Arbeit - Arbeit im Konflikt - Nr. 25 / 2021 - Freunde des Museums der Arbeit e.V.
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
mit arbeit Nr. 25 / 2021 Arbeit im Konflikt
Bildnachweis: Altonaer Museum: 61 Archiv Museum der Arbeit: U1 (2), U4 (3), 11, 12, 14, 16, 20, 21, 22, 23, 31, 32, 33, 34, 35, 44, 48 Daniel Bockwoldt/dpa: 51 Jürgen Bönig: 36, 47 creative commons: U1, 37, 49 Carl-Victor Dahmen, Wikimedia Commons: 25 Martin Dieckmann: 41, 42, 43, 46 W. Hermann (Fotostab am IfP – Institut für Publizistik FU Berlin): 53 Archiv Katja Karger: 26 Sabine von Kessel: 38, 39 MPZ Medienpädagogik Zentrum, Hamburg: 59 Daniel Nide: 8, 9 Arnold Rekittke: 55, 56 Christoph Schmidt/dpa: 50 Agnes Schreieder: 29 Umschlag: Streikführer Baha Targün beim »wilden« Streik bei Ford in Köln 1973 Streikausweis des Hafenarbeiterstreiks 1896/97 Demonstration der IG Druck und Papier zum Gänsemarkt 1979 um neue Technologien und Aussperrung, Foto Karl Sauer Leser des Hamburger Fremdenblattes nach Ende des Streiks 1954, Foto Germin Betriebsratswahl Unilever Mannheim 1959, Foto G. Dieball Frühstückspause Phoenix-Gummiwerke 1963, Foto H. Janke
3 Editorial VON KERSTEN ALBERS Liebe Leserin, lieber Leser, erzählen die Beiträge immer von den Schwierigkeiten, aber auch von Chancen einer selbstbewussten Interes- das vorliegende Heft unserer etwa jährlich erscheinen- senvertretung der Beschäftigten. den Vereinszeitschrift Mitarbeit begleitet eine Sonder- Ein paar Stichworte zu den einzelnen Beiträgen und ausstellung des Museums der Arbeit in Hamburg im Schwerpunkten: Mario Bäumer skizziert die Grundge- Herbst / Winter 2021 und im Frühjahr 2022. Thema der danken und die Entstehungsgeschichte der Sonderaus- Ausstellung sind »Konflikte«. Konflikte prägen unser stellung, die sehr bewusst darauf ausgerichtet ist, uns persönliches Leben, sie prägen aber auch und gerade das als Besucherinnen und Besucher der Ausstellung mit- Arbeitsleben. Aus Arbeitskonflikten heraus haben sich zunehmen, Stoff zu geben für die Diskussion und zum die Gewerkschaften und die Betriebsräte entwickelt. eigenen Handeln zu ermutigen. Dabei will die Ausstel- Vieles, was uns heute an Arbeitnehmerrechten selbst- lung weniger fertige Antworten vermitteln als zum eige- verständlich erscheint, musste immer hart erkämpft nen Nachdenken anregen. werden. Umso spannender ist es, einmal genauer hin- Alltägliche Konflikte und Konfliktbewältigung im zuschauen, welche Rechte und Mitgestaltungsmöglich- Arbeitsalltag beschreibt Peter Birke in seinem Beitrag keiten Kolleginnen und Kollegen heute im Betrieb und »Poren der Arbeitszeit« aus seiner Erfahrung als Sozial- am Arbeitsplatz haben, wo die aktuellen Frontlinien forscher. Es geht um verschiedene Formen, sich dem all- der Entwicklung verlaufen und welche Erfahrungen täglichen Druck durch Arbeit zu entziehen und wie sich dazu heute und früher gemacht werden mussten. Un- dies im konkreten Arbeitsprozess niederschlägt. Zum sere Mitarbeit will dazu beitragen, mit vielen sehr ver- Thema Arbeitsgerichtsbarkeit erklärt Sigrid Thomsen, schiedenen, kürzeren und auch längeren Beiträgen, die wie die Arbeitsgerichtsbarkeit (insbesondere aus Sicht im Zusammenwirken des Museums-Ausstellungsteams der von den Gewerkschaften benannten ehrenamt und der Redaktion seit dem Frühjahr 2021 »organisiert« lichen Arbeitsrichter) Konfliktbewältigung absolviert. werden konnten. »Konfliktpartnerschaft« findet hierzulande meistens Der »rote Faden« der Beiträge ist, dass Konflikte in der in den Regularien der betrieblichen Mitbestimmung Erwerbsarbeit stattfinden in der Vertikalen einer Macht- statt. Knud Andresen zeigt im historischen Überblick und Herrschaftsbeziehung. Einfach zu erklären ist dies die Entwicklung der Betriebsverfassungen seit 1920, im Ausspruch des Bundesverfassungsgerichts, das von woraus nach 1952 die für die Bundesrepublik typische der »strukturellen Unterlegenheit der Arbeitnehmer« – und international eine Ausnahme bildende – betrieb- spricht – die den Grundkonflikt kennzeichnet. Hier liche Mitbestimmung der Betriebs- und Personalräte einen Ausgleich zu schaffen (Rechte der betrieblichen wurde. Ergänzt wird dies durch Martin Dieckmann, Mitbestimmung, Tarifautonomie mitsamt Streikrecht der in Zahlen, Daten, Fakten zeigt, dass die Mitbestim- usw.), erzeugt zwangsläufig wiederum neue Konflikte. mungsrechte der Beschäftigten auch aktuell durchaus Ohne Konflikt entsteht keine »Augenhöhe« – und genau gefährdet sind. Eine aktuelle Antwort darauf formuliert dies beschreiben die Artikel im Einzelnen an histori- Matthias Bartke, der als Bundestagsabgeordneter und schen und aktuellen Beispielen aus verschiedenen Be- Vorsitzender des zuständigen Bundestagsausschusses reichen. Macht, wie sie strukturell gegeben ist, verlangt maßgeblich an der gerade beschlossenen Novellierung Gegenmacht – sonst ist auch eine »Konfliktpartner- des Betriebsverfassungsgesetzes beteiligt war. Im Inter- schaft«, also ein faires Aushandeln, undenkbar. Letztlich view von Jörn Breiholz mit der Hamburger DGB-Vor-
4 EDITORIAL sitzenden Katja Karger und Sandra Goldschmidt, stell- Neht kommentiert. Und last not least – die Museen in vertretende ver.di-Landesleiterin in Hamburg, wird am Hamburg: Rolf Bornholdt beschreibt den Konflikt um Beispiel der Betriebsratsgründung beim Internet-Riesen die Leitungsstruktur der staatlichen Museen und die Pixelpark deutlich, wie es auch in Bereichen, in denen Einführung und alsbaldige Wiederabschaffung der Mit- betriebliche Mitbestimmung und Gewerkschaften als bestimmung aller Beschäftigtengruppen in den 1980er ziemlich »uncool« gelten, gelingen kann, Betriebsräte an Jahren Jürgen Bönig behandelt die »Verselbständigung« den Start zu bringen. Und schließlich beschreibt Agnes der Museen in Hamburg zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Schreieder (ver.di) am Beispiel der Schlecker Frauen, die viele – vor allem finanzielle – Probleme nicht gelöst wie es in jahrelangen Kämpfen und Kampagnen mög- hat und manche bitteren Enttäuschungen im Bereich lich wurde, das Unsichtbare (unterdrückerische Aus- der Partizipation der Museumsmitarbeiter:innen zu beutung) sichtbar zu machen; und darin die enorme Tage brachte. Stärke angeblich »schwacher« Kräfte zu entwickeln. Ein großes Dankeschön am Schluss: Diese Ausgabe Konflikte in der Erwerbsarbeit haben eine lange der Mitarbeit wurde zustande gebracht durch das hoch Geschichte. Manchmal ist es ganz gut, sich über diese engagierte gemeinsame Handeln der Redaktion – Knud Zusammenhänge etwas genauer anhand prägender Er- Andresen, Jürgen Bönig, Martin Dieckmann, Heike eignisse unserer Hamburger Entwicklung zu informie- Jäger, Helga Koppermann und Michael Schulz. Und ren. Knud Andresen erzählt von den Konflikten um die durch die kollegiale und zuverlässige Mitarbeit aller Durchsetzung des Mai-Feiertags in Hamburg seit dem Autorinnen und Autoren – DANKE ! Ende des 19. Jahrhunderts. Jürgen Bönig erklärt die Kersten Albers ist Vorsitzender der nachhaltigen Wirkungen eines (vordergründig) verlo- Freunde des Museums der Arbeit e.V. ren gegangenen Kampfes: des berühmten Hamburger Hafenarbeiterstreiks von 1896. Mit einem weiteren Bei- trag geht Jürgen Bönig auf die ebenso berühmte Be- triebsbesetzung bei HDW zu Beginn 1980er Jahre ein. Konflikte in der Erwerbsarbeit – wer denkt da nicht an die großen Streikbewegungen und die Rolle der Ge- werkschaften dabei. Martin Dieckmann schildert die Entwicklung des Streikrechts in der Bundesrepublik seit 1948/1949: Warum Gewerkschaften kein gesetz liches Streikrecht wollen und was es mit dem »Richterrecht« auf sich hat. Im Gespräch mit Helmut Platow erläutert er die Eigenarten dieses Richterrechts und zeigt Pers- pektiven für die Entwicklung des Streikrechts. Anhand konkreter Fälle seit 1969 dokumentiert Martin Dieck- mann begrenzte, aber einflussreiche Regelverletzungen durch Arbeitnehmer:innen in informellen Arbeitsnie- derlegungen, (auch politischen) Streiks und Betriebs- besetzungen. Eine besondere Perspektive eröffnet der »Zwischenruf« von Mario Bäumer im Hinblick auf den Streik der Erzieherinnen – aus Elternsicht. Konflikte durchziehen aber auch die Gewerkschaf- ten. In den 1970er Jahren waren dies zum Beispiel Ge- werkschaftsausschlüsse radikaler Linker. Marcel Bois und Alexandra Jaeger gehen auf Hamburger Beispiele ein. Und Arbeits-Konflikte haben manchmal auch sehr spezifische Ausprägungen: Arnold Rekittke (ver.di) beschreibt die Konfliktlinien mit und im kirchlichen Arbeitsrecht, den langen Kampf für Tarifverträge – an- lässlich des Scheiterns eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages am Widerstand von Caritas und Diako- nie. Aus innerkirchlicher Sicht wird dies von Monika
5 Inhalt 7 KONFLIKTE – die Ausstellung VON MARIO BÄUMER 10 Kirschen pflücken, oder: Vom Arbeitskampf im Arbeitsalltag VON PETER BIRKE 13 Von der Ehre zu richten VON SIGRID THOMSEN 15 1920 –1952 –1972: Die Betriebsverfassungen und die verrechtlichten Arbeitsbeziehungen VON KNUD ANDRESEN 18 Konflikte in Betrieben – eine gespaltene Welt VON MARTIN DIECKMANN 21 Modernisierung statt Stärkung? Das Betriebsrätemodernisierungsgesetz VON MATTHIAS BARTKE 24 Als die hippe New Economy ihren ersten Betriebsrat gründete Interview mit Katja Karger und Sandra Goldschmidt VON JÖRN BREIHOLZ 27 SCHLECKER Betriebsrätinnen in Hamburg Mut und Kraft und Solidarität VON AGNES SCHREIEDER 31 Hamburger Konflikte um den 1. Mai in der Weimarer Republik VON KNUD ANDRESEN 34 Streik gegen Politik Die Folgen des Hafenarbeiterstreiks in Hamburg 1896 / 97 VON JÜRGEN BÖNIG 38 Faustpfand – ein gefährlicher Schiffsraub VON JÜRGEN BÖNIG 40 »Das Schwert an der Wand …« Streik und Streikrecht in der Bundesrepublik VON MARTIN DIECKMANN 45 Fragen zum Arbeitskampfrecht an den Experten Interview mit Helmut Platow VON MARTIN DIECKMANN
6 INHALT 47 »Störungen im Betriebsablauf« Informelle Arbeitsniederlegungen und Streiks VON MARTIN DIECKMANN 50 Kita Streik – ein Zwischenruf VON MARIO BÄUMER 52 Fatale Eigendynamik Die Unvereinbarkeitsbeschlüsse der GEW in den 1970er-Jahren VON MARCEL BOIS UND ALEXANDRA JAEGER 54 Diakonie und Caritas – Kirchliches Arbeitsrecht im Konflikt VON ARNOLD REKITTKE 57 Der Konflikt zwischen ver.di und Kirche ist ein Konflikt innerhalb der Kirche Kommentar zu Arnold Rekittke VON MONIKA NEHT 58 Mitbestimmen bei der Arbeit? Der Konflikt um die Leitungsstruktur der staatlichen Hamburger Museen VON ROLF BORNHOLDT 60 Schein-Selbständigkeit Ein unerwartetes Ergebnis der Museumsreform VON JÜRGEN BÖNIG
DIE AUSSTELLUNG 7 KONFLIKTE – die Ausstellung 3. November 2021 bis 8. Mai 2022 VON MARIO BÄUMER Konflikte sind allgegenwärtig – in der Familie, im Ar- finitionsscheibe, hier können sich die Besucher:innen beitsleben, in der Politik. Ebenso vielfältig sind ihre ihre Definition erdrehen. Bei Eintritt in die Ausstellungs- Erscheinungsformen: Wir erleben und beobachten sie halle sieht man als erstes ein LED-Band mit Zeitungs- als persönliche Gewissensbisse, als Ehestreit, als Tarif- überschriften aus dem Jahr 2021, die das Wort »Konflikt« konflikt zwischen Gewerkschaften und Unternehmen, enthalten. Schon hier wird die große Vielseitigkeit des als Bürgerkrieg oder als internationale Krise. Konflikte Themas jedem bewusst. beeinflussen unser Liebes- und Familienleben, unser Das Thema Konflikte soll in seiner Vielfalt dargestellt Glück und unsere Gesundheit, unser Berufsleben und werden. Mythische Vorstellungen von Konflikten, phi- unsere Karrieren. Konflikte verändern die Welt, im Gro- losophische Konzepte und soziologische Systematisie- ßen wie im Kleinen. Das Museum der Arbeit nimmt dies rungen werden hier verarbeitet. Darüber hinaus wer- zum Anlass, dem Thema eine Sonderausstellung zu den aber auch die Emotionen und die Wahrnehmung widmen. von Konflikten durch die Akteure vermittelt. Die Idee zur Sonderausstellung entstand vor der Co- Schon am Anfang geben sowohl Personen, die be- rona-Pandemie, so dass diese außergewöhnliche Situa- ruflich mit Konflikten zu tun haben, als auch Personen tion direkten Einfluss auf die Konzeption dieses Ausstel- des öffentlichen Lebens im Format »drei Fragen in drei lungsprojektes nahm. Bereits im Februar 2021 entstand Minuten« Auskunft, was sie unter einem Konflikt ver- der Konfliktmonitor, ein Online Tool, das zwölf ausge- stehen. wählte Konflikte rund um die Corona-Krise präsentiert Es sind also vor allem szenografische Raumbilder, und zur Meinungsabgabe aufruft. innovative Medienformate und überraschende Objekte, welche auf anschauliche Weise einen Zugang auf die- Ein Konflikt ist eine mindestens von ses komplexe Thema eröffnen. So will die Ausstellung auch weniger Informierte dazu anregen, sich damit zu einer Seite als emotional belastend beschäftigen, was eigentlich ein Konflikt ist, wie wir und/oder sachlich inakzeptabel emp als Gesellschaft damit umgehen und wie Vorurteile zur fundene Interaktion, die durch eine Konfliktvermeidung abgebaut werden können. Es ist Unvereinbarkeit der Verhaltensweisen, somit eine sehr gegenwartsorientierte Auseinanderset- der Interessen und Ziele sowie der zung mit dem Konfliktbegriff im Zusammenspiel mit der Frage, was aus historischen Konflikten gelernt und Annahmen und Haltungen der Betei abgeleitet werden kann. ligten gekennzeichnet ist. Als Kurator verstehe ich die Ausstellung »Konflikte« nicht als kulturgeschichtlich inszenierte Themenaus- Diese Definition habe ich im Grundkonzept verwendet. stellung. Statt bedeutender musealer Exponate stehen Da wird erneut die Definitionsproblematik deutlich, kreativ aufbereitete Informationen und Geschichten, In- wie schon in der vergangenen Sonderausstellung »Out stallationen und Raumbilder im Vordergrund. Die Aus- of Office«, als es darum ging Begriffsdefinitionen zu »Ar- stellungsarchitektur mit spitzen, dreieckigen Formen beit«, »Intelligenz« oder »Kreativität« zu liefern. wird als integraler Bestandteil der Konzeption gesehen. In der Ausstellung wird es so auch eine interaktive Neben Animationsfilmen, Kurzfilmen und Filmen mit Station zum Thema geben, die sogenannte Konfliktde- einer Schauspielerin sind auch Gastbeiträge zu sehen.
8 DIE AUSSTELLUNG Ein Mann und ein Polizist liefern sich am 7. 7. 2017 beim G20-Gipfel in Hamburg einen »Anstarrwettbewerb«, nachdem die »Welcome to Hell«-Demo von der Polizei aufgelöst wurde. Hier wären z. B. die BWG / VBG mit dem Modul »Gewalt- an, der in zwei Bereiche gegliedert ist: die Theorie und prävention am Arbeitsplatz«, das Projektstudium der die Beispiele. Neben allgemeinen Themenbezügen, wie Erziehungswissenschaft der Uni Hamburg zum Thema der Frage, was ein Konflikt ist (und was keiner), nach »Konflikte« und auch Gentrifizierungsprojekte wie Viva Konfliktformen und der Perspektive auf Dynamiken La Bernie und Park Fiction, aber auch ein Interviewbei- und Funktionen von Konflikten, gibt es konkrete Bei- trag des Freundeskreises des Museums, der Stimmen zu spiele aus den vier Bereichen »Innere Konflikte«, »pri- Arbeitskonflikten sammelt zu nennen. Auch außerhalb vate Konflikte«, »Arbeitskonflikte« und »Gesellschafts- der Ausstellung kooperieren wir mit dem Theaterprojekt konflikte«, wobei die beiden letzteren den thematischen Über / Leben, das sich in Bezug zur Ausstellung den Kon- Schwerpunkt bilden. flikten einer Einzelbiographie widmet, am 19. Septem- Die Konflikttheorie orientiert sich an den klassischen ber bereits beginnt und auf die Ausstellung hinweist, wo Konfliktmodellen und ist auch in der Ausstellung stu- man dann im November zu Gast ist. fenartig angelegt. Integriert ist in diesen Bereich unter Ich bin beim Thema Konflikte auf ein Zitat vom Juni anderem auch die Digitalstation »Welcher Konflikttyp 2021 gestoßen »jeder zweite Deutsche traue sich nicht bist du?« und die Ausgabe der Konfliktanalysescheibe – mehr, offen seine Meinung zu sagen …«. Sicherlich ein ein Angebot für diejenigen, die bei den präsentierten Abbild einer sich wandelnden gesellschaftlichen Kon- Beispielen die Theorie anwenden wollen. fliktkultur. Wobei man hier eher auf steigende Zahlen Trotz großer Unterschiede haben alle Konflikte auch hoffen dürfte (das als kleine ironische Randnotiz). viele Gemeinsamkeiten: Sie durchlaufen verschiedene Die Ausstellung »Konflikte« will den Besucher:innen Stadien von Anlässen und Auslösern über Eskalationen vor Augen führen, dass sich der Umgang mit Konflikten bis zu den (mehr oder weniger nachhaltigen) Lösun- lernen lässt und dieser Lernprozess Voraussetzung für gen. Wir erkennen sie an typischen Verhaltensweisen ein konstruktives Konfliktverhalten ist. der Kontrahenten, die den Verlauf noch dazu oft weiter Sie richtet sich an ein breites Publikum, da wir alle verschärfen, an ablehnender Körpersprache oder Kom- täglich mit Konflikten zu tun haben. munikationsverweigerung, Dominanz- und Konkur- Einem assoziativen Intro schließt sich der Hauptteil renzgesten und an verbalen oder physischen Angriffen.
DIE AUSSTELLUNG 9 Eskaliert ein Konflikt, geht es bald weniger um die Sache als darum, wer Recht behält oder gewinnt. Im Streit greifen Menschen einander persönlich an. In diesem Konfliktstadium geht es nicht um »gute Gründe«, sondern um die Beziehungsebene. Nicht nur in der Politik gilt es hingegen als wichtiges Gut, den un- sachlichen Streit zu vermeiden und trotz scheinbar un- vereinbarer Gegensätze einen »vernünftigen« Konsens zu finden. Dabei ist dieser aber durchaus nicht der ein- zige Weg, einen Konflikt zu beenden: Wenn eine Seite ihre Macht ausspielt, können Unterlegene sich zurück- ziehen und auf eine neue Gelegenheit warten – auch so können positive Veränderungen beginnen. Ebenso kommt es vor, dass Streitende sich erst ein- mal auf der Beziehungsebene einigen, bevor sie auf die Sachebene zurückfinden und dort eine Lösung suchen. Solange alle Beteiligten als gemeinsames Ziel ein gesell- schaftliches Zusammenleben im Auge behalten, haben sie einen Grund, nicht alle Brücken einzureißen. Wirk- lich destruktiv wird ein Konflikt erst, wenn das nicht mehr der Fall ist. Die Grundthese hinter der Ausstellung ist also eindeutig: demokratische Prozesse brauchen den offenen Streit! Demonstration gegen die internationale Bau Ausstellung und die inter- In meinen Augen braucht eine konstruktive Konflikt nationale Gartenschau am 23. 3. 2013 in Wilhelmsburg austragung eine breite Basis. Daher gibt es rund um die Ausstellung ein großes Netzwerk an Partnerinstituti- Jedem Konflikt liegen widerstreitende Interessen, onen. Diese tragen nicht nur zur Ausstellung bei, son- Ziele oder Ansichten zu Grunde. Prinzipiell mögen Men- dern auch zum begleitend erscheinenden Ausstellungs- schen solche Dissonanzen nicht, doch ist das Durchset- magazin »Konflikte« und einem wirklich sehr breiten zen einer eigenen Position sehr häufig mit Konflikten Rahmenprogramm. Ein Blick aufs vielfältige Programm verbunden. Wer sich konträr zu seinen eigenen Über- lohnt sich und so bleibt mir nur die Hoffnung mit vielen zeugungen verhält, gerät hingegen in einen inneren Besucher:innen ins Gespräch zu kommen. Konflikt, eine »kognitive Dissonanz«. Solche Unstim- migkeiten sind zutiefst menschlich und gehören unwei- gerlich zum Zusammenleben – schon deshalb, weil die Maßstäbe, nach denen Menschen die Welt bewerten, nicht universell sind. In Konflikten kommt oft verschär- fend ein gegenseitiges Unverständnis hinzu: Beide Sei- ten fragen sich, warum die jeweils andere sich »falsch« verhält und kommen womöglich zu dem Schluss, das Gegenüber sei dumm, starrsinnig oder bösartig. Oh- nehin sind Vorurteile, auf denen zahlreiche Interakti- onen beruhen, ein idealer Zündstoff für Konflikte: Sie entstehen schnell, sind dabei höchst subjektiv und oft widersprüchlich, aber nur schwer zu revidieren. Häufig sind sie die Ursache dafür, dass eine Konfliktdynamik entsteht, in der sich die Kontrahenten »hochschaukeln«. Die Signale dafür erkennt jeder und jede intuitiv: ver- bale oder nonverbale Zeichen von Stress und Aggres- sion wie angespannte Körpersprache oder ansteigende Lautstärke.
10 POREN DES ARBEITSTAGS Kirschen pflücken, oder: Vom Arbeitskampf im Arbeits alltag VON PETER BIRKE Konflikte im Arbeitsalltag sind vielfältig, unter von fünf Minuten pro Stunde, heute öfter aber ganz Kolleg*innen ebenso wie mit Vorgesetzten oder ohne Pause. Diese Art von Kontinuität, schreibt Marx, Arbeitgeber*innen. Dabei geht es oft auch darum, »zerstört die Spann- und Schwungkraft der Lebens sich kleine persönliche und gemeinsame Freiräume zu geister«. Der Antagonismus zwischen den Interessen eröffnen. Der Arbeitssoziologe und Historiker Peter von Kapital und Arbeit – der aus Marx’ Sicht ohnehin Birke berichtet über solche kaum öffentlich sichtbaren vor allem im Produktionsprozess selbst sich zeigt, wird Konflikte. im Kampf um kleine freien Zeiten besonders stark zum Ausdruck gebracht. Ich wurde von den Herausgeber*innen dieses Hefts ge- Heute kann man sicherlich fragen, wie man sich beten, etwas über die »Poren des Arbeitstags« zu schrei diese »Poren« in Dienstleistungsarbeit vorstellen muss. ben. Ich weiß, der Begriff bezieht sich auf Karl Marx, Oder wie sich die positive Sicht von der »ständigen aber was ist damit genau gemeint? Zugegeben, ich Umstellung« bei Marx zu heutigen Debatten über flexi- musste nachsehen: ble Arbeitsverhältnisse und entgrenzte Arbeit verhält. »Ein Handwerker, der die verschiedenen Teilpro- Aber, wie auch immer man diese Fragen beantwortet: zesse in der Produktion eines Machwerks nacheinan- Grundsätzlich ist es richtig, sich den Kampf um Arbeits- der ausführt, muß bald den Platz, bald die Instrumente bedingungen vor allem und nicht zuletzt als Kampf um wechseln. Der Übergang von einer Operation zur and- Zeit vorzustellen. Im Soziologischen Forschungsinstitut ren unterbricht den Fluß seiner Arbeit und bildet ge- Göttingen, in dem ich arbeite, liegen im Keller tausende wissermaßen Poren in seinem Arbeitstag. Diese Poren Interviews mit Arbeiter*innen, die diese Behauptung verdichten sich, sobald er den ganzen Tag eine und die- bestätigen. In einem Projekt über Werftarbeit in den selbe Operation kontinuierlich verrichtet, oder sie ver- frühen 1980er Jahren, das mein Kollege Felix Bluhm schwinden in dem Maße, wie der Wechsel seiner Ope- analysiert hat, nannten die Arbeiter es »Luft schreiben«, ration abnimmt. … Andrerseits zerstört die Kontinuität wenn sie für Tätigkeiten, die der Meister nicht so recht gleichförmiger Arbeit die Spann- und Schwungkraft der einschätzen konnte, mehr Zeit aufschrieben als sie tat- Lebensgeister, die im Wechsel der Tätigkeit selbst ihr Er- sächlich brauchten. Oder, aus einer anderen Studie, holung und ihren Reiz finden.« (MEW 23, S. 360) Ende der 1990er Jahre, die ich selbst erneut ausgewer- Eine Pore ist ein Begriff aus der Biologie. Er bedeu- tet habe: In einem Automobilzuliefererbetrieb geht eine tet »Durchlässigkeit für Luft, Wasser und andere Stoffe«. Maschine kaputt, die Arbeiterin darf den Schaden nicht Auf den Arbeitstag bezogen ist es eine Metapher – die selbst beheben (obwohl sie das könnte), der Elektriker Umstellung, die die Handwerkerin vornimmt, macht kommt, ein Bekannter: Dabei kann man, sagt sie, »Zeit ihren Arbeitstag »durchlässiger«, »luftiger«. Die, auch in gewinnen«. diesem Werk aus dem 19. Jahrhundert schon erkannte, Zeit-gewinnen, Sich-Luft-verschaffen, Spann- und Kontinuität und Gleichförmigkeit industrieller Arbeit, Schwungkraft für die Lebensgeister – das ist etwas, setzt Marx als das Gegenteil jener »Luftigkeit«. Es sei, was wir auch heute gut nachvollziehen können. Wer so schreibt er, Interesse der Kapitalisten, die »Poren des wünschte sich nicht mehr Futter für die Geister, ob im Arbeitstags zu verschließen«. Das Ideal dieses Verschlie- hoch-selbst-rationalisierten Home-Office oder in der ßens ist die Arbeit am Fließband, kontinuierlich, viel- Packstation bei einem Online-Versandhändler? Der leicht mit einer tarifvertraglich vereinbarten Bandpause Kampf um die Arbeitszeit verbindet abhängig Beschäf-
POREN DES ARBEITSTAGS 11 Autoreifen als Unterlage für die Frühstückspause, Phoenix Gummiwerke AG Harburg 1963, Foto Horst Janke tigte in ganz verschiedenen Situationen. Und er bleibt den sehr wenige Arbeitsschritte in einem sehr hohen dennoch oft diskret, geheim, möglichst unentdeckt, Tempo verrichtet: Ware aufnehmen, scannen, Ware ab- eine verschwiegene und zugleich elementare Form des legen, Ablagefach scannen, nächste Ware aufnehmen. Arbeitskampfes. Das macht es schwer, konkret zu be- Vielfach ist in der arbeitssoziologischen Debatte diese schreiben, worum es sich handelt. Tätigkeit als Musterbeispiel für einen »digitalen Taylo- Es wird unter anderem deshalb kompliziert, weil die rismus« genommen worden: Das Management ist in der Poren des Arbeitstags nicht einfach durch individuel- Lage, in Echtzeit alles über das momentane Tempo des les Arbeitshandeln, oder genauer, durch eine indivi- Packers / der Packerin zu erfahren, woraus es auch kein duelle Auseinandersetzung von Arbeitenden mit ihren Geheimnis macht. Im Gegenteil: Nimmt das Tempo ab, Vorgesetzen geöffnet oder geschlossen werden. Klarer- gibt es ein freundlich-unfreundliches Gespräch mit dem weise spielt der Einzelne / die Einzelne hier eine wich- Vorgesetzten. tige Rolle – er / sie muss wissen, wie es geht, das »Luft Oder es kann jedenfalls solch ein Gespräch geben, schreiben« oder das »Zeit gewinnen«. Aber der Arbeits- und alle wissen das, was das Gespräch selbst in den prozess muss bekannt sein, es muss Absprachen mit meisten Fällen bereits überflüssig macht. Keinerlei Kolleg*innen geben, die entsprechenden Techniken Möglichkeit, auch nur eine kleine Pore zwischen diesen müssen geteilt, verstanden werden, und umso mehr in- Zeiten zu finden. Oder? sofern Vertrauen und Kooperation im Spiel sind, wenn Bei näherem Hinsehen fanden wir, dass das falsch ist: erfolgreich Zeit gewonnen werden soll. Mit anderen Es stellt sich nämlich heraus, dass der Betrieb a.) vor al- Worten: Es handelt sich nicht nur um die elementare lem Stückzahlen misst und b.) jedoch sehr unterschied- Form des Arbeitskampfs, sondern vor allem und nicht liche Waren eingelagert werden müssen, zum Beispiel zuletzt um eine elementare Form kollektiven Handelns. ein Kugelschreiber oder eine Kaffeemaschine. Dass das Ein Beispiel: ein Unterschied ist, kann sich wohl jeder vorstellen. Ein In einer unserer letzten SOFI-Untersuchungen wa- befragter Kollege nennt das, was daraus für das »Zeit ge- ren wir in einem großen Versandhandelsunternehmen. winnen« folgt, »cherry picking.« Kirschen pflücken. Ich Die Arbeit dort gilt als sehr stark »repetitiv«, es wer- habe das in letzter Zeit in Diskussionen über die Arbeit
12 POREN DES ARBEITSTAGS im Online-Versandhandel immer mal wieder als Bei- Man kann die geforderte Stückzahl ablehnen, mehr spiel für die Möglichkeit genannt, selbst in extrem ar- Pausen fordern, mehr Pausen machen usw. beitsteiliger Produktion ein Stück selbstbestimmtes Ar- Was aber auch immer man sich einfallen lässt, inter- beiten aufrecht zu erhalten. Eine Kollegin aus unserem essant ist, dass der Kampf um die Poren des Arbeitstags Institut hat diese Behauptung hinterfragt: »Mit Kirschen nicht nur eine Sache zwischen Kapital und Arbeit ist, pflücken«, sagt sie, »verbinde ich eher, dass sich alle das sondern zugleich eine Sache zwischen Kolleginnen und Beste für sich selbst suchen. Mit dem Ellenbogen.« Das Kollegen. Es stimmt nämlich, was meine Kollegin sagt: klingt plausibel. Es ist keinesfalls zwingend, dass sich die Gruppe, die Ich muss also versuchen, genauer zu erklären, was zusammen tätig ist, auf solidarische Lösungen einigt. Es ich meine: Um Zeit zu gewinnen, kommt es darauf an, kommt vielmehr durchaus und leider sehr häufig vor, sich mit der Person zu verständigen, die entweder e inen dass »die Neuen«, »die Anderen« [man setze hier eine Kugelschreiber oder eine Kaffeemaschine an die Pack- ethische oder sonstige Zuschreibung ein] immer die station bringt. Viele Kugelscheiber = mehr Poren im Ar- Kaffeemaschinen bekommen. Und »wir«, eben welches beitstag. Die Art und Weise aber, wie diese Verständi- »Wir« auch immer, die Kirschen bzw. die Kugelschrei- gung geschieht, hat viele Variablen: Man kann die Person ber. Arbeitskampf ist nicht zwingend und notwendig kennen, man kann zu einer Gruppe gehören, mit der die eine Übung in Solidarität. Oder anders: Solidarität muss Person sich identifiziert. Man kann aber auch Abspra- geübt werden, auf den Begriff gebracht werden. Über chen dieser Art treffen: Mehr Kugelschreiber für ältere Solidarität muss man sich vielleicht diskret, immer je- Kolleg*innen, und die Jungen übernehmen die Kaffee- doch aktiv verständigen. Eine gemeinsame Idee von maschinen. Oder man kann sich, so dass es zum offe- Gerechtigkeit, der über das Betriebliche hinaus und nen Kampf kommt, gemeinsam verweigern: Man kann auf das Gewerkschaftliche verweist, ist eine wichtige die Qualität der Arbeit in Frage stellen, wenn es nur um Voraussetzung: Zum Beispiel, dass alle ein Recht auf ein Geschwindigkeit geht (natürlich kann man auch so ein- gutes Leben und freundliche Lebensgeister haben. Un- lagern, dass die Kollegin, die die Kaffeemaschine wieder abhängig vom Alter, Geschlecht und Hautfarbe. aus dem Regel holt, damit größte Schwierigkeiten hat). Soviel zu den Poren des Arbeitstags. Frühstückspause im Straßenbahn-Depot 1949, Foto Germin
ARBEITSGERICHTSBARKEIT 13 Von der Ehre zu richten VON SIGRID THOMSEN Aus: KOMPAKT Nr. 5/2020, Mitgliedermagazin der IG BCE, Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion (leicht gekürzt) Über Konflikte in der Arbeitswelt entscheiden Ar- sprechung und ihre Legitimation.« Sie sind »den Berufs- beitsgerichte. Ehrenamtliche Richterinnen und Richter, richtern gleichwertige Mitglieder der Richterbank«. Als benannt von Gewerkschaften einerseits und Arbeit- äußeres Zeichen dafür tragen sie in Hamburg sogar eine geberverbänden andererseits, urteilen dabei gleich- Robe. berechtigt mit Professionellen. Ein Beitrag von Sigrid »Von den ehrenamtlichen Richtern profitieren wir Thomsen für die Mitgliederzeitschrift der Industrie- enorm«, findet die Vizepräsidentin des Landesarbeits- gewerkschaft Bergbau Chemie Energie, KOMPAKT, gerichts Hamburg, Birgit Voßkühler. »Sie bringen einen beschreibt, wie Gewerkschaftsmitglieder als ehren- guten Blick für Problemlagen im Alltag ein, und sie tra- amtlich Richtende einer realitätsnahen Rechtsfindung gen ihr Wissen darüber, wie solide hier Entscheidungen dienen – zum Beispiel ein gelernter Kfz-Mechaniker gefällt werden, dann ja auch in die Gesellschaft«. Dabei aus dem Betriebsrat von Evonik Industries in Essen: ist ihre Rolle eindeutig: »In den Beratungen sprechen Dirk Petrawitz übt dieses Amt schon seit 15 Jahren sie aus ihrer jeweiligen Sicht, aber bei der Entscheidung aus, das sind drei Amtsperioden. Benannt von der Ge- lösen sie sich von der Arbeitgeber- oder Arbeitnehmer- werkschaft, ist er einer von zwei ehrenamtlichen Rich- rolle. Da vertreten sie die Interessen des Rechtstaates.« tern in einer Kammer des Arbeitsgerichts. Gemeinsam Man könne gar nicht immer auf der Arbeitnehmer- mit dem oder der zweiten, von der Arbeitgeberseite be- seite sein, das beschreibt Andreas Ostdorf an einem an- nannten Ehrenamtlichen und einem hauptamtlichen deren Fall, in dem ein Schwerbehinderter immer wieder Richter fällt er Urteile bei Konflikten um Arbeitszeit, gegen seine Ablehnung bei Stellenbewerbungen klagte: Kündigungen, Zeugnisse, Zahlungen. Vor jeder Sitzung »Er war oft gar nicht qualifiziert, aber er lebte von den treffen sich die drei am Arbeitsgericht und gehen Fall Wiedergutmachungsgeldern, die Unternehmen zahlen für Fall durch. »Der hauptamtliche Richter erklärt uns müssen, wenn sie Schwerbehinderte nicht in Erwägung den Schriftverkehr und die Brisanz eines Falles«, erzählt gezogen haben.« Petrawitz. »Doch wir dürfen während des Verfahrens Beim Arbeitsgericht Essen ist es nicht immer üb- auch Fragen stellen. Wir können ihn bei der Entschei- lich, dass die Ehrenamtlichen spontan während der dung sogar überstimmen.« Verhandlung wichtige Fragen stellen. »Das macht der Andreas Ostdorf, ehrenamtlicher Richter am Ar- hauptamtliche Richter«, berichtet Andreas Ostdorf. »Wir beitsgericht Essen, hat das schon erlebt: »Es ging um ein diskutieren vorher und nachher. Wenn sich während Busfahrunternehmen, das seinen Fahrern während der der Verhandlung wichtige Fragen ergeben, schiebe ich Ferien keinen Lohn gezahlt hatte«, erzählt der Gesamt- sie ihm auf Zetteln zu.« betriebsratsvorsitzende der RAG Montan Immobilien. Dirk Petrawitz schätzt, dass bei Gericht keine »Herz- »Nach unserem Urteil musste der Lohn nachgezahlt und Bauch-Entscheidungen« gefällt werden: »Es zählen werden, und der Richter musste sein schon vorbereite- nur die Tatsachen. Doch selbst wenn ein Arbeitnehmer tes Urteil neu schreiben.« Recht hat, ist oft das Verhältnis zerstört, dann einigt man »Ehrenamtliche Richter bringen ihre Sachkunde und sich auf einen Vergleich.« ihre Erfahrungen aus dem Arbeitsleben in die Recht- Wo es keine Einigung gibt und ein Urteil oder Be- sprechung ein«, heißt es im Leitfaden des Hamburger schluss vom Gericht gefällt wird, kann eine der Pro- Arbeitsgerichts für ehrenamtliche Richterinnen und zessparteien die nächste Instanz anrufen, das Landesar- Richter. »Hierdurch erhöhen sie die Qualität der Recht- beitsgericht. Auch dort entscheiden die hauptamtlichen
14 ARBEITSGERICHTSBARKEIT Richterinnen und Richter über Berufungen und Be- Konflikten am Arbeitsplatz sind jedoch auf der Strecke schwerden gemeinsam mit Ehrenamtlichen, die selbst geblieben. Dabei spielten Konfliktkommissionen als be- Laien sind. Voraussetzung dafür ist ein Mindestalter von triebliche Instanzen zur Beilegung von Streit eine wich- 30 Jahren und fünf Jahre Erfahrung am Arbeitsgericht. tige Rolle: »Bei uns gab es für rund 400 Beschäftigte drei Letzte Instanz ist das Bundesarbeitsgericht in Erfurt. Es Konfliktkommissionen mit sechs bis zwölf Mitgliedern«, entscheidet über Revisionen und Beschwerden gegen erinnert sich Gisbert Schmidt, einst Gewerkschaftsse- Beschlüsse der Landesarbeitsgerichte. Urteile des Bun- kretär der IG BCE im Bezirk Halle-Magdeburg und bis desarbeitsgerichts prägen auch die Rechtsprechung der zur Wende in einem Ingenieurbetrieb für den Bergbau unteren Instanzen und bilden sozusagen Leitlinien. tätig. Da in Erfurt nur noch über Rechtsfragen und nicht Sie wurden von der Personalleitung und der betrieb- mehr über Tatsachen gestritten wird, sei es besser, wenn lichen Gewerkschaftsleitung ausgesucht und befassten die ehrenamtlichen Richter und Richterinnen auch sich mit allen möglichen Fällen: der Anerkennung von Juristen sind, erklärt Ursula Salzburger von der IG- Berufskrankheiten, Konflikten mit Vorgesetzten, unge- BCE-Abteilung Justiziaria t/ Recht /Compliance, selbst rechter Behandlung, Kündigung. »Wir konnten Strei- ehrenamtliche Richterin am Bundesarbeitsgericht. »Eh- tigkeiten meist schnell lösen und die Fälle damit von renamtliche Richter können an der Rechtsgeschichte den Gerichten fernhalten«, erzählt Gisbert Schmidt, der mitschreiben«, sagt der Jurist und Leiter der Abteilung heute Betriebsräte im Arbeitsrecht schult. »Die Kollegen Peter Voigt, »wie 2018 bei der Entscheidung des Bundes- hatten weniger Scheu, vor die Kommission zu kommen, sozialgerichts über Unfälle im Homeoffice: Dass es auch denn sie kannten ja die Mitglieder, anders als heute in den eigenen vier Wänden Arbeitsunfälle geben kann, beim Arbeitsgericht.« ist seitdem anerkannt.« Der erste Schritt im gerichtlichen Verfahren in der Dass das Bundesarbeitsgericht 1999 von Kassel nach Bundesrepublik sind die Güteverhandlungen, die ohne Erfurt umzog, sollte »der Wiedervereinigung Deutsch- Ehrenamtliche nur mit der oder dem Vorsitzenden der lands einen sichtbaren Ausdruck verleihen«, heißt es in Kammer geführt werden. Ein großer Teil der Konflikte seinem Internetauftritt. Verfahrensweisen der DDR mit wird dort bereits beigelegt, weiß Birgit Voßkühler. Verhandlung vor dem Arbeitsgericht, Hamburg 1962, Foto Germin
BETRIEBSRÄTE 15 1920–1952–1972: Die Betriebs verfassungen und die verrechtlichten Arbeitsbeziehungen VON KNUD ANDRESEN Eine rechtlich abgesicherte Mitbestimmung im Betrieb Das Gesetz war ein Kompromiss. Arbeitgeberver- hat in Deutschland eine lange Tradition und gehört zu bände fürchteten eine Einflussnahme auf wirtschaft den Kennzeichen der Konfliktregulierung in den deut- liche Abläufe und wollten daher den Betriebsräten nur schen Arbeitsbeziehungen. Auch in anderen Ländern eine beratende und kooperierende Funktion zugeste- gibt es Arbeitsgerichtsprozesse, Betriebsvertretungen hen. Seitens der Gewerkschaften gab es Skepsis, ob mit der Beschäftigten und vieles mehr. Aber in Deutschland Betriebsräten nicht Parallelorganisationen entstehen war die historische Entwicklung schon früh darauf ge- könnten. Betriebsräte mussten nicht in den Gewerk- richtet, die Arbeitsbeziehungen zwischen Beschäftigten schaften sein, aber Gewerkschaftsvertreter:innen als be- und Unternehmer:innen im Betrieb rechtlich verbind- ratende Stimme zugelassen werden, wenn es von einem lich zu regeln. Grundlage waren drei Gesetze: Das Be- Viertel der Belegschaft gefordert wurde. Die Bestim- triebsrätegesetz von 1920, das Betriebsverfassungsgesetz mungen des Gesetzes zielten auf kooperative Beziehun- von 1952 und die Novellierung des Betriebsverfassungs- gen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, Mitbestim- gesetz von 1972. Die drei Gesetze legten Mitwirkungs- mung bezog sich vor allem auf soziale und personelle rechte und Interessensvertretungen im Betrieb fest, und Aspekte. Über wirtschaftliche Fragen sollten Arbeitge- zugleich waren sie Ergebnisse von Auseinandersetzun- ber nur gelegentlich informieren. Gewerkschaften und gen auch in der Arbeiterbewegung und den Gewerk- SPD verbanden damit zwar die langfristige Hoffnung, schaften. Da diese betriebliche Demokratie bis heute dass die Arbeiter:innen langfristig auf die Übernahme die »Konfliktpartnerschaft« in den Arbeitsbeziehungen der wirtschaftlichen Führung vorbereitet werden. Aller- prägt, sollen die Umstände der Gesetzeseinführungen dings wurden weitere Gesetze zur Mitbestimmung, so und ihre Auswirkungen skizziert werden. für übergeordnete Wirtschaftsräte oder Mitbestimmung Das Betriebsrätegesetz von 1920 war in der Arbeiter- im Aufsichtsrat, zwar diskutiert, aber in der Weimarer bewegung sicherlich das am meisten umstrittene. Die Republik nicht mehr erlassen. Entschieden abgelehnt Novemberrevolution 1918 hatte die Spaltung innerhalb wurde der Gesetzesentwurf von USPD und KPD. Auf der Arbeiterbewegung verschärft. Während die Mehr- einer Demonstration gegen die Verabschiedung kam heitssozialdemokratie und die Gewerkschaften für eine es vor dem Reichstag im Januar 1920 zu einem Blutbad parlamentarische Demokratie eintraten und sich durch- mit mehreren Dutzend Toten, als die Polizei das Feuer setzten, forderte eine starke Minderheit ein politisches eröffnete. Rätesystem und die Kontrolle der Betriebe. In die Wei- In den Jahren der Weimarer Republik etablierte sich marer Verfassung war die Einrichtung von Räten auf- das Betriebsrätegesetz. Die Praxis differierte zwischen genommen worden, erweitert noch um Wirtschaftsräte industriellen Branchen, abhängig davon, ob die Unter- auf regionaler und reichsweiter Ebene. Das Betriebs- nehmensverbände auf die Konfliktregulierungen sich rätegesetz war die Ausführungsbestimmung dieses Ver- einzulassen bereit waren oder nicht. Seitens der Arbei- fassungsartikels. Diese wurde entwickelt anhand der terbewegung ebbte die grundsätzliche Kritik bald ab, Regelungen des seit 1916 geltenden Hilfsdienstgesetzes, auch die KPD versuchte über Betriebsräte ihren Einfluss mit dem bereits betriebliche Arbeiterausschüsse gebil- auszubauen. Die ökonomischen Krisen der Weimarer det worden waren und die Gewerkschaften als Reprä- Republik verhinderten jedoch, dass eine dauerhafte sentanten der Beschäftigten durch den Staat anerkannt Konfliktkooperation erfolgte. Die Nationalsozialisten wurden. lehnten den im Betriebsrätegesetz verankerten Grund-
16 BETRIEBSRÄTE Kundgebung für mehr Gewerkschaftsmitwirkung im Betriebsverfassungsgesetz 1952, Foto unbekannt gedanken der Partizipation ab und hoben das Gesetz von den West-Alliierten 1947 mit durchgesetzt worden. 1934 auf. Die Hoffnungen der Gewerkschaften richteten sich auf Nach dem Ende des Nationalsozialismus begann der eine Ausweitung der Montan-Mitbestimmung auf alle Aufbau der betrieblichen Demokratie in unterschied Großindustrien, als in der 1949 gegründeten Bundes- lichem Tempo. Häufig mussten erst die Betriebe wieder republik die betriebliche Mitbestimmung bundesein- aufgebaut werden, manchmal auch von selbst einge- heitlich geregelt werden sollte. Der DGB konzentrierte setzten Betriebsräten. Bald galten in den vier alliierten sich auf die Durchsetzung dieser wirtschaftlichen Mit- Besatzungszonen verschiedene Bestimmungen, auch bestimmung und stellte die Regelung von Betriebsräten der Aufbau von Gewerkschaften erfolgte in unterschied- erstmal zurück. Als aber 1950 die Montanmitbestim- lichem Tempo. In der sowjetischen Zone und der spä- mung seitens der konservativen Bundesregierung abge- teren DDR war der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund schafft werden sollte, wurde nach einer Urabstimmung (FDGB) schon im Juni 1945 als Zentralgewerkschaft die hohe Streikbereitschaft der Belegschaften deutlich – konzipiert, und 1948 wurden Betriebsräte abgeschafft. schließlich wurde im April 1951 ein Gesetz zur Montan- Nach sozialistischem Verständnis gehörten die Betriebe mitbestimmung im Bundestag verabschiedet. Aber die dem Volk, daher gäbe es keinen strukturellen Konflikt Gewerkschaften gerieten nach diesem Erfolg mit ihren mehr zwischen Arbeit und Kapital. Die Gewerkschaften Vorstellungen zur Neuordnung der Wirtschaftsbezie- hatten in den Betrieben eine wichtige Rolle, vor allem hungen in die Defensive. Das Betriebsverfassungsgesetz bei sozialen Fragen wie der Urlaubsgestaltung, aber von 1952 wurde von den Parteien der Bundesregierung – auch bei Diskussionen um die Planerfüllung. CDU/CSU, FDP und Deutsche Partei – ausgehandelt, die In den drei Westzonen erfolgte der Aufbau von Ge- Gewerkschaften waren kaum beteiligt. Daher galt die werkschaften und Betriebsdemokratie dezentral. Zum Einführung im Sommer 1952 als Niederlage der Ge- Teil gab es weitreichende Mitbestimmungsmöglichkei- werkschaften. Die Neuordnung der Unternehmensmit- ten, so Minderheitsvertretungen für weibliche und ju- bestimmung war außer in der Montanindustrie miss- gendliche Beschäftigte. In der Montan-Industrie, (Eisen- lungen, und die Situation von Betriebsräten war dabei und Stahlproduktion und später auch Bergbau) war untergegangen. Nun galten weitgehend wieder die Re- eine paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat auch gelungen des alten Betriebsrätegesetzes, zudem wurde
BETRIEBSRÄTE 17 die Sozialpartnerschaft festgeschrieben. In Aufsichtsräte worden, vor allem in der Frage der Wirtschaftsführung waren nur ein Drittel Arbeitnehmervertreter:innen zu gab es weiterhin nur Informationsrechte. Dennoch be- entsenden. Zwar hatten Betriebsräte etwas mehr Ein- deutete das Gesetz einen Professionalisierungsschub fluss auf personelle Entscheidungen, aber kaum Ge- für viele Betriebsräte, die nun über die traditionellen staltungsmöglichkeiten, sondern überwiegend nur eine Schutzrechte hinaus mehr Gestaltungsmöglichkeiten Überwachungsfunktion. Gewerkschaften hatten keine erhielten. Im Bereich des Arbeitsschutzes und belas- rechtlich gesicherte Funktion im Betrieb, und Befürch- tender Arbeitsumgebungen konnten Betriebsräte nun tungen eines »Betriebsegoismus« der Interessenvertre- vorbeugende Maßnahmen mit vorantreiben. Hingegen tungen kamen wieder auf. wurde die paritätische Mitbestimmung in Aufsichts Es kam zu einer Führungskrise, der DGB-Vorsitzende räten weiterhin verhindert. Das Mitbestimmungsgesetz Christian Fette wurde noch 1952 abgewählt. Gegenüber von 1976 schuf zwar formal eine paritätische Besetzung der Bundesregierung, so der Vorwurf, sei die Gewerk- von Kapital- und Arbeitnehmerbank. Aber leitende An- schaftsführung zu vertrauensselig vorgegangen – ge- gestellten wurden der Arbeitnehmerbank zugerechnet werkschaftliche Ideen einer Neuordnung der Wirtschaft und der Vorsitzende hatte ein doppeltes Stimmrecht. waren gescheitert. Die Arbeitgeber waren vor allem an- Eine effektive wirtschaftliche Mitbestimmung, seit 1949 fangs bemüht, die Gewerkschaften als »betriebsfremde ein wesentliches Ziel der Gewerkschaften, war endgültig Organisationen« aus den Aufsichtsräten herauszuhalten gescheitert. und die Betriebsräte, ganz überwiegend gewerkschaft- Das Betriebsverfassungsgesetz wurde immer wie- lich organisiert, von den Gewerkschaften zu entfrem- der geändert, so gab es ab 1986 Jugend- und Auszu- den. Dies gelang jedoch nicht. Mit dem wirtschaftlichen bildendenvertretungen, da bei der alten Regelung nur Aufschwung etablierte sich ein »neuer Betriebsstil«, der Jugendliche bis 18 Jahre wählen durften, aber das Le- auch aus neuen Managementkonzepten eines weniger bensalter von Auszubildenden kontinuierlich anstieg. hierarchisch und militärisch geprägten Führungsstils 2001 wurden Interessensvertretungen in Kleinbetrie- erwuchs, der sich – wenn auch nur sehr langsam – in ben einfacher möglich, aktuell ist wieder ein »Betriebs- den 1960er Jahren durchzusetzen begann. rätemodernisierungsgesetz« beschlossen worden (siehe Ende der 1960er Jahre war die Demokratisierung zu Text von Matthias Bartke). Trotz dieser Überarbeitungen einem gesellschaftlich dominierenden Thema gewor- markieren die Gesetze von 1920, 1952 und 1972 die ent- den, eine Reform der Betriebsverfassung wurde von scheidenden Weichenstellungen für die verrechtlich- den Gewerkschaften wieder auf die Agenda gesetzt. Die ten Arbeitsbeziehungen in Deutschland. 1920 noch mit DGB-Gewerkschaften legten 1967 einen neuen Geset- scharfen Konflikten in der Arbeiterbewegung, war es zesentwurf vor, mit dem sie betriebliche Interessenver- nach dem Zweiten Weltkrieg weniger ein innergewerk- tretungen erheblich ausbauen wollten. Ab 1968 wurde schaftlicher als ein politischer Konflikt mit der Bundes- die »Aktion Mitbestimmung« mit Veranstaltungen und regierung und das Scheitern einer wirtschaftsdemokra- Kundgebungen gestartet. Die Gewerkschaften trieben so tischen Neuordnung der jungen Bundesrepublik. Die die Reformdebatte voran, die noch unter der Großen Ko- Gewerkschaften arrangierten sich mit dem Gesetz, die alition einsetzte und dann unter der neuen sozial-libera- Neuordnungsvorstellungen traten nach und nach in den len Koalition unter Willy Brandt ab Herbst 1969 schnell Hintergrund. 1972 brachte die Neufassung erhebliche Fahrt aufnahm. Ende 1971 war das parlamentarische Kompetenzerweiterungen, die, oft mit arbeitsrechtli- Verfahren abgeschlossen, das neue Betriebsverfassungs- chen Auseinandersetzungen, gefestigt und ausgebaut gesetz trat im Januar 1972 in Kraft. Die Einflussmöglich- wurden. Zu allen Zeiten aber war zu beobachten, dass keiten für Betriebsräte waren nun erheblich erweitert. betriebliche Konflikte zwar einen gesetzlichen Rahmen Bei sozialen und personellen Angelegenheiten waren hatten, aber dennoch in den Betrieben beständig aus- Veto- und Zustimmungsrechte verbessert worden, bei gekämpft und verhandelt werden mussten. Dies gelang der Personalplanung konnten nun auch eigene Vor- und gelingt den Interessenvertretungen nur mit einem schläge eingebracht werden. Mitbestimmungspflichtig hohen Organisationsgrad im Rücken – denn betrieb waren auch Aus- und Weiterbildung oder Informations- liche Interessenvertretung bleibt gemeinsames Handeln und Beratungsrechte bei Betriebsänderungen. Auch der abhängig Beschäftigten. die Entlohnungsmethoden konnten stärker kontrol- liert und gestaltet werden. Die Gewerkschaften erhiel- ten nun ein abgesichertes Zugangsrecht zum Betrieb. Es waren zwar nicht alle ihre Forderungen umgesetzt
18 BETRIEBSRÄTE Konflikte in Betrieben – eine gespaltene Welt VON MARTIN DIECKMANN Die Säulen der »Konfliktpartner- Diese erschreckenden Zahlen re- schaft« für Beschäftigte sind in den Westdeutschland lativieren sich aber durch die An- Betrieben Gewerkschaften und Be- zahl der Beschäftigten, die einen Be- triebsräte, die über Arbeitsbedin- triebsrat haben. Dies liest sich dann gungen, aber auch Qualifizierung, 66% 41% so: 1996 hatten 51 % (West) und 43 % Gesundheit, Schutz vor Diskrimi- (Ost) der Beschäftigten einen Be- nierung und vieles mehr verhan- triebsrat. Der darauf folgende Rück- deln. Diese Welt ist ungeheuer bunt, 1996 2019 gang war im Westen stärker als im vielfältig, gerade was die Art be- Osten. 2019 waren noch 41 % (West) Ostdeutschland trifft, in der Interessenkonflikte aus und 36 % (Ost) der Beschäftigten gehandelt und ausgetragen werden. durch einen Betriebsrat vertreten – Aber nicht alle Beschäftigten profi- siehe Grafik 2. In vielen Klein- und 28% tieren von diesen Säulen. Der Blick 48% Kleinstbetrieben hat es auch früher auf die Statistiken zeigt, wie groß selten Betriebsräte gegeben. Die ent- die Anzahl von Betrieben ist, in der scheidenden Veränderungen betref- es gar keinen Betriebsrat gibt. Un- 1996 2019 fen auch weniger die Kleinbetriebe, tersuchungen zeigen, wie extrem im Übrigen auch nicht die Großbe- hart Gründungen von Betriebsräten Grafik 1: Reichweite von Tarifverträgen triebe mit eher stabilen Betriebsrats- auch bekämpft werden. Wie sieht strukturen, sondern eher mittlere also die Realität der regulierten Konfliktpartnerschaft in Unternehmen mit zwischen 100 und 500 Beschäftigten. Deutschland aus? Dies ist auch insofern von Bedeutung, als die Anzahl der Tatsächlich werden, in der Rückschau auf die ver- Großbetriebe eher zugenommen, die Anzahl der Klein- gangenen 30 Jahre, immer weniger Beschäftigte von und Kleinstbetriebe eher abgenommen hat. Insgesamt Betriebsräten vertreten. Und hier gibt es zudem noch ist die Zahl der Betriebe auch in der Verteilung nach eine extreme Differenz zwischen West und Ost. Diese Größenklassen erstaunlich stabil. Angesichts der vielen Entwicklung lässt sich an der Reichweite von Tarifver- Betriebsauslagerungen, Unternehmensspaltungen bzw. trägen ablesen. Waren 1996 noch 66 % (West) und 48 % Outsourcing heißt dies nichts anderes als: Im selben (Ost) der Beschäftigten in der Privatwirtschaft tarifge- Maße, wie Betriebe untergegangen sind, wurden neue bunden, waren es 2019 nur noch 41 % (West) und 28 % gegründet. (Ost) – siehe Grafik 1. Dies sind Entwicklungstendenzen quer über alle Bei den Betriebsräten muss man zwischen der An- Branchen der Privatwirtschaft. Genauso wie beim zahl der Betriebe einerseits und der Anzahl der Beschäf- Thema Tarifbindung gibt es hier enorme Unterschiede tigten andererseits unterscheiden. Von allen Betrieben, zwischen einzelnen Branchen und Branchentypen. Im in denen rechtlich ein Betriebsrat möglich ist, hatten Baugewerbe etwa gibt es vergleichsweise viele Betriebe 1996 12 % (West) und 11 % (Ost) einen Betriebsrat. Dies ohne Betriebsrat, was gerade an dem hohen Anteil von veränderte sich über die Jahre so weit, dass 2019 nur Subunternehmen und von Handwerksbetrieben liegt. noch jeweils 9 % der Betriebe in Ost und West einen Be- Dies wird abgefedert durch viele allgemeinverbind triebsrat hatten. liche Tarifverträge, die auch für Unternehmen gelten,
BETRIEBSRÄTE 19 die nicht Mitglied eines Verbandes erst recht für die Gründung eines Westdeutschland sind. Betriebsrats. Beim Vorgehen gegen Gewerkschaften sind bei Betrie- Beschäftigte, die einen Betriebsrat ben mit Betriebsräten stark vertre- gründen wollen, sticht zweierlei ten, jedenfalls durch Gewerkschafts- 51% 41% hervor: Zum einen sind es meistens mitglieder in Betriebsräten. Der inhabergeführte Betriebe, in denen Anteil der Gewerkschaftsmitglieder diese Auseinandersetzungen eska- in Betriebsräten ist durchschnitt- 1996 2019 lieren. Zum anderen sind in hohem lich meist doppelt so hoch wie der Maße Anwälte daran beteiligt, die Ostdeutschland Anteil der Gewerkschaftsmitglieder sich geradezu qualifiziert haben für in den Belegschaften. Gleichzei- Betriebsratsverhinderung und da- tig ist der Frauenanteil unter den mit für sich werben. 43% 36% Betriebsratsmitgliedern gestiegen, In Betrieben ohne Betriebsrat zu wobei er immer geringer ist als der arbeiten, mag auf den ersten Blick Frauenanteil in der Belegschaft. Be- kein Problem sein. Vieles verlagert fristet Beschäftigte sind so gut wie 1996 2019 sich dann entweder auf die Kommu- gar nicht vertreten – was wegen der nikation mit den Vorgesetzten oder unsicheren Beschäftigungssituation Grafik 2: Vertretung der Beschäftigten gleich mit dem Chef, sicherlich auch durch einen Betriebsrat nachvollziehbar ist. untereinander in der Belegschaft. Jenseits der Welt der Betriebe mit Betriebsrat wird Gerade in sich »postmodern« gebenden Unternehmen vor allem das Thema Betriebsrat zum Zentralpunkt von kultiviert man das als Alternative zum »Bürokratismus« Konflikten. Auch wenn gesetzliche Änderungen (2002) der betrieblichen Mitbestimmung. Erst dann – und ge- die Gründung von Betriebsräten in kleineren Betrieben nau das geschah 2000 mit dem massiven Zusammen- erleichtert haben, sind die Angriffe auf Beschäftigte, die bruch der New Economy in den New Media Betrieben – für die Gründung eines Betriebsrats eintreten, erheb- wenn Entlassungen oder sogar Betriebsschließungen lich. Etwa jede sechste Betriebsratsgründung wird mas- anstehen, kommt die Quittung. Es gibt ohne Betriebsrat siv vom Arbeitgeber bekämpft. Dies ist in jedem Fall ein keinen Sozialplan und anders als gemeinhin angenom- klarer Rechtsbruch. Dem Arbeitgeber ist es grundsätz- men, gibt es auch keinen einfachen gesetzlichen An- lich untersagt, Betriebsratsarbeit zu behindern. Das gilt spruch auf Abfindung. Beschäftigte in Betrieben mit Branchentarifvertrag, 1996 bis 2020 Anteile in Prozent 70 60 50 40 30 20 96 98 00 02 04 06 08 10 12 14 16 18 20 19 19 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 Gesamtwirtschaft West Privatwirtschaft West Anmerkung: Privatwirtschaft Gesamtwirtschaft Ost ohne Landwirtschaft und Organisationen ohne Privatwirtschaft Ost Erwerbszweck Quelle: IAB Betriebspanel, © IAB
Sie können auch lesen