Panoptica frauen.kultur.tirol 2021 - Land Tirol
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
PA N O P T I CA INHALT frauen.kultur.tirol 2021 VORWORT Landesrätin Dr.in Beate Palfrader Seite 3 EINLEITUNG Petra Streng Seite 5 KULTUR Porträt: Frau „kunst” alles – Eine Prinzipalin und ihr Clan Seite 6 Moni Brüggeller Die Kunst zu reisen, ist fast die Wissenschaft des Lebens – Tirol in Texten reisender Frauen Seite 12 Iris Kathan Bewegte Frauenbilder – Frauenrollen im Tiroler Filmgeschehen Seite 18 Gertraud Eiter & Eva Binder KUNST Der Weg ist die Kunst – Ein Blick hinter die Ateliertüren dreier Tiroler Künstlerinnen Seite 24 Maria Peters Von der Muse geküsst… oder Mäzenin? – Positionen von Frauen in der Bildenden Kunst Seite 32 Simone Gasser Bau' mir ein Haus – Architektinnen in Tirol Seite 38 Sabine Geiger „Frau verewigt” – Reliquien als historisch weibliche Artefakte Seite 44 Andrea Pancheri KALEIDOSKOP Porträt: Glaswelten von Sabine Henkel – Kreativität und Verschmelzung Seite 48 Gerda Gratz Eine Ethnie, das sind du und ich – Porträts italienischsprachiger Autorinnen aus Südtirol Seite 54 Anna Rottensteiner … nimm’ dein kleines Schwesterlein – Frauen in der Badekultur Seite 60 Anne Potocnik-Paulitsch Im Kopf und auf dem Kopf hat sie was – Frau trägt Hut in vielen Facetten! Seite 68 Michaela Hutz KALEIDOSKOP … DES MANNES „Richte mich, wer wolle – wir richten, wie wir wollen!” – Ein mörderischer Schluss-Essay Seite 74 Christian Kössler Autorinnen und Autor Seite 80
VORWORT Die letzten Monate brachten große Herausfor derungen und massive Veränderungen unseres Alltagslebens mit sich. Die notwendigen Maßnah- men zur Eindämmung der Pandemie erfordern Einschränkungen, Verzicht und soziale Distanz. Die Krise hat gravierende Auswirkungen auf den gesamten Kulturbereich und stellt die angestrebte Geschlechtergerechtigkeit angesichts einer Ten- denz zur Rückkehr in tradierte Rollenbilder in Frage. Foto: Land Tirol/ Berger Umso wichtiger ist es daher, das Bewusstsein für Ich danke Chefredakteurin Petra den hohen Stellenwert des künstlerischen Schaf- Streng für die gelungene Konzeption fens in unserer Gesellschaft zu schärfen und insbe- der vorliegenden Panoptica-Ausgabe sondere die wichtige Rolle von Frauen in Kunst und sowie den Autorinnen und dem Autor Kultur in den Fokus zu rücken. Dies ist das Anliegen für die interessanten Beiträge. des Frauenkulturmagazins Panoptica, das heuer bereits zum neunten Mal erscheint. Nehmen Sie sich eine Auszeit vom Corona-Alltag und tauchen Sie in das Frauen prägen das kulturelle Leben in Tirol – sei vielfältige weibliche Kunst- und Kul- es bei renommierten Festivals, Kulturinstitutionen turschaffen in Tirol ein. In Zeiten, in de- und Interessensvertretungen, aber auch bei den nen kulturelle Veranstaltungen nicht zahlreichen kleinen Kulturvereinen und Initiativen oder nur sehr eingeschränkt möglich in allen Regionen unseres Landes. Panoptica holt sind und der unmittelbare Austausch diese engagierten Persönlichkeiten vor den Vor- zwischen den Kulturschaffenden und hang und macht deutlich, dass es ein ungeheures dem Publikum fehlt, braucht es al- Potential und viele kreative Frauen gibt, die darauf ternative Formen der Präsentation brennen, ihre Projekte und Veranstaltungen mög- und Vernetzung dringender denn je. lichst bald wieder durchführen zu können. Frauen Die Lektüre macht stolz auf das, was in Kunst und Kultur ermöglichen eine kritische Aus- Frauen in Tirol bewegen und weckt einandersetzung mit den existenziellen Fragestel- Vorfreude auf ein blühendes kulturel- lungen unserer Zeit, sind Motor für Innovation und les Leben nach dem Überwinden der vermitteln Hoffnung und Zuversicht. In diesem Sin- Pandemie sowie auf viele spannende ne soll auch Panoptica 2021 trotz der besonderen persönliche Begegnungen! Situation Optimismus säen und Mut machen – Mut, um die gegenwärtigen Herausforderungen zu meis- tern und Kunst und Kultur als unverzichtbares Gut unserer demokratischen Gesellschaft zu fördern, Mut, um gerade in schwierigen Zeiten Solidarität und gesellschaftlichen Zusammenhalt über Einzel Dr.in Beate Palfrader interessen zu stellen, Mut, um Hürden zu überwin- Landesrätin für Bildung, Kultur, Arbeit den und Ziele konsequent zu verfolgen. und Wohnen PANOPTICA 2021 | VORWORT 3
IMPRESSUM Eigentümer, Herausgeber und Verleger: © Amt der Tiroler Landesregierung Für den Inhalt verantwortlich: HR Dr. Thomas Juen, Abteilung Kultur, Michael-Gaismair-Straße 1, 6020 Innsbruck, email: kultur@tirol.gv.at Redaktion: Dr. Petra Streng Druck- und Gesamtherstellung: Alpina Druck, Innsbruck Die mit Namen gekennzeichneten Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
EINLEITUNG Die nunmehr neunte Ausgabe der Frauenkultur- zeitschrift Panoptica 2021 erscheint „in Zeiten wie diesen...” – so eine bekannte alte Redensart, die wahrlich keine positiven Bedingungen umschreibt. Die Pandemie hielt uns 2020 in Atem und wird uns auch in der nächsten Zeit bewegen. Fast möchte man sich an die tradierte Märchenwelt wenden, in der man (vermeintlich) gute alte Zeiten beschwor und man die Formel bemühte „In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat ...”. Schwierige Gegebenheiten erfordern neue Um- Frau hat was im Kopf, was nicht nur im gangsformen, Ideen, Kreativität, Flexibilität und eben breit gelagerten Multitasking gerade wohl auch den Wunsch in eine gewissen Normalität in der Gegenwart augenscheinlich ist, zurückzukehren. Alle sind hierbei gefordert und gera- sondern salopp formuliert, auch auf de die vorliegenden Beiträge zeigen, dass kulturelle dem Kopf: Die Geschichte von Hut- Aktivitäten, das Engagement von Einzelnen sehr er- formen und Tragevarianten sind auch freuliche Aus- und Einblicke bieten – und wie kreativ, Spiegelbilder weiblicher Lebenswel- zeitbezogen gerade Frauen sich behaupten. ten, von Normen, von Innovation und wohl auch vom Aufstand. Die große Spannbreite reicht von Frauen in der Ar- chitektur, über Positionen in der Bildenden Kunst bis Am Beginn stand die oben angeführ- hin zu Porträts von Künstlerinnen, die ganz unter- te Märchenwelt mit Wunschvorstel- schiedliche Werdegänge und Zugangsweisen doku- lungen und das Ende dieser Ausgabe mentieren. Frau „kunst” alles: Vom Engagement und 2021 ist ein literarischer Schluss-Essay der Beharrlichkeit von Kulturorganisatorinnen, Ein- zum Thema „Richte mich, wer wolle drücke von weiblichen Reisenden quer durch die Ge- – wir richten, wie wir wollen!”. Kurz- schichte oder literarische Bearbeitungen in Südtirol. geschichten, Anleihen an Sagen und Wie „das” Medium Glas sich im weiblichen Kunst- aktuelle Berichte kommentieren hier handwerk niederschlägt findet ebenso Platz wie ba- summiert – etwas hart, aber auch mit dende Weibsbilder im kulturgeschichtlichen Kontext. einem Augenzwinkern – die Selbstbe- stimmung von Frauen. Und um noch einmal auf Wünsche zu- rückzukommen: Auch für die Zukunft wünschen wir uns für Tirol weiterhin so engagierte Frauen im Kulturgeschehen. Vielleicht vermögen so manche hier vorliegenden Beiträge zu animieren und insgesamt Bestätigungen für das stetige Wirken von Frauen darzustellen. Petra Streng Redaktion Fotos: Petra Streng PANOPTICA 2021 | EINLEITUNG 5
PORTRÄT: FRAU „KUNST” ALLES Eine Prinzipalin und ihr Clan Moni Brüggeller Mit dem Festival-Bus touren die Steudltenner nicht nur durch das Zillertal, um die Werbetrommel zu rühren. Foto: Moni Brüggeller 6 PANOPTICA 2021 | KULTUR
Begegnung mit Bernadette Abendstein. Theater- dort, wo der Sport den Ton angibt. In spielen war ihre Leidenschaft schon als kleines Mäd- Uderns zeigt Bernadette Abendstein, chen. Aus der Leidenschaft ist ein Beruf geworden. was Theater kann. Und sie zeigt, was Die Zillertalerin aber wollte mehr. Sie gründete das sie mit Theater will: Staunen machen, Theaterfestival Steudltenn. Mit ihrem Lebensge- überraschen, zum Nachdenken anre- fährten und Vater ihrer drei Kinder als künstlerischen gen. Menschen neue Welten öffnen. Leiter. Im vergangenen Jahr feierte Steudltenn, das Welten, die so gar nichts mit dem Zil- konventionelle Theater-Grenzen sprengt und in sei- lertal zu tun haben. Weil die Welten nem spartenübergreifenden Ansatz neue Dimensio- von Steudltenn Sehnsuchtsorte sind. nen eröffnet, das zehnjährige Jubiläum. Begegnung Orte, die verführen und Menschen mit einer Prinzipalin. zum Träumen verleiten. Steudltenn kann das. Steudltenn tut das. Seit zehn Theater, das liegt Bernadette Abendstein im Blut. Jahren. Mit aller Kraft. Eine Kraft, die Die Gene ihres Vaters spielen da wohl eine Rolle. Eine Menschen und das gesellschaftspoliti- ganz entscheidende sogar. Hans Abendstein dräng- sche Umfeld verändert. te es auch auf die Bühne. Nur – er konnte nicht. Die Zeit seiner Jugend war eine andere. Eine härtere. Da Ausgerechnet das vergangene Jubilä- ging es ums Überleben. Mit seinen Theater-Ambiti- umsjahr hat das eindrucksvoll gezeigt. onen kam er bei seinen Eltern nicht durch. Er woll- Die weltweite Pandemie hat die Welt te es bei seinen Kindern einmal anders machen. Er verändert. Die Pläne der Kulturschaf- hat es anders gemacht! Seine Tochter Bernadette fenden wurden jäh zerstört. Nicht aber unterstützte er seit frühester Jugend bei all ihren die Pläne von Bernadette Abendstein. Theater-Plänen. Corona zwang sie nicht in die Knie. Klein beigeben ist die Sache von Ber- In Wien hat sie Theater studiert. Bei Elfriede Ott – der nadette Abendstein nämlich sowieso Großen, der Unvergesslichen. Auf den bedeutends- nicht. Verantwortliche in Ämtern und ten Bühnen – Josefstadt, Volksoper Wien, Theater Behörden und selbst Tirols Kultur-Lan- der Jugend in Wien, Stadttheater Walfischgasse desrätin Beate Palfrader wissen ein und vielen anderen – ist Bernadette Abendstein ge- Lied davon zu singen. Wenn die hüb- standen. Erfolge hat sie auch bei diversen Film- und sche Zillertalerin mit ihrem charman- Fernsehproduktionen gefeiert. Die Weichen für eine ten Lächeln etwas will, dann lässt sie große – auch internationale – Karriere waren ge- sich nicht abwimmeln. Und darum stellt. Doch irgendwann war das für die 42-Jährige kam es für Bernadette Abendstein im mit dem Aussehen eines Supermodels zu wenig. Sie Jubiläumsjahr schon gar nicht in Fra- wollte mehr. Mehr als nur jeden Abend auf der Bühne ge, wegen Corona klein beizugeben stehen. Sie wollte mehr als den schnellen Erfolg. und das Festival nicht durchzuführen. Bernadette Abendstein wollte mehr als nur unterhal- Der Tristesse der vielen coronabeding- ten. Sie wollte gestalten. ten Absagen setzte sie Optimismus entgegen. Mehr noch. Sie trumpfte In ihrem damaligen Lebensgefährten und heutigen mit neuen Ideen auf. Dort, wo für vie- Ehemann und Vater ihrer drei Kinder – dem Regis- le Kulturveranstalter einfach nichts seur, Autor und Schauspieler Hakon Hirzenberger mehr ging, dort bot man bei Steudl- – hat sie einen Gleichgesinnten gefunden. Und in ih- tenn eine Perspektive – nicht nur dem rem Vater Hans einen Verbündeten. Das war die Ge- Publikum, sondern vor allem auch burtsstunde von Steudltenn. den vielen Künstlern, die Sommer für Sommer Uderns zum Mekka für Thea- Das Geheimnis des Erfolgs: Höchster Kunst- und ter-Visionen machen. Der uralte Stadl Kulturanspruch dort, wo sich Fuchs und Has´ gute mit seiner magisch aufgeladenen Nacht sagen. Höchster Kunst- und Kulturanspruch Atmosphäre, Hauptspielstätte von PANOPTICA 2021 | KULTUR 7
Bernadette Abendstein (2.v.li.) mit dem Clan: Hakon Hirzenberger (li.), Gerhard und Barbara Kainzer und Hans Abendstein (re.) Foto: Moni Brüggeller Steudltenn seit Beginn, bekam mit ei- das Leben abseits des Festivals. Und sie gesteht: „Ich ner neuen Bühne unter freiem Himmel mag es, dass mein Leben so voll ist!” Außerdem ist Konkurrenz. Partout im Jubiläumsjahr Bernadette Abendstein überzeugt: „Ich denke, wenn hat sich damit ein Kreis geschlossen. die Kinder nicht nur mich haben, die sie versucht zu Der Griff nach den Sternen, der Berna- erziehen – umso besser. Es gibt ja den Spruch: Zum dette Abendstein immer angetrieben Kinder großziehen braucht man ein ganzes Dorf! Ein hat, ist Realität geworden. bisserl so ist das bei uns!” Ihre Kinder – Frieda und die Zwillinge 79 Vorstellungen hat es im vergangenen Jahr gege- Kajetan und Clara – kommen trotz- ben. Trotz Corona. Und dank ausgetüftelten Sicher- dem nicht zu kurz. „Das geht, weil wir heitsmaßnahmen ohne einen einzigen Verdachtsfall! uns halt im Familienverbund viel hel- Viele der Begegnungen in den letzten zehn Jahren fen. Und man wird, wenn man muss, bleiben unvergessen. Für Bernadette Abendstein vor doch recht effektiv, die Zeit, die man allem der Abend mit Elfriede Ott, ihrer Lehrerin: „Sie zum Arbeiten hat, gut einzuteilen. Bei war sehr besonders und ich hatte eine eigene Bezie- uns ist alles recht bunt, viel in Bewe- hung zu ihr. Sie hat mich gefordert und gefördert. gung und ich versuche sehr flexibel zu Sie hat mich an die Josefstadt gebracht. Obwohl sie sein. Wenn Festival ist, sind die Kinder schon nicht mehr ganz fit war, ist sie nach Uderns viel bei unserem Au-pair-Mädchen. gekommen, um mich und den Hakon – der in ihrer Sie reden Englisch mit ihr und dann 1. Klasse Schauspielschule am Konservatorium war – sind – außer letztes Jahr wegen Co- zu unterstützen. Das war großartig!” Aber auch der rona – auch immer Oma und Opa und Auftritt von Gerti Drassl im vergangenen Sommer die Tanten da”, gewährt sie Einblick in bleibt in Uderns in Erinnerung: „Am Ende eines sehr 8 PANOPTICA 2021 | KULTUR
beeindruckenden Abends hat sie als Zugabe für uns zu machen. Ich möchte, dass sich das Steudltenner einen Rilke vorgetragen und dem Pub- Festival noch mehr etabliert. Wir ha- likum gesagt, dass sie das jetzt für uns macht, weil sie ben schon so viel geschafft, aber ich alle so glücklich sind, wieder auf der Bühne stehen zu möchte, dass wir aus dem Kreis, der können.” Ein Resümee der vergangenen zehn Jahre? uns kennt, noch mehr ausbrechen „Es waren so viele tolle Begegnungen und Abende, können, um neue, andere Menschen dass ich grad atemlos bin, weil mir so viele Dinge zu- zu erreichen. Der Sieg beim Green gleich einfallen!” Award Austria war so ein Baustein zur Weiterverbreitung.” Und dann spricht Weit mehr als 100.000 Besucher hat Steudltenn seit Bernadette Abendstein noch ein be- Bestehen betört. Von Anfang an hat das Festival sonderes Anliegen an: „Ich wünsch einen breiten Bogen gespannt. Vom Theater bis zu mir, dass wir auch weiterhin in einem Markttagen, eine Reminiszenz an längst vergange- Land leben, das kleine Festivals unter- ne Zeiten. Und ob Theater oder Markttage – immer stützt und nicht nur die großen Tanker ist es wie eine Symphonie voller Sinnlichkeit. Wie ein in der Stadt, die oft vergessen, für wen Rausch voller Abenteuer. Die Steudltenner lassen ihr sie Theater machen wollen!” Publikum Abend für Abend spüren, dass es um mehr geht, als um eine Vorstellung. Vermittelt wird Ge- Um all die Wünsche auch Realität wer- borgenheit. Geschaffen wird Identität. Im Respekt den zu lassen, hat die Theater-Prinzi- für die Tradition wird das Tor zu neuen Welten geöff- palin Mitstreiter. Die Erfolgsgeschich- net. In dieser Balance ergibt sich Aufregendes. te von Steudltenn ist nämlich auch die Geschichte einer Familie. Eine Familie, Es ist das Miteinander, das im Mittelpunkt steht. die an einem Strang zieht. Die nicht nur Gesucht wird die Nähe zu den Menschen. Zu die Liebe zum Theater eint. Es ist viel ihren Problemen. En passant werden da dann neue mehr. Es ist die Liebe zum Publikum. Denkräume geöffnet. Klima- und Umweltschutz Vater Hans ist seit der Stunde Null die werden nicht ausgeklammert. „Es genügt nicht, nur Galionsfigur des Festivals. über Umweltschutz zu reden und davor Angst zu haben, im Plastik zu ersticken. Man kann auch et- was dagegen tun. Nur gemeinsam können wir dazu beitragen, den drohenden ökologischen Kollaps zu stoppen. Jeder einzelne kann beginnen, unsere schöne Welt für sich und für die Allgemeinheit ein wenig sauberer zu halten und unser Weiterleben auf diesem Planeten zu gewährleisten”, zeigt sich die Theater-Visionärin mit einem ausgeprägten Sinn für die Realität kämpferisch. Dieser für ein Festival noch eher ungewöhnliche Ansatz hat im vergan- genen Jahr die Jury des Wettbewerbs „Nachhaltig gewinnen” des Ministeriums für Klimaschutz und des Green Events Austria Netzwerks überzeugt. Unter über 100 Einreichungen ging Steudltenn als österreichweiter Gewinner hervor. Wer Bernadette Abendstein kennt, weiß – auf Erfolg ausruhen wird sie sich nicht. Sie wird nie müde wer- den, nach den Sternen zu greifen. Ihr Wunsch an die Die Prinzipalin Bernadette Abendstein mit ihrem Zukunft? „Ich hoffe, dass wir noch lange die Kraft Vater Hans, der Galionsfigur des Theaterfestivals und die Passion haben, Theater für die Menschen Steudltenn in Uderns. Foto: Moni Brüggeller PANOPTICA 2021 | KULTUR 9
Hans Abendstein ist im ganzen Ziller- Nacht!” Es ist ein klares Bekenntnis zu Heimat tal bekannt wie ein bunter Hund. Das und Tiroler Tradition, erzählt aus der Distanz ei- hilft. Besonders am Anfang war das nes gebürtigen Wieners. Und genau das macht die entscheidend. Hans Abendstein hat Spannung aus. Es ist eine mords Gaudi, aber mit im Zillertal viele kulturelle Weichen Tiefgang. Unterhaltung gepaart mit literarischem gestellt. Schon lange bevor es das Anspruch! Volkstheater eben. Was man in Tirol Festival Steudltenn gab. Bei den bisher vor allem von Felix Mitterer kannte, führt Dreharbeiten für „Die wilde Frau” in Hakon Hirzenberger in Uderns – nicht zuletzt auch Uderns hat er Felix Mitterer kennen- mit seinen entzückenden Kinderstücken – zu neuen gelernt. Das ist lange her. Aber Hans Höhen. Abendstein mit seinem Faible für Theater und der Tiroler Erfolgsautor Nicht zu vergessen Bernadettes Schwester Bar- haben sich nie aus den Augen verlo- bara Kainzer mit ihrem Mann Gerhard. Barbara ist ren. Längst sind sie Freunde und Stü- Hauptverantwortliche für den Kinder- und Jugend- cke von Felix Mitterer gehören zum bereich und als Leiterin des Caritaszentrums Zillertal Pflichtrepertoire bei Steudltenn. in Uderns bringt sie auch sehr viel Integratives und Soziales ins Festival ein. Die einzigartigen Bühnen- Die im Rahmen des Theaterfesti- bilder von Gerhard Kainzer schaffen in ihrem Mini- vals stattfindenden Markttage wa- malismus Raum für die Opulenz der Texte. Und mit ren ein besonderer Wunsch von Hans bemerkenswerten Kunst-Interventionen gelingt es Abendstein. Er wollte an einem Jahr- ihm auch immer wieder, die Visionen des Festivals hunderte alten Tauschplatz eine alte für alle optisch wahrnehmbar umzusetzen. Tradition zu neuem Leben erwecken. Der Markt während des Festivals ist Ganz im Hintergrund steht Louise, die Mutter von Treffpunkt für Jung und Alt geworden Bernadette und Barbara. Sie ist die Seele des Festi- – eine Plattform der Kommunikation, vals, der gute Geist und die Säule der Familie. Und so getragen vom unbeschreiblichen Zau- erklärt sich der einzigartige Erfolg von Steudltenn – ber des außergewöhnlichsten Thea- durch den Zusammenhalt einer einzigartigen Fami- terplatzes Tirols. lie. Durch die Theater-Leidenschaft einer Prinzipalin und ihres Clans. In ihrem Mann Hakon Hirzenberger hat die Prinzipalin Bernadette Abend- stein nicht nur einen unermüdlichen Unterstützer sondern auch einen be- gnadeten Komplizen gefunden. Als Regisseur beweist er in Uderns immer wieder eindrücklich, dass Theater die Welt verbessern kann – und die Men- schen verändern. Das erlebt man in großen Häusern nur selten, im Stadl in Uderns fast immer. Und dann ist da noch der Autor Hakon Hirzenberger. Mit „Die stillen Nächte des Ludwig Rainer” etwa hat er ein einzigartiges Theater-Spektakel mit Kultpotenzial geschaffen. Hirzenberger blickt da- bei in die Seele von Ludwig Rainer und erzählt feinfühlig die knallharte Mama Louise Abendstein steht im Hintergrund, aber sie ist die Seele Geschichte von „Stille Nacht, Heilige des Festivals und die Säule der Familie. Foto: Moni Brüggeller 10 PANOPTICA 2021 | KULTUR
Berührender Moment: Bernadette Abendstein mit ihrer Tochter Frieda bei ihrem ersten Auftritt vor dem Festival-Publikum im Stadl. Foto: Moni Brüggeller PANOPTICA 2021 | KULTUR 11
DIE KUNST ZU REISEN, IST FAST DIE WISSENSCHAFT DES LEBENS Tirol in Texten reisender Frauen Iris Kathan Wirtshaus in Tirol, Stahlstich von Auguste Hervieu Frances Trollope: Vienna and the Austrians. London 1838. 12 PANOPTICA 2021 | KULTUR
Gemeinsam mit ihrem Ehemann Leonard und ihrem Seidenäffchen Mitzi begibt sich Virginia Woolf im Mai 1935 auf eine einmonatige Europa-Reise, die sie von Deutschland durch Tirol nach Italien führt. Für die Autorin ist die traditionelle Frühlingsreise ins Aus- land eine willkommene Unterbrechung vom immer wieder als quälend empfundenen Schreiben: „ich möchte einen Monat lang mit rein äußerlichem Le- ben experimentieren – schauen, sich mitteilen, Ideen & Eindrücke aufnehmen. Und dann beobachten, wie die alten Forellen auf dem Grunde des Teiches aufstei- gen. Ich sage voraus, daß der Wunsch zu schreiben so wild werden wird, wenn wir schließlich auf der Rück- reise sind, daß ich auf den französischen Straßen un- unterbrochen Sätze entwerfen werde. […] kann nicht schreiben ohne das Gefühl, daß mein Hirn gedehnt wird;” Die Fahrt durchs Deutsche Reich – schon bei der Einreise „das erste Beugen des Rückens”, Gefühl der Unterwerfung, demonstrative Judenfeindlichkeit allerorts, der „Eindruck von tumben Massengefühl” – Virginia Woolf, Fotografie von George Charles Beresford, 1902 www.wikipedia.org/de (public domain) erleben die Woolfs voller Beklemmung. Zwei Tage lang bleiben die Seiten des Tagebuchs gestern und Heute (1936), in dem sie leer. Als das Ehepaar am 12. Mai Innsbruck erreicht, beschreibt, wie das Auftreten von Tou- ist die Erleichterung groß. „L. sagt, jetzt könnte ich risten zu einem tiefgreifenden Menta- die Wahrheit aussprechen, aber ich habe 2 Tage der litäts- und Strukturwandel im Leben Wahrheit vergessen, & meine Feder weint Tinte”, der TalbewohnerInnen führt, differen- notiert Virginia Woolf in Innsbruck – „die Hotels ganz ziert sprachlich zwischen Touristen und leer, & die Stadt still wie das Grab, & sehr imposant” Frauen, Töchtern und Dienstmädchen – in ihr Tagebuch. Tags darauf passiert das Ehepaar von Touristen. Und auch wenn seit den Woolf den Brenner. „Merkwürdig zu sehen, wie die 1920er Jahren vermehrt Frauen unter- Länder ineinander übergehen. Die Betten werden wegs sind, bleibt vielen von ihnen nur jetzt mit Schichten von Deckbetten gemacht. Keine der inzwischen verbreitete Sommer- Laken. Die Häuser werden österreichisch, würdevoll. frische- und Bädertourismus vorbe- Der Winter dauert in Innsbruck bis Juli. Kein Frühling. halten, eine Sphäre also, in der Frauen Italien konfrontiert einen mit einer blauen Schranke.” mühelos an den für sie vorgesehenen Platz manövriert werden konnten. Als Virginia Woolf durch Tirol reist, ist Reisen keine rein männliche Domäne mehr. Doch bis weit in die Beim Blick auf die Tourismusgeschichte zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts sind Frauen eine Tirols ist die weibliche Perspektive ver- verschwindende Minderheit unter den Touristen. Bis gleichsweise ein blinder Fleck. Sucht ins 20. Jahrhundert ist der Tourist männlich konno- man nach historischen Dokumenten tiert, die Idee des modernen Tourismus nur schwer reisender Frauen, so hat man es vor al- mit den weiblichen Rollenzuschreibungen der ge- lem mit einer kleinen Auswahl zumeist schlechterpolarisierenden bürgerlichen Ordnung privilegierter und auch emanzipierter zu vereinbaren. Lucie Varga, die sich im selben Jahr Frauen zu tun. Wo Frauen über Reiseer- wie Virginia Woolf in Tirol und Vorarlberg aufhält, um fahrungen schreiben, haben wir es also Feldforschung zu betreiben für ihren bemerkens- lange Zeit mit Formen der Grenzüber- werten Aufsatz Ein Tal in Vorarlberg – zwischen Vor- schreitung, im besten Fall auch mit PANOPTICA 2021 | KULTUR 13
neuen Blickwinkeln zu tun. Schon 1724 schreibt die englische Schriftstellerin und als „erste Feministin” bezeichnete Philosophin Mary Astell in einem Vor- wort zu einem Reisebuch der Schrift- stellerin Mary Wortley Montagu: „Ich gestehe, daß ich boshaft genug bin, mir zu wünschen, die Welt möge se- hen, mit wie viel besseren Resultaten die Damen reisen als ihre Herren; und daß, während die Welt mit männlichen Reisen übersättigt ist, alle im selben Ton und vollgestopft mit denselben Banalitäten, eine Dame das Geschick hat, einen neuen Weg einzuschlagen.” Nicht immer freilich führt weibliche Weltaneignung zu innovativen Ergeb- nissen. Blickt man auf Reiseliteratur von Frauen in der Frühphase des mo- dernen Tourismus, so begegnen einem häufig Positionen, die sowohl die Kon- Charlotte von Ahlefeld (Bleistiftzeichnung von Ferdinand von Blumenbach um 1800) ventionen des Genres wie das Weib- www.wikipedia.org/de (public domain) lichkeitsbild der Zeit bedienen, solche, die mit den an die Frau herangetrage- Nicht einen Kunstführer zu schreiben sei ihre Inten- nen Erwartungshaltungen spielen und tion gewesen, denn „anatomisch zu zergliedern”, äs- diese immer wieder auch überschrei- thetische Urteile zu fällen, das sei der Frauen Sache ten, bis hin – zu allerdings seltenen – nicht. So „erwarte [sich der Leser] überhaupt nur das radikal anderen Standpunkten. einfache Auffassen des wirklich Erlebten, Gesehe- nen und Empfundenen und allenfalls eine flüchtige Die Weimarer Schriftstellerin Charlotte Unterhaltung, durchaus aber keine Belehrung in die- von Ahlefeld etwa, die 1827 im Alter von sem Büchlein”. Es ist bezeichnend, dass die Autorin, 46 Jahren gemeinsam mit einer Reise- als sie über den Achenpass kommend ins Tirolische gefährtin recht umfassend Tirol bereist hineinreist, sich aufgrund des vernagelten Verdecks und ihre Eindrücke in der Reiseschilde- gezwungen sieht „den Kopf mühselig zu den Fens- rung mit dem heute umständlich an- teröffnungen heraus[zu]stecken, um die majestäti- mutenden Titel Tagebuch auf einer Rei- sche Gegend zu sehen”. Das Motiv des Fensterblicks se durch einen Theil von Baiern, Tyrol und durchzieht den gesamten Text und kann paradig- Oestreich von der Verfasserin der Erna, matisch gesehen werden für das im 19. Jahrhundert Felicitas, Amadea, dem Römbildstift u. „dominierende weibliche Reisen im Gehäuse” (Anne- s. w. festhält, orientiert sich nicht nur gret Pelz), das die reisende Frau geschlossenen Räu- was die Wahrnehmung Tirols, sondern men zuweist und eigentliche Begegnungen mit dem auch was die Inszenierung der eigenen Fremden verunmöglicht. Autorinnenschaft betrifft, durchwegs an der Erwartungshaltung der zeitge- Auch was die Auswahl des Beschriebenen betrifft, nössischen LeserInnenschaft. Schon konzentriert sich die Autorin auf weiblich attribu- im Vorwort legitimiert die Schriftstel- ierte Themen, den Zustand von Gaststätten, Spu- lerin den gängigen Rollenerwartungen ren und Lebensgeschichten von Monarchinnen, entsprechend die eigene Publikation. Physiognomie, Haartracht und Aufzug der hiesigen 14 PANOPTICA 2021 | KULTUR
Frauen, insbesondere alter Frauen, wobei durch- vom Wege. Außer der Freude, die man wegs ein männlicher Blick antizipiert wird. Es ver- über neue Eindrücke hat, genießt man wundert nicht, dass sie, als sie in der drückenden den Triumph, alle anderen Reisenden Hitze Bozens aus ihrem Kutschenfenster hinaus überflügelt und noch mehr gesehen Frauen beim Verlassen der Kirche beobachtet und zu haben als in den Taschenbüchern sich lang und breit über deren unschickliches Auf- angeführt ist”. Dafür nimmt sie eini- treten auslässt, diesen Frauen in einer Art Umkeh- ges in Kauf, ist risikofreudig und gerne rung feindselige Blicke zuschreibt: „Sonderbarer zu Fuß unterwegs. Die Aneignung des Weise waren viele darunter lahm und hinkten sehr Fremden erfolgt vor allem visuell, denn disgraziös, den Rosenkranz durch die gelben Finger Trollopes Eroberungswille zeigt sich im drehend und mit flüsternd bewegten Lippen abbe- Aufsuchen und Auffinden immer wie- tend, und das ungekämmte Haar in seiner ganzen der neuer Blickwinkel, in der Lokalisie- Häßlichkeit, nicht einmal durch Ordnung verschö- rung idealer Aussichtspunkte sowie in nert, den Rücken herabhängend, mit so feindseli- der wiederkehrenden Reflexion über gen Blicken an mir vorüber, als hätten sie eine Ah- Bedingungen der Wahrnehmung. nung davon, daß eine Ketzerin im Wagen saß.” Etwa indem sie die Bedeutung des Anders löst den Konflikt zwischen Rollenerwartun- Zu-Fuß-Gehens betont für die Wahr- gen und Eroberungslust die englische Schriftstellerin nehmung von Landschaft, darüber Frances Trollope, die rund 10 Jahre später gemein- schreibt, dass man die Hofkirche idea- sam mit zwei von ihren insgesamt sieben Kindern, lerweise besuchen sollte, wenn sie leer dem Landschaftsmaler Auguste Hervieu und ihrer und dunkel ist oder in Innsbruck Über- Zofe Coxe in einer Postkutsche durch Tirol reist. Ihre legungen darüber anstellt, wie Archi- Reiseschilderung Vienna and the Austrians erscheint tektur das Umland rahmt. Und auch schon im darauffolgenden Jahr in London und wird wenn Trollope mit der Betonung der umgehend ins Deutsche übersetzt. Anders als Ahle- eigenen Empfindsamkeit und Gefühls- feld scheint Trollope mit gängigen Rollenzuschrei- regungen der Anforderung eines senti- bungen zu spielen und sich dadurch einer eigenen mentalistischen Weiblichkeitsbildes unverwechselbaren Stimme anzunähern. entspricht und sie sich innerhalb einer reiseliterarischen Praxis bewegt, in „Ich hoffe darum, daß Du mit mir Nachsicht hast, so- der Subjektivität und Erlebnisfähigkeit lange ich unter dem Einfluß dieser bemerkenswerten gefordert waren, so besticht ihr Reise- Region stehe und zuweilen jenen gewohnten Ton der bericht doch durch einen ungewöhnli- Mäßigung überschreite, in dem alle irdischen Din- chen Blick, der sich von vergleichbaren ge besehen und besprochen werden sollen. Verlaß Texten der Zeit wohltuend abhebt. Dich aber darauf, daß Gebirgsluft sich nicht völlig un- gestraft atmen läßt. Den einen macht sie schwind- „Die Kunst zu reisen, ist fast die Wis- süchtig, den anderen fieberkrank, in anderen regt senschaft des Lebens. Ich rühme mich sie fremde, wilde Freuden, und diese werden von dieser Wissenschaft des Reisens”, den von allen Seiten auf sie einstürmenden Eindrü- schreibt die französische Schriftstel- cken halb oder auch ganz verrückt. Bedenke dies und lerin George Sand von sich, deren ei- lasse meinen Ergüssen Barmherzigkeit widerfahren, gentlicher Name Amantine Aurore selbst wenn sie an jene verpönteste aller Gefühlsre- Lucile Dupin de Francueil lautete, und gungen, an Schwärmerei, erinnern sollten.” die sich seit 1832 – anders als viele zeitgenössische Schriftstellerinnen – Trollope ist angetrieben von dem Wunsch Neuland ganz offen eines männlichen Pseudo- zu erobern und sich damit auch im Terrain des lite- nyms bediente, von sich in männlicher rarischen Feldes zu behaupten, denn so die Autorin, Form sprach, Zigarren rauchte und im „ich weiß nichts Wonnevolleres als dieses Abweichen Männerkostüm Paris durchstreifte: PANOPTICA 2021 | KULTUR 15
und den Erwartungshaltungen der LeserInnenschaft, die beständig überschritten werden. Das Spiel mit Geschlechteridentitäten irritierte und provozierte das zeitgenössische Lesepublikum. Die vorwiegend fiktiven Reisebriefe lassen sich vor allem aber als poetologische Standortbestimmung lesen, deren Ort einer der Fahrt und Bewegung ist, nicht außerhalb der Welt, doch losgelöst von als ein engend erlebten gesellschaftlichen Verhältnissen. Nicht nur die Konzeption von George Sands Rei- sebriefen ist bemerkenswert, auch eine darin auf- tauchende Tirol-Passage, die sich nicht zuletzt als ironischer Kommentar auf die den Markt flutenden Reisebeschreibungen und darin stattfindender Ste- reotypisierungen liest. Der Reisende begründet darin seine „Anhänglichkeit für Tirol”, das er nicht aus eigener Erfahrung kennt. Sie verdanke sich einer in der Kindheit vernommenen „Romanze” sowie einer Begegnung mit einem Mäd- chen irgendwo unterwegs im Niemandsland. Ihre George Sand, Gemälde von Auguste Charpentier Toilette ist „problematisch”, sie spricht ein schlech- (1838) www.wikipedia.org/de (public domain) tes Französisch und ist äußerst schweigsam. Der Rei- sende versucht sie in ein Gespräch zu verwickeln. Als „Mir war zumute, als könnte ich so sie andeutet aus Tirol zu sein: „Sie sind aus Tyrol? rief die Reise um die Welt beginnen. Mei- ich. Ach Gott, ich kannte früher eine Romanze über ne Kleidung hatte nun nichts mehr zu Tyrol, die mich mit offenen Augen träumen ließ. Es scheuen; ich konnte bei jedem Wetter, ist also ein sehr schönes Land? Ich weiß nicht, warum zu jeder Tageszeit ausgehen...” es sich in einem Winkel meines Kopfes eingenistet hat. Haben Sie die Gefälligkeit, mir es ein wenig zu In ihren unter dem Titel Lettres d’voya- beschreiben.” „Ich bin aus Tyrol, antwortete sie mit geur (1837) versammelten Reisebrie- sanftem, schwermütigem Tone, aber entschuldigen fen verhandelt die Autorin die Fra- Sie, ich kann nicht davon sprechen.” Während das ge der weiblichen Autorschaft ganz Mädchen von da an beharrlich schweigt, schließt der unverhohlen. Im Text angelegt ist ein Reisende die Augen, „um die Landschaft nicht mehr Spiel mit Geschlechterkategorien, zu sehen” und beschreibt Tirol ausführlich, freilich damit einhergehend auch mit den ohne etwas zu sagen. Tirol bleibt Leerstelle, Projekti- Konventionen des gewählten Genres onsfläche, Phantasmagorie des Reisenden. 16 PANOPTICA 2021 | KULTUR
Foto: Petra Streng PANOPTICA 2021 | KULTUR 17
BEWEGTE FRAUENBILDER Frauenrollen im Tiroler Filmgeschehen Eva Binder & Gertraud Eiter Vorführung des sowjetischen Stummfilms Baby rjazanskie (Die Frauen von Rjazan) aus dem Jahr 1927, Leokino, kinovi[sie]on 2009 Foto: kinovi[sie]on 18 PANOPTICA 2021 | KULTUR
Film ist ein wunderbares Medium, um das Leben in Cutterinnen waren und sind in der all seinen Facetten zu zeigen. Film macht vielfälti- männerdominierten Filmbranche im- ge Wirklichkeiten und Lebensentwürfe sichtbar, er- mer wieder mit Ungleichbehandlung öffnet neue Welten und bewirkt eine Reflexion der und Benachteiligung konfrontiert. eigenen Sichtweisen. Film lässt uns träumen, bringt Martha M. Lauzen spricht – analog zur uns zum Lachen und zum Weinen, ermöglicht Imagi- „gläsernen Decke” – von einer „cellu- nation und Identifikation. loid ceiling”, einer Zelluloid-Decke1, die Frauen im Filmbusiness selbst im Als Geburtsstunde des Kinos gilt das Jahr 1895. 21. Jahrhundert nur selten durchbre- Frauen waren von Anfang an bei der Produktion chen. Dies bestätigt auch die österrei- von Filmen und bei deren Gestaltung dabei. Als chische Kamerafrau und Regisseurin erste Filmemacherin der Filmgeschichte ist Alice Astrid Heubrandtner: „Dort wo mehr Guy-Blaché (1873–1968) bekannt. Sie drehte 1896 Geld ist, findet man weniger Frauen, den ersten fiktionalen Kurzfilm La fée aux choux, in ein Faktum, das sich nicht nur auf die welchem eine Blumenfee aus riesigen Kohlköpfen Filmbranche beschränkt.”2 Babys hervorzaubert. In ihrem Kurzfilm A House Di- vided inszenierte sie als Gegenpart zur häuslichen Wie es um die Geschlechterverhältnisse Ehefrau eine freche, rebellische Sekretärin. Insge- im österreichischen Film heute und die samt realisierte sie über 1000 Kurzfilme, darunter Situation von Frauen und Männern im Cowboy Filme, Literaturverfilmungen, Reiseberich- nationalen Filmwesen steht, veran- te, Slapstickkomödien, Melodramen. Die US-Ame- schaulicht der Film Gender Report 2012– rikanerin Louis Weber (1882–1939) griff in ihren Fil- 2016 3 , welcher im Mai 2018 vom Öster- men tabuisierte Themen auf und drehte Filme über reichischen Filminstitut veröffentlicht Armut, Abtreibung, Geburtenkontrolle, häusliche wurde. Aus dem Report geht klar her- Gewalt und Prostitution. Louise Kolm [Fleck] (1873– vor, dass die österreichische Filmbran- 1950) ging als erste Regisseurin Österreich-Ungarns che auf allen Ebenen – von der Film- in die Filmgeschichte ein. förderung, über die Produktion, den Vertrieb und die Vergabe von Auszeich- Ob die Filme dieser Filmpionierinnen auch in den nungen – weit von einer Geschlechter- Tiroler Wanderkinos oder in den ersten Lichtspiel- parität entfernt ist. Die Zahlen ergeben häusern hierzulande zu sehen waren, ist fraglich. Es ein entsprechendes, klares Bild: 80% wären intensive Recherchen notwendig, um heraus- der Herstellungsförderungen für Kino- zufinden, welche Frauenbilder in den Tiroler Kinos filme, die zwischen 2012 und 2016 in Anfang des 20. Jahrhunderts propagiert wurden und Österreich produziert wurden, gingen welche nicht zulässig waren. an Männer. Bei rund 75% der produ- zierten Filme führten Männer Regie, Ich wünsche mir mehr Frauen im Regiesessel, nur 21% der Filme wurden von Frauen denn sie repräsentieren die Hälfte der realisiert und 4% der Filme wurden von Weltbevölkerung. Ohne ihre Arbeit als Regie-Teams bestehend aus Frauen und Drehbuchautorinnen oder Regisseurinnen Männern gedreht. werden wir nie die ganze Geschichte kennen. Jane Campion Ein weiteres aufschlussreiches Ergebnis der Studie ist, dass Filme von Filmteams Mit der Einführung des Tonfilms Ende der 1920er mit hohem Frauenanteil sowohl weibli- und Anfang der 1930er Jahre wurden weibliche Film- che als auch männliche Figuren diffe- schaffende immer mehr aus Positionen mit Einfluss renzierter darstellen als jene Filmteams und Entscheidungskompetenz gedrängt, und die mit hohem Männeranteil. Die Vertei- Filmpionierinnen gerieten in Vergessenheit. Regis- lung von Ressourcen sowie Macht- und seurinnen, Drehbuchautorinnen, Kamerafrauen oder Entscheidungspositionen sind also eng PANOPTICA 2021 | KULTUR 19
mit der Durchbrechung oder eben der Reproduktion von stereotypen Rollen bildern im Film verknüpft. Zu ähnli- chen Erkenntnissen kommen Studien zum deutschen Kino oder Analysen des US-amerikanischen Films. Ich denke es ist an der Zeit, daran zu erinnern: Die Vision des Femi- nismus ist nicht eine „weibliche Zukunft”. Es ist eine menschliche Zukunft. Ohne Rollenzwänge, ohne Macht- und Gewaltverhält- nisse, ohne Männerbündelei und Filmprojektion Die Dohnal, kinovi[sie]on 2020 ohne Weiblichkeitswahn. Foto:kinovi[sie]on Johanna Dohnal vorwiegend heterosexuell. Ältere Frauen, Bösewich- Eine Rollenvielfalt auf der Kinolein- tinnen, Widerständige, Frauen mit Behinderung – wand und unterschiedliche weibliche sie sind im Film meist abwesend. Migrantinnen und Vorbilder im Film sind nicht nur für Frauen in Ländern des globalen Südens abseits von Mädchen und Frauen wichtig, sondern Viktimisierung oder Romantisierung stellen eine wei- es profitieren alle Menschen davon. tere Leerstelle im Mainstream-Kino dar. Im Anima- Eine spannende Methode um festzu- tionsfilm stechen Stereotype noch stärker ins Auge: stellen, ob Stereotype in einem Film 75% der weiblichen Zeichentrickfiguren sind dünner durchbrochen werden und Frauen im als anatomisch möglich, Phantasiewesen sind vor- Film nicht nur als optischer Aufputz wiegend männlich und die wenigen weiblichen Phan- dienen, stellt der Bechdel-Test 4 dar. tasiewesen sind meist stark sexualisiert.5 Die stereo- Der Bechdel-Test besteht aus drei sim- typen Rollenbilder von Frauen und auch Männern, plen Fragen: die das Mainstream-Kino reproduziert, lassen die 1.) Gibt es im Film zwei Frauen und ha- Möglichkeiten des Kinos ungenützt, die Diversität ben diese einen Namen? unserer Gesellschaften zu zeigen und die Vielfalt an 2.) Sprechen diese zwei Frauen mitein- Lebenskonzepten und Lebensrealitäten von Frauen ander? (und Männern) vor Augen zu führen. 3.) Sprechen sie über etwas Anderes als über Männer? Da Filme die Gesellschaft nicht nur abbilden sondern auch formen und einen bedeutenden Anteil daran Viele Filme des Mainstream-Kinos (oder haben, wie wir unsere Welt wahrnehmen und ver- vielmehr Malestream-Kinos) bestehen stehen, sollten wir, wenn wir über „Frauenrollen im den Bechdel-Test nicht und reprodu- Tiroler Filmgeschehen” sprechen, folgende grund- zieren entsprechend Geschlechterste- sätzliche Fragen stellen: Bietet ein Film unterschied- reotype. Weibliche Filmfiguren werden liche Identifikationsmöglichkeiten für alle? Führen – im Gegensatz zu männlichen Filmfi- Frauen im Film ein selbstbestimmtes Leben – ohne guren – oft auf ihr Äußeres reduziert auf die Rolle der Geliebten oder Mutter reduziert und gängige Opfer-Täter*innen-Nar- zu werden? Werden auch Themen wie Gewalt an rative werden wiederholt, wie der Film Frauen, Schwangerschaftsabbruch, lesbische Liebe Gender Report 2012–2016 aufgezeigt angesprochen? Mit welchen Perspektiven und mit hat. Des Weiteren sind die Hauptfigu- welchen ästhetischen Herangehensweisen arbeiten ren meist zwischen 25 und 45 Jahre Filmemacher*innen? Repräsentiert ein Film allein alt und ihre sexuelle Orientierung ist die Mehrheitsgesellschaft oder haben darin auch 20 PANOPTICA 2021 | KULTUR
ältere Frauen, Menschen mit Behinderung, queere Personen oder people of color einen aktiven Part (vor und hinter der Kamera) inne? Diversität fängt nicht erst bei der thematischen Ausrichtung eines Films und der Auswahl der Protagonist*innen an. Da Rollenvielfalt bereits mit der Ausbildung beginnt, initiierte FC-Gloria 6 das Projekt See it – be it. Der in Wien verortete und österreichweit aktive Verein ist ein Netzwerk österreichischer Filmemacher*innen, DESIGN: BUREAU F engagiert sich für Gleichbehandlung und Vielfalt im Film und setzt Aktionen, um auf Geschlechterstereo- type aufmerksam zu machen. Durch die Sichtbar- machung weiblicher role models wird die Vielfalt von möglichen Filmberufen vorgestellt und junge Frauen werden ermutigt, auch männlich konnotierte Film- berufe anzustreben. 75% der weiblichen Zeichentrickfiguren If she can see it, she can be it. sind dünner als anatomisch möglich. FC-Gloria Nur durch operative Entfernung von Rippen und Organen wären solche Proportionen Das Medium Film ist ein Spiegel der (Mehrheits-)Ge- erreichbar. Bei männlichen Figuren trifft das auf 6% zu. sellschaft. Machtverhältnisse zeigen sich nicht nur in dem, was dargestellt wird, sondern auch in den WWW.DIAGONALE.AT Auslassungen. Die Tatsache, dass die Abwesenheit WWW.FC-GLORIA.AT WWW.IZI.DE von Frauen in der Programmgestaltung der Kinos ihre Fortsetzung finden, bewog zwei Mitarbeiterin- Bierdeckelaktion 2018 von FC Gloria und Diagonale nen des Innsbrucker Otto Preminger-Instituts, des Foto: Bureau F, FC Gloria Frauen Vernetzung Film und Diagonale, Trägervereins von Leokino und Cinematograph, im Festival des österreichischen Films Filmplakatausstellung im Foyer des Leokinos, kinovi[sie]on 2009 Foto:kinovi[sie]on PANOPTICA 2021 | KULTUR 21
Jahr 2005 dazu, eine neue Programm- schiene ins Leben zu rufen. Der Impuls für die Initiative war eingängig und überzeugend: „Frau und Film bilden ein ungleiches Paar: Er (der Film) zeigt – sie (die Frau, von Garbo bis Kidman) wird gezeigt.” In jedem Fall war die Ini- tiative dies für den Vereinsvorstand, für den Eva Binder als Obfrau hier stellver- tretend spricht. kinovi[sie]on sollte die neue Programmschiene heißen, doch die beiden Initiatorinnen – Gertraud Eiter und Gerlinde Schwarz – hatten selbst in einem sich stets als links und fortschrittlich verstehenden Kulturver- ein die Zelluloid-Decke zu überwinden: Sollte die Programmierung nicht bes- ser in einer (damals männlichen) Hand bleiben? Würde denn ein der artiges Tizza Covi im Leokino, kinovi[sie]on 2007 Programm vom Publikum angenom- Foto:kinovi[sie]on men werden? Wer sollte die adminis- trative Mehrarbeit erledigen? Und künstlerischen Vielfalt sowie in den unterschiedli- schließlich: Werden die beiden Frau- chen filmischen Gattungen des Spiel-, Dokumentar-, en wohl auch die nötigen finanziellen Kurz- und Experimentalfilms. Mittel aufbringen? Im Rahmen von kinovi[sie]on waren auch Filme von Nach mittlerweile 16 Jahren kinovi Filmemacherinnen aus Nord- und Südtirol zu se- [sie]on und insgesamt 425 präsentier- hen, wie Sabines Groschups origineller, von Hand ten Lang- und Kurzfilmen7 zweifelt auf 35mm-Streifen gezeichneter Trickfilm Gugug niemand mehr daran, dass die vorge- aus dem Jahr 2006, das 2019 realisierte intime do- schlagene „Therapie” des ungleichen kumentarische Porträt Becoming me der Südtiroler Paares Film und Frau erfolgreich war. Regisseurin Martine De Biasi über eine Geschlechts- Am 8. eines jedes Monats wurden anpassung oder 4640 km – A Journey Towards Hope nunmehr 16 Jahre lang Filme präsen- von Helene Senfter, Absolventin des Medienkollegs tiert, an denen Frauen maßgeblich Innsbruck, über die Flucht der Syrerin Manar und ih- beteiligt waren. rer Familie bis nach Innsbruck. Die aus Bozen stam- mende Tizza Covi war mit Babooska8, einem Doku- Der feste Monatsrhythmus war das mentarfilm über die Betreiberin eines Wanderzirkus, eine, die sprachliche Genauigkeit das im Leokino zu Gast, und die in Lienz geborene und in andere. Nicht Frauenfilme (sprich Fil- Wien lebende Kamerafrau Judith Benedikt war eben- me über die gemeinhin angenomme- falls mit ihren Arbeiten bei kinovi[sie]on anwesend. nen Interessen von Frauen) sollten gezeigt werden, sondern Filme von Von der lokalen Gegenwart führte kinovi[sie]on im- Frauen, um die Filmarbeit, die von mer wieder weit in die Filmgeschichte zurück und in Frauen seit der Erfindung des Kinos ge- ferne Regionen: so beispielsweise in die Sowjetunion leistet wurde, sichtbar zu machen. Und mit ihren Filmpionierinnen, die aus der Oktoberrevo- das in der gesamten Bandbreite der lution hervorgegangen waren – mit Stummfilmen, inzwischen 125-jährigen Filmgeschich- die von österreichischen Musiker*innen vertont und te, in der gesamten thematischen und live begleitet wurden. 22 PANOPTICA 2021 | KULTUR
kinovi[sie]on stand von Anfang an aber auch dafür, Nur der Monatsrhythmus wird im 17. über Filme zu sprechen, zu diskutieren, zu reflektie- Jahr des Bestehens von kinovi[sie]on ren und sowohl zeitgenössische Regisseurinnen wie zugunsten eines Schwerpunktpro- auch Referent*innen nach Innsbruck einzuladen. Und gramms jeweils im Frühjahr und schließlich wurde einmal im Jahr – zum Internationa- Herbst aufgegeben. Also Vorhang auf len Frauentag am 8. März – ein Fest im Kino gefeiert. für weitere bewegte Frauenbilder und Dieses wird – so bleibt zu hoffen – auch im Jahr 2021 Frauenrollen im Tiroler Film- und Kino- stattfinden. geschehen! Sabine Groschup, Gugug (AT 2006), Filmstill Foto: Bildrecht, Wien 2021 1 „The Celluloid Ceiling: Behind-the-Scenes Employment of Women on the Top 100, 250, and 500 Films of 2016” von Martha M. Lauzen. 2 „Unter welchen Bedingungen arbeiten weibliche Filmschaffende in Österreich” von Andrea Heinz, in: „an.schläge Mai 2010”. 3 Der Film Gender Report 2012–2016 wurde vom Institut für Soziologie der Universität Wien im Auftrag des Österrei- chisches Filminstituts und des Bundeskanzleramtes erstellt. Die zentralen Ergebnisse sowie der Endbericht sind zu finden unter: www.film-gender-report.univie.ac.at. 4 Der Bechdel-Test bzw. Bechdel-Wallace-Test hat sich international als Erhebungsinstrument durchgesetzt. Der Bechdel-Test wurde 1985 von der US-amerikanischen Comic-Zeichnerin Alison Bechdel und ihrer Freundin Liz Wallace entwickelt, vgl. www.bechdel-test.com. 5 Vgl. Bierdeckelaktion 2018 von FC Gloria und Diagonale, bezugnehmend auf Studien vom Internationalen Zentral institut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) in Bayern, unter der Leitung von Dr.in Maya Götz. 6 Näheres unter: www.fc-gloria.at. 7 Alle bisher präsentierten Filmtitel (inkl. Filmbeschreibungen) sind auf der Website des Leokinos archiviert: www. kinovisieon.at. 8 Tizza Covi realisierte Babooska gemeinsam mit Rainer Frimmel. PANOPTICA 2021 | KULTUR 23
DER WEG IST DIE KUNST Ein Blick hinter die Ateliertüren dreier Tiroler Künstlerinnen Maria Peters Fotocollage mit Arbeiten von Martina Tscherni Heidi Holleis Claudia Fritz Fotos: siehe Folgeseiten 24 PANOPTICA 2021 | KUNST
Ein Leben als Künstlerin bedeutet zuallererst: nie Martina Tscherni empfing mich in ih- einem vorgezeichneten Weg folgen zu können. Aus- rer Wohnung, sie arbeitet hier ebenso bildungswege, Stil- und Themenfindung und nicht wie in ihrem Atelier in einer alten Fa- zuletzt das Kreieren eines Überlebenskonstruktes, brik in Wien. Sie erzählte mir, dass sie müssen individuell gefunden, ja, nicht selten erst bereits in der Schule das Nähen und einmal erfunden werden. Denn die persönliche Ge- das Zeichnen liebte, jedoch erschien schichte und die Lebensweise prägen – unvermeid- ihr alles damals als zu wenig profes- lich – das Gesicht einer jeden künstlerischen Arbeit. sionell – sie strebte nach möglichster Perfektion. Um mir das näher anzusehen, besuchte ich die drei sehr unterschiedlichen Tiroler Künstlerinnenper- Während ihres Studiums an der An- sönlichkeiten Martina Tscherni, Heidi Holleis und gewandten in Wien entdeckte sie ihr Claudia Fritz in ihren Ateliers. Interesse für Rauminstallationen und Bühnenbild. Sie war, wie sie selbst es Mein erster Besuch galt Martina Tscherni in Wien. formuliert, fasziniert von der Heraus- Sie wurde 1963 in Hall in Tirol geboren, ihr Ausbil- forderung, ein Modell in einen real dungsweg war der „klassische”. Nach dem Besuch also begehbaren Raum zu übersetzen, der HTL Innsbruck für Malerei studierte sie an der sich der Überprüfung der eigenen Ima- Universität für Angewandte Kunst in Wien Tapis- ginationen zu stellen. serie und zugleich Grafik bei Ernst Caramelle. Bald nach ihrem Diplom wurde sie von renommierten Doch trotz dieser analytischen Über- Galerien vertreten, wurde auf Kunstmessen (u.a. legungen pflegte Martina Tscherni im- auf der Art Basel) gezeigt und hatte schon früh zahl- mer auch ihre meditative und intuitive reiche Ankäufe. Seite. War ihr Frühwerk noch geprägt von einer expressiven Zen-Malerei, so Die Arbeiten von Martina Tscherni sind akribische änderte sich ihre Verfassung um die sensible Zeichnungen, oft ziehen sich ihre Motive 40. Sie war mehrmals in Nepal unter- über viele Meter lange Papierbahnen, darüber hin- wegs, auch mit dem Fahrrad. Sie reiste aus macht sie Trickfilme und textile Bilder. nach Lahsa, sie ist eine leidenschaftli- che Kletterin. Ihre „erste Liebe”, das Streben nach Perfektion, gewann wieder ganz die Oberhand. Akribisches Handwerk, Ge- nauigkeit und bewusste Langsamkeit prägen seither ihr Werk. Ihre Liebe zum Klettern hat wohl auch mit ihrer Begeisterung für Fossilien und Strukturen zu tun. Für ihre heu- tigen Zeichnungen isoliert Martina Tscherni Elemente aus Mikroskopau- fnahmen. Diese biomorphen Formen entwickelt sie in der grafischen Um- setzung zu ornamental anmutenden, rätselhaften „Wesen” weiter. Typisch für Tescherni sind ihre bis zu zwanzig Martina Tscherni, Haus im Grünen, 130 x 150 cm, Graphit, Buntstift auf Meter langen Papierrollen. Sie selbst Papier Foto: G. u. K. Watzek sagt, diese seien wie Skizzenbücher zu PANOPTICA 2021 | KUNST 25
Martina Tscherni, Atelieransicht Foto: G. u. K. Watzek lesen, so gut wie täglich zeichnet sie Kamera die Rolle entlang, doch plötzlich bewegen an ihnen weiter. Jede Rolle bekommt sich einzelne Elemente. Sie drehen sich, sie verän- ihre eigene Schatulle, es sind aus mit dern ihre Farbe, mikroskopische Aufnahmen wer- Stoff bezogenem Karton gemachte den überblendet. Faltschachteln – von ihr weiterentwi- ckelt nach einem raffinierten Prinzip In ihrer Ausstellung Anfang 2021 im Rabalderhaus in buddhistischer Schriftrollenbehälter Schwaz animierte sie einen Käfer mittels „Augmen- – aus welchen die Zeichnungen durch ted Reality”: wird der Käfer durch die Handykamera einen Schlitz herausfließen und sich betrachtet, fliegt er fort. über die jeweils zur Verfügung ste- henden Wände hinaufziehen. Ein Ab- Martina Tscherni erfindet also immer wieder neue schnitt der Zeichnung verbleibt also Möglichkeiten, ihre präzise Handarbeit, ihre Obses- immer im Verborgenen. Man beginnt sion fürs das Zeichnen, in Form von Installationen zwangsläufig darüber zu rätseln, was oder Filmen neu zu inszenieren. Kleine und norma- es wohl noch alles zu entdecken gäbe. lerweise verborgene Welten werden in ihrer Arbeit sichtbar, machen auf fast träumerische Weise be- Erst in ihren Trickfilmen sieht man die wusst, wie viele Geheimnisse in der Natur noch zu gesamte Zeichnung. In ihren ersten entdecken wären. In ihren auf Leinwand gedruckten Filmen tastete die Kamera die Rollen und bestickten Ausschnitten von Landkarten hat systematisch ab. Doch später, so sagt sich ihre textile Vergangenheit konserviert. In diesen Tscherni, reizte es sie, die gezeichne- Arbeiten verweist sie auf ihre Herkunft: Frau Hitt, ten Elemente mit Leben zu erfüllen. Bettelwurf – stabil stehen die wohlbekannten Berge In ihren aktuelleren Filmen fährt die dem fremd anmutenden Mikrokosmos gegenüber. 26 PANOPTICA 2021 | KUNST
Sie können auch lesen