sehr bewusst darauf ausgerichtet ist, uns
persönliches Leben, sie prägen aber auch und gerade das        als Besucherinnen und Besucher der Ausstellung mit-
Arbeitsleben. Aus Arbeitskonflikten heraus haben sich          zunehmen, Stoff zu geben für die Diskussion und zum
die Gewerkschaften und die Betriebsräte entwickelt.            eigenen Handeln zu ermutigen. Dabei will die Ausstel-
Vieles, was uns heute an Arbeitnehmerrechten selbst-           lung weniger fertige Antworten vermitteln als zum eige-
verständlich erscheint, musste immer hart erkämpft             nen Nachdenken anregen.
werden. Umso spannender ist es, einmal genauer hin-               Alltägliche Konflikte und Konfliktbewältigung im
zuschauen, welche Rechte und Mitgestaltungsmöglich-            Arbeitsalltag beschreibt Peter Birke in seinem Beitrag
keiten Kolleginnen und Kollegen heute im Betrieb und           »Poren der Arbeitszeit« aus seiner Erfahrung als Sozial-
am Arbeitsplatz haben, wo die aktuellen Frontlinien            forscher. Es geht um verschiedene Formen, sich dem all-
der Entwicklung verlaufen und welche Erfahrungen               täglichen Druck durch Arbeit zu entziehen und wie sich
dazu heute und früher gemacht werden mussten. Un-              dies im konkreten Arbeitsprozess niederschlägt. Zum
sere Mitarbeit will dazu beitragen, mit vielen sehr ver-       Thema Arbeitsgerichtsbarkeit erklärt Sigrid Thomsen,
schiedenen, kürzeren und auch längeren Beiträgen, die          wie die Arbeitsgerichtsbarkeit (insbesondere aus Sicht
im Zusammenwirken des Museums-Ausstellungsteams                der von den Gewerkschaften benannten ehrenamt­
und der Redaktion seit dem Frühjahr 2021 »organisiert«         lichen Arbeitsrichter) Konfliktbewältigung absolviert.
werden konnten.                                                   »Konfliktpartnerschaft« findet hierzulande meistens
    Der »rote Faden« der Beiträge ist, dass Konflikte in der   in den Regularien der betrieblichen Mitbestimmung
Erwerbsarbeit stattfinden in der Vertikalen einer Macht-       statt. Knud Andresen zeigt im historischen Überblick
und Herrschaftsbeziehung. Einfach zu erklären ist dies         die Entwicklung der Betriebsverfassungen seit 1920,
im Ausspruch des Bundesverfassungsgerichts, das von            woraus nach 1952 die für die Bundesrepublik typische
der »strukturellen Unterlegenheit der Arbeitnehmer«            – und international eine Ausnahme bildende – betrieb-
spricht – die den Grundkonflikt kennzeichnet. Hier             liche Mitbestimmung der Betriebs- und Personalräte
­einen Ausgleich zu schaffen (Rechte der betrieblichen         wurde. Ergänzt wird dies durch Martin Dieckmann,
 Mitbestimmung, Tarifautonomie mitsamt Streikrecht             der in Zahlen, Daten, Fakten zeigt, dass die Mitbestim-
 usw.), erzeugt zwangsläufig wiederum neue Konflikte.          mungsrechte der Beschäftigten auch aktuell durchaus
 Ohne Konflikt entsteht keine »Augenhöhe« – und genau          gefährdet sind. Eine aktuelle Antwort darauf formuliert
 dies beschreiben die Artikel im Einzelnen an histori-         Matthias Bartke, der als Bundestagsabgeordneter und
 schen und aktuellen Beispielen aus verschiedenen Be-          Vorsitzender des zuständigen Bundestagsausschusses
 reichen. Macht, wie sie strukturell gegeben ist, verlangt     maßgeblich an der gerade beschlossenen Novellierung
 Gegenmacht – sonst ist auch eine »Konfliktpartner-            des Betriebsverfassungsgesetzes beteiligt war. Im Inter-
 schaft«, also ein faires Aushandeln, undenkbar. Letztlich     view von Jörn Breiholz mit der Hamburger DGB-Vor-
4                                                                                                         EDITORIAL

sitzenden Katja Karger und Sandra Goldschmidt, stell-      Neht kommentiert. Und last not least – die Museen in
vertretende ver.di-Landesleiterin in Hamburg, wird am      Hamburg: Rolf Bornholdt beschreibt den Konflikt um
Beispiel der Betriebsratsgründung beim Internet-Riesen     die Leitungsstruktur der staatlichen Museen und die
Pixelpark deutlich, wie es auch in Bereichen, in denen     Einführung und alsbaldige Wiederabschaffung der Mit-
betriebliche Mitbestimmung und Gewerkschaften als          bestimmung aller Beschäftigtengruppen in den 1980er
ziemlich »uncool« gelten, gelingen kann, Betriebsräte an   Jahren Jürgen Bönig behandelt die »Verselbständigung«
den Start zu bringen. Und schließlich beschreibt Agnes     der Museen in Hamburg zu Beginn des 21. Jahrhunderts,
Schreieder (ver.di) am Beispiel der Schlecker Frauen,      die viele – vor allem finanzielle – Probleme nicht gelöst
wie es in jahrelangen Kämpfen und Kampagnen mög-           hat und manche bitteren Enttäuschungen im Bereich
lich wurde, das Unsichtbare (unterdrückerische Aus-        der Partizipation der Museumsmitarbeiter:innen zu
beutung) sichtbar zu machen; und darin die enorme          Tage brachte.
Stärke angeblich »schwacher« Kräfte zu entwickeln.            Ein großes Dankeschön am Schluss: Diese Ausgabe
   Konflikte in der Erwerbsarbeit haben eine lange         der Mitarbeit wurde zustande gebracht durch das hoch
Geschichte. Manchmal ist es ganz gut, sich über diese      engagierte gemeinsame Handeln der Redaktion – Knud
Zusammenhänge etwas genauer anhand prägender Er-           Andresen, Jürgen Bönig, Martin Dieckmann, Heike
eignisse unserer Hamburger Entwicklung zu informie-        Jäger, Helga Koppermann und Michael Schulz. Und
                                                           ­
ren. Knud Andresen erzählt von den Konflikten um die       durch die kollegiale und zuverlässige Mitarbeit aller
Durchsetzung des Mai-Feiertags in Hamburg seit dem         ­Autorinnen und Autoren – DANKE !
Ende des 19. Jahrhunderts. Jürgen Bönig erklärt die
                                                           Kersten Albers ist Vorsitzender der
nachhaltigen Wirkungen eines (vordergründig) verlo-        Freunde des Museums der Arbeit e.V.
ren gegangenen Kampfes: des berühmten Hamburger
Hafenarbeiterstreiks von 1896. Mit einem weiteren Bei-
trag geht Jürgen Bönig auf die ebenso berühmte Be-
triebsbesetzung bei HDW zu Beginn 1980er Jahre ein.
   Konflikte in der Erwerbsarbeit – wer denkt da nicht
an die großen Streikbewegungen und die Rolle der Ge-
werkschaften dabei. Martin Dieckmann schildert die
Entwicklung des Streikrechts in der Bundesrepublik seit
1948/1949: Warum Gewerkschaften kein gesetz­      liches
Streikrecht wollen und was es mit dem »Richterrecht«
auf sich hat. Im Gespräch mit Helmut Platow erläutert
er die Eigenarten dieses Richterrechts und zeigt Pers-
pektiven für die Entwicklung des Streikrechts. Anhand
konkreter Fälle seit 1969 dokumentiert ­Martin Dieck-
mann begrenzte, aber einflussreiche Regelverletzungen
durch Arbeitnehmer:innen in informellen Arbeitsnie-
derlegungen, (auch politischen) Streiks und Betriebs-
besetzungen. Eine besondere Perspektive eröffnet der
»Zwischenruf« von Mario Bäumer im Hinblick auf den
Streik der Erzieherinnen – aus Elternsicht.
   Konflikte durchziehen aber auch die Gewerkschaf-
ten. In den 1970er Jahren waren dies zum Beispiel Ge-
werkschaftsausschlüsse radikaler Linker. Marcel Bois
und Alexandra Jaeger gehen auf Hamburger Beispiele
ein. Und Arbeits-Konflikte haben manchmal auch sehr
spezifische Ausprägungen: Arnold Rekittke (ver.di)
be­schreibt die Konfliktlinien mit und im kirchlichen
Arbeitsrecht, den langen Kampf für Tarifverträge – an-
lässlich des Scheiterns eines allgemeinverbindlichen
Tarifvertrages am Widerstand von Caritas und Diako-
nie. Aus innerkirchlicher Sicht wird dies von Monika
5

Inhalt

 7	KONFLIKTE – die Ausstellung
      VON MARIO BÄUMER

10	Kirschen pflücken, oder: Vom Arbeitskampf im Arbeitsalltag
      VON PETER BIRKE

13	Von der Ehre zu richten
      VON SIGRID THOMSEN

15	1920 –1952 –1972: Die Betriebsverfassungen
    und die verrechtlichten Arbeitsbeziehungen
      VON KNUD ANDRESEN

18	Konflikte in Betrieben – eine gespaltene Welt
      VON MARTIN DIECKMANN

21	Modernisierung statt Stärkung?
    Das Betriebsrätemodernisierungsgesetz
      VON MATTHIAS BARTKE

24	Als die hippe New Economy ihren ersten Betriebsrat gründete
    Interview mit Katja Karger und Sandra Goldschmidt
      VON JÖRN BREIHOLZ

27	
   SCHLECKER Betriebsrätinnen in Hamburg
   Mut und Kraft und Solidarität
      VON AGNES SCHREIEDER

31	Hamburger Konflikte um den 1. Mai in der Weimarer Republik
      VON KNUD ANDRESEN

34	Streik gegen Politik
    Die Folgen des Hafenarbeiterstreiks in Hamburg 1896 / 97
      VON JÜRGEN BÖNIG

38    Faustpfand – ein gefährlicher Schiffsraub
      VON JÜRGEN BÖNIG

40	»Das Schwert an der Wand …«
    Streik und Streikrecht in der Bundesrepublik
      VON MARTIN DIECKMANN

45	Fragen zum Arbeitskampfrecht an den Experten
    Interview mit Helmut Platow
      VON MARTIN DIECKMANN
6                                                                       INHALT

    47	»Störungen im Betriebsablauf«
        Informelle Arbeitsniederlegungen und Streiks
          VON MARTIN DIECKMANN

    50	Kita Streik – ein Zwischenruf
          VON MARIO BÄUMER

    52	Fatale Eigendynamik
        Die Unvereinbarkeitsbeschlüsse der GEW in den 1970er-Jahren
          VON MARCEL BOIS UND ALEXANDRA JAEGER

    54    Diakonie und Caritas – Kirchliches Arbeitsrecht im Konflikt
          VON ARNOLD REKITTKE

    57	Der Konflikt zwischen ver.di und Kirche ist ein Konflikt
        innerhalb der Kirche
        Kommentar zu Arnold Rekittke
          VON MONIKA NEHT

    58	Mitbestimmen bei der Arbeit?
        Der Konflikt um die Leitungsstruktur der staatlichen
        Hamburger Museen
          VON ROLF BORNHOLDT

    60	Schein-Selbständigkeit
        Ein unerwartetes Ergebnis der Museumsreform
          VON JÜRGEN BÖNIG
DIE AUSSTELLUNG                                                                                                       7

KONFLIKTE – die Ausstellung
3. November 2021 bis 8. Mai 2022

VON MARIO BÄUMER

Konflikte sind allgegenwärtig – in der Familie, im Ar-       finitionsscheibe, hier können sich die Besucher:innen
beitsleben, in der Politik. Ebenso vielfältig sind ihre      ihre Definition erdrehen. Bei Eintritt in die Ausstellungs-
Erscheinungsformen: Wir erleben und beobachten sie           halle sieht man als erstes ein LED-Band mit Zeitungs-
als persönliche Gewissensbisse, als Ehestreit, als Tarif-    überschriften aus dem Jahr 2021, die das Wort »Konflikt«
konflikt zwischen Gewerkschaften und Unternehmen,            enthalten. Schon hier wird die große Vielseitigkeit des
als Bürgerkrieg oder als internationale Krise. Konflikte     Themas jedem bewusst.
beeinflussen unser Liebes- und Familienleben, unser             Das Thema Konflikte soll in seiner Vielfalt dargestellt
Glück und unsere Gesundheit, unser Berufsleben und           werden. Mythische Vorstellungen von Konflikten, phi-
unsere Karrieren. Konflikte verändern die Welt, im Gro-      losophische Konzepte und soziologische Systematisie-
ßen wie im Kleinen. Das Museum der Arbeit nimmt dies         rungen werden hier verarbeitet. Darüber hinaus wer-
zum Anlass, dem Thema eine Sonderausstellung zu              den aber auch die Emotionen und die Wahrnehmung
widmen.                                                      von Konflikten durch die Akteure vermittelt.
   Die Idee zur Sonderausstellung entstand vor der Co-          Schon am Anfang geben sowohl Personen, die be-
rona-Pandemie, so dass diese außergewöhnliche Situa-         ruflich mit Konflikten zu tun haben, als auch Personen
tion direkten Einfluss auf die Konzeption dieses Ausstel-    des öffentlichen Lebens im Format »drei Fragen in drei
lungsprojektes nahm. Bereits im Februar 2021 entstand        Minuten« Auskunft, was sie unter einem Konflikt ver-
der Konfliktmonitor, ein Online Tool, das zwölf ausge-       stehen.
wählte Konflikte rund um die Corona-Krise präsentiert           Es sind also vor allem szenografische Raumbilder,
und zur Meinungsabgabe aufruft.                              innovative Medienformate und überraschende Objekte,
                                                             welche auf anschauliche Weise einen Zugang auf die-
Ein Konflikt ist eine mindestens von                         ses komplexe Thema eröffnen. So will die Ausstellung
                                                             auch weniger Informierte dazu anregen, sich damit zu
­einer Seite als emotional belastend
                                                             beschäftigen, was eigentlich ein Konflikt ist, wie wir
 und/oder sachlich inakzeptabel emp­                         als Gesellschaft damit umgehen und wie Vorurteile zur
 fundene Interaktion, die durch eine                         Konfliktvermeidung abgebaut werden können. Es ist
 Unvereinbarkeit der ­Verhaltensweisen,                      somit eine sehr gegenwartsorientierte Auseinanderset-
 der Interessen und Ziele sowie der                          zung mit dem Konfliktbegriff im Zusammenspiel mit
                                                             der Frage, was aus historischen Konflikten gelernt und
 ­Annahmen und Haltungen der Betei­                          abgeleitet werden kann.
  ligten gekennzeichnet ist.                                    Als Kurator verstehe ich die Ausstellung »Konflikte«
                                                             nicht als kulturgeschichtlich inszenierte Themenaus-
Diese Definition habe ich im Grundkonzept verwendet.         stellung. Statt bedeutender musealer Exponate stehen
Da wird erneut die Definitionsproblematik deutlich,          kreativ aufbereitete Informationen und Geschichten, In-
wie schon in der vergangenen Sonderausstellung »Out          stallationen und Raumbilder im Vordergrund. Die Aus-
of Office«, als es darum ging Begriffsdefinitionen zu »Ar-   stellungsarchitektur mit spitzen, dreieckigen Formen
beit«, »Intelligenz« oder »Kreativität« zu liefern.          wird als integraler Bestandteil der Konzeption gesehen.
   In der Ausstellung wird es so auch eine interaktive          Neben Animationsfilmen, Kurzfilmen und Filmen mit
Station zum Thema geben, die sogenannte Konfliktde-          einer Schauspielerin sind auch Gastbeiträge zu sehen.
8                                                                                                                     DIE AUSSTELLUNG

         Ein Mann und ein Polizist liefern sich am 7. 7. 2017 beim G20-Gipfel in Hamburg einen »Anstarrwettbewerb«,
         nachdem die »Welcome to Hell«-Demo von der Polizei aufgelöst wurde.

Hier wären z. B. die BWG / VBG mit dem Modul »Gewalt-                 an, der in zwei Bereiche gegliedert ist: die Theorie und
prävention am Arbeitsplatz«, das Projektstudium der                   die Beispiele. Neben allgemeinen Themenbezügen, wie
Erziehungswissenschaft der Uni Hamburg zum Thema                      der Frage, was ein Konflikt ist (und was keiner), nach
»Konflikte« und auch Gentrifizierungsprojekte wie Viva                Konfliktformen und der Perspektive auf Dynamiken
La Bernie und Park Fiction, aber auch ein Interviewbei-               und Funktionen von Konflikten, gibt es konkrete Bei-
trag des Freundeskreises des Museums, der Stimmen zu                  spiele aus den vier Bereichen »Innere Konflikte«, »pri-
Arbeitskonflikten sammelt zu nennen. Auch außerhalb                   vate Konflikte«, »Arbeitskonflikte« und »Gesellschafts-
der Ausstellung kooperieren wir mit dem Theaterprojekt                konflikte«, wobei die beiden letzteren den thematischen
Über / Leben, das sich in Bezug zur Ausstellung den Kon-              Schwerpunkt bilden.
flikten einer Einzelbiographie widmet, am 19. Septem-                    Die Konflikttheorie orientiert sich an den klassischen
ber bereits beginnt und auf die Ausstellung hinweist, wo              Konfliktmodellen und ist auch in der Ausstellung stu-
man dann im November zu Gast ist.                                     fenartig angelegt. Integriert ist in diesen Bereich unter
    Ich bin beim Thema Konflikte auf ein Zitat vom Juni               anderem auch die Digitalstation »Welcher Konflikttyp
2021 gestoßen »jeder zweite Deutsche traue sich nicht                 bist du?« und die Ausgabe der Konfliktanalysescheibe –
mehr, offen seine Meinung zu sagen …«. Sicherlich ein                 ein Angebot für diejenigen, die bei den präsentierten
Abbild einer sich wandelnden gesellschaftlichen Kon-                  Beispielen die Theorie anwenden wollen.
fliktkultur. Wobei man hier eher auf steigende Zahlen                    Trotz großer Unterschiede haben alle Konflikte auch
hoffen dürfte (das als kleine ironische Randnotiz).                   viele Gemeinsamkeiten: Sie durchlaufen verschiedene
    Die Ausstellung »Konflikte« will den Besucher:innen               Stadien von Anlässen und Auslösern über Eskalationen
vor Augen führen, dass sich der Umgang mit Konflikten                 bis zu den (mehr oder weniger nachhaltigen) Lösun-
lernen lässt und dieser Lernprozess Voraussetzung für                 gen. Wir erkennen sie an typischen Verhaltensweisen
ein konstruktives Konfliktverhalten ist.                              der Kontrahenten, die den Verlauf noch dazu oft weiter
    Sie richtet sich an ein breites Publikum, da wir alle             verschärfen, an ablehnender Körpersprache oder Kom-
täglich mit Konflikten zu tun haben.                                  munikationsverweigerung, Dominanz- und Konkur-
    Einem assoziativen Intro schließt sich der Hauptteil              renzgesten und an verbalen oder physischen Angriffen.
DIE AUSSTELLUNG                                                                                                                 9

                                                                           Eskaliert ein Konflikt, geht es bald weniger um die
                                                                        Sache als darum, wer Recht behält oder gewinnt.
                                                                           Im Streit greifen Menschen einander persönlich
                                                                        an. In diesem Konfliktstadium geht es nicht um »gute
                                                                        Gründe«, sondern um die Beziehungsebene. Nicht nur
                                                                        in der Politik gilt es hingegen als wichtiges Gut, den un-
                                                                        sachlichen Streit zu vermeiden und trotz scheinbar un-
                                                                        vereinbarer Gegensätze einen »vernünftigen« Konsens
                                                                        zu finden. Dabei ist dieser aber durchaus nicht der ein-
                                                                        zige Weg, einen Konflikt zu beenden: Wenn eine Seite
                                                                        ihre Macht ausspielt, können Unterlegene sich zurück-
                                                                        ziehen und auf eine neue Gelegenheit warten – auch so
                                                                        können positive Veränderungen beginnen.
                                                                           Ebenso kommt es vor, dass Streitende sich erst ein-
                                                                        mal auf der Beziehungsebene einigen, bevor sie auf die
                                                                        Sachebene zurückfinden und dort eine Lösung suchen.
                                                                        Solange alle Beteiligten als gemeinsames Ziel ein gesell-
                                                                        schaftliches Zusammenleben im Auge behalten, haben
                                                                        sie einen Grund, nicht alle Brücken einzureißen. Wirk-
                                                                        lich destruktiv wird ein Konflikt erst, wenn das nicht
                                                                        mehr der Fall ist. Die Grundthese hinter der Ausstellung
                                                                        ist also eindeutig: demokratische Prozesse brauchen
                                                                        den offenen Streit!
Demonstration gegen die internationale Bau Ausstellung und die inter-      In meinen Augen braucht eine konstruktive Konflikt­
nationale Gartenschau am 23. 3. 2013 in Wilhelmsburg                    austragung eine breite Basis. Daher gibt es rund um die
                                                                        Ausstellung ein großes Netzwerk an Partnerinstituti-
   Jedem Konflikt liegen widerstreitende Interessen,                    onen. Diese tragen nicht nur zur Ausstellung bei, son-
Ziele oder Ansichten zu Grunde. Prinzipiell mögen Men-                  dern auch zum begleitend erscheinenden Ausstellungs-
schen solche Dissonanzen nicht, doch ist das Durchset-                  magazin »Konflikte« und einem wirklich sehr breiten
zen einer eigenen Position sehr häufig mit Konflikten                   Rahmenprogramm. Ein Blick aufs vielfältige Programm
verbunden. Wer sich konträr zu seinen eigenen Über-                     lohnt sich und so bleibt mir nur die Hoffnung mit vielen
zeugungen verhält, gerät hingegen in einen inneren                      Besucher:innen ins Gespräch zu kommen.
Konflikt, eine »kognitive Dissonanz«. Solche Unstim-
migkeiten sind zutiefst menschlich und gehören unwei-
gerlich zum Zusammenleben – schon deshalb, weil die
Maßstäbe, nach denen Menschen die Welt bewerten,
nicht universell sind. In Konflikten kommt oft verschär-
fend ein gegenseitiges Unverständnis hinzu: Beide Sei-
ten fragen sich, warum die jeweils andere sich »falsch«
verhält und kommen womöglich zu dem Schluss, das
Gegenüber sei dumm, starrsinnig oder bösartig. Oh-
nehin sind Vorurteile, auf denen zahlreiche Interakti-
onen beruhen, ein idealer Zündstoff für Konflikte: Sie
entstehen schnell, sind dabei höchst subjektiv und oft
widersprüchlich, aber nur schwer zu revidieren. Häufig
sind sie die Ursache dafür, dass eine Konfliktdynamik
entsteht, in der sich die Kontrahenten »hochschaukeln«.
Die Signale dafür erkennt jeder und jede intuitiv: ver-
bale oder nonverbale Zeichen von Stress und Aggres-
sion wie angespannte Körpersprache oder ansteigende
Lautstärke.
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Kirschen pflücken, oder:
Vom Arbeitskampf im Arbeits­
alltag
VON PETER BIRKE

Konflikte im Arbeitsalltag sind vielfältig, unter            von fünf Minuten pro Stunde, heute öfter aber ganz
Kol­leg*innen ebenso wie mit Vorgesetzten oder               ohne Pause. Diese Art von Kontinuität, schreibt Marx,
Arbeitgeber*innen. Dabei geht es oft auch darum,             »zerstört die Spann- und Schwungkraft der Lebens­
sich kleine persönliche und gemeinsame Freiräume zu          geister«. Der Antagonismus zwischen den Interessen
eröffnen. Der Arbeitssoziologe und Historiker Peter          von Kapital und Arbeit – der aus Marx’ Sicht ohnehin
Birke berichtet über solche kaum öffentlich sichtbaren       vor allem im Produktionsprozess selbst sich zeigt, wird
Konflikte.                                                   im Kampf um kleine freien Zeiten besonders stark zum
                                                             Ausdruck gebracht.
Ich wurde von den Herausgeber*innen dieses Hefts ge-            Heute kann man sicherlich fragen, wie man sich
beten, etwas über die »Poren des Arbeitstags« zu schrei­     diese »Poren« in Dienstleistungsarbeit vorstellen muss.
ben. Ich weiß, der Begriff bezieht sich auf Karl Marx,       Oder wie sich die positive Sicht von der »ständigen
aber was ist damit genau gemeint? Zugegeben, ich             Umstellung« bei Marx zu heutigen Debatten über flexi-
musste nachsehen:                                            ble Arbeitsverhältnisse und entgrenzte Arbeit verhält.
   »Ein Handwerker, der die verschiedenen Teilpro-           Aber, wie auch immer man diese Fragen beantwortet:
zesse in der Produktion eines Machwerks nacheinan-           Grundsätzlich ist es richtig, sich den Kampf um Arbeits-
der ausführt, muß bald den Platz, bald die Instrumente       bedingungen vor allem und nicht zuletzt als Kampf um
wechseln. Der Übergang von einer Operation zur and-          Zeit vorzustellen. Im Soziologischen Forschungsinstitut
ren unterbricht den Fluß seiner Arbeit und bildet ge-        Göttingen, in dem ich arbeite, liegen im Keller tausende
wissermaßen Poren in seinem Arbeitstag. Diese Poren          Interviews mit Arbeiter*innen, die diese Behauptung
verdichten sich, sobald er den ganzen Tag eine und die-      bestätigen. In einem Projekt über Werftarbeit in den
selbe Operation kontinuierlich verrichtet, oder sie ver-     frühen 1980er Jahren, das mein Kollege Felix Bluhm
schwinden in dem Maße, wie der Wechsel seiner Ope-           analysiert hat, nannten die Arbeiter es »Luft schreiben«,
ration abnimmt. … Andrerseits zerstört die Kontinuität       wenn sie für Tätigkeiten, die der Meister nicht so recht
gleichförmiger Arbeit die Spann- und Schwungkraft der        einschätzen konnte, mehr Zeit aufschrieben als sie tat-
Lebensgeister, die im Wechsel der Tätigkeit selbst ihr Er-   sächlich brauchten. Oder, aus einer anderen Studie,
holung und ihren Reiz finden.« (MEW 23, S. 360)              Ende der 1990er Jahre, die ich selbst erneut ausgewer-
   Eine Pore ist ein Begriff aus der Biologie. Er bedeu-     tet habe: In einem Automobilzuliefererbetrieb geht eine
tet »Durchlässigkeit für Luft, Wasser und andere Stoffe«.    Maschine kaputt, die Arbeiterin darf den Schaden nicht
Auf den Arbeitstag bezogen ist es eine Metapher – die        selbst beheben (obwohl sie das könnte), der Elektriker
Umstellung, die die Handwerkerin vornimmt, macht             kommt, ein Bekannter: Dabei kann man, sagt sie, »Zeit
ihren Arbeitstag »durchlässiger«, »luftiger«. Die, auch in   gewinnen«.
diesem Werk aus dem 19. Jahrhundert schon erkannte,             Zeit-gewinnen, Sich-Luft-verschaffen, Spann- und
Kontinuität und Gleichförmigkeit industrieller Arbeit,       Schwungkraft für die Lebensgeister – das ist etwas,
setzt Marx als das Gegenteil jener »Luftigkeit«. Es sei,     was wir auch heute gut nachvollziehen können. Wer
so schreibt er, Interesse der Kapitalisten, die »Poren des   wünschte sich nicht mehr Futter für die Geister, ob im
Arbeitstags zu verschließen«. Das Ideal dieses Verschlie-    hoch-selbst-rationalisierten Home-Office oder in der
ßens ist die Arbeit am Fließband, kontinuierlich, viel-      Packstation bei einem Online-Versandhändler? Der
leicht mit einer tarifvertraglich vereinbarten Bandpause     Kampf um die Arbeitszeit verbindet abhängig Beschäf-
POREN DES ARBEITSTAGS                                                                                                      11

                   Autoreifen als Unterlage für die Frühstückspause, Phoenix Gummiwerke AG Harburg 1963,
                   Foto Horst Janke

tigte in ganz verschiedenen Situationen. Und er bleibt            den sehr wenige Arbeitsschritte in einem sehr hohen
dennoch oft diskret, geheim, möglichst unentdeckt,                Tempo verrichtet: Ware aufnehmen, scannen, Ware ab-
eine verschwiegene und zugleich elementare Form des               legen, Ablagefach scannen, nächste Ware aufnehmen.
Arbeitskampfes. Das macht es schwer, konkret zu be-               Vielfach ist in der arbeitssoziologischen Debatte diese
schreiben, worum es sich handelt.                                 Tätig­keit als Musterbeispiel für einen »digitalen Taylo-
   Es wird unter anderem deshalb kompliziert, weil die            rismus« genommen worden: Das Management ist in der
Poren des Arbeitstags nicht einfach durch individuel-             Lage, in Echtzeit alles über das momentane Tempo des
les Arbeitshandeln, oder genauer, durch eine indivi-              ­Packers / der Packerin zu erfahren, woraus es auch kein
duelle Auseinandersetzung von Arbeitenden mit ihren                Geheimnis macht. Im Gegenteil: Nimmt das Tempo ab,
Vorgesetzen geöffnet oder geschlossen werden. Klarer-              gibt es ein freundlich-unfreundliches Gespräch mit dem
weise spielt der Einzelne / die Einzelne hier eine wich-           Vorgesetzten.
tige Rolle – er / sie muss wissen, wie es geht, das »Luft             Oder es kann jedenfalls solch ein Gespräch geben,
schreiben« oder das »Zeit gewinnen«. Aber der Arbeits-             und alle wissen das, was das Gespräch selbst in den
prozess muss bekannt sein, es muss Absprachen mit                  meisten Fällen bereits überflüssig macht. Keinerlei
Kolleg*innen geben, die entsprechenden Techniken                   Möglichkeit, auch nur eine kleine Pore zwischen diesen
müssen geteilt, verstanden werden, und umso mehr in-               Zeiten zu finden. Oder?
sofern Vertrauen und Kooperation im Spiel sind, wenn                  Bei näherem Hinsehen fanden wir, dass das falsch ist:
erfolgreich Zeit gewonnen werden soll. Mit anderen                 Es stellt sich nämlich heraus, dass der Betrieb a.) vor al-
Worten: Es handelt sich nicht nur um die elementare                lem Stückzahlen misst und b.) jedoch sehr unterschied-
Form des Arbeitskampfs, sondern vor allem und nicht                liche Waren eingelagert werden müssen, zum Beispiel
zuletzt um eine elementare Form kollektiven Handelns.              ein Kugelschreiber oder eine Kaffeemaschine. Dass das
Ein Beispiel:                                                      ein Unterschied ist, kann sich wohl jeder vorstellen. Ein
   In einer unserer letzten SOFI-Untersuchungen wa-                befragter Kollege nennt das, was daraus für das »Zeit ge-
ren wir in einem großen Versandhandelsunternehmen.                 winnen« folgt, »cherry picking.« Kirschen pflücken. Ich
Die Arbeit dort gilt als sehr stark »repetitiv«, es wer-           habe das in letzter Zeit in Diskussionen über die Arbeit
12                                                                                                  POREN DES ARBEITSTAGS

im Online-Versandhandel immer mal wieder als Bei-                 Man kann die geforderte Stückzahl ablehnen, mehr
spiel für die Möglichkeit genannt, selbst in extrem ar-           Pausen fordern, mehr Pausen machen usw.
beitsteiliger Produktion ein Stück selbstbestimmtes Ar-              Was aber auch immer man sich einfallen lässt, inter-
beiten aufrecht zu erhalten. Eine Kollegin aus unserem            essant ist, dass der Kampf um die Poren des Arbeitstags
Institut hat diese Behauptung hinterfragt: »Mit Kirschen          nicht nur eine Sache zwischen Kapital und Arbeit ist,
pflücken«, sagt sie, »verbinde ich eher, dass sich alle das       sondern zugleich eine Sache zwischen Kolleginnen und
Beste für sich selbst suchen. Mit dem Ellenbogen.« Das            Kollegen. Es stimmt nämlich, was meine Kollegin sagt:
klingt plausibel.                                                 Es ist keinesfalls zwingend, dass sich die Gruppe, die
   Ich muss also versuchen, genauer zu erklären, was              zusammen tätig ist, auf solidarische Lösungen einigt. Es
ich meine: Um Zeit zu gewinnen, kommt es darauf an,               kommt vielmehr durchaus und leider sehr häufig vor,
sich mit der Person zu verständigen, die entweder e  ­ inen       dass »die Neuen«, »die Anderen« [man setze hier eine
Kugelschreiber oder eine Kaffeemaschine an die Pack-              ethische oder sonstige Zuschreibung ein] immer die
station bringt. Viele Kugelscheiber = mehr Poren im Ar-           Kaffeemaschinen bekommen. Und »wir«, eben welches
beitstag. Die Art und Weise aber, wie diese Verständi-            »Wir« auch immer, die Kirschen bzw. die Kugelschrei-
gung geschieht, hat viele Variablen: Man kann die Person          ber. Arbeitskampf ist nicht zwingend und notwendig
kennen, man kann zu einer Gruppe gehören, mit der die             eine Übung in Solidarität. Oder anders: Solidarität muss
Person sich identifiziert. Man kann aber auch Abspra-             geübt werden, auf den Begriff gebracht werden. Über
chen dieser Art treffen: Mehr Kugelschreiber für ältere           Solidarität muss man sich vielleicht diskret, immer je-
Kolleg*innen, und die Jungen übernehmen die Kaffee-               doch aktiv verständigen. Eine gemeinsame Idee von
maschinen. Oder man kann sich, so dass es zum offe-               Gerechtigkeit, der über das Betriebliche hinaus und
nen Kampf kommt, gemeinsam verweigern: Man kann                   auf das Gewerkschaftliche verweist, ist eine wichtige
die Qualität der Arbeit in Frage stellen, wenn es nur um          Voraus­setzung: Zum Beispiel, dass alle ein Recht auf ein
Geschwindigkeit geht (natürlich kann man auch so ein-             gutes Leben und freundliche Lebensgeister haben. Un-
lagern, dass die Kollegin, die die Kaffeemaschine wieder          abhängig vom Alter, Geschlecht und Hautfarbe.
aus dem Regel holt, damit größte Schwierigkeiten hat).               Soviel zu den Poren des Arbeitstags.

                    Frühstückspause im Straßenbahn-Depot 1949, Foto Germin
ARBEITSGERICHTSBARKEIT                                                                                                       13

Von der Ehre zu richten
VON SIGRID THOMSEN

Aus: KOMPAKT Nr. 5/2020, Mitgliedermagazin der IG BCE, Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion (leicht gekürzt)

Über Konflikte in der Arbeitswelt entscheiden Ar-                  sprechung und ihre Legitimation.« Sie sind »den Berufs-
beitsgerichte. Ehrenamtliche Richterinnen und Richter,             richtern gleichwertige Mitglieder der Richterbank«. Als
benannt von Gewerkschaften einerseits und Arbeit-                  äußeres Zeichen dafür tragen sie in Hamburg sogar eine
geberverbänden andererseits, urteilen dabei gleich-                Robe.
berechtigt mit Professionellen. Ein Beitrag von Sigrid                »Von den ehrenamtlichen Richtern profitieren wir
Thomsen für die Mitgliederzeitschrift der Industrie-               enorm«, findet die Vizepräsidentin des Landesarbeits-
gewerkschaft Bergbau Chemie Energie, KOMPAKT,                      gerichts Hamburg, Birgit Voßkühler. »Sie bringen einen
beschreibt, wie Gewerkschaftsmitglieder als ehren-                 guten Blick für Problemlagen im Alltag ein, und sie tra-
amtlich Richtende einer realitätsnahen Rechtsfindung               gen ihr Wissen darüber, wie solide hier Entscheidungen
dienen – zum Beispiel ein gelernter Kfz-Mechaniker                 gefällt werden, dann ja auch in die Gesellschaft«. Dabei
aus dem Betriebsrat von Evonik Industries in Essen:                ist ihre Rolle eindeutig: »In den Beratungen sprechen
   Dirk Petrawitz übt dieses Amt schon seit 15 Jahren              sie aus ihrer jeweiligen Sicht, aber bei der Entscheidung
aus, das sind drei Amtsperioden. Benannt von der Ge-               lösen sie sich von der Arbeitgeber- oder Arbeitnehmer-
werkschaft, ist er einer von zwei ehrenamtlichen Rich-             rolle. Da vertreten sie die Interessen des Rechtstaates.«
tern in einer Kammer des Arbeitsgerichts. Gemeinsam                   Man könne gar nicht immer auf der Arbeitnehmer-
mit dem oder der zweiten, von der Arbeitgeberseite be-             seite sein, das beschreibt Andreas Ostdorf an einem an-
nannten Ehrenamtlichen und einem hauptamtlichen                    deren Fall, in dem ein Schwerbehinderter immer wieder
Richter fällt er Urteile bei Konflikten um Arbeitszeit,            gegen seine Ablehnung bei Stellenbewerbungen klagte:
Kündigungen, Zeugnisse, Zahlungen. Vor jeder Sitzung               »Er war oft gar nicht qualifiziert, aber er lebte von den
treffen sich die drei am Arbeitsgericht und gehen Fall             Wiedergutmachungsgeldern, die Unternehmen zahlen
für Fall durch. »Der hauptamtliche Richter erklärt uns             müssen, wenn sie Schwerbehinderte nicht in Erwägung
den Schriftverkehr und die Brisanz eines Falles«, erzählt          gezogen haben.«
Petrawitz. »Doch wir dürfen während des Verfahrens                    Beim Arbeitsgericht Essen ist es nicht immer üb-
auch Fragen stellen. Wir können ihn bei der Entschei-              lich, dass die Ehrenamtlichen spontan während der
dung sogar überstimmen.«                                           Verhandlung wichtige Fragen stellen. »Das macht der
   Andreas Ostdorf, ehrenamtlicher Richter am Ar-                  hauptamtliche Richter«, berichtet Andreas Ostdorf. »Wir
beitsgericht Essen, hat das schon erlebt: »Es ging um ein          diskutieren vorher und nachher. Wenn sich während
Busfahrunternehmen, das seinen Fahrern während der                 der Verhandlung wichtige Fragen ergeben, schiebe ich
Ferien keinen Lohn gezahlt hatte«, erzählt der Gesamt-             sie ihm auf Zetteln zu.«
betriebsratsvorsitzende der RAG Montan Immobilien.                    Dirk Petrawitz schätzt, dass bei Gericht keine »Herz-
»Nach unserem Urteil musste der Lohn nachgezahlt                   und Bauch-Entscheidungen« gefällt werden: »Es zählen
werden, und der Richter musste sein schon vorbereite-              nur die Tatsachen. Doch selbst wenn ein Arbeitnehmer
tes Urteil neu schreiben.«                                         Recht hat, ist oft das Verhältnis zerstört, dann einigt man
   »Ehrenamtliche Richter bringen ihre Sachkunde und               sich auf einen Vergleich.«
ihre Erfahrungen aus dem Arbeitsleben in die Recht-                   Wo es keine Einigung gibt und ein Urteil oder Be-
sprechung ein«, heißt es im Leitfaden des Hamburger                schluss vom Gericht gefällt wird, kann eine der Pro-
Arbeitsgerichts für ehrenamtliche Richterinnen und                 zessparteien die nächste Instanz anrufen, das Landesar-
Richter. »Hierdurch erhöhen sie die Qualität der Recht-            beitsgericht. Auch dort entscheiden die hauptamtlichen
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Richterinnen und Richter über Berufungen und Be-                   Konflikten am Arbeitsplatz sind jedoch auf der Strecke
schwerden gemeinsam mit Ehrenamtlichen, die selbst                 geblieben. Dabei spielten Konfliktkommissionen als be-
Laien sind. Voraussetzung dafür ist ein Mindestalter von           triebliche Instanzen zur Beilegung von Streit eine wich-
30 Jahren und fünf Jahre Erfahrung am Arbeitsgericht.              tige Rolle: »Bei uns gab es für rund 400 Beschäftigte drei
Letzte Instanz ist das Bundesarbeitsgericht in Erfurt. Es          Konfliktkommissionen mit sechs bis zwölf Mitgliedern«,
entscheidet über Revisionen und Beschwerden gegen                  erinnert sich Gisbert Schmidt, einst Gewerkschaftsse-
Beschlüsse der Landesarbeitsgerichte. Urteile des Bun-             kretär der IG BCE im Bezirk Halle-Magdeburg und bis
desarbeitsgerichts prägen auch die Rechtsprechung der              zur Wende in einem Ingenieurbetrieb für den Bergbau
unteren Instanzen und bilden sozusagen Leitlinien.                 tätig.
    Da in Erfurt nur noch über Rechtsfragen und nicht                 Sie wurden von der Personalleitung und der betrieb-
mehr über Tatsachen gestritten wird, sei es besser, wenn           lichen Gewerkschaftsleitung ausgesucht und befassten
die ehrenamtlichen Richter und Richterinnen auch                   sich mit allen möglichen Fällen: der Anerkennung von
Juristen sind, erklärt Ursula Salzburger von der IG-               Berufskrankheiten, Konflikten mit Vorgesetzten, unge-
BCE-Abteilung Justiziaria t/ Recht /Compliance, selbst             rechter Behandlung, Kündigung. »Wir konnten Strei-
ehrenamtliche Richterin am Bundesarbeitsgericht. »Eh-              tigkeiten meist schnell lösen und die Fälle damit von
renamtliche Richter können an der Rechtsgeschichte                 den Gerichten fernhalten«, erzählt Gisbert Schmidt, der
mitschreiben«, sagt der Jurist und Leiter der Abteilung            heute Betriebsräte im Arbeitsrecht schult. »Die Kollegen
Peter Voigt, »wie 2018 bei der Entscheidung des Bundes-            hatten weniger Scheu, vor die Kommission zu kommen,
sozialgerichts über Unfälle im Homeoffice: Dass es auch            denn sie kannten ja die Mitglieder, anders als heute
in den eigenen vier Wänden Arbeitsunfälle geben kann,              beim Arbeitsgericht.«
ist seitdem anerkannt.«                                               Der erste Schritt im gerichtlichen Verfahren in der
    Dass das Bundesarbeitsgericht 1999 von Kassel nach             Bundesrepublik sind die Güteverhandlungen, die ohne
Erfurt umzog, sollte »der Wiedervereinigung Deutsch-               Ehrenamtliche nur mit der oder dem Vorsitzenden der
lands einen sichtbaren Ausdruck verleihen«, heißt es in            Kammer geführt werden. Ein großer Teil der Konflikte
seinem Internetauftritt. Verfahrensweisen der DDR mit              wird dort bereits beigelegt, weiß Birgit Voßkühler.

                 Verhandlung vor dem Arbeitsgericht, Hamburg 1962, Foto Germin
BETRIEBSRÄTE                                                                                                    15

1920–1952–1972: Die Betriebs­
verfassungen und die verrechtlichten
Arbeitsbeziehungen
VON KNUD ANDRESEN

Eine rechtlich abgesicherte Mitbestimmung im Betrieb          Das Gesetz war ein Kompromiss. Arbeitgeberver-
hat in Deutschland eine lange Tradition und gehört zu      bände fürchteten eine Einflussnahme auf wirtschaft­
den Kennzeichen der Konfliktregulierung in den deut-       liche Abläufe und wollten daher den Betriebsräten nur
schen Arbeitsbeziehungen. Auch in anderen Ländern          eine beratende und kooperierende Funktion zugeste-
gibt es Arbeitsgerichtsprozesse, Betriebsvertretungen      hen. Seitens der Gewerkschaften gab es Skepsis, ob mit
der Beschäftigten und vieles mehr. Aber in Deutschland     Betriebsräten nicht Parallelorganisationen entstehen
war die historische Entwicklung schon früh darauf ge-      könnten. Betriebsräte mussten nicht in den Gewerk-
richtet, die Arbeitsbeziehungen zwischen Beschäftigten     schaften sein, aber Gewerkschaftsvertreter:innen als be-
und Unternehmer:innen im Betrieb rechtlich verbind-        ratende Stimme zugelassen werden, wenn es von einem
lich zu regeln. Grundlage waren drei Gesetze: Das Be-      Viertel der Belegschaft gefordert wurde. Die Bestim-
triebsrätegesetz von 1920, das Betriebsverfassungsgesetz   mungen des Gesetzes zielten auf kooperative Beziehun-
von 1952 und die Novellierung des Betriebsverfassungs-     gen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, Mitbestim-
gesetz von 1972. Die drei Gesetze legten Mitwirkungs-      mung bezog sich vor allem auf soziale und personelle
rechte und Interessensvertretungen im Betrieb fest, und    Aspekte. Über wirtschaftliche Fragen sollten Arbeitge-
zugleich waren sie Ergebnisse von Auseinandersetzun-       ber nur gelegentlich informieren. Gewerkschaften und
gen auch in der Arbeiterbewegung und den Gewerk-           SPD verbanden damit zwar die langfristige Hoffnung,
schaften. Da diese betriebliche Demokratie bis heute       dass die Arbeiter:innen langfristig auf die Übernahme
die »Konfliktpartnerschaft« in den Arbeitsbeziehungen      der wirtschaftlichen Führung vorbereitet werden. Aller-
prägt, sollen die Umstände der Gesetzeseinführungen        dings wurden weitere Gesetze zur Mitbestimmung, so
und ihre Auswirkungen skizziert werden.                    für übergeordnete Wirtschaftsräte oder Mitbestimmung
   Das Betriebsrätegesetz von 1920 war in der Arbeiter-    im Aufsichtsrat, zwar diskutiert, aber in der Weimarer
bewegung sicherlich das am meisten umstrittene. Die        Republik nicht mehr erlassen. Entschieden abgelehnt
Novemberrevolution 1918 hatte die Spaltung innerhalb       wurde der Gesetzesentwurf von USPD und KPD. Auf
der Arbeiterbewegung verschärft. Während die Mehr-         einer Demonstration gegen die Verabschiedung kam
                                                           ­
heitssozialdemokratie und die Gewerkschaften für eine      es vor dem Reichstag im Januar 1920 zu einem Blutbad
parlamentarische Demokratie eintraten und sich durch-      mit mehreren Dutzend Toten, als die Polizei das Feuer
setzten, forderte eine starke Minderheit ein politisches   eröffnete.
Rätesystem und die Kontrolle der Betriebe. In die Wei-        In den Jahren der Weimarer Republik etablierte sich
marer Verfassung war die Einrichtung von Räten auf-        das Betriebsrätegesetz. Die Praxis differierte zwischen
genommen worden, erweitert noch um Wirtschaftsräte         industriellen Branchen, abhängig davon, ob die Unter-
auf regionaler und reichsweiter Ebene. Das Betriebs-       nehmensverbände auf die Konfliktregulierungen sich
rätegesetz war die Ausführungsbestimmung dieses Ver-       einzulassen bereit waren oder nicht. Seitens der Arbei-
fassungsartikels. Diese wurde entwickelt anhand der        terbewegung ebbte die grundsätzliche Kritik bald ab,
Regelungen des seit 1916 geltenden Hilfsdienstgesetzes,    auch die KPD versuchte über Betriebsräte ihren Einfluss
mit dem bereits betriebliche Arbeiterausschüsse gebil-     auszubauen. Die ökonomischen Krisen der Weimarer
det worden waren und die Gewerkschaften als Reprä-         Republik verhinderten jedoch, dass eine dauerhafte
sentanten der Beschäftigten durch den Staat anerkannt      Konfliktkooperation erfolgte. Die Nationalsozialisten
wurden.                                                    lehnten den im Betriebsrätegesetz verankerten Grund-
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         Kundgebung für mehr Gewerkschaftsmitwirkung im Betriebsverfassungsgesetz 1952, Foto unbekannt

gedanken der Partizipation ab und hoben das Gesetz                von den West-Alliierten 1947 mit durchgesetzt worden.
1934 auf.                                                         Die Hoffnungen der Gewerkschaften richteten sich auf
   Nach dem Ende des Nationalsozialismus begann der               eine Ausweitung der Montan-Mitbestimmung auf alle
Aufbau der betrieblichen Demokratie in unterschied­               Großindustrien, als in der 1949 gegründeten Bundes-
lichem Tempo. Häufig mussten erst die Betriebe wieder             republik die betriebliche Mitbestimmung bundesein-
aufgebaut werden, manchmal auch von selbst einge-                 heitlich geregelt werden sollte. Der DGB konzentrierte
setzten Betriebsräten. Bald galten in den vier alliierten         sich auf die Durchsetzung dieser wirtschaftlichen Mit-
Besatzungszonen verschiedene Bestimmungen, auch                   bestimmung und stellte die Regelung von Betriebsräten
der Aufbau von Gewerkschaften erfolgte in unterschied-            erstmal zurück. Als aber 1950 die Montanmitbestim-
lichem Tempo. In der sowjetischen Zone und der spä-               mung seitens der konservativen Bundesregierung abge-
teren DDR war der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund                schafft werden sollte, wurde nach einer Urabstimmung
(FDGB) schon im Juni 1945 als Zentralgewerkschaft                 die hohe Streikbereitschaft der Belegschaften deutlich –
konzipiert, und 1948 wurden Betriebsräte abgeschafft.             schließlich wurde im April 1951 ein Gesetz zur Montan-
Nach sozialistischem Verständnis gehörten die Betriebe            mitbestimmung im Bundestag verabschiedet. Aber die
dem Volk, daher gäbe es keinen strukturellen Konflikt             Gewerkschaften gerieten nach diesem Erfolg mit ihren
mehr zwischen Arbeit und Kapital. Die Gewerkschaften              Vorstellungen zur Neuordnung der Wirtschaftsbezie-
hatten in den Betrieben eine wichtige Rolle, vor allem            hungen in die Defensive. Das Betriebsverfassungsgesetz
bei sozialen Fragen wie der Urlaubsgestaltung, aber               von 1952 wurde von den Parteien der Bundesregierung –
auch bei Diskussionen um die Planerfüllung.                       CDU/CSU, FDP und Deutsche Partei – ausgehandelt, die
   In den drei Westzonen erfolgte der Aufbau von Ge-              Gewerkschaften waren kaum beteiligt. Daher galt die
werkschaften und Betriebsdemokratie dezentral. Zum                Einführung im Sommer 1952 als Niederlage der Ge-
Teil gab es weitreichende Mitbestimmungsmöglichkei-               werkschaften. Die Neuordnung der Unternehmensmit-
ten, so Minderheitsvertretungen für weibliche und ju-             bestimmung war außer in der Montanindustrie miss-
gendliche Beschäftigte. In der Montan-Industrie, (Eisen-          lungen, und die Situation von Betriebsräten war dabei
und Stahlproduktion und später auch Bergbau) war                  untergegangen. Nun galten weitgehend wieder die Re-
eine paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat auch              gelungen des alten Betriebsrätegesetzes, zudem wurde
BETRIEBSRÄTE                                                                                                      17

die Sozialpartnerschaft festgeschrieben. In Aufsichtsräte   worden, vor allem in der Frage der Wirtschaftsführung
waren nur ein Drittel Arbeitnehmervertreter:innen zu        gab es weiterhin nur Informationsrechte. Dennoch be-
entsenden. Zwar hatten Betriebsräte etwas mehr Ein-         deutete das Gesetz einen Professionalisierungsschub
fluss auf personelle Entscheidungen, aber kaum Ge-          für viele Betriebsräte, die nun über die traditionellen
staltungsmöglichkeiten, sondern überwiegend nur eine        Schutzrechte hinaus mehr Gestaltungsmöglichkeiten
Überwachungsfunktion. Gewerkschaften hatten keine           erhielten. Im Bereich des Arbeitsschutzes und belas-
rechtlich gesicherte Funktion im Betrieb, und Befürch-      tender Arbeitsumgebungen konnten Betriebsräte nun
tungen eines »Betriebsegoismus« der Interessenvertre-       vorbeugende Maßnahmen mit vorantreiben. Hingegen
tungen kamen wieder auf.                                    wurde die paritätische Mitbestimmung in Aufsichts­
   Es kam zu einer Führungskrise, der DGB-Vorsitzende       räten weiterhin verhindert. Das Mitbestimmungsgesetz
Christian Fette wurde noch 1952 abgewählt. Gegenüber        von 1976 schuf zwar formal eine paritätische Besetzung
der Bundesregierung, so der Vorwurf, sei die Gewerk-        von Kapital- und Arbeitnehmerbank. Aber leitende An-
schaftsführung zu vertrauensselig vorgegangen – ge-         gestellten wurden der Arbeitnehmerbank zugerechnet
werkschaftliche Ideen einer Neuordnung der Wirtschaft       und der Vorsitzende hatte ein doppeltes Stimmrecht.
waren gescheitert. Die Arbeitgeber waren vor allem an-      Eine effektive wirtschaftliche Mitbestimmung, seit 1949
fangs bemüht, die Gewerkschaften als »betriebsfremde        ein wesentliches Ziel der Gewerkschaften, war endgültig
Organisationen« aus den Aufsichtsräten herauszuhalten       gescheitert.
und die Betriebsräte, ganz überwiegend gewerkschaft-           Das Betriebsverfassungsgesetz wurde immer wie-
lich organisiert, von den Gewerkschaften zu entfrem-        der geändert, so gab es ab 1986 Jugend- und Auszu-
den. Dies gelang jedoch nicht. Mit dem wirtschaftlichen     bildendenvertretungen, da bei der alten Regelung nur
Aufschwung etablierte sich ein »neuer Betriebsstil«, der    Jugendliche bis 18 Jahre wählen durften, aber das Le-
auch aus neuen Managementkonzepten eines weniger            bensalter von Auszubildenden kontinuierlich anstieg.
hierarchisch und militärisch geprägten Führungsstils        2001 wurden Interessensvertretungen in Kleinbetrie-
erwuchs, der sich – wenn auch nur sehr langsam – in         ben einfacher möglich, aktuell ist wieder ein »Betriebs-
den 1960er Jahren durchzusetzen begann.                     rätemodernisierungsgesetz« beschlossen worden (siehe
   Ende der 1960er Jahre war die Demokratisierung zu        Text von Matthias Bartke). Trotz dieser Überarbeitungen
einem gesellschaftlich dominierenden Thema gewor-           markieren die Gesetze von 1920, 1952 und 1972 die ent-
den, eine Reform der Betriebsverfassung wurde von           scheidenden Weichenstellungen für die verrechtlich-
den Gewerkschaften wieder auf die Agenda gesetzt. Die       ten Arbeitsbeziehungen in Deutschland. 1920 noch mit
DGB-Gewerkschaften legten 1967 einen neuen Geset-           scharfen Konflikten in der Arbeiterbewegung, war es
zesentwurf vor, mit dem sie betriebliche Interessenver-     nach dem Zweiten Weltkrieg weniger ein innergewerk-
tretungen erheblich ausbauen wollten. Ab 1968 wurde         schaftlicher als ein politischer Konflikt mit der Bundes-
die »Aktion Mitbestimmung« mit Veranstaltungen und          regierung und das Scheitern einer wirtschaftsdemokra-
Kundgebungen gestartet. Die Gewerkschaften trieben so       tischen Neuordnung der jungen Bundesrepublik. Die
die Reformdebatte voran, die noch unter der Großen Ko-      Gewerkschaften arrangierten sich mit dem Gesetz, die
alition einsetzte und dann unter der neuen sozial-libera-   Neuordnungsvorstellungen traten nach und nach in den
len Koalition unter Willy Brandt ab Herbst 1969 schnell     Hintergrund. 1972 brachte die Neufassung erheb­liche
Fahrt aufnahm. Ende 1971 war das parlamentarische           Kompetenzerweiterungen, die, oft mit arbeitsrechtli-
Verfahren abgeschlossen, das neue Betriebsverfassungs-      chen Auseinandersetzungen, gefestigt und ausgebaut
gesetz trat im Januar 1972 in Kraft. Die Einflussmöglich-   wurden. Zu allen Zeiten aber war zu beobachten, dass
keiten für Betriebsräte waren nun erheblich erweitert.      betriebliche Konflikte zwar einen gesetzlichen Rahmen
Bei sozialen und personellen Angelegenheiten waren          hatten, aber dennoch in den Betrieben beständig aus-
Veto- und Zustimmungsrechte verbessert worden, bei          gekämpft und verhandelt werden mussten. Dies gelang
der Personalplanung konnten nun auch eigene Vor-            und gelingt den Interessenvertretungen nur mit einem
schläge eingebracht werden. Mitbestimmungspflichtig         hohen Organisationsgrad im Rücken – denn betrieb­
waren auch Aus- und Weiterbildung oder Informations-        liche Interessenvertretung bleibt gemeinsames Handeln
und Beratungsrechte bei Betriebsänderungen. Auch            der abhängig Beschäftigten.
die Entlohnungsmethoden konnten stärker kontrol-
liert und gestaltet werden. Die Gewerkschaften erhiel-
ten nun ein abgesichertes Zugangsrecht zum Betrieb.
Es waren zwar nicht alle ihre Forderungen umgesetzt
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Konflikte in Betrieben –
eine gespaltene Welt
VON MARTIN DIECKMANN

Die Säulen der »Konfliktpartner-                                                    Diese erschreckenden Zahlen re-
schaft« für Beschäftigte sind in den               Westdeutschland               lativieren sich aber durch die An-
Betrieben Gewerkschaften und Be-                                                 zahl der Beschäftigten, die einen Be-
triebsräte, die über Arbeitsbedin-                                               triebsrat haben. Dies liest sich dann
gungen, aber auch Qualifizierung,            66%               41%               so: 1996 hatten 51 % (West) und 43 %
Gesundheit, Schutz vor Diskrimi-                                                 (Ost) der Beschäftigten einen Be-
nierung und vieles mehr verhan-                                                  triebsrat. Der darauf folgende Rück-
deln. Diese Welt ist ungeheuer bunt,            1996               2019          gang war im Westen stärker als im
vielfältig, gerade was die Art be-                                               Osten. 2019 waren noch 41 % (West)
                                                   Ostdeutschland
trifft, in der Interessenkonflikte aus­                                          und 36 % (Ost) der Beschäftigten
gehandelt und ausgetragen werden.                                                durch einen Betriebsrat vertreten –
Aber nicht alle Beschäftigten profi-                                             siehe Grafik 2. In vielen Klein- und
                                                               28%
tieren von diesen Säulen. Der Blick          48%                                 Kleinstbetrieben hat es auch früher
auf die Statistiken zeigt, wie groß                                              selten Betriebsräte gegeben. Die ent-
die Anzahl von Betrieben ist, in der                                             scheidenden Veränderungen betref-
es gar keinen Betriebsrat gibt. Un-             1996               2019          fen auch weniger die Kleinbetriebe,
tersuchungen zeigen, wie extrem                                                  im Übrigen auch nicht die Großbe-
hart Gründungen von Betriebsräten Grafik 1: Reichweite von Tarifverträgen       triebe mit eher stabilen Betriebsrats-
auch bekämpft werden. Wie sieht                                                 strukturen, sondern eher mittlere
also die Realität der regulierten Konfliktpartnerschaft in Unternehmen mit zwischen 100 und 500 Beschäftigten.
Deutschland aus?                                            Dies ist auch insofern von Bedeutung, als die Anzahl der
    Tatsächlich werden, in der Rückschau auf die ver- Großbetriebe eher zugenommen, die Anzahl der Klein-
gangenen 30 Jahre, immer weniger Beschäftigte von und Kleinstbetriebe eher abgenommen hat. Insgesamt
Betriebsräten vertreten. Und hier gibt es zudem noch ist die Zahl der Betriebe auch in der Verteilung nach
eine extreme Differenz zwischen West und Ost. Diese Größenklassen erstaunlich stabil. Angesichts der vielen
Entwicklung lässt sich an der Reichweite von Tarifver- Betriebsauslagerungen, Unternehmensspaltungen bzw.
trägen ablesen. Waren 1996 noch 66 % (West) und 48 % Outsourcing heißt dies nichts anderes als: Im selben
(Ost) der Beschäftigten in der Privatwirtschaft tarifge- Maße, wie Betriebe untergegangen sind, wurden neue
bunden, waren es 2019 nur noch 41 % (West) und 28 % gegründet.
(Ost) – siehe Grafik 1.                                         Dies sind Entwicklungstendenzen quer über alle
    Bei den Betriebsräten muss man zwischen der An- Branchen der Privatwirtschaft. Genauso wie beim
zahl der Betriebe einerseits und der Anzahl der Beschäf- Thema Tarifbindung gibt es hier enorme Unterschiede
tigten andererseits unterscheiden. Von allen Betrieben, zwischen einzelnen Branchen und Branchentypen. Im
in denen rechtlich ein Betriebsrat möglich ist, hatten Baugewerbe etwa gibt es vergleichsweise viele Betriebe
1996 12 % (West) und 11 % (Ost) einen Betriebsrat. Dies ohne Betriebsrat, was gerade an dem hohen Anteil von
veränderte sich über die Jahre so weit, dass 2019 nur Subunternehmen und von Handwerksbetrieben liegt.
noch jeweils 9 % der Betriebe in Ost und West einen Be- Dies wird abgefedert durch viele allgemeinverbind­
triebsrat hatten.                                           liche Tarifverträge, die auch für Unternehmen gelten,
BETRIEBSRÄTE                                                                                                     19

die nicht Mitglied eines Verbandes                                          erst recht für die Gründung eines
                                                    Westdeutschland
sind.                                                                       Betriebsrats. Beim Vorgehen gegen
    Gewerkschaften sind bei Betrie-                                         Beschäftigte, die einen Betriebsrat
ben mit Betriebsräten stark vertre-                                         gründen wollen, sticht zweierlei
ten, jedenfalls durch Gewerkschafts-         51%                41%         hervor: Zum einen sind es meistens
mitglieder in Betriebsräten. Der                                            inhabergeführte Betriebe, in denen
Anteil der Gewerkschaftsmitglieder                                          diese Auseinandersetzungen eska-
in Betriebsräten ist durchschnitt-               1996             2019      lieren. Zum anderen sind in hohem
lich meist doppelt so hoch wie der                                          Maße Anwälte daran beteiligt, die
                                                     Ostdeutschland
Anteil der Gewerkschaftsmitglieder                                          sich geradezu qualifiziert haben für
in den Belegschaften. Gleichzei-                                            Betriebsratsverhinderung und da-
tig ist der Frauenanteil unter den                                          mit für sich werben.
                                             43%                36%
Betriebsratsmitgliedern gestiegen,                                             In Betrieben ohne Betriebsrat zu
wobei er immer geringer ist als der                                         arbeiten, mag auf den ersten Blick
Frauenanteil in der Belegschaft. Be-                                        kein Problem sein. Vieles verlagert
fristet Beschäftigte sind so gut wie             1996             2019      sich dann entweder auf die Kommu-
gar nicht vertreten – was wegen der                                         nikation mit den Vorgesetzten oder
unsicheren Beschäftigungssituation Grafik 2: Vertretung der Beschäftigten   gleich mit dem Chef, sicherlich auch
                                        durch einen Betriebsrat
nachvollziehbar ist.                                                        untereinander in der Belegschaft.
    Jenseits der Welt der Betriebe mit Betriebsrat wird Gerade in sich »postmodern« gebenden Unternehmen
vor allem das Thema Betriebsrat zum Zentralpunkt von kultiviert man das als Alternative zum »Bürokratismus«
Konflikten. Auch wenn gesetzliche Änderungen (2002) der betrieblichen Mitbestimmung. Erst dann – und ge-
die Gründung von Betriebsräten in kleineren Betrieben nau das geschah 2000 mit dem massiven Zusammen-
erleichtert haben, sind die Angriffe auf Beschäftigte, die bruch der New Economy in den New Media Betrieben –
für die Gründung eines Betriebsrats eintreten, erheb- wenn Entlassungen oder sogar Betriebsschließungen
lich. Etwa jede sechste Betriebsratsgründung wird mas- anstehen, kommt die Quittung. Es gibt ohne Betriebsrat
siv vom Arbeitgeber bekämpft. Dies ist in jedem Fall ein keinen Sozialplan und anders als gemeinhin angenom-
klarer Rechtsbruch. Dem Arbeitgeber ist es grundsätz- men, gibt es auch keinen einfachen gesetzlichen An-
lich untersagt, Betriebsratsarbeit zu behindern. Das gilt spruch auf Abfindung.

                        Beschäftigte in Betrieben mit Branchentarifvertrag, 1996 bis 2020
                        Anteile in Prozent
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                                                      Gesamtwirtschaft West
                                                      Privatwirtschaft West
                                                                                   Anmerkung: Privatwirtschaft
                                                      Gesamtwirtschaft Ost         ohne Landwirtschaft
                                                                                   und Organisationen ohne
                                                      Privatwirtschaft Ost         Erwerbszweck

                   Quelle: IAB Betriebspanel, © IAB
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