AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE 9/11 - Bundeszentrale für politische Bildung

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE 9/11 - Bundeszentrale für politische Bildung
71. Jahrgang, 28–29/2021, 12. Juli 2021

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
        9/11
        Carola Dietze                     Max Bergmann · James Lamond
       9/11 REVISITED                     DAS ENDE DER 9/11-ÄRA.
                                            ZUR ZUKUNFT DER
        Stefan Weidner
                                           US-AMERIKANISCHEN
    9/11 UND DAS ENDE
                                              AUẞ ENPOLITIK
      „DES WESTENS“
                                        Katajun Amirpur · Ingrid Overbeck
      Hendrik Hegemann
                                        9/11 UND DIE BEZIEHUNGEN
   FREIHEIT UND SICHERHEIT
                                            ZWISCHEN DEN USA
 IN LIBERALEN DEMOKRATIEN
                                                UND IRAN
          NACH 9/11
                                                   Thomas Ruttig
        Rolf Tophoven
                                                 AFGHANISTAN
      ISLAMISTISCHER
                                                 2001 BIS 2021
   TERRORISMUS SEIT 9/11

                  ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                       FÜR POLITISCHE BILDUNG
              Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE 9/11 - Bundeszentrale für politische Bildung
9/11
                                     APuZ 28–29/2021
CAROLA DIETZE                                        MAX BERGMANN · JAMES LAMOND
9/11 REVISITED                                       DAS ENDE DER 9/11-ÄRA. ZUR ZUKUNFT DER
Inwiefern hat sich der Blick auf 9/11 verändert?     US-AMERIKANISCHEN AU ẞ ENPOLITIK
Die Antwort auf diese Frage ist nicht nur für die    2020 endete die 9/11-Ära endgültig. Für die
historische Verortung der Anschläge bedeutsam,       amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik
sondern auch für das Verständnis des histori-        ist nicht mehr der „Krieg gegen den Terror“
schen Ortes, an dem wir heute stehen, sowie für      bestimmend, sondern vor allem die Konkurrenz
den Umgang mit Terrorismus generell.                 mit China. Was bedeutet dieses neue Kapitel für
Seite 04–13                                          die Rolle der USA in der Welt?
                                                     Seite 36–43
STEFAN WEIDNER
9/11 UND DAS ENDE „DES WESTENS“                      KATAJUN AMIRPUR · INGRID OVERBECK
Die Entwicklungen nach 9/11 haben die                9/11 UND DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN
etablierten Konzepte „des Westens“ infrage           DEN USA UND IRAN
gestellt. Das Ende „des Westens“ lässt sich aber     Für einen kurzen Moment nach den Anschlägen
auch als positive Nachricht verstehen. Was an        vom 11. September 2001 gab es für die USA und
ihm wirklich bewahrenswert war, ist inzwischen       Iran die Gelegenheit, die gegenseitigen Bezie-
globalisiertes Allgemeingut geworden.                hungen auf eine neue Grundlage zu stellen. Doch
Seite 14–20                                          diese blieb ungenutzt. Eine Perspektive könnte
                                                     die Erneuerung des Atomabkommens bieten.
                                                     Seite 44–48
HENDRIK HEGEMANN
FREIHEIT UND SICHERHEIT IN LIBERALEN
DEMOKRATIEN NACH 9/11                                THOMAS RUTTIG
Im Zuge des „Kriegs gegen den Terror“ kam es         AFGHANISTAN 2001 BIS 2021
ab 2001 in vielen Staaten zu einer Ausweitung        Unter den Terroristen vom 11. September
der Sicherheitslogik auf immer neue gesellschaft-    2001 war kein einziger Afghane. Trotzdem
liche und politische Bereiche. Nicht wenige          wurde Afghanistan Hauptziel des US-geführten
der damals befristet eingeführten Maßnahmen          Gegenschlags. Während al-Qaeda weitgehend
wurden inzwischen verstetigt.                        aus dem Land verdrängt wurde, stehen die
Seite 22–28                                          Taleban kurz vor der Rückkehr an die Macht.
                                                     Seite 49–54
ROLF TOPHOVEN
ISLAMISTISCHER TERRORISMUS SEIT 9/11
Nach 9/11 zeigte sich die Bedrohung durch
islamistisch motivierten Terrorismus in ständig
veränderten Formen. Auf den internationalen
Dschihad-Terrorismus von al-Qaida folgte die
Entstehung des „Islamischen Staates“, der trotz
seiner militärischen Niederlage gefährlich bleibt.
Seite 29–34
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EDITORIAL
Als sich am Abend des 11. September 2001 die Nacht über Manhattan und die
zerstörten Türme des World Trade Centers legte, waren die Anschläge, die an
diesem Tag fast 3000 Todesopfer gefordert hatten, nicht vorbei. Die Auswirkun-
gen von „9/11“ sollten noch Jahre andauern und nicht nur die US-amerikanische
Politik prägen. Der Schutz vor islamistisch motiviertem Terrorismus war bei fast
allen nachfolgenden Wahlen in den USA und Europa wichtiges Wahlkampf­
thema und schlug sich in weitreichenden Sicherheitsgesetzen nieder. Die Angst
vor ihm schürte islamfeindliche Ressentiments, und in der Außenpolitik vieler
Staaten bestimmte lange Zeit der vom damaligen US-Präsidenten George W.
Bush ausgerufene war on terror die Agenda.
   All dies hat in den demokratischen Gesellschaften „des Westens“ deutliche
Spuren hinterlassen – mentale wie rechtliche. So gilt auch in Deutschland man-
che sicherheitspolitische Maßnahme, die vor 9/11 als rechtsstaatlich zweifelhaft
bewertet worden wäre, heute als normal; manch temporär gedachtes Gesetz ist
inzwischen in dauerhaftes Recht überführt. Darüber hinaus wurde der „Krieg
gegen den Terror“ bisweilen mit Mitteln geführt, die mit „westlichen“ Werten
unvereinbar sind. Wenn die USA und ihre Verbündeten im Herbst 2021 aus
Afghanistan abgezogen sein werden, haben sie das Land nicht als strahlende
Sieger verlassen.
   Die eigenen Werte beschädigt, kulturelle Gräben vertieft, dazu die terro-
ristische Bedrohung nicht gebannt – haben die Terroristen von 9/11 ihr Ziel
also erreicht? Für eine abschließende Bewertung ist es auch 20 Jahre nach den
Anschlägen noch zu früh. Erst allmählich sind in den vergangenen Jahren andere
dringliche globale Herausforderungen (wieder) in den Vordergrund gerückt.
Wie mit diesen umgegangen wird und ob es dabei gelingt, die Balance zwischen
Freiheit und Sicherheit (etwa vor Terrorismus, Klimaschäden oder Pandemien) zu
halten, wird das historische Urteil über den 11. September 2001 mitbestimmen.

                                                 Johannes Piepenbrink

                                                                              03
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE 9/11 - Bundeszentrale für politische Bildung
APuZ 28–29/2021

                                                   ESSAY

                                   9/11 REVISITED
             Überlegungen zu zeitgenössischen Deutungen
                      des 11. September 2001
                                             Carola Dietze

„Die Katastrophe, die am Morgen des 11. Septem-         der Veränderung des Blicks auch als Versuch auf-
ber 2001 das untere Manhattan in den Schlund der        gefasst werden, zu verstehen, welche Perspekti-
Hölle verwandelte, entfaltete sich in vier Schü-        ven in den vergangenen 20 Jahren hinzugekom-
ben. (…) Es dauerte Stunden, bis man begann,            men sind, weil sie sich überhaupt erst mit der Zeit
das Ausmaß [der Ereignisse] zu begreifen; es dau-       eröffnen konnten. Dazu gehören Überlegungen
ert Tage, bis die von ihnen hervorgerufene ab-          über die realen Konsequenzen des Anschlags so-
wehrende Starre nachlässt; es wird Monate – oder        wie solche, ob und inwiefern der Anschlag aus
Jahre – dauern, um ihre Auswirkungen und Be-            der Perspektive seiner Urheber wohl als erfolg-
deutung zu ermessen.“ Mit diesen Worten anti-           reich gelten kann und muss. Auch 20 Jahre da-
zipierten die Journalisten und Schriftsteller Hen-      nach behalten Antworten auf diese Fragen einen
drik Hertzberg, John Updike, Jonathan Franzen           vorläufigen Charakter, zumal in einem Essay wie
und Denis Johnson in einem Beitrag für die Zeit-        diesem. Dessen ungeachtet ist es notwendig, die-
schrift „The New Yorker“, dass es Zeit benötigen        se Fragen zu stellen. Denn die Antworten, die
würde, die Anschläge vom 11. September 2001             wir auf sie geben, sind nicht nur für die histori-
wirklich zu begreifen.01 Das ist zweifellos rich-       sche Verortung der Anschläge vom 11. Septem-
tig. 20 Jahre später hat sich der Blick auf die An-     ber 2001 bedeutsam, sondern auch für das Ver-
schläge auf das World Trade Center in New York          ständnis des historischen Ortes, an dem wir heute
und das Pentagon in Arlington, Virginia, sowie          stehen, sowie für den Umgang mit terroristischen
den geplanten, aber verhinderten Anschlag auf           Anschlägen generell.
das Kapitol oder das Weiße Haus in Washington,
D. C., verändert. Die Frage, inwiefern das eigent-                 PERSÖNLICHES ERLEBEN
lich genau der Fall ist, ist allerdings nicht einfach
zu beantworten. Denn in den Tagen und Wochen            Auf die Frage danach, wie die Anschläge am
nach dem 11. September gab es vielfältige Per-          11. September 2001 – auch fernab von New York
spektiven auf diese Anschläge, und auch heute           und Washington – erlebt wurden, gibt es vermut-
sind sie kaum auf einen Nenner zu bringen.              lich ebenso viele Antworten wie Zeitgenossen,
    Grundsätzlich lässt sich die Frage, wie sich        die das Geschehen bewusst erlebt haben. Denn
der Blick auf 9/11 verändert hat, in zwei Rich-         ähnlich wie die Ermordung John F. Kennedys
tungen interpretieren. Zum einen kann man sie           oder der Fall der Berliner Mauer gehören die An-
als Frage danach verstehen, welche der damaligen        schläge in die Kategorie von Ereignissen, denen
Einschätzungen Bestand haben und welche nicht.          man unmittelbar und völlig spontan eine beson-
Was würde man heute ebenso beurteilen? Was              dere Bedeutung zuschreibt, sodass man noch Jah-
sieht man anders? Will man solchen Fragen nach-         re später genau weiß, wo man war und was man
gehen, ist es zunächst notwendig, sich noch ein-        tat, als man von dem Geschehen erfuhr. Nehmen
mal genau an den 11. September 2001 zu erinnern:        wir ein Fallbeispiel, das ich besonders gut kenne:
Wie wurden die Anschläge erlebt? Was waren die          mein eigenes.
ersten Reaktionen? Und wie sind die Gewaltakte              Nicht nur in New York, auch in Göttingen
an diesem Tag und unmittelbar danach interpre-          war der 11. September 2001 ein strahlend schöner
tiert worden? Zum anderen kann die Frage nach           Tag mit tiefblauem Himmel. Ich hatte damals kei-

04
9/11 APuZ

nen Fernseher und saß im Studentenwohnheim                    terwegs stellte sich heraus, dass die Autobahnab-
über meinen Büchern, als mein Nachbar kurz                    fahrten von der Militärpolizei der Bundeswehr,
vor drei Uhr nachmittags energisch an die Tür                 den Feldjägern, gesperrt worden waren, um den
klopfte: „Schau mal, was in New York los ist.“                Truppenübungsplatz Munster abzuriegeln. Nur
Alarmiert von seinem Ton folgte ich ihm sofort                über weiträumige Umwege kamen wir ans Ziel.
beschleunigten Schrittes in seine Wohnung, wo                 All dies objektivierte den Eindruck einer akuten
wir beide starr vor dem Bildschirm seines Fern-               Bedrohungslage. Worin diese Bedrohung genau
sehers stehenblieben und mitverfolgten, wie ein               bestehen konnte, war aber nach wie vor unklar.
Flugzeug direkt in das World Trade Center flog.                   Diese Erfahrungen und unmittelbaren Reak-
Ein Turm brannte bereits. Mir kroch es kalt den               tionen sind in mancher Hinsicht typisch, in an-
Rücken hinunter. Wir rätselten beide, wer oder                derer nicht. Jede Person, die von den Anschlägen
was genau hinter den Anschlägen stecken könn-                 erfuhr, begriff sofort, dass die Vorgänge in den
te und welche Konsequenzen zu erwarten sei-                   USA eine große, kaum zu überblickende Trag-
en. Krieg? Aber gegen wen? Da ich einen Termin                weite hatten. Zugleich herrschte allerorten Ver-
hatte, musste ich mich bald vom Fernseher losrei-             unsicherung und Ratlosigkeit mit Blick auf die
ßen. Mit dem Fahrrad fuhr ich in die Innenstadt,              Bedeutung des Geschehens: Aufgrund der weni-
sie war menschenleer; in einem Geschäft, das ich              gen Indizien, die es gab, versuchten alle, ich ein-
betrat, war ich die einzige Kundin. Das Personal              geschlossen, die Hintergründe der Gewaltakte zu
hatte einen Fernseher an die Kasse gestellt und               verstehen und zu deuten, nicht zuletzt, um mög-
verfolgte die Bilder aus New York. Wir tauschten              liche Konsequenzen für die Zukunft abschätzen
Mutmaßungen über ihre Bedeutung aus. Dann                     zu können. Wenn ich die Anschläge in einer ers-
fuhr ich weiter zum Max-Planck-Institut für Ge-               ten Assoziation palästinensischen Terrorgrup-
schichte, wo im Hauptgebäude gerade eine Ta-                  pen zuschrieb, schloss ich lediglich aus dem Er-
gung zum Thema „Politische Gewalt“ stattfand.                 fahrungsraum der Vergangenheit. Mein Nachbar
Die Organisatoren hatten die Veranstaltung un-                hatte diese Zuschreibung gleich infrage gestellt:
terbrochen und irgendwo im Institut einen Fern-               „Warum sollten palästinensische Gruppen Ziele
seher aufgetrieben. Die Tagungsteilnehmer sa-                 in New York angreifen und auf diese Weise die
ßen zusammen mit dem Institutspersonal davor                  USA als Vermittler im Konflikt mit Israel ver-
versammelt.1                                                  prellen?“ So war die Bedrohungslage zwar inten-
    Mein Kollege hatte ebenfalls vom Anschlag in              siv gefühlt, aber in der Sache völlig ungewiss – die
New York erfahren, und wir fragten uns, ob wir                Deutung des Geschehens also noch ganz offen.
uns auch ins Hauptgebäude zu den anderen vor                  Dass dies nicht nur für Privatpersonen galt, zeigt
den Fernseher setzen sollten. Nach einem kurzen               die Abriegelung eines Truppenübungsplatzes in
Austausch entschieden wir uns dagegen und be-                 der Lüneburger Heide anlässlich terroristischer
schlossen, zu arbeiten. Ausschlaggebend für diese             Angriffe in über 6000 Kilometern Entfernung.
Entscheidung war das Gefühl, dass wir – sobald
wir unsere Normalität zugunsten der Fernseh-                          UNMITTELBARE DEUTUNGEN
übertragung aus New York aufgaben und zum                              IN POLITIK UND MEDIEN
Publikum des Anschlags wurden – genau das tun
würden, was diejenigen, die den Anschlag ge-                  Fragt man danach, wie die Anschläge am 11. Sep-
plant und verübt hatten, von uns erwarteten. Da-              tember 2001 in den darauffolgenden Tagen und
mit würden wir den Absichten und dem Kalkül                   Wochen in Politik und Presse kommentiert und
der Attentäter entsprechen, eine uns zugedach-                interpretiert wurden, fällt ins Auge, dass die tie-
te Rolle ein- und annehmen und in diesen An-                  fe Verunsicherung durch die Gewaltakte selbst
schlag hineingezogen werden. Dagegen hat sich                 und ihre Deutung sowie die Ungewissheit ange-
in mir alles gesträubt. Deshalb setzten wir uns               sichts der möglichen Reaktionen darauf fast ubi-
beide an unsere Rechner und arbeiteten weiter.                quitär waren und sogar anhielten, nachdem die
Für den Abend hatte ich geplant, mit dem Auto                 Frage der Urheberschaft geklärt war. Dieser Ein-
von Göttingen nach Lüneburg mitzufahren. Un-                  druck von Ungewissheit und Verunsicherung war
                                                              so augenfällig, dass er vielfach thematisiert wur-
01 Hendrik Hertzberg et al., The Talk of the Town: Tuesday,   de. Geradezu legendär wurde die Aussage eines
and After, in: The New Yorker 77/2001, S. 27.                 hochrangigen Mitarbeiters des National Security

                                                                                                               05
APuZ 28–29/2021

Council gegenüber der „Washington Post“: „Wir                 wickelten Terrorismus umgehen soll.“05 Die
wissen hier gar nichts. Wir schauen auch CNN“                 Unklarheit der Bedrohungssituation und die Fra-
(„We don’t know anything here. We’re watching                 ge, wie mit ihr umzugehen sei, waren demnach
CNN too“).02 Die Stille und Leere nach dem An-                nicht zu unterschätzende Bestandteile des Bedro-
schlag, der Mangel an validen Antworten und                   hungsszenarios, auch wenn es als Krieg interpre-
Deutungen, selbst bei den zuständigen Sicher-                 tiert wurde.
heitsbehörden, standen in einer schwer auszuhal-                   Auffällig ist, wie stark die Anschläge sofort in
tenden Spannung zur unübersehbaren Bedeutung                  historischen Kategorien gedeutet wurden. Politi-
des Geschehens.                                               ker und Kommentatoren aus unterschiedlichen
    US-Präsident George W. Bush hielt sich zur                Ländern und politischen Lagern betonten uniso-
Zeit der Anschläge in einer Grundschule in Sara-              no das Neue, das Präzedenzlose. Doch worin ge-
sota, Florida, auf. Als er darüber informiert wur-            nau bestand jeweils dieses Neue? Neu waren ih-
de, dass ein Flugzeug in einen Turm des World                 nen zufolge zunächst die Form der Gewalt sowie
Trade Centers geflogen war, war seine erste Ver-              ihre Urheber. So war in der „Zeit“ vom „größte[n]
mutung, dass es sich um einen Fehler des Pilo-                Terroranschlag der Geschichte“ die Rede,06 und
ten gehandelt haben müsse. Bush saß vor einer                 Anthony Lewis sprach von der „neu entdeckten
Schulklasse, als ihm der Stabschef des Weißen                 Bedrohung durch groß angelegten, hoch entwi-
Hauses um 9.05 Uhr zuflüsterte: „Ein zweites                  ckelten Terrorismus“.07 Maureen Dowd von der
Flugzeug traf den zweiten Turm. Amerika wird                  „New York Times“ stellte fest: „Wir sind aufge-
angegriffen.“ Er blieb noch einige Minuten im                 rüttelt worden von der Erkenntnis, dass die in-
Klassenraum, während die Kinder vor ihm wei-                  telligenten Raketen, die wir in Desert Storm [im
terlasen, wurde dann in einem Nebenraum infor-                Irak-Krieg 1991] gesehen haben, zwar Schorn-
miert und anschließend auf eine Air-Force-Basis               steine hinunter gelenkt werden, uns aber nicht
nach Nebraska evakuiert. Die Videokonferenz                   vor einer Handvoll Typen mit Teppichmessern
mit seinen Beratern begann Bush mit den Wor-                  und Plastikmessern schützen können.“ Dazu zi-
ten „Wir sind im Krieg.“03 Die Staatenlenker vie-             tierte sie den ehemaligen Senator Pat Moynihan,
ler Nationen pflichteten ihm bei; Bundeskanzler               der seit Langem als Kritiker des US-Auslandsge-
Gerhard Schröder erklärte tags darauf im Bun-                 heimdienstes CIA bekannt war, mit der Überle-
destag: „Die gestrigen Anschläge in New York                  gung, dass Washington sich immer über Inter-
und Washington sind nicht nur ein Angriff auf                 kontinentalraketen gesorgt habe, „während wir
die Vereinigten Staaten von Amerika; sie sind                 eine ganz neue Art von Bedrohungslage hatten,
eine Kriegserklärung gegen die gesamte zivili-                nämlich die erbitterte und ungelöste islamische
sierte Welt.“04                                               Gegnerschaft angesichts der jahrhundertelangen
    Doch warf die Deutung der Anschläge als                   Vorherrschaft des Westens“.08 Neu waren diesen
Kriegshandlung auch neue Fragen auf. So formu-                Kommentatoren zufolge auch die ausgefeilte Pla-
lierte der Journalist Anthony Lewis in der „New               nung sowie die Tatsache, dass die Täter die An-
York Times“: „Sollte dies ein Krieg sein, unter-              schläge in den USA selbst vorbereitet und bei der
scheidet er sich erheblich von dem am besten in               Ausführung auf einfachste Mittel gesetzt hatten.
Erinnerung gebliebenen Angriff auf Amerika.                   Kurz: Es handelte sich um einen neuen Feind mit
Pearl Harbor war so klar. (…) Niemand konnte                  neuen Motiven und Methoden.
daran zweifeln, wer der Feind war oder wie Ame-                    Neu war aus der Sicht amerikanischer Kom-
rika zu reagieren hatte. Genau das sind jetzt die             mentatoren zudem die Wirkung: „Wir alle werden
Zweifel. Keiner von uns kann so tun, als wüss-                für immer von diesem Tag gezeichnet sein. Ter-
te er genau, wie er mit dieser neu entdeckten Be-             ror ist das, was die Angreifer hervorrufen woll-
drohung durch einen groß angelegten, hoch ent-
                                                              05 Anthony Lewis, A Different World, in: The New York Times,
02 Zit. nach Alexander Cockburn, The Next Casualty: Bill of   12. 9. 2001, S. A27.
Rights?, in: Los Angeles Times, 13. 9. 2001, S. B9.           06 Hans Kammertöns et al., Der Terrorpilot von Flug 011, in:
03 Vgl. National Commission on Terrorist Attacks Upon the     Die Zeit Extra, Die Welt zwischen Terror und Krieg, 17. 9. 2001,
United States, The 9/11 Commission Report, New York–London    S. 8.
2004, S. 35, S. 38, S. 325 f.                                 07 Lewis (Anm. 5).
04 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 14/186, Berlin,       08 Maureen Dowd, The Modernity of Evil, in: The New York
12. 9. 2001, S. 18293.                                        Times, 16. 9. 2001, S. WK11.

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11. September 2001: US-Präsident George W. Bush in der Emma Booker Elementary School in Sarasota, Florida, kurz
nachdem er über den Anschlag auf das World Trade Center in New York informiert wurde.
Quelle: picture alliance/Eric Draper – White House via CNP

12. September 2001: Schlagzeilen deutscher Zeitungen.
Quelle: picture alliance/dpa, Werner Baum

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ten, und sie waren erfolgreich. Sie haben nicht nur                  schrieb der Filmkritiker Richard Corliss: „‚Es
Tod und Zerstörung über Symbole der amerika-                         war einmal‘ ist für viele Amerikaner jene Zeit vor
nischen wirtschaftlichen und politischen Macht                       8.48 Uhr am 11. September 2001. Wir lebten in
gebracht. Sie haben gezeigt, wie verwundbar die                      einer Art Disneyland-Festung, einem Land mit
einzige Supermacht der Welt ist: wie unvollkom-                      enormen natürlichen und wirtschaftlichen Res-
men unsere Flughafensicherheitssysteme sind,                         sourcen, mit befreundeten Nationen nördlich
wie ungeschützt selbst unser militärisches Haupt-                    und südlich von uns und schützenden Ozeanen
quartier.“09 Die beiden zentralen Elemente dieser                    auf beiden Seiten. Wir weilten in einem Eden der
Analyse – Angst und Verletzlichkeit – finden sich                    Unschuld oder was man dafür halten kann. (…)
in ähnlicher Weise auch in vielen weiteren Kom-                      Wir dachten nicht, dass wir jemals in einer Stim-
mentaren. Der Kulturwissenschaftler Todd Gitlin                      mung nervöser Angst leben würden, auf der Hut
wurde in der „Los Angeles Times“ mit der Ein-                        vor jedem plötzlichen Geräusch, jedem Flugzeug
schätzung zitiert, dass „die Attacken offensicht-                    über uns, einem Fremden, der auf uns zugeht.
lich einen schweren Schlag für die nationale Psy-                    (…) Jetzt wachen wir in dem Alptraum auf, den
che“ bedeuten, deren Nachhall „wahrscheinlich                        Dutzende von Millionen Unschuldiger weit ent-
kompliziert“ werden wird.010 Als Taktik zielt Ter-                   fernt jeden Moment erleben. Der 11. September
rorismus auf eine psychische Reaktion beim Pu-                       war der Tag, an dem wir dem Rest der Welt beige-
blikum, und die zitierten Medienreaktionen bele-                     treten sind. Der wirklichen Welt.“12
gen, dass die Anschläge am 11. September solche                          Dieses „Erwachen“ in der Realität histo-
Reaktionen „erfolgreich“ hervorgerufen haben.                        rischer Normalität begriffen Journalisten und
    Das Neue der Gewalt, ihrer Urheber und ih-                       Kommentatoren innerhalb und außerhalb der
rer Wirkung brachte amerikanischen Kommen-                           USA weitgehend einhellig als einen historischen
tatoren zufolge schlagartig ein neues Lebensge-                      Moment, als Anbruch einer neuen Zeit. Der
fühl mit sich: „Wir leben heute in einem anderen                     „Zeit“-Journalist Gunter Hofmann konstatierte,
Amerika als noch vor letztem Dienstag“, schrieb                      „dass mit den Anschlägen in New York und Wa-
etwa der Journalist Frank Rich in der „New York                      shington eine Epoche zu Ende gegangen ist“, und
Times“. Und weiter: „Der Albtraum dieser Wo-                         zitierte das Diktum des britischen Historikers Ti-
che, so viel ist nun klar, hat uns aus einem frivo-                  mothy Garton Ash vom „wahre[n] Anfang des
len, wenn nicht gar dekadenten, jahrzehntelan-                       21. Jahrhunderts“.13 Der Journalist und Schrift-
gem Traum geweckt, auch wenn er uns in eine                          steller Fareed Zakaria brachte die Tragweite des
ungewisse Zukunft stürzt, mit der wir nie gerech-                    als historisch gesehenen Moments am eindrück-
net hatten. Der Traum war einfach – dass wir alles                   lichsten auf den Punkt, als er in der Zeitschrift
haben könnten, ohne einen Preis dafür zahlen zu                      „Newsweek“ schrieb: „Historiker werden sicher
müssen (…). Dieses fette, tagträumende Ameri-                        sagen: ‚Das war die Woche, in der sich Amerika
ka ist jetzt weg, weit weg (…), so verdampft wie                     veränderte.‘ (…) Dies ist sicherlich das Ende vom
der Glaube, dass High-Tech-Überwachung und                           Ende der Geschichte (…).“14 Zakaria zufolge lag
Waffen uns sicher halten würden.“011 Rich zufol-                     die historische Bedeutung des 11. September 2001
ge war das neue Lebensgefühl durch Verluste cha-                     nicht in der Gewalt, sondern in den psychischen
rakterisiert: Die unbeschwerte Reise- und Bewe-                      Reaktionen, die die Anschläge ausgelöst hatten,
gungsfreiheit gehöre ebenso der Vergangenheit an                     sowie den Interpretationen und Neuverortungen,
wie die Illusion, die Welt gezähmt zu haben und                      die – ungeachtet aller Ungewissheiten – umge-
ohne Konsequenzen handeln zu können.                                 hend vorgenommen ­wurden.
    Der Verlust lang gehegter Illusionen wur-                            Überblickt man diese exemplarisch ausge-
de mitunter in geradezu biblischem Sinne als                         wählten Kommentare, fanden sich die Erfahrun-
selbstkritischer Erkenntnisprozess gefasst. So                       gen und Interpretationen des Neuen auf ganz un-

09 Lewis (Anm. 5).                                                   12 Richard Corliss, Old Feelings in the New World, 24. 9. 2001,
10 Reed Johnson, Will War on Terrorism Define a Generation?          http://content.time.com/time/arts/article/0,8599,176135-1,00.html.
Historians Ponder to What Extent the Attacks Will Be a True Tur-     13 Gunter Hofmann, Vernünftige Ohnmacht, in: Die Zeit Extra,
ning Point for Society, in: Los Angeles Times, 23. 9. 2001, S. E1.   Die Welt zwischen Terror und Krieg, 17. 9. 2001, S. 3.
11 Frank Rich, The Day Before Tuesday, in: The New York              14 Fareed Zakaria, The End of the End of History, in:
Times, 15. 9. 2001, S. A23.                                          Newsweek 138/2001, S. 70.

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terschiedlichen Ebenen wieder: auf den Ebenen                    Einkaufszentren.“16 Fareed Zakaria hingegen er-
der Gewalt, ihrer Urheber und Motive sowie der                   wartete einen globalen Ausbau von Sicherheits-
Wirkung der Anschläge, die weit über die Gren-                   staaten: „Überall auf der Welt werden wir erle-
zen der USA hinaus Gefühle der Beklommen-                        ben, dass Regierungen mächtiger, zudringlicher
heit, der Angst und der Verletzlichkeit auslösten,               und wichtiger werden. Das mag Bürgerrecht-
ebenso auf den Ebenen des Lebensgefühls sowie                    lern und Menschenrechtsaktivisten nicht gefal-
der persönlichen, innen- und außenpolitischen                    len, aber es wird keine Rolle spielen. Der Staat ist
Sicherheit und Kontrolle, ja, der erhabenen natio-               zurück, und zwar aus dem ältesten Hobbes’schen
nalen Souveränität und Ausnahmestellung in der                   Grund – der Gewährleistung von Sicherheit.“17
Welt. Aus diesen Gründen schienen die Anschlä-                   Der politische und gesellschaftliche Schulter-
ge vielen Kommentatoren eine historische Zäsur                   schluss mit dem Ziel der Landesverteidigung und
zu bilden.                                                       eine Zunahme der Bedeutung und der Sichtbar-
                                                                 keit von Militär und Sicherheitsdiensten – nach
               UNTERSCHIEDLICHE                                  außen wie im Innern – waren beobachtete und er-
             SCHLUSSFOLGERUNGEN                                  wartete Folgen der ­Anschläge.
                                                                     Auch aus dem Verlust der Illusion der Unein-
Aus den Deutungen der unterschiedlichen Di-                      nehmbarkeit konnten unterschiedliche Schluss-
mensionen des Neuen konnten im Rahmen da-                        folgerungen gezogen werden. Einige Kommenta-
maliger Erwartungshorizonte ganz verschie-                       toren waren der Auffassung, dass die USA sich
dene Erwartungen an die Zukunft folgen und                       nach dieser Katastrophe notwendigerweise der
unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen                      Welt stärker zuwenden müssten und würden. So
werden. Genau das ist auch geschehen. Ausge-                     stellte Zakaria fest: „Für die Amerikaner schien
hend von dem Gedanken, dass man es mit einer                     Sicherheit ein Geburtsrecht zu sein. Infolgedes-
neuen Form von Gewalt, neuen Urhebern und                        sen hatte Amerika während des letzten Jahrhun-
neuen Formen der Bedrohung für die innere Si-                    derts das Gefühl, dass Außenpolitik eine Frage
cherheit zu tun habe und dass die Sicherheits-                   der Wahl und nicht der Notwendigkeit war. Wir
systeme versagt hatten, war es eine naheliegende                 haben uns stark in der Welt engagiert, aber wir
Sichtweise, dass im Bereich der inneren Sicher-                  haben uns auch aus ihr zurückgezogen, wenn wir
heit Handlungsbedarf bestand und nachgerüs-                      es wollten. In unserer Diplomatie und in unseren
tet werden müsse. „Spätestens seit dem 11. Sep-                  Allianzen gingen wir davon aus, dass die Welt uns
tember 2001 muss klar sein, dass sich kein Land                  mehr braucht als wir sie brauchen. Das ist vor-
der Erde auf den Lorbeeren ausruhen kann,                        bei.“18 Die Erkenntnis gegenseitiger Angewie-
die es in der Vergangenheit beim Kampf gegen                     senheit ging einher mit dem Imperativ, hinzuse-
den Terrorismus erworben hat – mögen die Er-                     hen und sich zu kümmern, wie Anthony Lewis
folge noch so groß gewesen sein“, formulierte                    schrieb: „Nach dem 11. September wurde von
beispielsweise der Terrorismusforscher Bruce                     vielen gesagt, dass sich unsere Welt unwiderruf-
Hoffman. „In der Vergangenheit haben wir uns                     lich verändert hat. (…) Es ist in der Tat eine an-
gern eingeredet, der Terrorismus zähle zu unse-                  dere Welt, eine, in der die Vereinigten Staaten und
ren weniger ernsten und komplexen Sicherheits-                   der Westen sich darum sorgen müssen, was an so
problemen. Das können wir uns nun endgültig                      weit entfernten Orten wie, nun ja, Afghanistan
nicht mehr e­ rlauben.“15                                        passiert. Verzweifelte Bevölkerungen klopfen an
     Was das neue Lebensgefühl in den USA be-                    unsere Türen und bedrohen unseren Lebenskom-
traf, zielten die Erfahrungen und Erwartungen                    fort. Wir müssen uns darum kümmern.“19 In die-
der Umorientierung auf verschiedene Bereiche                     ser Deutung sollten die Anschläge vom 11. Sep-
der Gesellschaft. So schrieb die „Time“-Journa-                  tember als Warnsignal dienen, sich der Welt
listin Nancy Gibbs: „Wir werden uns einfach an
etwas gewöhnen müssen, was wir noch nie gese-
hen haben: den regelmäßigen Anblick von Solda-                   16 Nancy Gibbs, What Comes Next?, in: Time, 8. 10. 2001,
                                                                 S. 22.
ten auf unseren Straßen, an den Flughäfen, in den
                                                                 17 Zakaria (Anm. 14).
                                                                 18 Ebd.
15 Bruce Hoffman, Neue Härte, langer Atem, in: Die Zeit Extra,   19 Anthony Lewis, The Inescapable World, in: The New York
Die Welt zwischen Terror und Krieg, 17. 9. 2001, S. 6.           Times, 20. 10. 2001, S. A23.

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zuzuwenden, sie als interdependent und vernetzt                  dann gerade jetzt. Dies ist nicht irgendein Krieg,
zu verstehen sowie die globalen Wirtschafts- und                 sondern ein gerechter Krieg.“21 Andere beschrie-
Umweltprobleme anzugehen, um weiteren An-                        ben den Krieg eher als ein nicht zu leugnendes
griffen und Konflikten ­vorzubeugen.                             Faktum, ohne ihn explizit zu werten: „Die Ver-
     Eine andere Schlussfolgerung war Krieg. Die                 einigten Staaten befinden sich im Kriegszustand,
Bush-Administration hatte die Anschläge um-                      auch wenn unklar ist, um was für eine Art Krieg
gehend als Kriegshandlungen bezeichnet. Die-                     es sich handeln wird,“ schrieb etwa der Philosoph
se Sprache nahmen anfänglich nur wenige Kom-                     Richard Rorty in der „Zeit“.22
mentatoren in den USA auf. Eine von ihnen war                        Eine verbreitete Erwartung war, dass es sich
die Juristin und Journalistin Ann Coulter. Unter                 dabei um eine neue Form des Krieges handeln
Bezug auf den Kampf gegen das nationalsozialis-                  würde. So kündigte Verteidigungsminister Do-
tische Deutschland schrieb sie bereits am 13. Sep-               nald Rumsfeld in der Sendung „Fox News Sun-
tember 2001 im „National Review Online“: „Wir                    day“ an: „Es ist eine neue Art von Krieg“, und
brauchen keine langen Untersuchungen der fo-                     er fügte hinzu: „Es wird politisch, wirtschaftlich,
rensischen Beweise, um mit wissenschaftlicher                    diplomatisch und militärisch sein. Es wird un-
Genauigkeit die Person oder Personen zu be-                      konventionell sein, was wir tun.“23 Nicht weni-
stimmen, die diesen speziellen Angriff befohlen                  ge Kommentatoren beschäftigte zudem die Fra-
haben. Wir brauchen keine ‚internationale Koa-                   ge, ob es eine neue Lagerbildung analog zu der
lition‘. Wir brauchen keine Studie über ‚Terroris-               des Kalten Krieges geben würde. So hieß es im
mus‘. Wir brauchen ganz sicher keine Resolution                  „Spiegel“: „Die Freudentänze der Palästinenser
des Kongresses, die den Angriff in dieser Woche                  auf den Straßen Ostjerusalems, die Sieges-Par-
verurteilt. (…) Es ist absurd, anzunehmen, dass                  tys von Muslimen in Brüssel wie in Berlin, in Ka-
jeder Passagier ein potenziell durchgeknallter                   bul oder Islamabad, weisen auf einen neuartigen
mörderischer Verrückter ist. Wir wissen, wer die                 Ost-West-Konflikt“,24 während der Journalist
gemeingefährlichen Verrückten sind. Sie sind die-                Bill Keller in der „New York Times“ überlegte:
jenigen, die gerade jetzt jubeln und tanzen. Wir                 „Ich bin mir nicht sicher, ob der erklärte Krieg
sollten in ihre Länder einmarschieren, ihre Füh-                 gegen den Terror auf einen neuen Kalten Krieg
rer töten und sie zum Christentum bekehren. Wir                  hinausläuft. Der Krieg gegen den Kommunismus
waren nicht zimperlich bei der Suche und Bestra-                 hatte ein definierbares Ende, während die Been-
fung Hitlers und seiner Top-Offiziere. Wir haben                 digung des Terrorismus ein Ziel ohne Ziellinie ist.
deutsche Städte mit Flächenbombardierungen                       (…) Wenn wir es ernst meinen, ist dies einer jener
überzogen, wir haben Zivilisten getötet. Das war                 Konflikte, die die Welt neu ausrichten können.
Krieg. Und dies ist ein Krieg.“20                                Wie der Kalte Krieg wird auch dieser, solange er
     Die Auffassung, dass der Krieg als Antwort                  andauert, eine Anziehungskraft auf alles ausüben.
moralisch legitimiert sei, wurde auch von anderen                Er wird bestimmen, wer unsere Freunde sind, un-
Kommentatoren geteilt. So stellte Maureen Dowd                   sere Prioritäten revidieren und die Elastizität un-
in der „New York Times“ mit Blick auf den Af-                    serer Ideale testen.“25 Solche Überlegungen stan-
ghanistan-Krieg fest: „Dies ist der erste Krieg                  den noch ganz unter dem Eindruck des Kalten
seit dem Zweiten Weltkrieg, der persönlich ist.                  Krieges und schrieben diese Erfahrungen fort.
Der Vietnamkrieg beruhte auf der Domino-The-                         Doch gab es umgehend auch skeptische Stim-
orie und zog sich hin, weil [US-Präsident] Lyn-                  men sowie kritische und warnende Kommenta-
don Johnson und [Verteidigungsminister] Robert                   re in Bezug auf so gut wie alle Ebenen der Deu-
McNamara ihr Gesicht nicht verlieren wollten.
Bei Desert Storm ging es darum, unsere Benzin-
                                                                 21 Maureen Dowd, These Spooky Times, in: The New York
preise niedrig zu halten. Aber dieses Mal haben                  Times, 31. 10. 2001, S. A15.
sie den Krieg zu uns gebracht, und jetzt geht es                 22 Richard Rorty, Die Militarisierung Amerikas, in: Die Zeit
darum, dass wir uns selbst und unsere Lebens-                    Extra, Die Welt zwischen Terror und Krieg, 17. 9. 2001, S. 21.
weise schützen. (…) Wenn die Vereinigten Staa-                   23 Zit. nach Todd S. Purdum, Bush Warns of a Wrathful, Sha-
                                                                 dowy and Inventive War, in: New York Times, 17. 9. 2001, S. A2.
ten jemals ein historisches Gedächtnis brauchten,
                                                                 24 Carolin Emcke et al., „Wir werden zurückschlagen“, in: Der
                                                                 Spiegel, 15. 9. 2001, S. 16–25.
20 Ann Coulter, This Is War. We Should Invade Their Countries,   25 Bill Keller, The 40-Year War, in: The New York Times,
13. 9. 2001, www.nationalreview.com.                             6. 10. 2001, S. A23.

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tungen und Schlussfolgerungen. Die eingangs          kämpfen.“27 Mit der Bezeichnung der Täter als
zitierten Journalisten und Schriftsteller Hertz-     Kriminelle, ihrer Verfolgung durch Polizei und
berg, Updike, Franzen und Johnson beispiels-         Geheimdienste sowie ihrer Verurteilung durch
weise warnten davor, den Begriff des Krieges für     Gerichte erweist sich der angegriffene Staat als le-
die Anschläge vom 11. September zu verwen-           gitimer Rechtsstaat, zudem verleiht man den Tä-
den. Dabei stellten sie die Dimension des Ge-        tern weniger Aura und Märtyrerstatus und kann
schehens ausdrücklich nicht infrage. Doch sa-        das privatisierte Gewalthandeln besser durch-
hen die vier Autoren gute Gründe dafür, andere       leuchten und für die Zukunft verhindern.
Worte zu wählen: „Mit wachsender Heftigkeit              Schließlich gab es auch Kommentatoren,
haben Beamte vom Präsidenten an abwärts die          die die Interpretation vom Anbruch einer neu-
blutigen Taten als Kriegshandlungen bezeich-         en Zeit, vom historischen Moment oder vom
net. Aber solange sich nicht herausstellt, dass      Wendepunkt früh relativierten. Die „Los Ange-
eine ausländische Regierung die Operation ge-        les Times“ etwa zitierte den Historiker Arthur
leitet hat (oder zumindest ihren Umfang im De-       Schlesinger Jr. mit den Worten „Ich denke, die-
tail und im Voraus gekannt und gebilligt hat),       ses Gerede von einer neuen historischen Epo-
ist das ein Kategorienfehler. Die Metapher des       che ist völlig überzogen. (…) Wir bewegen uns
Krieges – und es handelt sich hier mehr um eine      jetzt in einen Zustand hinein, in dem sich der
Metapher als um eine Beschreibung – schreibt         Rest der Welt bereits befindet.“28 Auch Eppler
den Tätern eine Würde zu, die sie nicht verdie-      äußerte sich historischen Superlativen gegenüber
nen, einen Status, den sie nicht beanspruchen        skeptisch: „Dass dieses Jahrhundert nur eines
können, und eine Stärke, die sie nicht inneha-       des Terrors sein könne, ist höchst zweifelhaft.
ben. Schlimmer noch, sie verweist auf eine Reihe     Aber zumindest seine ersten Jahrzehnte dürf-
von Reaktionen, die sich als sinnlos oder kontra-    ten geprägt sein von entstaatlichter, privatisier-
produktiv erweisen könnten.“ Und sie folgerten       ter, kommerzialisierter und oft auch krimineller
daraus die Frage: „Wie geht man mit ‚massiven        Gewalt. Dafür steht der 11. September 2001.“29
militärischen Maßnahmen‘ gegen die Infrastruk-       Andere wiederum stellten fest, dass der interna-
tur einer staatenlosen, verteilten und aufgeteil-    tionale Terrorismus „ja keine neue Entdeckung
ten ‚Armee‘ von fünfzig oder zehnmal fünfzig         für die Bundesrepublik“ sei und verwiesen etwa
Mann vor, deren Waffen Mietwagen, Kreditkar-         auf den Anschlag auf die israelische Mannschaft
ten und Flugtickets sind?“26                         bei den Olympischen Spielen 1972 in München
    Diese Argumente sind nicht von der Hand          durch die palästinensische Organisation Schwar-
zu weisen. Terroristen sehen sich selbst gern        zer September.30
als Soldaten in einem Krieg, weil diese Begrif-
fe ihnen vermeintlich die offizielle Legitimation                    WAS IST GEBLIEBEN?
verleihen, die ihnen gerade fehlt. Man sollte ih-                    EIN ZWISCHENFAZIT
nen nicht den Gefallen tun, ihre Begrifflichkeit
zu übernehmen. Anstelle des Begriffs „Krieg“         Etwa 20 Jahre später endet der Afghanistan-Ein-
schlugen Hertzberg, Updike, Franzen und John-        satz. Die 2001 begonnene, von der NATO geführ-
son vor, die Anschläge als „Verbrechen“ zu be-       te Mission der International Security Assistance
zeichnen und entsprechend als Kriminalität zu        Force (ISAF), die 2015 mit der kleineren Aus-
behandeln. In Deutschland formulierte der SPD-       bildungsmission „Resolute Support“ eine Fort-
Politiker Erhard Eppler diese Argumente in ana-      setzung fand, geht zu Ende. „Bittere Lehren aus
loger Weise im „Spiegel“: „Die 19 [Täter] waren      Afghanistan“ titelt die „Frankfurter Allgemeine
keine Soldaten, keinem Staat verpflichtet. Sie       Zeitung“ Anfang Juli anlässlich der Rückkehr der
waren Teil eines privat finanzierten Netzwerks.
(…) Solange wir vom Krieg gegen den Terroris-        27 Erhard Eppler, Weder Krieg noch Frieden, in: Der Spiegel,
mus reden, bekommen wir wichtige Aufgaben            8. 10. 2001, S. 56–59, hier S. 59.
gar nicht in den Blick. Daher schlage ich vor, den   28 Zit. nach Johnson (Anm. 10).
                                                     29 Eppler (Anm. 27), S. 56.
Terror als die für uns gefährlichste Form priva-
                                                     30 So Michael Naumann/Matthias Geis im Interview mit Ver-
tisierter und kommerzialisierter Gewalt zu be-       teidigungsminister Rudolf Scharping: Natürlich ist die Antwort
                                                     militärisch, in: Die Zeit Extra, Die Welt zwischen Terror und
26 Hertzberg et al. (Anm. 1).                        Krieg, 17. 9. 2001, S. 4.

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letzten Bundeswehrsoldaten und kommentiert:                       die Verunsicherung durch die Gewalt und die Un-
„Osama Bin Laden ist tot, aber Al-Qaida gibt es                   sicherheit und Ungewissheit mit Blick auf mög-
in Afghanistan immer noch, heute auch den IS.                     liche Deutungen und Reaktionen nicht zu über-
Und die Taliban haben gute Chancen, demnächst                     gehen, sondern ernst zu nehmen. Zwar war die
die Inseln der Aufklärung zurückzuerobern, die                    Gewalt dieser Anschläge in einer Weise geplant
im Schutz der internationalen Truppen entstan-                    und ausgeführt, die Botschaften transportierte.
den sind.“31 Inwiefern verändern solche Erfah-                    Doch waren diese Botschaften keineswegs eindeu-
rungen den Blick auf die Anschläge vom 11. Sep-                   tig, sondern in einem hohem Maße deutungsoffen
tember 2001? Inwiefern hat sich in dieser Zeit die                und interpretationsbedürftig. Solche Deutungen
Perspektive auf 9/11 verändert?                                   und Interpretationen sind Teil der Reaktion. Darin
    Diese Frage ist umso wichtiger, weil terroris-                liegt ein nicht zu unterschätzendes Machtpotenzial
tische Anschläge nicht mit dem Ende der Gewalt-                   für Gesellschaft, Politik und Medien, das mit Be-
ausübung und ihren unmittelbaren Folgen en-                       dacht genutzt werden kann. Die Anschläge vom
den. Die Taktik des Terrorismus ist ein Spezialfall               11. September mussten nicht notwendig als Kriegs-
der Provokation, ein absichtlich herbeigeführter                  handlung oder Eröffnung eines Krieges betrachtet
überraschender Normbruch, „der den anderen in                     werden. Sie hätten auch als kriminelles Verbrechen
einen offenen Konflikt hineinziehen und zu einer                  definiert werden können, wie auch schon einige
Reaktion veranlassen soll, die ihn, zumal in den                  Zeitgenossen wussten und vorschlugen.
Augen Dritter, moralisch diskreditiert und ent-                        Deutungen des Anschlags in historischen Ka-
larvt“, so der Soziologe Rainer Paris.32 Eine Pro-                tegorien sind ebenfalls nicht unproblematisch.
vokation führt den Mächtigen vor und bestreitet                   Im Falle von 9/11 schrieben sie der Gewalt eine
seine Legitimität. Dabei geht der Provokateur in-                 Macht über die Gesellschaft zu, die in anderen Zu-
direkt vor: Der andere soll sich angegriffen füh-                 sammenhängen kaum denkbar wäre. Zwar waren
len, um seinerseits anzugreifen, denn der Pro-                    solche Deutungen aus der Situation heraus ver-
vokateur will dafür sorgen, dass der andere sich                  ständlich, denn sie schienen von der Absicht ge-
möglichst selbst in Misskredit bringt. Die Reak-                  tragen, die außergewöhnlichen und nur schwer
tionen sind folglich Teil des Kalküls von Provo-                  fassbaren Gewaltakte in historische Dimensionen
kationen.33 Dabei sind zielführende Reaktionen                    zu übersetzen, um ihnen gerecht zu werden. Doch
schwer. Denn eine Provokation setzt unter Zug-                    darf man dabei nicht außer Acht lassen: Das Ziel
zwang, sie ahnden oder hinnehmen zu müssen.                       der terroristischen Taktik ist, durch spektakuläre
Beides – der Einsatz von Gewalt wie auch die Of-                  Gewalt bei den Gegnern Angst und Terror zu ver-
fenbarung von Ohnmacht – gefährdet die Legiti-                    breiten. Deutungen in historischen Superlativen
mität der Macht und bestätigt den Provokateur.                    drohen den Gewalttätern in die Hände zu spielen.
Überdies polarisiert die emotionale Aufladung                          Vor diesem Hintergrund gewinnt die Frage an
der Situation das Publikum und schafft Solidari-                  Gewicht, welche der historischen Deutungen sich
tätszwänge, die wiederum leicht Radikalisierun-                   bis heute als beständig erwiesen haben. Vor dem
gen nach sich ziehen.34 Terrorismus ist eine ex-                  Hintergrund der Terrorismusgeschichte ist dabei
treme Ausprägung dieser Form des Handelns.                        zu bestätigen: Neu und präzedenzlos war in der
Deshalb sind Reaktionen als Teil des Kalküls ter-                 Tat das Ausmaß der Gewalt als terroristische Ge-
roristischer Anschläge einzubeziehen, wenn man                    walt und seine Wirkung. Gemessen am Verlust an
mit Blick auf einen terroristischen Anschlag Bi-                  Menschenleben und dem Ausmaß des Schadens,
lanz ziehen will – und sei es auch nur eine vorläu-               handelte es sich tatsächlich um den „größten Ter-
fige Zwischenbilanz.                                              roranschlag der Geschichte“, wie es in der „Zeit“
    Was bedeutet das für den Blick auf die An-                    gestanden hatte, und er löste zweifellos weit über
schläge vom 11. September 2001? Zunächst gilt es,                 die Grenzen der USA hinaus Gefühle von Angst
                                                                  und Verletzlichkeit aus. Bei einer solchen Aus-
                                                                  sage ist jedoch einzubeziehen, dass Anschläge in
31 Nikolas Busse, Bittere Lehren aus Afghanistan, in: Frankfur-   früheren Jahrhunderten vergleichbare Schock-
ter Allgemeine Zeitung, 1. 7. 2021, S. 1.
                                                                  wirkungen erzielt haben.35 Man denke beispiels-
32 Rainer Paris, Der kurze Atem der Provokation, in: ders.,
Stachel und Speer. Machtstudien, Frank­furt/M. 1998, S. 57–89.
33 Ebd., S. 61–64.                                                35 So auch schon Walter Laqueur, World of Terror, in: Natio-
34 Ebd., S. 66, S. 69 und S. 77 f.                                nal Geographic 4/2004, S. 72–77.

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weise an den Anschlag Felice Orsinis auf Napo-                    stärker in den Fokus genommen wurde. Bei vie-
leon III. im Januar 1858 in Paris, der mit neuartig               len, die sich dem Thema zuwandten, mögen die
konstruierten Granaten verübt wurde – der An-                     eigenen Erfahrungen und das Erleben der An-
schlag, der im 19. Jahrhundert die meisten Opfer                  schläge von Belang gewesen sein – in meinem Fall
forderte.36 Nicht unbekannt und auch nicht neu                    die Frage nach der Rolle und der Bedeutung der
waren dagegen die Urheber der Anschläge vom                       Medien und des Publikums in Hinblick auf die
11. September und ihre Motive. Was die Entste-                    terroristische Taktik sowie die Frage, ob und in-
hung des radikalen Islamismus betrifft, kann ver-                 wiefern diese Anschläge wirklich neu waren. Die
wiesen werden auf die Anfänge in den 1920er                       innere Sicherheit hat in Reaktion auf die Anschlä-
Jahren sowie die Revolution in Iran 1978/79, den                  ge in fast allen Industrienationen an Stellenwert
Kampf der Mudschaheddin gegen den Einmarsch                       gewonnen. Gesetzespakete, die dem Staat weit-
der So­wjet­union in Afghanistan 1979 sowie die                   reichende Handlungsmöglichkeiten einräumen,
terroristischen Aktivitäten der Hisbollah in den                  und Sicherheitssysteme an Flughäfen, aber auch
1980er Jahren, wobei der Abzug der US-Marines                     in öffentlichen Gebäuden überall auf der Welt,
nach einem Anschlag in Beirut 1983 als Schlüssel-                 gehören zu den sichtbaren Folgen.
moment gilt.37 Spätestens mit dem ersten islamis-                     Eine weitere Reaktion auf die Anschläge war
tisch motivierten Anschlag auf das World Trade                    Krieg. Auf den Afghanistan-Krieg folgten ein
Center 1993 war der Übergriff auf das Territori-                  weiterer Krieg einer US-geführten Allianz gegen
um der USA gegeben.                                               den Irak, der wiederum zur Bildung und zum Er-
     Was heißt das für die historische Bedeutung                  oberungszug des „Islamischen Staates“ und sei-
der Anschläge vom 11. September? In der Ter-                      ner Wiedereindämmung führte sowie zu zahllo-
rorismusgeschichte stehen die Anschläge unge-                     sen islamistisch motivierten Terroranschlägen in
achtet der außergewöhnlichen Destruktion, die                     Europa, aber auch in Asien und Afrika. Entgegen
sie verursachten, in Kontinuität zu Entwicklun-                   den Ankündigungen und verbreiteten Erwartun-
gen, die seit Mitte der 1990er Jahre als new ter­                 gen setzten diese Kriege eher alte und konventi-
rorism gefasst wurden. Die Entstehung der ter-                    onelle Muster fort und trugen insgesamt gesehen
roristischen Handlungslogik selbst geht dagegen                   wohl mehr zur Delegitimierung der USA in der
schon auf die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück.                  Region des Nahen Ostens sowie auch in anderen
Terrorismus entstand aus der Kombination von                      Teilen der Welt bei als zur Steigerung ihrer Legiti-
spektakulärer Gewalt mit schneller und regelmä-                   mität. Anders als 2001 aus der Vergangenheit ge-
ßiger Berichterstattung in den Massenmedien an                    schlossen wurde, war jedoch nicht ein neuer Ost-
ein politisch interessiertes Massenpublikum. Seit-                West-Konflikt das Ergebnis. Stattdessen waren
dem wurde die Taktik an technologische, ideo-                     die genannten Kriege ein nicht unwesentlicher
logische, mediale und soziale Veränderungen                       Faktor dafür, dass die USA ihre Rolle und Bedeu-
angepasst. Das gilt auch für 9/11. Dass diese An-                 tung als einzig verbliebene Supermacht nicht un-
schläge als eine historische Zäsur beurteilt wer-                 angefochten fortführen konnten. Umso wichtiger
den müssen, wird immer wahrscheinlicher. Dies                     wird nun die andere Alternative, die bereits 2001
ist jedoch nicht auf die Gewalt der Anschläge zu-                 von vielen Kommentatoren aufgezeigt wurde: die
rückzuführen, sondern auf die psychologischen                     Welt als interdependent und vernetzt anzuerken-
Wirkungen, Deutungen und Reaktionen, die sie                      nen und die globalen Wirtschafts-, Umwelt- und
hervorzubringen in der Lage waren. Diese Reak-                    Klimaprobleme anzugehen.
tionen beendeten die Offenheit der 1990er Jahre.
     Hinsichtlich der damaligen Schlussfolgerun-                  Ich danke Scott Harrison für umfangreiche
gen lässt sich feststellen, dass Terrorismus als                  Recherchehilfe und Marcus Düwell für wertvolle
Taktik bei den Behörden wie auch in der Wissen-                   Hinweise.
schaft – wie schon in den 1970er Jahren – wieder
                                                                  CAROLA DIETZE
                                                                  ist Professorin für Neuere Geschichte an der
36 Vgl. Carola Dietze, Die Erfindung des Terrorismus in Europa,
                                                                  Friedrich-Schiller-Universität Jena und Autorin des
Russland und den USA 1858-1866, Hamburg 2016, Kap. 2.
37 Vgl. etwa Louise Richardson, Was Terroristen wollen. Die
                                                                  Buches „Die Erfindung des Terrorismus in Europa,
Ursachen der Gewalt und wie wir sie bekämpfen können, Frank­      Russland und den USA 1858–1866“ (2016).
furt/M.–New York 2006, Kap. 3.                                    carola.dietze@uni-​jena.de

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                                                 ESSAY

      9/11 UND DAS ENDE „DES WESTENS“
                                          Stefan Weidner

Zehn Jahre nach dem 11. September 2001 sah es         le westliche Entscheidungsträger geglaubt, es fol-
für kurze Zeit danach aus, als würde die Weltge-      ge eine kontinuierliche globale Entwicklung hin
schichte eine versöhnliche Wendung im „westli-        zu Freiheit und Demokratie. Die Geschichte lief,
chen“ Sinn nehmen. Der erste nicht-weiße Prä-         wie es im euro-atlantischen Raum vorausgesagt
sident der USA, Barack Obama, hatte rhetorisch        worden war: Eines Tages würden alle „wie wir“
mit dem außenpolitischen Stil seines Vorgängers       werden, wie „der Westen“ selbst. Dies jedenfalls
George W. Bush gebrochen. Das euro-amerika-           war die breit rezipierte These des amerikanischen
nische Verhältnis konsolidierte sich. Die große       Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama in sei-
Finanzkrise, die 2007 in den USA begonnen und         nem Buch „Das Ende der Geschichte“.02 Fuku-
bald auch den Euro-Raum erfasst hatte, war zwar       yama sprach freilich nur aus, wovon ohnehin vie-
noch nicht überstanden, hatte jedoch ihren Zenit      le in Europa und den USA überzeugt waren: Der
überschritten, ohne das weltweite Finanzgefüge        Westen hatte den geschichtlichen Endkampf zwi-
oder den Euro zerbrechen zu lassen.                   schen freiheitlichem Kapitalismus und diktatori-
     Eine deutliche Aufstockung der westlichen        schem Kommunismus gewonnen. Jetzt stand die
Truppen in Afghanistan auf 100 000 Mann zeig-         ganze Welt seinem segensreichen Einfluss offen
te Erfolge und zwang die Taliban, die nach 9/11       und würde ihm folgen, wie es sich in Osteuropa
nur kurzzeitig vertrieben worden waren, wieder        bereits andeutete.
in die Defensive. Mit einer innovativen Counter-          Die arabischen Revolutionäre der ersten Stun-
Insurgency-Strategie gelang es den Amerikanern,       de, jung, technikaffin, kreativ, euro-amerikanisch
die Sicherheit im Irak, den die US-geführte Inva-     gebildet, schrieben sich Ideale auf die Fahne, die
sion nach 2003 destabilisiert hatte, vorläufig wie-   viele im transatlantischen Raum der arabisch-isla-
derherzustellen. Und mit Iran zeichnete sich ein      mischen Welt zwar nahegelegt, ihr aber zugleich
Weg für Atomverhandlungen und die Aufhebung           kaum zugetraut hatten: Menschenwürde, politi-
der Sanktionen ab. Sogar Osama bin Laden, der         sche Teilhabe, Freiheit von Diktatur und Unter-
Drahtzieher der Anschläge von 9/11, war end-          drückung, Selbstbestimmung und Demokratie.
lich aufgespürt worden. Er wurde Anfang Mai           Einen beträchtlichen Beitrag zu diesem Aufbruch
2011 von einem amerikanischen Einsatzkom-             leisteten die medialen Entwicklungen des Jahr-
mando in seinem Haus in Abbottabad in Pakistan        zehnts davor. Der TV-Sender Al-Jazeera aus Qa-
erschossen – trotz der Möglichkeit, ihn lebend        tar, wegen seiner populistischen, die Berührung
­festzunehmen.01                                      mit dem dschihadistischen Islam nicht scheuen-
     Zudem kam es zum Jahreswechsel 2010/11,          den Ausrichtung oft in die Kritik geraten – er
ausgehend von Tunesien, in der arabischen Welt        hatte unter anderem die Videobotschaften Bin
zu Aufständen gegen Regime, die seit vielen Jahr-     Ladens ausgestrahlt –, trug die von der Selbstver-
zehnten an der Macht gewesen waren. Die aggres-       brennung des Gemüsehändlers Mohamed Bou-
sive amerikanische Nahostpolitik der Bush-Ära         azizi im Dezember 2010 ausgelöste tunesische
hatte nach 2001 in Afghanistan und im Irak auf ge-    Revolution in die Wohnzimmer aller arabischen
waltsamen Umsturz, auf Liberalisierung und De-        Länder.
mokratisierung von außen gesetzt. Nun forderten           Bereits nach wenigen Wochen waren die ers-
die Araber von sich aus Demokratie und Rechts-        ten Despoten gestürzt: Zine el-Abidine Ben Ali in
staatlichkeit ein und erfüllten damit – scheinbar     Tunesien und Hosni Mubarak in Ägypten. Ande-
– die westlichen Erwartungen. 2011 wurde damit        re, wie Muammar al-Gaddafi in Libyen und Ali
das große Jahr des Aufbruchs und der Hoffnung.        Abdalah Saleh im Jemen, gerieten ins Wanken,
Nach dem Ende des Kalten Krieges hatten vie-          und bald war klar, dass auch Baschar al-Assad in

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9/11 APuZ

Syrien mit einem Volksaufstand zu kämpfen hat-                – in Tunesien und Ägypten –, gingen islamistische
te, der von den Großstädten Homs und Hama in                  Kräfte als Sieger hervor, vor allem die Muslimbrü-
Mittelsyrien getragen wurde. Damit waren die äl-              der. Wo die Revolte in den offenen Bürgerkrieg
testen und am längsten an der Macht befindlichen              abglitt, gewannen islamistische Kräfte die Ober-
Herrscher beziehungsweise Herrscherfamilien                   hand, die oft weit radikaler waren als die Mus-
beseitigt oder stark angeschlagen. Weitere zehn               limbrüder. Auch sonst waren es ausgerechnet die
Jahre später, im Sommer 2021, ist Assad der ein-              alten, eingefleischten Gegner der USA oder „des
zige, der noch am Leben und im Amt ist – einem                Westens“, die das Machtvakuum ausnutzten, das
Amt freilich, das am seidenen Faden russischer                die USA erst im Irak, dann durch Obamas Nicht-
und iranischer Unterstützung1 hängt.2                         einmischungspolitik in Syrien geschaffen hatten:
                                                              Russland und Iran gingen dabei auf der Seite As-
            AU ẞ ENPOLITISCHES ENDE                           sads allen voran.
                                                                  Der dschihadistische Islam, der schon für den
Der Austausch der Köpfe und Gesichter der                     9/11-Terrorismus verantwortlich war, erober-
Macht – seit 2019 auch im Sudan und in Alge-                  te in Gestalt des IS, der aus Bin Ladens al-Qai-
rien – ist den Revolutionären damit fast überall              da im Irak hervorgegangen war, im Nordirak und
gelungen. Vordergründig betrachtet, ist das kei-              im Grenzgebiet zu Syrien weiträumige Gebie-
ne schlechte Bilanz. Die alten Strukturen konnten             te: Zum ersten Mal seit 9/11 und dem Sturz der
sie jedoch nicht nachhaltig aufbrechen. Wo dies               Taliban in Afghanistan kontrollierten nun dezi-
zu gelingen schien, kam es zum Bürgerkrieg, etwa              diert antiwestliche Dschihadisten ein großräu-
in Libyen, Syrien und im Jemen. Die kurzzeiti-                miges Territorium. Wenn man ihrer Propaganda
ge Aufbruchstimmung wurde damit von neuen                     glauben wollte, hatten sie gar einen eigenen Staat.
und größeren Krisen abgelöst, die an die mit 9/11             Mit den davon – und durch Assads Krieg gegen
beginnenden Destabilisierungen und Kriege an-                 die eigene Bevölkerung – ausgelösten Fluchtbe-
knüpften und den Terror auch nach Europa tru-                 wegungen und einer neuen, vom IS ausgehenden
gen, nunmehr in Gestalt von Kämpfern des soge-                Welle des Terrorismus in einem für Europa, ins-
nannten Islamischen Staates (IS). Die Hoffnung,               besondere für Frankreich, ungeahnten Ausmaß
dass sich die „Verwestlichungsgeschichte“ Ost-                manifestierte sich der weitgehende Kontrollver-
europas nach 1989 in der arabischen Welt wieder-              lust westlicher Mächte über die Entwicklung in
holen und damit auf einen weiteren Weltteil er-               der MENA-Region (Middle East and North Af­
strecken würde, starb mit der Konterrevolution                rica) nach 9/11.
in Ägypten 2013 und der gleichzeitigen Internati-                 Mit Hilfe kurdischer Bodentruppen und ei-
onalisierung des Konflikts in Syrien, die bis heu-            nes schweren und rücksichtslosen Bombar-
te andauert.                                                  dements der vom IS besetzten irakischen Me-
    In den arabischen Revolutionen entlud sich                tropole Mossul durch Kampfflugzeuge der
unter anderem die Wut über die politische Stag-               Anti-IS-Koalition gelang es zwar 2017, den IS
nation, die seit 2001 eingetreten war, wenn nicht             zu schlagen. Die weitere Entwicklung dort ent-
bereits seit dem Zusammenbruch der So­       wjet­            zieht sich aber nach wie vor der westlichen Kon-
union, der für viele der mit ihr verbündeten ara-             trolle – ganz wie in Afghanistan, wo das sang-
bischen Länder und Regime eine massive Um­                    und klanglose Verschwinden „des Westens“, also
orientierung zur Folge hatte. Hatten Europa und               sein Ende als außenpolitisch zu verbreitendes
die USA lange die Taktik verfolgt, die politische             Konzept für andere Gesellschaften, mit dem ge-
Lage und den dschihadistischen Terrorismus in                 planten Abzug aller Truppen bis September 2021
der arabischen Welt durch Sicherheitskooperati-               symbolisch besiegelt wird: Es ist trotz zwischen-
on mit den Regimen unter Kontrolle zu halten,                 zeitlich großem Engagement und hoher militä-
so scheiterte dieser Ansatz mit den Revolutionen              rischer Präsenz nicht gelungen, die Entwicklun-
von 2011. Wo demokratische Wahlen stattfanden                 gen im Land so zu steuern, wie man es sich nach
                                                              9/11 erhofft hatte, nämlich einen funktionieren-
                                                              den afghanischen Staat aufzubauen, in dem Ter-
01 Vgl. Robert O’Neill, The Operator. Firing the Shots that
Killed Bin Laden, New York 2017, Kap. 21 f.
                                                              roristen und Dschihadisten keine Heimat mehr
02 Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man,     haben würden. Stattdessen wird Kabul bis heu-
New York u. a. 1992.                                          te fast jede Woche von Terroranschlägen heim-

                                                                                                              15
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