AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE 9/11 - Bundeszentrale für politische Bildung
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
71. Jahrgang, 28–29/2021, 12. Juli 2021 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE 9/11 Carola Dietze Max Bergmann · James Lamond 9/11 REVISITED DAS ENDE DER 9/11-ÄRA. ZUR ZUKUNFT DER Stefan Weidner US-AMERIKANISCHEN 9/11 UND DAS ENDE AUẞ ENPOLITIK „DES WESTENS“ Katajun Amirpur · Ingrid Overbeck Hendrik Hegemann 9/11 UND DIE BEZIEHUNGEN FREIHEIT UND SICHERHEIT ZWISCHEN DEN USA IN LIBERALEN DEMOKRATIEN UND IRAN NACH 9/11 Thomas Ruttig Rolf Tophoven AFGHANISTAN ISLAMISTISCHER 2001 BIS 2021 TERRORISMUS SEIT 9/11 ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
9/11 APuZ 28–29/2021 CAROLA DIETZE MAX BERGMANN · JAMES LAMOND 9/11 REVISITED DAS ENDE DER 9/11-ÄRA. ZUR ZUKUNFT DER Inwiefern hat sich der Blick auf 9/11 verändert? US-AMERIKANISCHEN AU ẞ ENPOLITIK Die Antwort auf diese Frage ist nicht nur für die 2020 endete die 9/11-Ära endgültig. Für die historische Verortung der Anschläge bedeutsam, amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik sondern auch für das Verständnis des histori- ist nicht mehr der „Krieg gegen den Terror“ schen Ortes, an dem wir heute stehen, sowie für bestimmend, sondern vor allem die Konkurrenz den Umgang mit Terrorismus generell. mit China. Was bedeutet dieses neue Kapitel für Seite 04–13 die Rolle der USA in der Welt? Seite 36–43 STEFAN WEIDNER 9/11 UND DAS ENDE „DES WESTENS“ KATAJUN AMIRPUR · INGRID OVERBECK Die Entwicklungen nach 9/11 haben die 9/11 UND DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN etablierten Konzepte „des Westens“ infrage DEN USA UND IRAN gestellt. Das Ende „des Westens“ lässt sich aber Für einen kurzen Moment nach den Anschlägen auch als positive Nachricht verstehen. Was an vom 11. September 2001 gab es für die USA und ihm wirklich bewahrenswert war, ist inzwischen Iran die Gelegenheit, die gegenseitigen Bezie- globalisiertes Allgemeingut geworden. hungen auf eine neue Grundlage zu stellen. Doch Seite 14–20 diese blieb ungenutzt. Eine Perspektive könnte die Erneuerung des Atomabkommens bieten. Seite 44–48 HENDRIK HEGEMANN FREIHEIT UND SICHERHEIT IN LIBERALEN DEMOKRATIEN NACH 9/11 THOMAS RUTTIG Im Zuge des „Kriegs gegen den Terror“ kam es AFGHANISTAN 2001 BIS 2021 ab 2001 in vielen Staaten zu einer Ausweitung Unter den Terroristen vom 11. September der Sicherheitslogik auf immer neue gesellschaft- 2001 war kein einziger Afghane. Trotzdem liche und politische Bereiche. Nicht wenige wurde Afghanistan Hauptziel des US-geführten der damals befristet eingeführten Maßnahmen Gegenschlags. Während al-Qaeda weitgehend wurden inzwischen verstetigt. aus dem Land verdrängt wurde, stehen die Seite 22–28 Taleban kurz vor der Rückkehr an die Macht. Seite 49–54 ROLF TOPHOVEN ISLAMISTISCHER TERRORISMUS SEIT 9/11 Nach 9/11 zeigte sich die Bedrohung durch islamistisch motivierten Terrorismus in ständig veränderten Formen. Auf den internationalen Dschihad-Terrorismus von al-Qaida folgte die Entstehung des „Islamischen Staates“, der trotz seiner militärischen Niederlage gefährlich bleibt. Seite 29–34
EDITORIAL Als sich am Abend des 11. September 2001 die Nacht über Manhattan und die zerstörten Türme des World Trade Centers legte, waren die Anschläge, die an diesem Tag fast 3000 Todesopfer gefordert hatten, nicht vorbei. Die Auswirkun- gen von „9/11“ sollten noch Jahre andauern und nicht nur die US-amerikanische Politik prägen. Der Schutz vor islamistisch motiviertem Terrorismus war bei fast allen nachfolgenden Wahlen in den USA und Europa wichtiges Wahlkampf thema und schlug sich in weitreichenden Sicherheitsgesetzen nieder. Die Angst vor ihm schürte islamfeindliche Ressentiments, und in der Außenpolitik vieler Staaten bestimmte lange Zeit der vom damaligen US-Präsidenten George W. Bush ausgerufene war on terror die Agenda. All dies hat in den demokratischen Gesellschaften „des Westens“ deutliche Spuren hinterlassen – mentale wie rechtliche. So gilt auch in Deutschland man- che sicherheitspolitische Maßnahme, die vor 9/11 als rechtsstaatlich zweifelhaft bewertet worden wäre, heute als normal; manch temporär gedachtes Gesetz ist inzwischen in dauerhaftes Recht überführt. Darüber hinaus wurde der „Krieg gegen den Terror“ bisweilen mit Mitteln geführt, die mit „westlichen“ Werten unvereinbar sind. Wenn die USA und ihre Verbündeten im Herbst 2021 aus Afghanistan abgezogen sein werden, haben sie das Land nicht als strahlende Sieger verlassen. Die eigenen Werte beschädigt, kulturelle Gräben vertieft, dazu die terro- ristische Bedrohung nicht gebannt – haben die Terroristen von 9/11 ihr Ziel also erreicht? Für eine abschließende Bewertung ist es auch 20 Jahre nach den Anschlägen noch zu früh. Erst allmählich sind in den vergangenen Jahren andere dringliche globale Herausforderungen (wieder) in den Vordergrund gerückt. Wie mit diesen umgegangen wird und ob es dabei gelingt, die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit (etwa vor Terrorismus, Klimaschäden oder Pandemien) zu halten, wird das historische Urteil über den 11. September 2001 mitbestimmen. Johannes Piepenbrink 03
APuZ 28–29/2021 ESSAY 9/11 REVISITED Überlegungen zu zeitgenössischen Deutungen des 11. September 2001 Carola Dietze „Die Katastrophe, die am Morgen des 11. Septem- der Veränderung des Blicks auch als Versuch auf- ber 2001 das untere Manhattan in den Schlund der gefasst werden, zu verstehen, welche Perspekti- Hölle verwandelte, entfaltete sich in vier Schü- ven in den vergangenen 20 Jahren hinzugekom- ben. (…) Es dauerte Stunden, bis man begann, men sind, weil sie sich überhaupt erst mit der Zeit das Ausmaß [der Ereignisse] zu begreifen; es dau- eröffnen konnten. Dazu gehören Überlegungen ert Tage, bis die von ihnen hervorgerufene ab- über die realen Konsequenzen des Anschlags so- wehrende Starre nachlässt; es wird Monate – oder wie solche, ob und inwiefern der Anschlag aus Jahre – dauern, um ihre Auswirkungen und Be- der Perspektive seiner Urheber wohl als erfolg- deutung zu ermessen.“ Mit diesen Worten anti- reich gelten kann und muss. Auch 20 Jahre da- zipierten die Journalisten und Schriftsteller Hen- nach behalten Antworten auf diese Fragen einen drik Hertzberg, John Updike, Jonathan Franzen vorläufigen Charakter, zumal in einem Essay wie und Denis Johnson in einem Beitrag für die Zeit- diesem. Dessen ungeachtet ist es notwendig, die- schrift „The New Yorker“, dass es Zeit benötigen se Fragen zu stellen. Denn die Antworten, die würde, die Anschläge vom 11. September 2001 wir auf sie geben, sind nicht nur für die histori- wirklich zu begreifen.01 Das ist zweifellos rich- sche Verortung der Anschläge vom 11. Septem- tig. 20 Jahre später hat sich der Blick auf die An- ber 2001 bedeutsam, sondern auch für das Ver- schläge auf das World Trade Center in New York ständnis des historischen Ortes, an dem wir heute und das Pentagon in Arlington, Virginia, sowie stehen, sowie für den Umgang mit terroristischen den geplanten, aber verhinderten Anschlag auf Anschlägen generell. das Kapitol oder das Weiße Haus in Washington, D. C., verändert. Die Frage, inwiefern das eigent- PERSÖNLICHES ERLEBEN lich genau der Fall ist, ist allerdings nicht einfach zu beantworten. Denn in den Tagen und Wochen Auf die Frage danach, wie die Anschläge am nach dem 11. September gab es vielfältige Per- 11. September 2001 – auch fernab von New York spektiven auf diese Anschläge, und auch heute und Washington – erlebt wurden, gibt es vermut- sind sie kaum auf einen Nenner zu bringen. lich ebenso viele Antworten wie Zeitgenossen, Grundsätzlich lässt sich die Frage, wie sich die das Geschehen bewusst erlebt haben. Denn der Blick auf 9/11 verändert hat, in zwei Rich- ähnlich wie die Ermordung John F. Kennedys tungen interpretieren. Zum einen kann man sie oder der Fall der Berliner Mauer gehören die An- als Frage danach verstehen, welche der damaligen schläge in die Kategorie von Ereignissen, denen Einschätzungen Bestand haben und welche nicht. man unmittelbar und völlig spontan eine beson- Was würde man heute ebenso beurteilen? Was dere Bedeutung zuschreibt, sodass man noch Jah- sieht man anders? Will man solchen Fragen nach- re später genau weiß, wo man war und was man gehen, ist es zunächst notwendig, sich noch ein- tat, als man von dem Geschehen erfuhr. Nehmen mal genau an den 11. September 2001 zu erinnern: wir ein Fallbeispiel, das ich besonders gut kenne: Wie wurden die Anschläge erlebt? Was waren die mein eigenes. ersten Reaktionen? Und wie sind die Gewaltakte Nicht nur in New York, auch in Göttingen an diesem Tag und unmittelbar danach interpre- war der 11. September 2001 ein strahlend schöner tiert worden? Zum anderen kann die Frage nach Tag mit tiefblauem Himmel. Ich hatte damals kei- 04
9/11 APuZ nen Fernseher und saß im Studentenwohnheim terwegs stellte sich heraus, dass die Autobahnab- über meinen Büchern, als mein Nachbar kurz fahrten von der Militärpolizei der Bundeswehr, vor drei Uhr nachmittags energisch an die Tür den Feldjägern, gesperrt worden waren, um den klopfte: „Schau mal, was in New York los ist.“ Truppenübungsplatz Munster abzuriegeln. Nur Alarmiert von seinem Ton folgte ich ihm sofort über weiträumige Umwege kamen wir ans Ziel. beschleunigten Schrittes in seine Wohnung, wo All dies objektivierte den Eindruck einer akuten wir beide starr vor dem Bildschirm seines Fern- Bedrohungslage. Worin diese Bedrohung genau sehers stehenblieben und mitverfolgten, wie ein bestehen konnte, war aber nach wie vor unklar. Flugzeug direkt in das World Trade Center flog. Diese Erfahrungen und unmittelbaren Reak- Ein Turm brannte bereits. Mir kroch es kalt den tionen sind in mancher Hinsicht typisch, in an- Rücken hinunter. Wir rätselten beide, wer oder derer nicht. Jede Person, die von den Anschlägen was genau hinter den Anschlägen stecken könn- erfuhr, begriff sofort, dass die Vorgänge in den te und welche Konsequenzen zu erwarten sei- USA eine große, kaum zu überblickende Trag- en. Krieg? Aber gegen wen? Da ich einen Termin weite hatten. Zugleich herrschte allerorten Ver- hatte, musste ich mich bald vom Fernseher losrei- unsicherung und Ratlosigkeit mit Blick auf die ßen. Mit dem Fahrrad fuhr ich in die Innenstadt, Bedeutung des Geschehens: Aufgrund der weni- sie war menschenleer; in einem Geschäft, das ich gen Indizien, die es gab, versuchten alle, ich ein- betrat, war ich die einzige Kundin. Das Personal geschlossen, die Hintergründe der Gewaltakte zu hatte einen Fernseher an die Kasse gestellt und verstehen und zu deuten, nicht zuletzt, um mög- verfolgte die Bilder aus New York. Wir tauschten liche Konsequenzen für die Zukunft abschätzen Mutmaßungen über ihre Bedeutung aus. Dann zu können. Wenn ich die Anschläge in einer ers- fuhr ich weiter zum Max-Planck-Institut für Ge- ten Assoziation palästinensischen Terrorgrup- schichte, wo im Hauptgebäude gerade eine Ta- pen zuschrieb, schloss ich lediglich aus dem Er- gung zum Thema „Politische Gewalt“ stattfand. fahrungsraum der Vergangenheit. Mein Nachbar Die Organisatoren hatten die Veranstaltung un- hatte diese Zuschreibung gleich infrage gestellt: terbrochen und irgendwo im Institut einen Fern- „Warum sollten palästinensische Gruppen Ziele seher aufgetrieben. Die Tagungsteilnehmer sa- in New York angreifen und auf diese Weise die ßen zusammen mit dem Institutspersonal davor USA als Vermittler im Konflikt mit Israel ver- versammelt.1 prellen?“ So war die Bedrohungslage zwar inten- Mein Kollege hatte ebenfalls vom Anschlag in siv gefühlt, aber in der Sache völlig ungewiss – die New York erfahren, und wir fragten uns, ob wir Deutung des Geschehens also noch ganz offen. uns auch ins Hauptgebäude zu den anderen vor Dass dies nicht nur für Privatpersonen galt, zeigt den Fernseher setzen sollten. Nach einem kurzen die Abriegelung eines Truppenübungsplatzes in Austausch entschieden wir uns dagegen und be- der Lüneburger Heide anlässlich terroristischer schlossen, zu arbeiten. Ausschlaggebend für diese Angriffe in über 6000 Kilometern Entfernung. Entscheidung war das Gefühl, dass wir – sobald wir unsere Normalität zugunsten der Fernseh- UNMITTELBARE DEUTUNGEN übertragung aus New York aufgaben und zum IN POLITIK UND MEDIEN Publikum des Anschlags wurden – genau das tun würden, was diejenigen, die den Anschlag ge- Fragt man danach, wie die Anschläge am 11. Sep- plant und verübt hatten, von uns erwarteten. Da- tember 2001 in den darauffolgenden Tagen und mit würden wir den Absichten und dem Kalkül Wochen in Politik und Presse kommentiert und der Attentäter entsprechen, eine uns zugedach- interpretiert wurden, fällt ins Auge, dass die tie- te Rolle ein- und annehmen und in diesen An- fe Verunsicherung durch die Gewaltakte selbst schlag hineingezogen werden. Dagegen hat sich und ihre Deutung sowie die Ungewissheit ange- in mir alles gesträubt. Deshalb setzten wir uns sichts der möglichen Reaktionen darauf fast ubi- beide an unsere Rechner und arbeiteten weiter. quitär waren und sogar anhielten, nachdem die Für den Abend hatte ich geplant, mit dem Auto Frage der Urheberschaft geklärt war. Dieser Ein- von Göttingen nach Lüneburg mitzufahren. Un- druck von Ungewissheit und Verunsicherung war so augenfällig, dass er vielfach thematisiert wur- 01 Hendrik Hertzberg et al., The Talk of the Town: Tuesday, de. Geradezu legendär wurde die Aussage eines and After, in: The New Yorker 77/2001, S. 27. hochrangigen Mitarbeiters des National Security 05
APuZ 28–29/2021 Council gegenüber der „Washington Post“: „Wir wickelten Terrorismus umgehen soll.“05 Die wissen hier gar nichts. Wir schauen auch CNN“ Unklarheit der Bedrohungssituation und die Fra- („We don’t know anything here. We’re watching ge, wie mit ihr umzugehen sei, waren demnach CNN too“).02 Die Stille und Leere nach dem An- nicht zu unterschätzende Bestandteile des Bedro- schlag, der Mangel an validen Antworten und hungsszenarios, auch wenn es als Krieg interpre- Deutungen, selbst bei den zuständigen Sicher- tiert wurde. heitsbehörden, standen in einer schwer auszuhal- Auffällig ist, wie stark die Anschläge sofort in tenden Spannung zur unübersehbaren Bedeutung historischen Kategorien gedeutet wurden. Politi- des Geschehens. ker und Kommentatoren aus unterschiedlichen US-Präsident George W. Bush hielt sich zur Ländern und politischen Lagern betonten uniso- Zeit der Anschläge in einer Grundschule in Sara- no das Neue, das Präzedenzlose. Doch worin ge- sota, Florida, auf. Als er darüber informiert wur- nau bestand jeweils dieses Neue? Neu waren ih- de, dass ein Flugzeug in einen Turm des World nen zufolge zunächst die Form der Gewalt sowie Trade Centers geflogen war, war seine erste Ver- ihre Urheber. So war in der „Zeit“ vom „größte[n] mutung, dass es sich um einen Fehler des Pilo- Terroranschlag der Geschichte“ die Rede,06 und ten gehandelt haben müsse. Bush saß vor einer Anthony Lewis sprach von der „neu entdeckten Schulklasse, als ihm der Stabschef des Weißen Bedrohung durch groß angelegten, hoch entwi- Hauses um 9.05 Uhr zuflüsterte: „Ein zweites ckelten Terrorismus“.07 Maureen Dowd von der Flugzeug traf den zweiten Turm. Amerika wird „New York Times“ stellte fest: „Wir sind aufge- angegriffen.“ Er blieb noch einige Minuten im rüttelt worden von der Erkenntnis, dass die in- Klassenraum, während die Kinder vor ihm wei- telligenten Raketen, die wir in Desert Storm [im terlasen, wurde dann in einem Nebenraum infor- Irak-Krieg 1991] gesehen haben, zwar Schorn- miert und anschließend auf eine Air-Force-Basis steine hinunter gelenkt werden, uns aber nicht nach Nebraska evakuiert. Die Videokonferenz vor einer Handvoll Typen mit Teppichmessern mit seinen Beratern begann Bush mit den Wor- und Plastikmessern schützen können.“ Dazu zi- ten „Wir sind im Krieg.“03 Die Staatenlenker vie- tierte sie den ehemaligen Senator Pat Moynihan, ler Nationen pflichteten ihm bei; Bundeskanzler der seit Langem als Kritiker des US-Auslandsge- Gerhard Schröder erklärte tags darauf im Bun- heimdienstes CIA bekannt war, mit der Überle- destag: „Die gestrigen Anschläge in New York gung, dass Washington sich immer über Inter- und Washington sind nicht nur ein Angriff auf kontinentalraketen gesorgt habe, „während wir die Vereinigten Staaten von Amerika; sie sind eine ganz neue Art von Bedrohungslage hatten, eine Kriegserklärung gegen die gesamte zivili- nämlich die erbitterte und ungelöste islamische sierte Welt.“04 Gegnerschaft angesichts der jahrhundertelangen Doch warf die Deutung der Anschläge als Vorherrschaft des Westens“.08 Neu waren diesen Kriegshandlung auch neue Fragen auf. So formu- Kommentatoren zufolge auch die ausgefeilte Pla- lierte der Journalist Anthony Lewis in der „New nung sowie die Tatsache, dass die Täter die An- York Times“: „Sollte dies ein Krieg sein, unter- schläge in den USA selbst vorbereitet und bei der scheidet er sich erheblich von dem am besten in Ausführung auf einfachste Mittel gesetzt hatten. Erinnerung gebliebenen Angriff auf Amerika. Kurz: Es handelte sich um einen neuen Feind mit Pearl Harbor war so klar. (…) Niemand konnte neuen Motiven und Methoden. daran zweifeln, wer der Feind war oder wie Ame- Neu war aus der Sicht amerikanischer Kom- rika zu reagieren hatte. Genau das sind jetzt die mentatoren zudem die Wirkung: „Wir alle werden Zweifel. Keiner von uns kann so tun, als wüss- für immer von diesem Tag gezeichnet sein. Ter- te er genau, wie er mit dieser neu entdeckten Be- ror ist das, was die Angreifer hervorrufen woll- drohung durch einen groß angelegten, hoch ent- 05 Anthony Lewis, A Different World, in: The New York Times, 02 Zit. nach Alexander Cockburn, The Next Casualty: Bill of 12. 9. 2001, S. A27. Rights?, in: Los Angeles Times, 13. 9. 2001, S. B9. 06 Hans Kammertöns et al., Der Terrorpilot von Flug 011, in: 03 Vgl. National Commission on Terrorist Attacks Upon the Die Zeit Extra, Die Welt zwischen Terror und Krieg, 17. 9. 2001, United States, The 9/11 Commission Report, New York–London S. 8. 2004, S. 35, S. 38, S. 325 f. 07 Lewis (Anm. 5). 04 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 14/186, Berlin, 08 Maureen Dowd, The Modernity of Evil, in: The New York 12. 9. 2001, S. 18293. Times, 16. 9. 2001, S. WK11. 06
9/11 APuZ 11. September 2001: US-Präsident George W. Bush in der Emma Booker Elementary School in Sarasota, Florida, kurz nachdem er über den Anschlag auf das World Trade Center in New York informiert wurde. Quelle: picture alliance/Eric Draper – White House via CNP 12. September 2001: Schlagzeilen deutscher Zeitungen. Quelle: picture alliance/dpa, Werner Baum 07
APuZ 28–29/2021 ten, und sie waren erfolgreich. Sie haben nicht nur schrieb der Filmkritiker Richard Corliss: „‚Es Tod und Zerstörung über Symbole der amerika- war einmal‘ ist für viele Amerikaner jene Zeit vor nischen wirtschaftlichen und politischen Macht 8.48 Uhr am 11. September 2001. Wir lebten in gebracht. Sie haben gezeigt, wie verwundbar die einer Art Disneyland-Festung, einem Land mit einzige Supermacht der Welt ist: wie unvollkom- enormen natürlichen und wirtschaftlichen Res- men unsere Flughafensicherheitssysteme sind, sourcen, mit befreundeten Nationen nördlich wie ungeschützt selbst unser militärisches Haupt- und südlich von uns und schützenden Ozeanen quartier.“09 Die beiden zentralen Elemente dieser auf beiden Seiten. Wir weilten in einem Eden der Analyse – Angst und Verletzlichkeit – finden sich Unschuld oder was man dafür halten kann. (…) in ähnlicher Weise auch in vielen weiteren Kom- Wir dachten nicht, dass wir jemals in einer Stim- mentaren. Der Kulturwissenschaftler Todd Gitlin mung nervöser Angst leben würden, auf der Hut wurde in der „Los Angeles Times“ mit der Ein- vor jedem plötzlichen Geräusch, jedem Flugzeug schätzung zitiert, dass „die Attacken offensicht- über uns, einem Fremden, der auf uns zugeht. lich einen schweren Schlag für die nationale Psy- (…) Jetzt wachen wir in dem Alptraum auf, den che“ bedeuten, deren Nachhall „wahrscheinlich Dutzende von Millionen Unschuldiger weit ent- kompliziert“ werden wird.010 Als Taktik zielt Ter- fernt jeden Moment erleben. Der 11. September rorismus auf eine psychische Reaktion beim Pu- war der Tag, an dem wir dem Rest der Welt beige- blikum, und die zitierten Medienreaktionen bele- treten sind. Der wirklichen Welt.“12 gen, dass die Anschläge am 11. September solche Dieses „Erwachen“ in der Realität histo- Reaktionen „erfolgreich“ hervorgerufen haben. rischer Normalität begriffen Journalisten und Das Neue der Gewalt, ihrer Urheber und ih- Kommentatoren innerhalb und außerhalb der rer Wirkung brachte amerikanischen Kommen- USA weitgehend einhellig als einen historischen tatoren zufolge schlagartig ein neues Lebensge- Moment, als Anbruch einer neuen Zeit. Der fühl mit sich: „Wir leben heute in einem anderen „Zeit“-Journalist Gunter Hofmann konstatierte, Amerika als noch vor letztem Dienstag“, schrieb „dass mit den Anschlägen in New York und Wa- etwa der Journalist Frank Rich in der „New York shington eine Epoche zu Ende gegangen ist“, und Times“. Und weiter: „Der Albtraum dieser Wo- zitierte das Diktum des britischen Historikers Ti- che, so viel ist nun klar, hat uns aus einem frivo- mothy Garton Ash vom „wahre[n] Anfang des len, wenn nicht gar dekadenten, jahrzehntelan- 21. Jahrhunderts“.13 Der Journalist und Schrift- gem Traum geweckt, auch wenn er uns in eine steller Fareed Zakaria brachte die Tragweite des ungewisse Zukunft stürzt, mit der wir nie gerech- als historisch gesehenen Moments am eindrück- net hatten. Der Traum war einfach – dass wir alles lichsten auf den Punkt, als er in der Zeitschrift haben könnten, ohne einen Preis dafür zahlen zu „Newsweek“ schrieb: „Historiker werden sicher müssen (…). Dieses fette, tagträumende Ameri- sagen: ‚Das war die Woche, in der sich Amerika ka ist jetzt weg, weit weg (…), so verdampft wie veränderte.‘ (…) Dies ist sicherlich das Ende vom der Glaube, dass High-Tech-Überwachung und Ende der Geschichte (…).“14 Zakaria zufolge lag Waffen uns sicher halten würden.“011 Rich zufol- die historische Bedeutung des 11. September 2001 ge war das neue Lebensgefühl durch Verluste cha- nicht in der Gewalt, sondern in den psychischen rakterisiert: Die unbeschwerte Reise- und Bewe- Reaktionen, die die Anschläge ausgelöst hatten, gungsfreiheit gehöre ebenso der Vergangenheit an sowie den Interpretationen und Neuverortungen, wie die Illusion, die Welt gezähmt zu haben und die – ungeachtet aller Ungewissheiten – umge- ohne Konsequenzen handeln zu können. hend vorgenommen wurden. Der Verlust lang gehegter Illusionen wur- Überblickt man diese exemplarisch ausge- de mitunter in geradezu biblischem Sinne als wählten Kommentare, fanden sich die Erfahrun- selbstkritischer Erkenntnisprozess gefasst. So gen und Interpretationen des Neuen auf ganz un- 09 Lewis (Anm. 5). 12 Richard Corliss, Old Feelings in the New World, 24. 9. 2001, 10 Reed Johnson, Will War on Terrorism Define a Generation? http://content.time.com/time/arts/article/0,8599,176135-1,00.html. Historians Ponder to What Extent the Attacks Will Be a True Tur- 13 Gunter Hofmann, Vernünftige Ohnmacht, in: Die Zeit Extra, ning Point for Society, in: Los Angeles Times, 23. 9. 2001, S. E1. Die Welt zwischen Terror und Krieg, 17. 9. 2001, S. 3. 11 Frank Rich, The Day Before Tuesday, in: The New York 14 Fareed Zakaria, The End of the End of History, in: Times, 15. 9. 2001, S. A23. Newsweek 138/2001, S. 70. 08
9/11 APuZ terschiedlichen Ebenen wieder: auf den Ebenen Einkaufszentren.“16 Fareed Zakaria hingegen er- der Gewalt, ihrer Urheber und Motive sowie der wartete einen globalen Ausbau von Sicherheits- Wirkung der Anschläge, die weit über die Gren- staaten: „Überall auf der Welt werden wir erle- zen der USA hinaus Gefühle der Beklommen- ben, dass Regierungen mächtiger, zudringlicher heit, der Angst und der Verletzlichkeit auslösten, und wichtiger werden. Das mag Bürgerrecht- ebenso auf den Ebenen des Lebensgefühls sowie lern und Menschenrechtsaktivisten nicht gefal- der persönlichen, innen- und außenpolitischen len, aber es wird keine Rolle spielen. Der Staat ist Sicherheit und Kontrolle, ja, der erhabenen natio- zurück, und zwar aus dem ältesten Hobbes’schen nalen Souveränität und Ausnahmestellung in der Grund – der Gewährleistung von Sicherheit.“17 Welt. Aus diesen Gründen schienen die Anschlä- Der politische und gesellschaftliche Schulter- ge vielen Kommentatoren eine historische Zäsur schluss mit dem Ziel der Landesverteidigung und zu bilden. eine Zunahme der Bedeutung und der Sichtbar- keit von Militär und Sicherheitsdiensten – nach UNTERSCHIEDLICHE außen wie im Innern – waren beobachtete und er- SCHLUSSFOLGERUNGEN wartete Folgen der Anschläge. Auch aus dem Verlust der Illusion der Unein- Aus den Deutungen der unterschiedlichen Di- nehmbarkeit konnten unterschiedliche Schluss- mensionen des Neuen konnten im Rahmen da- folgerungen gezogen werden. Einige Kommenta- maliger Erwartungshorizonte ganz verschie- toren waren der Auffassung, dass die USA sich dene Erwartungen an die Zukunft folgen und nach dieser Katastrophe notwendigerweise der unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen Welt stärker zuwenden müssten und würden. So werden. Genau das ist auch geschehen. Ausge- stellte Zakaria fest: „Für die Amerikaner schien hend von dem Gedanken, dass man es mit einer Sicherheit ein Geburtsrecht zu sein. Infolgedes- neuen Form von Gewalt, neuen Urhebern und sen hatte Amerika während des letzten Jahrhun- neuen Formen der Bedrohung für die innere Si- derts das Gefühl, dass Außenpolitik eine Frage cherheit zu tun habe und dass die Sicherheits- der Wahl und nicht der Notwendigkeit war. Wir systeme versagt hatten, war es eine naheliegende haben uns stark in der Welt engagiert, aber wir Sichtweise, dass im Bereich der inneren Sicher- haben uns auch aus ihr zurückgezogen, wenn wir heit Handlungsbedarf bestand und nachgerüs- es wollten. In unserer Diplomatie und in unseren tet werden müsse. „Spätestens seit dem 11. Sep- Allianzen gingen wir davon aus, dass die Welt uns tember 2001 muss klar sein, dass sich kein Land mehr braucht als wir sie brauchen. Das ist vor- der Erde auf den Lorbeeren ausruhen kann, bei.“18 Die Erkenntnis gegenseitiger Angewie- die es in der Vergangenheit beim Kampf gegen senheit ging einher mit dem Imperativ, hinzuse- den Terrorismus erworben hat – mögen die Er- hen und sich zu kümmern, wie Anthony Lewis folge noch so groß gewesen sein“, formulierte schrieb: „Nach dem 11. September wurde von beispielsweise der Terrorismusforscher Bruce vielen gesagt, dass sich unsere Welt unwiderruf- Hoffman. „In der Vergangenheit haben wir uns lich verändert hat. (…) Es ist in der Tat eine an- gern eingeredet, der Terrorismus zähle zu unse- dere Welt, eine, in der die Vereinigten Staaten und ren weniger ernsten und komplexen Sicherheits- der Westen sich darum sorgen müssen, was an so problemen. Das können wir uns nun endgültig weit entfernten Orten wie, nun ja, Afghanistan nicht mehr e rlauben.“15 passiert. Verzweifelte Bevölkerungen klopfen an Was das neue Lebensgefühl in den USA be- unsere Türen und bedrohen unseren Lebenskom- traf, zielten die Erfahrungen und Erwartungen fort. Wir müssen uns darum kümmern.“19 In die- der Umorientierung auf verschiedene Bereiche ser Deutung sollten die Anschläge vom 11. Sep- der Gesellschaft. So schrieb die „Time“-Journa- tember als Warnsignal dienen, sich der Welt listin Nancy Gibbs: „Wir werden uns einfach an etwas gewöhnen müssen, was wir noch nie gese- hen haben: den regelmäßigen Anblick von Solda- 16 Nancy Gibbs, What Comes Next?, in: Time, 8. 10. 2001, S. 22. ten auf unseren Straßen, an den Flughäfen, in den 17 Zakaria (Anm. 14). 18 Ebd. 15 Bruce Hoffman, Neue Härte, langer Atem, in: Die Zeit Extra, 19 Anthony Lewis, The Inescapable World, in: The New York Die Welt zwischen Terror und Krieg, 17. 9. 2001, S. 6. Times, 20. 10. 2001, S. A23. 09
APuZ 28–29/2021 zuzuwenden, sie als interdependent und vernetzt dann gerade jetzt. Dies ist nicht irgendein Krieg, zu verstehen sowie die globalen Wirtschafts- und sondern ein gerechter Krieg.“21 Andere beschrie- Umweltprobleme anzugehen, um weiteren An- ben den Krieg eher als ein nicht zu leugnendes griffen und Konflikten vorzubeugen. Faktum, ohne ihn explizit zu werten: „Die Ver- Eine andere Schlussfolgerung war Krieg. Die einigten Staaten befinden sich im Kriegszustand, Bush-Administration hatte die Anschläge um- auch wenn unklar ist, um was für eine Art Krieg gehend als Kriegshandlungen bezeichnet. Die- es sich handeln wird,“ schrieb etwa der Philosoph se Sprache nahmen anfänglich nur wenige Kom- Richard Rorty in der „Zeit“.22 mentatoren in den USA auf. Eine von ihnen war Eine verbreitete Erwartung war, dass es sich die Juristin und Journalistin Ann Coulter. Unter dabei um eine neue Form des Krieges handeln Bezug auf den Kampf gegen das nationalsozialis- würde. So kündigte Verteidigungsminister Do- tische Deutschland schrieb sie bereits am 13. Sep- nald Rumsfeld in der Sendung „Fox News Sun- tember 2001 im „National Review Online“: „Wir day“ an: „Es ist eine neue Art von Krieg“, und brauchen keine langen Untersuchungen der fo- er fügte hinzu: „Es wird politisch, wirtschaftlich, rensischen Beweise, um mit wissenschaftlicher diplomatisch und militärisch sein. Es wird un- Genauigkeit die Person oder Personen zu be- konventionell sein, was wir tun.“23 Nicht weni- stimmen, die diesen speziellen Angriff befohlen ge Kommentatoren beschäftigte zudem die Fra- haben. Wir brauchen keine ‚internationale Koa- ge, ob es eine neue Lagerbildung analog zu der lition‘. Wir brauchen keine Studie über ‚Terroris- des Kalten Krieges geben würde. So hieß es im mus‘. Wir brauchen ganz sicher keine Resolution „Spiegel“: „Die Freudentänze der Palästinenser des Kongresses, die den Angriff in dieser Woche auf den Straßen Ostjerusalems, die Sieges-Par- verurteilt. (…) Es ist absurd, anzunehmen, dass tys von Muslimen in Brüssel wie in Berlin, in Ka- jeder Passagier ein potenziell durchgeknallter bul oder Islamabad, weisen auf einen neuartigen mörderischer Verrückter ist. Wir wissen, wer die Ost-West-Konflikt“,24 während der Journalist gemeingefährlichen Verrückten sind. Sie sind die- Bill Keller in der „New York Times“ überlegte: jenigen, die gerade jetzt jubeln und tanzen. Wir „Ich bin mir nicht sicher, ob der erklärte Krieg sollten in ihre Länder einmarschieren, ihre Füh- gegen den Terror auf einen neuen Kalten Krieg rer töten und sie zum Christentum bekehren. Wir hinausläuft. Der Krieg gegen den Kommunismus waren nicht zimperlich bei der Suche und Bestra- hatte ein definierbares Ende, während die Been- fung Hitlers und seiner Top-Offiziere. Wir haben digung des Terrorismus ein Ziel ohne Ziellinie ist. deutsche Städte mit Flächenbombardierungen (…) Wenn wir es ernst meinen, ist dies einer jener überzogen, wir haben Zivilisten getötet. Das war Konflikte, die die Welt neu ausrichten können. Krieg. Und dies ist ein Krieg.“20 Wie der Kalte Krieg wird auch dieser, solange er Die Auffassung, dass der Krieg als Antwort andauert, eine Anziehungskraft auf alles ausüben. moralisch legitimiert sei, wurde auch von anderen Er wird bestimmen, wer unsere Freunde sind, un- Kommentatoren geteilt. So stellte Maureen Dowd sere Prioritäten revidieren und die Elastizität un- in der „New York Times“ mit Blick auf den Af- serer Ideale testen.“25 Solche Überlegungen stan- ghanistan-Krieg fest: „Dies ist der erste Krieg den noch ganz unter dem Eindruck des Kalten seit dem Zweiten Weltkrieg, der persönlich ist. Krieges und schrieben diese Erfahrungen fort. Der Vietnamkrieg beruhte auf der Domino-The- Doch gab es umgehend auch skeptische Stim- orie und zog sich hin, weil [US-Präsident] Lyn- men sowie kritische und warnende Kommenta- don Johnson und [Verteidigungsminister] Robert re in Bezug auf so gut wie alle Ebenen der Deu- McNamara ihr Gesicht nicht verlieren wollten. Bei Desert Storm ging es darum, unsere Benzin- 21 Maureen Dowd, These Spooky Times, in: The New York preise niedrig zu halten. Aber dieses Mal haben Times, 31. 10. 2001, S. A15. sie den Krieg zu uns gebracht, und jetzt geht es 22 Richard Rorty, Die Militarisierung Amerikas, in: Die Zeit darum, dass wir uns selbst und unsere Lebens- Extra, Die Welt zwischen Terror und Krieg, 17. 9. 2001, S. 21. weise schützen. (…) Wenn die Vereinigten Staa- 23 Zit. nach Todd S. Purdum, Bush Warns of a Wrathful, Sha- dowy and Inventive War, in: New York Times, 17. 9. 2001, S. A2. ten jemals ein historisches Gedächtnis brauchten, 24 Carolin Emcke et al., „Wir werden zurückschlagen“, in: Der Spiegel, 15. 9. 2001, S. 16–25. 20 Ann Coulter, This Is War. We Should Invade Their Countries, 25 Bill Keller, The 40-Year War, in: The New York Times, 13. 9. 2001, www.nationalreview.com. 6. 10. 2001, S. A23. 10
9/11 APuZ tungen und Schlussfolgerungen. Die eingangs kämpfen.“27 Mit der Bezeichnung der Täter als zitierten Journalisten und Schriftsteller Hertz- Kriminelle, ihrer Verfolgung durch Polizei und berg, Updike, Franzen und Johnson beispiels- Geheimdienste sowie ihrer Verurteilung durch weise warnten davor, den Begriff des Krieges für Gerichte erweist sich der angegriffene Staat als le- die Anschläge vom 11. September zu verwen- gitimer Rechtsstaat, zudem verleiht man den Tä- den. Dabei stellten sie die Dimension des Ge- tern weniger Aura und Märtyrerstatus und kann schehens ausdrücklich nicht infrage. Doch sa- das privatisierte Gewalthandeln besser durch- hen die vier Autoren gute Gründe dafür, andere leuchten und für die Zukunft verhindern. Worte zu wählen: „Mit wachsender Heftigkeit Schließlich gab es auch Kommentatoren, haben Beamte vom Präsidenten an abwärts die die die Interpretation vom Anbruch einer neu- blutigen Taten als Kriegshandlungen bezeich- en Zeit, vom historischen Moment oder vom net. Aber solange sich nicht herausstellt, dass Wendepunkt früh relativierten. Die „Los Ange- eine ausländische Regierung die Operation ge- les Times“ etwa zitierte den Historiker Arthur leitet hat (oder zumindest ihren Umfang im De- Schlesinger Jr. mit den Worten „Ich denke, die- tail und im Voraus gekannt und gebilligt hat), ses Gerede von einer neuen historischen Epo- ist das ein Kategorienfehler. Die Metapher des che ist völlig überzogen. (…) Wir bewegen uns Krieges – und es handelt sich hier mehr um eine jetzt in einen Zustand hinein, in dem sich der Metapher als um eine Beschreibung – schreibt Rest der Welt bereits befindet.“28 Auch Eppler den Tätern eine Würde zu, die sie nicht verdie- äußerte sich historischen Superlativen gegenüber nen, einen Status, den sie nicht beanspruchen skeptisch: „Dass dieses Jahrhundert nur eines können, und eine Stärke, die sie nicht inneha- des Terrors sein könne, ist höchst zweifelhaft. ben. Schlimmer noch, sie verweist auf eine Reihe Aber zumindest seine ersten Jahrzehnte dürf- von Reaktionen, die sich als sinnlos oder kontra- ten geprägt sein von entstaatlichter, privatisier- produktiv erweisen könnten.“ Und sie folgerten ter, kommerzialisierter und oft auch krimineller daraus die Frage: „Wie geht man mit ‚massiven Gewalt. Dafür steht der 11. September 2001.“29 militärischen Maßnahmen‘ gegen die Infrastruk- Andere wiederum stellten fest, dass der interna- tur einer staatenlosen, verteilten und aufgeteil- tionale Terrorismus „ja keine neue Entdeckung ten ‚Armee‘ von fünfzig oder zehnmal fünfzig für die Bundesrepublik“ sei und verwiesen etwa Mann vor, deren Waffen Mietwagen, Kreditkar- auf den Anschlag auf die israelische Mannschaft ten und Flugtickets sind?“26 bei den Olympischen Spielen 1972 in München Diese Argumente sind nicht von der Hand durch die palästinensische Organisation Schwar- zu weisen. Terroristen sehen sich selbst gern zer September.30 als Soldaten in einem Krieg, weil diese Begrif- fe ihnen vermeintlich die offizielle Legitimation WAS IST GEBLIEBEN? verleihen, die ihnen gerade fehlt. Man sollte ih- EIN ZWISCHENFAZIT nen nicht den Gefallen tun, ihre Begrifflichkeit zu übernehmen. Anstelle des Begriffs „Krieg“ Etwa 20 Jahre später endet der Afghanistan-Ein- schlugen Hertzberg, Updike, Franzen und John- satz. Die 2001 begonnene, von der NATO geführ- son vor, die Anschläge als „Verbrechen“ zu be- te Mission der International Security Assistance zeichnen und entsprechend als Kriminalität zu Force (ISAF), die 2015 mit der kleineren Aus- behandeln. In Deutschland formulierte der SPD- bildungsmission „Resolute Support“ eine Fort- Politiker Erhard Eppler diese Argumente in ana- setzung fand, geht zu Ende. „Bittere Lehren aus loger Weise im „Spiegel“: „Die 19 [Täter] waren Afghanistan“ titelt die „Frankfurter Allgemeine keine Soldaten, keinem Staat verpflichtet. Sie Zeitung“ Anfang Juli anlässlich der Rückkehr der waren Teil eines privat finanzierten Netzwerks. (…) Solange wir vom Krieg gegen den Terroris- 27 Erhard Eppler, Weder Krieg noch Frieden, in: Der Spiegel, mus reden, bekommen wir wichtige Aufgaben 8. 10. 2001, S. 56–59, hier S. 59. gar nicht in den Blick. Daher schlage ich vor, den 28 Zit. nach Johnson (Anm. 10). 29 Eppler (Anm. 27), S. 56. Terror als die für uns gefährlichste Form priva- 30 So Michael Naumann/Matthias Geis im Interview mit Ver- tisierter und kommerzialisierter Gewalt zu be- teidigungsminister Rudolf Scharping: Natürlich ist die Antwort militärisch, in: Die Zeit Extra, Die Welt zwischen Terror und 26 Hertzberg et al. (Anm. 1). Krieg, 17. 9. 2001, S. 4. 11
APuZ 28–29/2021 letzten Bundeswehrsoldaten und kommentiert: die Verunsicherung durch die Gewalt und die Un- „Osama Bin Laden ist tot, aber Al-Qaida gibt es sicherheit und Ungewissheit mit Blick auf mög- in Afghanistan immer noch, heute auch den IS. liche Deutungen und Reaktionen nicht zu über- Und die Taliban haben gute Chancen, demnächst gehen, sondern ernst zu nehmen. Zwar war die die Inseln der Aufklärung zurückzuerobern, die Gewalt dieser Anschläge in einer Weise geplant im Schutz der internationalen Truppen entstan- und ausgeführt, die Botschaften transportierte. den sind.“31 Inwiefern verändern solche Erfah- Doch waren diese Botschaften keineswegs eindeu- rungen den Blick auf die Anschläge vom 11. Sep- tig, sondern in einem hohem Maße deutungsoffen tember 2001? Inwiefern hat sich in dieser Zeit die und interpretationsbedürftig. Solche Deutungen Perspektive auf 9/11 verändert? und Interpretationen sind Teil der Reaktion. Darin Diese Frage ist umso wichtiger, weil terroris- liegt ein nicht zu unterschätzendes Machtpotenzial tische Anschläge nicht mit dem Ende der Gewalt- für Gesellschaft, Politik und Medien, das mit Be- ausübung und ihren unmittelbaren Folgen en- dacht genutzt werden kann. Die Anschläge vom den. Die Taktik des Terrorismus ist ein Spezialfall 11. September mussten nicht notwendig als Kriegs- der Provokation, ein absichtlich herbeigeführter handlung oder Eröffnung eines Krieges betrachtet überraschender Normbruch, „der den anderen in werden. Sie hätten auch als kriminelles Verbrechen einen offenen Konflikt hineinziehen und zu einer definiert werden können, wie auch schon einige Reaktion veranlassen soll, die ihn, zumal in den Zeitgenossen wussten und vorschlugen. Augen Dritter, moralisch diskreditiert und ent- Deutungen des Anschlags in historischen Ka- larvt“, so der Soziologe Rainer Paris.32 Eine Pro- tegorien sind ebenfalls nicht unproblematisch. vokation führt den Mächtigen vor und bestreitet Im Falle von 9/11 schrieben sie der Gewalt eine seine Legitimität. Dabei geht der Provokateur in- Macht über die Gesellschaft zu, die in anderen Zu- direkt vor: Der andere soll sich angegriffen füh- sammenhängen kaum denkbar wäre. Zwar waren len, um seinerseits anzugreifen, denn der Pro- solche Deutungen aus der Situation heraus ver- vokateur will dafür sorgen, dass der andere sich ständlich, denn sie schienen von der Absicht ge- möglichst selbst in Misskredit bringt. Die Reak- tragen, die außergewöhnlichen und nur schwer tionen sind folglich Teil des Kalküls von Provo- fassbaren Gewaltakte in historische Dimensionen kationen.33 Dabei sind zielführende Reaktionen zu übersetzen, um ihnen gerecht zu werden. Doch schwer. Denn eine Provokation setzt unter Zug- darf man dabei nicht außer Acht lassen: Das Ziel zwang, sie ahnden oder hinnehmen zu müssen. der terroristischen Taktik ist, durch spektakuläre Beides – der Einsatz von Gewalt wie auch die Of- Gewalt bei den Gegnern Angst und Terror zu ver- fenbarung von Ohnmacht – gefährdet die Legiti- breiten. Deutungen in historischen Superlativen mität der Macht und bestätigt den Provokateur. drohen den Gewalttätern in die Hände zu spielen. Überdies polarisiert die emotionale Aufladung Vor diesem Hintergrund gewinnt die Frage an der Situation das Publikum und schafft Solidari- Gewicht, welche der historischen Deutungen sich tätszwänge, die wiederum leicht Radikalisierun- bis heute als beständig erwiesen haben. Vor dem gen nach sich ziehen.34 Terrorismus ist eine ex- Hintergrund der Terrorismusgeschichte ist dabei treme Ausprägung dieser Form des Handelns. zu bestätigen: Neu und präzedenzlos war in der Deshalb sind Reaktionen als Teil des Kalküls ter- Tat das Ausmaß der Gewalt als terroristische Ge- roristischer Anschläge einzubeziehen, wenn man walt und seine Wirkung. Gemessen am Verlust an mit Blick auf einen terroristischen Anschlag Bi- Menschenleben und dem Ausmaß des Schadens, lanz ziehen will – und sei es auch nur eine vorläu- handelte es sich tatsächlich um den „größten Ter- fige Zwischenbilanz. roranschlag der Geschichte“, wie es in der „Zeit“ Was bedeutet das für den Blick auf die An- gestanden hatte, und er löste zweifellos weit über schläge vom 11. September 2001? Zunächst gilt es, die Grenzen der USA hinaus Gefühle von Angst und Verletzlichkeit aus. Bei einer solchen Aus- sage ist jedoch einzubeziehen, dass Anschläge in 31 Nikolas Busse, Bittere Lehren aus Afghanistan, in: Frankfur- früheren Jahrhunderten vergleichbare Schock- ter Allgemeine Zeitung, 1. 7. 2021, S. 1. wirkungen erzielt haben.35 Man denke beispiels- 32 Rainer Paris, Der kurze Atem der Provokation, in: ders., Stachel und Speer. Machtstudien, Frankfurt/M. 1998, S. 57–89. 33 Ebd., S. 61–64. 35 So auch schon Walter Laqueur, World of Terror, in: Natio- 34 Ebd., S. 66, S. 69 und S. 77 f. nal Geographic 4/2004, S. 72–77. 12
9/11 APuZ weise an den Anschlag Felice Orsinis auf Napo- stärker in den Fokus genommen wurde. Bei vie- leon III. im Januar 1858 in Paris, der mit neuartig len, die sich dem Thema zuwandten, mögen die konstruierten Granaten verübt wurde – der An- eigenen Erfahrungen und das Erleben der An- schlag, der im 19. Jahrhundert die meisten Opfer schläge von Belang gewesen sein – in meinem Fall forderte.36 Nicht unbekannt und auch nicht neu die Frage nach der Rolle und der Bedeutung der waren dagegen die Urheber der Anschläge vom Medien und des Publikums in Hinblick auf die 11. September und ihre Motive. Was die Entste- terroristische Taktik sowie die Frage, ob und in- hung des radikalen Islamismus betrifft, kann ver- wiefern diese Anschläge wirklich neu waren. Die wiesen werden auf die Anfänge in den 1920er innere Sicherheit hat in Reaktion auf die Anschlä- Jahren sowie die Revolution in Iran 1978/79, den ge in fast allen Industrienationen an Stellenwert Kampf der Mudschaheddin gegen den Einmarsch gewonnen. Gesetzespakete, die dem Staat weit- der Sowjetunion in Afghanistan 1979 sowie die reichende Handlungsmöglichkeiten einräumen, terroristischen Aktivitäten der Hisbollah in den und Sicherheitssysteme an Flughäfen, aber auch 1980er Jahren, wobei der Abzug der US-Marines in öffentlichen Gebäuden überall auf der Welt, nach einem Anschlag in Beirut 1983 als Schlüssel- gehören zu den sichtbaren Folgen. moment gilt.37 Spätestens mit dem ersten islamis- Eine weitere Reaktion auf die Anschläge war tisch motivierten Anschlag auf das World Trade Krieg. Auf den Afghanistan-Krieg folgten ein Center 1993 war der Übergriff auf das Territori- weiterer Krieg einer US-geführten Allianz gegen um der USA gegeben. den Irak, der wiederum zur Bildung und zum Er- Was heißt das für die historische Bedeutung oberungszug des „Islamischen Staates“ und sei- der Anschläge vom 11. September? In der Ter- ner Wiedereindämmung führte sowie zu zahllo- rorismusgeschichte stehen die Anschläge unge- sen islamistisch motivierten Terroranschlägen in achtet der außergewöhnlichen Destruktion, die Europa, aber auch in Asien und Afrika. Entgegen sie verursachten, in Kontinuität zu Entwicklun- den Ankündigungen und verbreiteten Erwartun- gen, die seit Mitte der 1990er Jahre als new ter gen setzten diese Kriege eher alte und konventi- rorism gefasst wurden. Die Entstehung der ter- onelle Muster fort und trugen insgesamt gesehen roristischen Handlungslogik selbst geht dagegen wohl mehr zur Delegitimierung der USA in der schon auf die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Region des Nahen Ostens sowie auch in anderen Terrorismus entstand aus der Kombination von Teilen der Welt bei als zur Steigerung ihrer Legiti- spektakulärer Gewalt mit schneller und regelmä- mität. Anders als 2001 aus der Vergangenheit ge- ßiger Berichterstattung in den Massenmedien an schlossen wurde, war jedoch nicht ein neuer Ost- ein politisch interessiertes Massenpublikum. Seit- West-Konflikt das Ergebnis. Stattdessen waren dem wurde die Taktik an technologische, ideo- die genannten Kriege ein nicht unwesentlicher logische, mediale und soziale Veränderungen Faktor dafür, dass die USA ihre Rolle und Bedeu- angepasst. Das gilt auch für 9/11. Dass diese An- tung als einzig verbliebene Supermacht nicht un- schläge als eine historische Zäsur beurteilt wer- angefochten fortführen konnten. Umso wichtiger den müssen, wird immer wahrscheinlicher. Dies wird nun die andere Alternative, die bereits 2001 ist jedoch nicht auf die Gewalt der Anschläge zu- von vielen Kommentatoren aufgezeigt wurde: die rückzuführen, sondern auf die psychologischen Welt als interdependent und vernetzt anzuerken- Wirkungen, Deutungen und Reaktionen, die sie nen und die globalen Wirtschafts-, Umwelt- und hervorzubringen in der Lage waren. Diese Reak- Klimaprobleme anzugehen. tionen beendeten die Offenheit der 1990er Jahre. Hinsichtlich der damaligen Schlussfolgerun- Ich danke Scott Harrison für umfangreiche gen lässt sich feststellen, dass Terrorismus als Recherchehilfe und Marcus Düwell für wertvolle Taktik bei den Behörden wie auch in der Wissen- Hinweise. schaft – wie schon in den 1970er Jahren – wieder CAROLA DIETZE ist Professorin für Neuere Geschichte an der 36 Vgl. Carola Dietze, Die Erfindung des Terrorismus in Europa, Friedrich-Schiller-Universität Jena und Autorin des Russland und den USA 1858-1866, Hamburg 2016, Kap. 2. 37 Vgl. etwa Louise Richardson, Was Terroristen wollen. Die Buches „Die Erfindung des Terrorismus in Europa, Ursachen der Gewalt und wie wir sie bekämpfen können, Frank Russland und den USA 1858–1866“ (2016). furt/M.–New York 2006, Kap. 3. carola.dietze@uni-jena.de 13
APuZ 28–29/2021 ESSAY 9/11 UND DAS ENDE „DES WESTENS“ Stefan Weidner Zehn Jahre nach dem 11. September 2001 sah es le westliche Entscheidungsträger geglaubt, es fol- für kurze Zeit danach aus, als würde die Weltge- ge eine kontinuierliche globale Entwicklung hin schichte eine versöhnliche Wendung im „westli- zu Freiheit und Demokratie. Die Geschichte lief, chen“ Sinn nehmen. Der erste nicht-weiße Prä- wie es im euro-atlantischen Raum vorausgesagt sident der USA, Barack Obama, hatte rhetorisch worden war: Eines Tages würden alle „wie wir“ mit dem außenpolitischen Stil seines Vorgängers werden, wie „der Westen“ selbst. Dies jedenfalls George W. Bush gebrochen. Das euro-amerika- war die breit rezipierte These des amerikanischen nische Verhältnis konsolidierte sich. Die große Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama in sei- Finanzkrise, die 2007 in den USA begonnen und nem Buch „Das Ende der Geschichte“.02 Fuku- bald auch den Euro-Raum erfasst hatte, war zwar yama sprach freilich nur aus, wovon ohnehin vie- noch nicht überstanden, hatte jedoch ihren Zenit le in Europa und den USA überzeugt waren: Der überschritten, ohne das weltweite Finanzgefüge Westen hatte den geschichtlichen Endkampf zwi- oder den Euro zerbrechen zu lassen. schen freiheitlichem Kapitalismus und diktatori- Eine deutliche Aufstockung der westlichen schem Kommunismus gewonnen. Jetzt stand die Truppen in Afghanistan auf 100 000 Mann zeig- ganze Welt seinem segensreichen Einfluss offen te Erfolge und zwang die Taliban, die nach 9/11 und würde ihm folgen, wie es sich in Osteuropa nur kurzzeitig vertrieben worden waren, wieder bereits andeutete. in die Defensive. Mit einer innovativen Counter- Die arabischen Revolutionäre der ersten Stun- Insurgency-Strategie gelang es den Amerikanern, de, jung, technikaffin, kreativ, euro-amerikanisch die Sicherheit im Irak, den die US-geführte Inva- gebildet, schrieben sich Ideale auf die Fahne, die sion nach 2003 destabilisiert hatte, vorläufig wie- viele im transatlantischen Raum der arabisch-isla- derherzustellen. Und mit Iran zeichnete sich ein mischen Welt zwar nahegelegt, ihr aber zugleich Weg für Atomverhandlungen und die Aufhebung kaum zugetraut hatten: Menschenwürde, politi- der Sanktionen ab. Sogar Osama bin Laden, der sche Teilhabe, Freiheit von Diktatur und Unter- Drahtzieher der Anschläge von 9/11, war end- drückung, Selbstbestimmung und Demokratie. lich aufgespürt worden. Er wurde Anfang Mai Einen beträchtlichen Beitrag zu diesem Aufbruch 2011 von einem amerikanischen Einsatzkom- leisteten die medialen Entwicklungen des Jahr- mando in seinem Haus in Abbottabad in Pakistan zehnts davor. Der TV-Sender Al-Jazeera aus Qa- erschossen – trotz der Möglichkeit, ihn lebend tar, wegen seiner populistischen, die Berührung festzunehmen.01 mit dem dschihadistischen Islam nicht scheuen- Zudem kam es zum Jahreswechsel 2010/11, den Ausrichtung oft in die Kritik geraten – er ausgehend von Tunesien, in der arabischen Welt hatte unter anderem die Videobotschaften Bin zu Aufständen gegen Regime, die seit vielen Jahr- Ladens ausgestrahlt –, trug die von der Selbstver- zehnten an der Macht gewesen waren. Die aggres- brennung des Gemüsehändlers Mohamed Bou- sive amerikanische Nahostpolitik der Bush-Ära azizi im Dezember 2010 ausgelöste tunesische hatte nach 2001 in Afghanistan und im Irak auf ge- Revolution in die Wohnzimmer aller arabischen waltsamen Umsturz, auf Liberalisierung und De- Länder. mokratisierung von außen gesetzt. Nun forderten Bereits nach wenigen Wochen waren die ers- die Araber von sich aus Demokratie und Rechts- ten Despoten gestürzt: Zine el-Abidine Ben Ali in staatlichkeit ein und erfüllten damit – scheinbar Tunesien und Hosni Mubarak in Ägypten. Ande- – die westlichen Erwartungen. 2011 wurde damit re, wie Muammar al-Gaddafi in Libyen und Ali das große Jahr des Aufbruchs und der Hoffnung. Abdalah Saleh im Jemen, gerieten ins Wanken, Nach dem Ende des Kalten Krieges hatten vie- und bald war klar, dass auch Baschar al-Assad in 14
9/11 APuZ Syrien mit einem Volksaufstand zu kämpfen hat- – in Tunesien und Ägypten –, gingen islamistische te, der von den Großstädten Homs und Hama in Kräfte als Sieger hervor, vor allem die Muslimbrü- Mittelsyrien getragen wurde. Damit waren die äl- der. Wo die Revolte in den offenen Bürgerkrieg testen und am längsten an der Macht befindlichen abglitt, gewannen islamistische Kräfte die Ober- Herrscher beziehungsweise Herrscherfamilien hand, die oft weit radikaler waren als die Mus- beseitigt oder stark angeschlagen. Weitere zehn limbrüder. Auch sonst waren es ausgerechnet die Jahre später, im Sommer 2021, ist Assad der ein- alten, eingefleischten Gegner der USA oder „des zige, der noch am Leben und im Amt ist – einem Westens“, die das Machtvakuum ausnutzten, das Amt freilich, das am seidenen Faden russischer die USA erst im Irak, dann durch Obamas Nicht- und iranischer Unterstützung1 hängt.2 einmischungspolitik in Syrien geschaffen hatten: Russland und Iran gingen dabei auf der Seite As- AU ẞ ENPOLITISCHES ENDE sads allen voran. Der dschihadistische Islam, der schon für den Der Austausch der Köpfe und Gesichter der 9/11-Terrorismus verantwortlich war, erober- Macht – seit 2019 auch im Sudan und in Alge- te in Gestalt des IS, der aus Bin Ladens al-Qai- rien – ist den Revolutionären damit fast überall da im Irak hervorgegangen war, im Nordirak und gelungen. Vordergründig betrachtet, ist das kei- im Grenzgebiet zu Syrien weiträumige Gebie- ne schlechte Bilanz. Die alten Strukturen konnten te: Zum ersten Mal seit 9/11 und dem Sturz der sie jedoch nicht nachhaltig aufbrechen. Wo dies Taliban in Afghanistan kontrollierten nun dezi- zu gelingen schien, kam es zum Bürgerkrieg, etwa diert antiwestliche Dschihadisten ein großräu- in Libyen, Syrien und im Jemen. Die kurzzeiti- miges Territorium. Wenn man ihrer Propaganda ge Aufbruchstimmung wurde damit von neuen glauben wollte, hatten sie gar einen eigenen Staat. und größeren Krisen abgelöst, die an die mit 9/11 Mit den davon – und durch Assads Krieg gegen beginnenden Destabilisierungen und Kriege an- die eigene Bevölkerung – ausgelösten Fluchtbe- knüpften und den Terror auch nach Europa tru- wegungen und einer neuen, vom IS ausgehenden gen, nunmehr in Gestalt von Kämpfern des soge- Welle des Terrorismus in einem für Europa, ins- nannten Islamischen Staates (IS). Die Hoffnung, besondere für Frankreich, ungeahnten Ausmaß dass sich die „Verwestlichungsgeschichte“ Ost- manifestierte sich der weitgehende Kontrollver- europas nach 1989 in der arabischen Welt wieder- lust westlicher Mächte über die Entwicklung in holen und damit auf einen weiteren Weltteil er- der MENA-Region (Middle East and North Af strecken würde, starb mit der Konterrevolution rica) nach 9/11. in Ägypten 2013 und der gleichzeitigen Internati- Mit Hilfe kurdischer Bodentruppen und ei- onalisierung des Konflikts in Syrien, die bis heu- nes schweren und rücksichtslosen Bombar- te andauert. dements der vom IS besetzten irakischen Me- In den arabischen Revolutionen entlud sich tropole Mossul durch Kampfflugzeuge der unter anderem die Wut über die politische Stag- Anti-IS-Koalition gelang es zwar 2017, den IS nation, die seit 2001 eingetreten war, wenn nicht zu schlagen. Die weitere Entwicklung dort ent- bereits seit dem Zusammenbruch der So wjet zieht sich aber nach wie vor der westlichen Kon- union, der für viele der mit ihr verbündeten ara- trolle – ganz wie in Afghanistan, wo das sang- bischen Länder und Regime eine massive Um und klanglose Verschwinden „des Westens“, also orientierung zur Folge hatte. Hatten Europa und sein Ende als außenpolitisch zu verbreitendes die USA lange die Taktik verfolgt, die politische Konzept für andere Gesellschaften, mit dem ge- Lage und den dschihadistischen Terrorismus in planten Abzug aller Truppen bis September 2021 der arabischen Welt durch Sicherheitskooperati- symbolisch besiegelt wird: Es ist trotz zwischen- on mit den Regimen unter Kontrolle zu halten, zeitlich großem Engagement und hoher militä- so scheiterte dieser Ansatz mit den Revolutionen rischer Präsenz nicht gelungen, die Entwicklun- von 2011. Wo demokratische Wahlen stattfanden gen im Land so zu steuern, wie man es sich nach 9/11 erhofft hatte, nämlich einen funktionieren- den afghanischen Staat aufzubauen, in dem Ter- 01 Vgl. Robert O’Neill, The Operator. Firing the Shots that Killed Bin Laden, New York 2017, Kap. 21 f. roristen und Dschihadisten keine Heimat mehr 02 Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, haben würden. Stattdessen wird Kabul bis heu- New York u. a. 1992. te fast jede Woche von Terroranschlägen heim- 15
Sie können auch lesen