Bulletin - Privatsphäre Der Balanceakt zwischen Sicherheit und Freiheit - Credit Suisse
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CREDIT SUISSE Bulletin Seit 1895. Das älteste Bankmagazin der Welt. N° 2 / 2017 075360D Privatsphäre Der Balanceakt zwischen Sicherheit und Freiheit
DEGUSSA, DIE EINFACHSTE ART IN EDELMETALLE ZU INVESTIEREN. Gold ist die stärkste Währung seit 2001 vor Christus und damit ein grundsolides Investment für Men- schen mit einem langen Anlage- horizont. Als grösster Banken unabhängiger Edelmetallhändler in Europa beraten wir Sie in unseren Ladengeschäften in Zürich und Genf umfassend und stellen mit Ihnen Ihr persönliches Portfolio aus Degussa Barren und Anlagemünzen zusam- men. Alle unsere Degussa Barren verfügen über eine Banken Valoren- nummer. Darüber hinaus haben wir Sammlermünzen und emotionale Goldgeschenke für Sie vorrätig. Ger- ne können Sie Ihre Wertanlagen auch in Ihrem Schrankfach bei uns lagern. Informationen und Online-Shop unter: 568GEE2ͻ GOLDHANDEL.CH Verkaufsgeschäfte: Bleicherweg 41 · 8002 Zürich Telefon: 044 403 41 10 Quai du Mont-Blanc 5 · 1201 Genf Telefon: 022 908 14 00 Z ü r i c h I G e n f I F r a n k f u r t I M a d r i d I S i n g a p u r I L o n d o n
— Editorial — 4 2 1 3 Es geht um uns W An dieser Ausgabe haben mitgearbeitet: arum braucht es die Privatsphäre? Seit der Aufklärung wissen wir: zum Schutz unserer Freiheit. Doch was, wenn 1 – Wolf Lotter etwas anderes auch die Freiheit garantieren könnte? Dann Der Journalist und Autor mit österreichi- würde die Privatsphäre hinfällig. schen Wurzeln beschäftigt sich seit Jahren Die amerikanische Rechtsforscherin Julie E. Cohen, von der dieses mit den Schnittstellen zwischen wirtschaft- Gedankenspiel stammt, argumentiert, die Privatsphäre müsse nicht lichen, politischen und gesellschaftlichen etwas anderes sichern, sondern habe uns selbst als Subjekt. Ohne Fragen. Sein Essay geht der Frage nach, den Schutz der Privatsphäre können wir uns nicht entwickeln, verlieren wie viel Privatsphäre und wie viel Öffentlich- wir unsere Fähigkeit zur Selbstreflexion – und letztlich unsere Identität. keit wir heute wollen. Seite 6 Wir und der Schutz unserer Privatsphäre sind unzertrennlich. 2 – Helene Laube Cohen und viele andere kluge Köpfe beschäftigt zurzeit der Die Journalistin lebt seit dem Jahr 2000 in Schutz der Privatsphäre. Sorgen macht sich auch der ehemalige Daten- San Francisco, zunächst als Silicon-Valley- schützer Hanspeter Thür: «Es gibt im digitalen Zeitalter keine harm- Korrespondentin der «Financial Times losen Daten mehr. Das realisieren die Leute viel zu wenig» (Seite 38). Deutschland», zu deren Gründungsteam sie Doch so einfach ist es nicht – das ist auch Thür bewusst. zählte. In dieser Ausgabe schreibt sie über einen der am schnellsten wachsenden Märkte D ie Menschen teilen ihre Daten heute relativ bereitwillig, weil der IT-Branche: Onlinesicherheit. Seite 26 sie dafür auch etwas erhalten: Wer bei einem Loyalitäts- 3 – Iris Kuhn-Spogat programm mitmacht, kann die gesammelten Punkte für eine Die 52-Jährige ist eine erfahrene Wirtschafts- Prämie eintauschen; wer einen modernen Chatdienst nutzt, kom- journalistin und schreibt für verschiedenste muniziert viel einfacher mit seinen Freunden; wer einmal die Vorzüge Titel wie «Bilanz», «Handelszeitung» oder einer Cloud-Lösung kennengelernt hat, will kaum mehr auf sie «Women in Business». Als Mutter von zwei verzichten. Teenagern und als Frau, die nach eigenen Diesen modernen Balanceakt zwischen Privatsphäre und Offen- Angaben seit 1997 permanent online ist, war heit greift der Einstiegsessay auf (Seite 6), und er wird sichtbar in der sie die ideale Autorin für den Text zum an- erstaunlichen Auslegeordnung über das Internet der Dinge (Seite 32). geblich lockeren Umgang von Jugendlichen mit der Privatsphäre online. Seite 48 E inen anderen Zugang zum Thema hat die Schweizer Harvard- 4 – Christian Heinrich Professorin und Verwaltungsrätin der Credit Suisse Iris Bohnet. Der promovierte Mediziner und regelmäs- Sie sagt: «Vertrauen ist der Schlüssel zur Privatsphäre» (Seite 20). sige «Zeit»-Autor war selten so an einem Und der Immobilienspezialist der Credit Suisse Fredy Hasenmaile Porträt interessiert wie an dem von Sophia erklärt, warum es ein urmenschliches Bedürfnis ist, die eigenen vier Genetics aus Saint-Sulpice: Das Start-up Wände zu besitzen, und warum Wohneigentümer die glücklicheren bringt künstliche Intelligenz, Big Data und Bürger sind (Seite 62). personalisierte Medizin zusammen und wird Noch eine gute Nachricht: Im grossen Jugendreport sagen die als nächstes «Einhorn» der Schweiz gehan- Experten und zeigen die befragten Schülerinnen und Schüler, dass delt, als Firma mit über einer Milliarde Marktwert. Seite 66 sich die Jugendlichen im digitalen Raum gut zu schützen wissen. Wenn es Nachholbedarf gibt, ist es eher bei den Erwachsenen. Das Cover stammt von Michael Wolf. Der vielfach Wir wünschen eine spannende Lektüre. prämierte deutsche Fotograf (u. a. gewann er zwei Mal Ihre Redaktion den World Press Photo Award) wuchs mehrheitlich in den USA und Kanada auf und lebt heute in Hongkong. Wolf hat 13 Fotobücher veröffentlicht. Fotos: Sarah-Esther Paulus; Mika Jakubal; zVg (2) Cover: Michael Wolf / laif Bulletin N° 2 / 2017 — 1
Wir verstehen Sie mit und ohne Worte. Wir wollen die Bedürfnisse all unserer Kunden verstehen. Darum bauen wir Barrieren ab, zum Beispiel mit Höranlagen, Gebärdendolmetschern oder Bankauszügen in Brailleschrift. So können wir auch Menschen mit Hör-, Seh- und Mobilitätseinschränkungen den besten Induktive Höranlagen Service garantieren. Hier gehen wir bereits seit 10 Jahren immer einen Schritt voraus. in allen Credit Suisse Filialen credit-suisse.com/barrierefreiheit Copyright © 2017 Credit Suisse Group AG und/oder mit ihr verbundene Unternehmen. Alle Rechte vorbehalten.
— Privatsphäre — Inhalt 4 Leserbriefe / Impressum 32 Das neue Nervensystem 48 Denn sie wissen, was sie tun Das Internet der Dinge Haben Jugendliche ein Problem 6 und das Dilemma Komfort mit der Privatsphäre im Internet? Der Balanceakt versus Privatsphäre. Nein, aber die Erwachsenen. 58 Vom Abwägen zwischen Sicherheit, Bequemlichkeit Düstere Vorahnung und Freiheit. Die Angst vor der totalen Überwachung hat Klassiker der Weltliteratur hervorgebracht. 62 Fata Morgana Wohneigentum? Immobilienexperte Hasenmaile über sinkende Mieten, getrenntes Wohnen und digitales Bauen. 66 Im Innersten des Menschen 38 Ein Start-up vom Genfersee «Privatsphäre revolutioniert die Medizin. 10 ist nicht verhandelbar» Privat, halbprivat Der ehemalige eidgenössische Eine Bilderreise durch die Datenschützer Hanspeter Thür Privatsphäre unterschiedlichster spricht Klartext. 42 Menschen in der ganzen Welt. 20 Jäger in der Krise «Vertrauen ist der Schlüssel Warum das Geschäftsmodell zur Privatsphäre» der Paparazzi von Hollywood Harvard-Professorin Iris Bohnet stark unter Druck ist. 68 über Vertrauen und die Gefahr beim Hören auf die Intuition. Bitte nicht stören 26 Das Bedürfnis nach Rückzug Ein sicheres Geschäft? ist im Tierreich unterschiedlich Durch Cyberkriminalität ausgeprägt. 72 verursachte Schäden kosten Milliarden. Unter vier Augen 30 Die Illustratorin Sarah Mazzetti 45 Die Firma ist Sache der Familie über die Schwierigkeit, etwas Die sehr privaten Grundpfeiler Muss man (nicht) wissen privat zu halten. der Schweizer Wirtschaft. Überraschende Zahlen und Fakten (sowie ein Quiz) über die vernetzte Welt. Fotos: Thomas Meyer / Ostkreuz; Cyrill Matter; Manfred Mehner / Okapia; Illustration: Matt Blease Bulletin N° 2 / 2017 — 3
— Privatsphäre — CREDIT SUISSE Bulletin Seit 1895. Das älteste Bankmagazin der Welt. N° 1 / 2017 Reaktionen Service Bulletin «Das neue Asien», 1/2017 075360D Das neue Asien Eine kurze Reise durch die aufregendste Region der Welt Credit Suisse Älteste und Beste Grosses Interesse Die neueste Nummer des Bulletin ist Seit über einem Jahr lese ich das Bulletin Bulletin in jeder Beziehung hervorragend. und schätze es für seine informativen kostenlos Ich kann vor allem die Texte über China und analytischen Beiträge. Die Ausgabe abonnieren! gut beurteilen – im August 1974 leitete zum Thema Asien habe ich allgemein Schreiben Sie ein Mail mit Ihrer Adresse ich die Swiss Industrial Technology mit grossem Interesse gelesen, und an: abo.bulletin@credit-suisse.com Exhibition in Peking. Das Bulletin ist besonders aber jene Artikel über Indien. nicht nur die älteste schweizerische R. D. N. Rao, Hyderabad, Indien Bankenpublikation, sondern auch nach Wir freuen uns über jeden Leserbrief. Die Redaktion behält sich vor, eine Auswahl wie vor die beste. zu treffen und Zuschriften zu redigieren. Hans J. Halbheer, Zollikerberg Schreiben Sie uns: Überraschende Vielseitigkeit Ich bin immer wieder überrascht E-Mail: bulletin@abk.ch über die Vielseitigkeit der Themen und Adresse: Credit Suisse AG, Indien macht grosse Fortschritte Berichte, die mich übrigens trotz Redaktion Bulletin, HTG, 8070 Zürich Den Ansichten von Parag Khanna meiner über 90 Jahre immer noch sehr möchte ich in einem Punkt wider- interessieren. Folgen Sie uns! sprechen: Indien, sagt Khanna, sei arm Werner Karth-Weiss, Basel www.twitter.com/creditsuisse und chaotisch. Das mag oberflächlich www.facebook.com/creditsuisse betrachtet so sein, aber heute können die meisten Inder ihren Alltag selbst www.youtube.com/creditsuisse bestimmen. Man muss auch die Grösse Geschäfte per Telex www.flickr.com/creditsuisse des Landes beachten, den fest verwur- Ich habe jeden Artikel gelesen und zelten Glauben an die Demokratie – stelle fest, wie stark sich die asiatische Archiv so rudimentär diese für Aussenstehende Geschäftswelt verändert hat. Wenn ich Alle bisherigen Ausgaben des Bulletin auch wirken mag –, die enorme mir überlege, wie ich früher mit den stehen in digitaler Form zur Verfügung: Bevölkerungsgrösse mit unterschied- Asiaten Importgeschäfte gemacht habe, www.credit-suisse.com/bulletin lichen kulturellen, ethnischen und und sehe, wie es heute abläuft, ist das religiösen Wurzeln sowie die Vielspra- unglaublich. Früher musste ich alles mit chigkeit. Mit einer guten politischen Telex machen. Der Fax kam erst An- Führung wird Indien weiterhin grosse fang 80er Jahre und das Handy Anfang Fortschritte machen, die allen 90er. Auch die Reisen nach Asien Bevölkerungsteilen zugutekommen. waren viel aufwendiger, die Flugzeiten Phiroze M. Daruwala, Mumbai, Indien waren länger und Flugtickets kosteten doppelt so viel wie heute. Andreas Bähler, Wichtrach Impressum: Herausgeberin: Credit Suisse AG, Projektverantwortung: Christoph G. Meier, Mandana Razavi Mitarbeit: Jessica Cunti, Katrin Schaad,Yanik Schubiger, Simon Staufer, Inhaltskonzept, Redaktion: Ammann, Brunner & Krobath AG (www.abk.ch), Gestaltungskonzept, Layout, Realisation: Crafft Kommunikation AG (www.crafft.ch), Fotoredaktion: Studio Andreas Wellnitz, Berlin, Druckvorstufe: n c ag (www.ncag.ch), Übersetzung: Credit Suisse Language & Translation Services, Druckerei: Stämpfli AG, Auflage: 110 000 PERFORM ANCE Redaktionskommission: Oliver Adler, Felix Baumgartner, Thomas Beyeler, René P. Buholzer, Béatrice Fischer, neutral André Helfenstein, Anja Hochberg, Thomas Hürlimann, Manuel Rybach, Frank T. Schubert, Robert Wagner, Drucksache No. 01-17-330151 – www.myclimate.org Michael Willimann, Gabriele Zanzi © myclimate – The Climate Protection Partnership 4 — Bulletin N° 2 / 2017
Unser Engagement. Weniger Jugend- arbeitslosigkeit. Mit der Initiative zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit engagiert sich die Credit Suisse in der Schweiz seit 2010 für die Zukunftschancen von Berufseinsteigern. Über 8800 junge Erwachsene haben durch unsere Partnerorganisationen und durch uns bereits Unterstützung erhalten. Seit 1. April 2015 werden die Angebote vom rechtlich selbständigen Verein «Check Your Chance» mitgetragen und durch die Partnerorganisationen nachhaltig weitergeführt. credit-suisse.com/jugendarbeitslosigkeit
— Privatsphäre — i ch t ig ? it ät ist r t es? ti m ra u ch ie v iel In h k e i t b W ff e n tlic r a g en el Ö se F Wie vi o rt a u f d i e e n A n t w i s c h Die ä g e n zw i t u n d n A b w l i c hk e ist ei e qu e m on h e i t , B i tu a t i S Sicher das je nach den muss. a e ih e it , e n w e r Fr l e n o m m e u v o rg n a tter olf Lo Von W r B D e Wenn es ein zuverlässiges Messinstrument für den Zeitgeist gibt, dann sind es die Bestsellerlisten. Seit einigen Monaten taucht dort wieder «1984» auf, die düstere Zukunftsvision des 1950 verstorbenen George Orwell. Das ist Welt- literatur, wird also oft zitiert und gekauft, aber selten ge- lesen. Das ist vielleicht auch diesmal so, und das ist schade. Denn man kann von Orwell, dem grossen Freund der persönlichen Freiheit und Widersacher alles Totalitären, eine Menge lernen. (Wer trotzdem die Abkürzung nehmen will: Ab Seite 58 gibt es die Zusammenfassung von «1984» und sechs anderen dystopischen Werken.) 6 — Bulletin N° 2 / 2017
— Privatsphäre — a k t n c e duelle Rechte nicht denkbar. Sie ist die Basis für autonomes Han- deln. Privatsphäre, Freiheit und Eigentum sind eng miteinander verbunden und bedingen sich geradezu gegenseitig. «My home is my castle» steht seit dem 17. Jahrhundert dafür, dass Privat- a sphäre und Privateigentum auch von der Staatsgewalt zu respek- tieren sind – und gegen sie verteidigt werden dürfen. Privatsphäre ist das Recht, in seinen vier Wänden so zu leben, wie man leben will (innerhalb des gesetzlichen Rahmens). Egal, ob das den anderen, dem Staat, dem Chef passt oder nicht. Egal, ob das andere vielleicht als «unmoralisch», «gesellschaftlich verpönt» oder «politisch unkorrekt» erachten. Das Öffentliche dient dem Glück des Individuums In «1984» gerät ein kleiner Mann, Winston Smith, ins Mahlwerk Die Privatsphäre ist Freiraum. Die ewige Frage ist: Wie viel eines menschenverachtenden Kollektivs, das sich selbst als gute braucht man davon, oder besser: Wie viel lassen «die anderen» Gemeinschaft versteht. In Big Brothers Welt ist alles geregelt und davon zu? Wird der Freiraum selbst gewählt oder wird er von oben überwacht. Es gibt keine Privatsphäre mehr, nicht einmal mehr gewährt, vom Staat, den Mitmenschen, dem Anführer, den Pries- im intimsten Bereich der eigenen vier Wände: Der Fernseher tern und anderen Autoritäten? Das ist seit der Antike eine wich- ist gleichzeitig Überwachungskamera – das Synonym für eine tige Frage. Und fast immer beruft sich dabei die Autorität auf hoffnungslose Welt. Das spricht noch mehr als Folter, Mord und das «Gemeinwohl», wenn es darum geht, die Privatsphäre zurecht- permanente Lüge, die sich als Wahrheit ausgibt, für den Plot zustutzen oder Eigentumsrechte einzuschränken (zuweilen geht George Orwells. es auch um Sicherheit, dazu später mehr). Wir ahnen es, und die Menschen, die derzeit «1984» kaufen, Das Mittelalter war auch deshalb finster, weil es mit dem auch: Wo Unsicherheit, Terror, Umbruch und eine neue Weltord- Individuum nichts anfangen konnte. Das Private war eine Sünde. nung die Schlagzeilen bestimmen, wird der Ruf nach Sicherheit, Erst danach kam das Licht, allmählich. Die Aufklärung ist der bis Stabilität und Kontrolle laut. Und das Private, das Eigene, es ver- heute anhaltende Versuch, die Grenzen des Privaten und Öffent- liert zunehmend an Boden. Der Preis der Sicherheit ist immer lichen zu bestimmen. Wie viel Freiraum passt zu wie viel Gesell- auch der Verlust der eigenen Entscheidung. schaft? Und welches ist der richtige Mix zwischen meiner Privat- heit und meinem Sicherheitsanspruch? Das Recht auf die eigenen vier Wände Der britische Intellektuelle John Locke erdenkt im 17. Jahr- Sind unsere Ängste vor dem Schwinden der Privatsphäre hundert die Grundlage eines Ausgleichs zwischen den widerstre- übertrieben? Oder ist es unser Streben nach Sicherheit, das benden Kräften der Privatsphäre und der Öffentlichkeit. Ein guter keine Grenzen mehr kennt? Haben wir nicht so viele Frei- Staat fördert die Selbstbestimmung des Einzelnen nach Kräften. heiten wie keine Generation vor uns? Und sind es nicht oft Er beschränkt sie nur dort, wo Leben, Glück und Fortschritt der dieselben Leute, die sich auf Facebook über den Verlust Person bedroht sind, in Kriegs- und Notzeiten etwa. Ansonsten ist der Privatsphäre beklagen, die kurz darauf ein Foto ihres der Job des Staates sehr einfach: alles zu tun, um dem Individuum Abendessens in die Welt posten? Privatheit ist immer zu nutzen. Das Öffentliche dient dem Glück des Individuums. auch ein Paradox. Sie lebt von Widersprüchen, die Das führt zu Gesellschaftsverträgen, Verfassungen, Eigen- sich gegenseitig herausfordern. tumsgarantien, Gesetzen und Revolutionen. Aber nichts davon Die Privatsphäre ist eine der grössten Errun- machte Sinn, wenn nicht klar wäre, dass das Verhältnis zwischen genschaften der Moderne und ein fundamentales Privatsphäre und Öffentlichkeit eine Art Dauerverhandlung not- Menschenrecht. Ohne Privatsphäre sind indivi- wendig macht. Dazu braucht es klare Regeln, Rechtssicher- Bulletin N° 2/ 2017 — 7
— Privatsphäre — De heit, aber auch Vertrauen, dass jede Seite es gut mit der jeweils rB aal anderen meint. Das bedeutet nicht, dass jeder tun und lassen darf, worauf er gerade Lust hat. Aber es ergibt sich daraus ein Auftrag an Staat und Gesellschaft und damit die Öffentlichkeit, sich so wenig wie möglich in die Angelegenheiten des Einzelnen einzumischen. Die Privatsphäre kann nicht weit und gross genug sein. Schöner wohnen statt besser leben Aber Vorsicht. Nur Privates reicht nicht. Eine intensive Privat- sphäre hatte auch das Biedermeier. Im Polizei- und Überwachungs- staat des Fürsten Metternich lebten die Menschen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach innen, weil es draussen zu gefähr- lich war. Jeder durfte sich nach seiner Façon einrichten – schöner wohnen statt besser leben. Man soll auch das nicht gering schät- von Millionen unbescholtener Reisender erfassen. Aber es ist eben zen. Es ist ein existenzielles Recht. Aber wer sich damit begnügt, auch ein wichtiges Mittel im Kampf gegen den Terror. Es wäre wird ein Biedermeier, einer, der nach den ironisch gemeinten Willkür, wenn diese Massnahmen grundlos erfolgten. Und es Liedzeilen des deutschen Dichters Hoffmann von Fallersleben wäre Willkür, wenn sie dauernd eingesetzt würden, auch dann, «Die Gedanken sind frei» singt: «Ich denke, was ich will / und was wenn längst keine Gefahr mehr besteht. Wann das ist? Schwer zu mich beglücket,/doch alles in der Still/und wie es sich schicket.» sagen. Die Privatsphäre ist eine feste Grösse, aber ihre Grenzen Eine Privatsphäre aber, die schweigt, ist ein Gefängnis. Muss sind beweglich – je nach Situation. also, wie die 68er forderten, «das Private auch politisch» und damit öffentlich sein? Ende der achtziger Jahre formulierte die ameri- Der Mensch entscheidet kanische Trendforscherin Faith Popcorn ihre These vom «cocoo- Das gilt auch für neue Technologien. Computer und Automation ning». Gemeint war damit der Rückzug der Bürger in ihre Woh- können viel zur Befreiung von stupider Arbeit beitragen, aber nungen, das raupenhafte Einspinnen in einen Kokon. Die ein- gleichzeitig auch ein nie gekanntes Mass an Kontrolle und Mani- flussreiche Generation 68 hat das vielfach kritisiert. Sie verlangte pulation erzeugen. Ein Smartphone oder Tablet kann nützlich permanente Rechenschaft vom Individuum, und solche Töne sind und unterhaltend sein und die Grenzen der persönlichen heute wieder vom äusseren linken und rechten Spektrum weltweit Mobilität deutlich erweitern. Es weiss aber, wo sich der Be- zu hören. nutzer bewegt, die auf ihm gespeicherten Daten können zum Hier haben einige nicht verstanden, was offene Gesellschaft Schaden ihres Eigentümers missbraucht werden. bedeutet. Eine offene Gesellschaft ist stolz auf die Grenzen zwi- Gewiss liesse sich mit der Abschaffung des Bargelds schen Privatem und Öffentlichem, auf die maximalen Freiräume, die eine oder andere kriminelle Tat verhindern. Aber will die sich ihre Bürger nehmen, auf ihre Unterschiede und Vielfalt. man dem Staat die totale Kontrolle über sein Eigentum Niemand kann sich in Ruhe entwickeln, wenn Big Brother kont- geben? Eine Freiheit, die ohne das Recht auf materielle rolliert, ob das regelkonform geschieht. Es ist dabei irrelevant, ob Selbstbestimmung auskommen muss – nichts anderes man es «gut meint» oder bloss herrschen will. Privatheit ist ein ist ja das persönliche Eigentum –, ist eine Farce. Wer Grundrecht. Es ist auch das Recht, in Ruhe gelassen zu werden. kann das Recht auf Privateigentum garantieren, wenn Dieses Recht kann bewirken, dass öffentliche Plätze mit es abgeschafft ist? Eine Taschengeldgesellschaft, Videokameras bestückt werden, um Anschläge zu verhindern und die von der politischen Willkür von oben abhängig Verbrechen zu minimieren. Das Speichern von Flugpassagier- ist? Das ist, abgewogen, die grössere Gefahr als die, daten ist die Grundlage für Bewegungsprofile, die das Verhalten die es zu bannen gilt. 8 — Bulletin N° 2 / 2017
— Privatsphäre — Autonomes Fahren kann Unfälle vermeiden. Andererseits über- Der Respekt vor der Privatsphäre der Kunden und Bürger ist eine nimmt das System in Ballungszentren die Kontrolle über das der wichtigsten Geschäftsgrundlagen des 21. Jahrhunderts. Man Auto. Aus dem Fahrer wird ein Passagier. Das ist okay, wenn der muss an andere denken, wenn man sich etwas Gutes tun will. Ein- das auch will. Es ist nicht okay, wenn wir keine Wahl mehr haben, fühlungsvermögen ist gefragt oder, wie die Philosophin Hannah den Autopiloten auszuschalten. Der Mensch denkt. Der Mensch Arendt es so brillant formulierte, «repräsentatives Denken». lenkt. Und wenn er es nicht tut, muss das seine Entscheidung sein. Das ist eine Art moralischer Imperativ für unsere Zeit, der uns helfen kann, die Balance zwischen den eigenen und anderen Der Schlüssel: Eigenverantwortung und kritisches Denken Interessen zu finden. Dieses Denken setze voraus, so Arendt in Wer Freiräume wahren will, muss Chancen und Gefahren wahr- «Wahrheit und Politik», ohne die eigene Identität aufzugeben, nehmen – und seine Entscheidungen treffen. Die nimmt uns einen Standort in der Welt einzunehmen, der nicht der eigene ist, niemand ab. Und sie sind nicht einfach und werden es auch nicht, und von diesem Standort aus eine eigene Meinung zu bilden. weil es eben keine Gewissheit gibt. Technik suggeriert das zuwei- Rücksicht, Berücksichtigung – also Respekt – ist, was die len. Aber sie kann tatsächlich nichts anderes, als uns bei der Waage von Privatsphäre und Sicherheit in der Balance hält. Umsetzung von Entscheidungen, die wir getroffen haben, zu unterstützen. Wenn wir nicht weniger Freiheit haben wollen, müssen wir mit dieser Wahrheit leben. Der Schlüssel zu einer guten Balance aus Privatsphäre und Sicherheit heisst Eigenverantwortung und kritisches, eigenständiges Eine Ges ala Denken. Deshalb ist es so wichtig, Selbstbewusstsein und Ent- scheidungsfreudigkeit zu lernen – und zu lehren. Eine ellschaf t Gesellschaft, die nur mehr aus Risikogesellschaftern aus ängstl besteht, aus ängstlichen Bürgern, die der Staat ichen Bür mit Rundum-Fürsorge versichern muss, die der St gern, bringt nichts mehr zustande. Damit aat mit ist nicht nur kein Staat zu ma- Rundum- nce chen, sondern auch kein Geschäft. Fürsorge versichern muss, brin nichts me gt hr zustan de. akt Wolf Lotter ist Mitbegründer und Autor des Wirtschaftsmagazins «brand eins». Das Branchenblatt «Wirtschaftsjournalist» verlieh ihm kürzlich den Titel des Wirtschaftsjournalisten des Jahres 2016 in der Kategorie «Wirtschaftspolitik und Gesellschaft». Bulletin N° 2/ 2017 — 9
— Privatsphäre — Was öffentlich sein soll und was nicht, ist nicht zuletzt eine kulturelle Frage. Eine fotografische Reise um die Erde – und darüber hinaus – in die Privatsphäre unterschiedlichster Menschen und Orte. 10 — Bulletin N° 2 / 2017
— Privatsphäre — Die perfekte Stadt S O N G D O C I T Y, S Ü D K O R E A Nahe der Hauptstadt Seoul wächst ein Geschäfts- viertel, das auf dem Reissbrett entstanden ist: Die durchgeplante urbane Welt wird bis ins Jahr 2020 auf Land gebaut, das dem Wattenmeer abgerungen wurde – mit Wohnraum für 70 000 und Arbeitsplätze für 340 000 Menschen. Die Stadt der Zukunft ist grün: Die Hälfte der Fläche besteht aus Parks. Sie ist smart: Durch eine durchgehende Vernetzung und mit Sensoren wird der Energie- und Ressourcenver- brauch drastisch gesenkt. Und schliesslich ist sie komplett überwacht: All die Kameras, Chips und Sensoren zeichnen zum Zwecke der Optimierung des Energieverbrauchs auch jeden Schritt der Stadt- bewohner auf. Foto: Giulio Di Sturco / Institute Bulletin N° 2/ 2017 — 11
— Privatsphäre — Allein unter vielen J A PA N 3,1 Milliarden Fahrgäste benutzen jedes Jahr die Tokioter U-Bahn, das meistbenutzte Untergrundverkehrssystem der Welt. Täglich fahren rund 8 Millionen Japaner in beengten Verhältnissen zur Arbeit. «Der Spiegel» nannte es «die Knautschzone des Kapitalismus»: In der U-Bahn würden Individuen zur transportierten Masse. Für Frauen gibt es spezielle Wagen: der einzige Ort, um dem unvermeidlichen Körperkontakt mit männlichen Fahrgästen auszuweichen – falls noch Plätze frei sind. Heimat auf Zeit MONGOLEI Die Dukha sind mongolische Rentierhirten, die nomadisch leben. Das ist für sie aber keine Selbstverständ- lichkeit: In den achtziger Jahren bis zum Ende der Mongolischen Volksrepublik wurden die Dukha vom kommunistischen Regime gezwungen, in zwei Kollektiven sesshaft zu werden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zogen sie wieder in die Wälder der Taiga, noch heute leben etwa vierzig nomadische Familien dort. Das Bild zeigt eine mobile Siedlung in Zuun Taiga, etwa 17 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. 12 — Bulletin N° 2 / 2017 Foto: Jeroen Toirkens
— Privatsphäre — Foto: Michael Wolf / Laif Bulletin N° 2/ 2017 — 13
— Privatsphäre — Einsam im Universum I N T E R N AT I O N A L E R A U M S TAT I O N I S S Die italienische Astronautin Samantha Cristoforetti arbeitet bei der European Space Agency (ESA) und ist die erste Italienerin im All. Ihr Arbeitsplatz ist die Raumstation ISS (International Space Station), wo sie sich zum Ruhen in eine Kabine von der ungefähren Grösse einer Telefonzelle zurückziehen kann. Die ISS-Mission «Futura», auf der dieses Bild entstanden ist, dauerte vom 23. November 2014 bis zum 11. Juni 2015. 14 — Bulletin N° 2 / 2017 Foto: NASA / Science Photo Library / Keystone
— Privatsphäre — Ruhe, bitte AGENTUR HI-RES!, BERLIN-NEUKÖLLN Was auf diesem Bild aussieht wie eine schwer verständliche Kunstinstallation, hat einen ganz einfachen und praktischen Hintergrund: Bei der Digitalagentur Hi-ReS! mit 80 Mitarbeitenden in Berlin-Neukölln zieht man sich für ein Telefongespräch zurück in solche schwarzen Boxen, wo man völlig ungestört sprechen kann. Das moderne Bürodesign ist übrigens preisgekrönt – und es werden noch Mitarbeitende gesucht. Foto: Thomas Meyer / Ostkreuz Bulletin N° 2/ 2017 — 15
— Privatsphäre — 16 — Bulletin N° 2 / 2017 Foto: Luca Zanetti / Laif / Keystone
— Privatsphäre — Die Insel der Glückseligen S A N TA C R U Z D E L I S LOT E , K O L U M B I E N Die am dichtesten besiedelte Insel der Welt ist nur etwa 1,2 Hektaren gross und komplett bebaut. Das künstliche Eiland liegt rund 20 Kilometer nordwestlich der Küste Kolumbiens und hat in knapp hundert Gebäuden Platz für 1200 Menschen. Es gibt keinen Arzt, keine konstante Trinkwasserversorgung und bloss einen Generator, der nicht immer in Betrieb ist. Von einem Reporter gefragt, was die Insel trotzdem so lebenswert mache, sagte ein Bewohner: «Es gibt hier keine Gewalt, wir brauchen keine Polizei, wir kennen uns alle und geniessen das Leben.» Bulletin N° 2/ 2017 — 17
— Privatsphäre — WG für Gründer EMBASSY NETWORK, SAN FRANCISCO Es könnte der Eindruck entstehen, dass hier das Wohnzimmer einer nicht ganz durchschnittlichen ameri- kanischen Familie abgebildet ist. Tatsächlich handelt es sich aber um eine ungewöhnliche Wohngemeinschaft: Im «The Embassy» in San Francisco leben vor allem Start-up-Gründer und Leute aus der Technologiewelt zusammen. 13 Menschen unter einem Dach versuchen Raum und Leben zu teilen und neue Formen des Wohnens auszutesten. 18 — Bulletin N° 2 / 2017 Foto: Winni Wintermeyer
— Privatsphäre — Auf der Flucht HOLZ BOOT VOR DE R LI BYSCH E N KÜ STE Rund 700 Migranten waren im Sommer 2005 in zwei Holzbooten unterwegs, als sie von der Organisation Médecins Sans Frontières (MSF) aufgegriffen wurden. Diese Flüchtlinge konnten gerettet werden, doch über 5000 ertranken letztes Jahr im Mittelmeer. Die Boote sind überfüllt und kaum seetauglich. Und zwischen den verschiedenen Flüchtlingsgruppen kommt es immer wieder zu Konflikten mit teilweise tödlichem Ausgang. Foto: Paolo Pellegrin / Magnum Photos / Keystone Bulletin N° 2/ 2017 — 19
— Privatsphäre — «Vertrauen ist der Schlüssel zur Privatsphäre» Die Schweizer Harvard-Professorin Iris Bohnet hält ein Plädoyer gegen die Intuition, erklärt, wie man Jobinterviews richtig gestaltet, und warnt vor den Gefahren auf Social Media. Von Mandana Razavi und Simon Brunner (Interview) und Yves Bachmann (Fotos) 20 — Bulletin N° 2 / 2017
— Privatsphäre — Frau Bohnet, zuerst eine einfache Frage: das Beste zu geben bei der Arbeit, Status, Einkommen, Vermögen, Macht: Was treibt den Menschen an? aber auch auszuharren in einem miesen All das beeinflusst uns von aussen. Aber Sie meinen das vielleicht ironisch, aber Job, um die Familie zu ernähren, oder wenn Sie mich fragen, was den Menschen darauf gibt es tatsächlich eine kurze einen Gefängnisaufenthalt zu überstehen. wirklich antreibt, dann sind es nicht Antwort: die Leidenschaft. diese Dinge, sondern unser Innerstes. Und Sie sind studierte Ökonomin. Leidenschaft ist ein guter Sammelbegriff So einfach? Ja. Welche Antwort hätten Sie erwartet für die inneren Kräfte, die man auch Ich hätte auch sagen können: «Wissens- von mir? Dass Geld den Menschen als intrinsische Motivation bezeichnet. durst» oder «der Sinn des Lebens». Aber antreibt? Leidenschaft geht tiefer. Sie bringt uns Ihre Forschung befasst sich mit Vertrauen aus dazu, zu arbeiten, zu lieben, am Morgen Vielleicht, oder etwas allgemeiner: verhaltensökonomischer Sicht: Wie joggen zu gehen, Blumen zu kaufen, Nutzenmaximierung. hängt es mit der Privatsphäre zusammen? Bulletin N° 2/ 2017 — 21
— Privatsphäre — «Vertrauen steigert die Effizienz»: Verhaltensökonomin Bohnet. Je besser ich jemanden kenne, desto mehr men mit seinem Namen und seiner kann ich ihm oder ihr vertrauen. Und Adresse. Das ersparte mir den Aufwand, je besser ich jemanden kenne, desto näher nach Hause gehen zu müssen und lasse ich sie oder ihn an mich heran. Der zurückzukommen. Als ich ihm dann einen Schlüssel zur Privatsphäre ist Vertrauen. Check schickte, legte ich eine Schachtel Pralinen dazu – also eine Art Zinsen. Der Volksmund sagt: Vertrauen ist gut, Vertrauen steigert zweifelsohne die Kontrolle ist besser. Effizienz, es macht den Kuchen grösser. Man kann über Kontrolle viel erreichen, das stimmt. Aber sie ist teuer. Wird jeder Ob man jemandem vertraut oder nicht, Passagier im Tram kontrolliert, wird hängt auch mit dem Ruf zusammen. niemand mehr schwarzfahren – aber ist Manchmal ist die eigene Meinung das effizient? weniger wichtig als das, was andere über jemanden denken. Das ist die Macht der Der kürzlich verstorbene Wirtschafts- Reputation. Und mit dem technischen Iris Bohnet, 51, geboren in nobelpreisträger Kenneth J. Arrow sagte: Fortschritt nimmt diese Macht zu. Bevor Luzern, ist Verhaltensökonomin «Sich auf das Wort anderer Leute verlassen wir etwas konsumieren, schauen wir heute und Professorin an der Harvard zu können, erspart eine Menge Aufwand erst mal die Bewertung an. Amazon, Kennedy School sowie Direktorin des dortigen «Women and Public und Probleme.» Der Politologe Francis Ricardo oder TripAdvisor haben die Welt Policy Program». Sie ist ausserdem Fukuyama sieht Vertrauen sogar als den einfacher gemacht und den Kunden- Verwaltungsrätin der Credit Faktor für den Wohlstand eines Landes oder fokus verstärkt. Aber wie mit jedem Fort- Suisse und Autorin des viel eines Unternehmens. Einverstanden? schritt gibt es auch Gefahren. beachteten Buches «What works – Ich kaufte kürzlich etwas ein und merkte Gender equality by design», das im Herbst 2017 bei C. H. Beck beim Bezahlen, dass ich den Geldbeutel Die unkontrollierte Kommentarflut? auch auf Deutsch erscheint. vergessen hatte. Ich fragte den Kunden In letzter Zeit muss ich immer wieder an Iris Bohnet ist verheiratet mit hinter mir in der Schlange, ob er mir den «Die verlorene Ehre der Katharina Blum» dem Anwalt Michael Zürcher, Betrag leihen könnte, was er tat, zusam- von Heinrich Böll denken. In diesem das Paar hat zwei Söhne. 22 — Bulletin N° 2 / 2017
— Privatsphäre — Roman wird eine unschuldige Frau wegen Gut, also ungefähr bei 55 Prozent. Nun nun trauen kann oder nicht, da das System ihrer Freundschaft zu einem Straftäter fragt Sie ein Kollege, den Sie nicht die Kosten von Vertragsbruch sehr tief öffentlich verunglimpft und in ein gut kennen, ob Sie ihm etwas Geld leihen hält, ein bisschen wie eine Versicherung. tragisches Schicksal getrieben. Bei Böll ist könnten – er gebe Ihnen dafür Ende Im Gegensatz dazu können Sie in es eine Kritik an den Boulevardmedien. Woche das Doppelte zurück. Ab welcher Ländern, wo es extrem wichtig ist, nicht Doch die sind harmlos im Vergleich zu Rückerstattungswahrscheinlichkeit betrogen zu werden, nur mit den den sozialen Medien. Wie wollen wir machen Sie mit? Menschen einen Handel eingehen, denen überprüfen, was da alles geschrieben wird? sie zu 100 Prozent trauen, also Ihrer Kein Wunder leben wir im Zeitalter der Da müssten wir schon ziemlich sicher sein. Familie oder Ihrem Clan. «fake news». Der Schutz der Privatsphäre Vielleicht 75 Prozent? ist wichtiger denn je. Sehen Sie, Ihre Risikoaversion ist tiefer Welche Kulturen sind das? als Ihre Betrugsaversion, um 20 Prozent- Wir haben unsere Experimente rund um Nimmt die Bedeutung von Vertrauen punkte. Das ist bei den allermeisten die Welt durchgeführt und konnten eigentlich zu? Menschen so. Man wird einfach nicht zeigen, dass in vielen Ländern im Mittleren Sie verändert sich. Grundsätzlich braucht gerne betrogen. Osten Vertrauen entsteht, indem der es Vertrauen, wenn Information asymmet- Vertrauensbruch möglichst ausgeschaltet risch verteilt ist – wenn wir alle das Sie zeigen jedoch auch, dass es grosse wird. Der Betrug hat in dieser Region eine Gleiche wissen, müssen wir niemandem kulturelle Unterschiede gibt, wie man auf grosse moralische Komponente. Ausser- vertrauen. Die neueren Technologien Betrug reagiert. dem verliert man dort auch noch das haben beispielsweise in der Finanzwelt Nehmen wir an, ich leite eine Galerie Gesicht, wenn man betrogen wird, denn mehr Transparenz geschaffen und führen und Sie haben bei mir ein Bild für 1000 es bedeutet, dass man das Gegenüber zu einem grösseren Informationsaustausch. Franken gekauft, aber das Werk noch nicht genügend überprüft hat. Entspre- Man kann heute mit dem iPad seine nicht abgeholt. Nun kommt eine andere chend drakonisch sind die Strafen. eigene Investitionsstrategie mitgestalten Kundin, der das Bild noch besser gefällt, Welche Länder stehen auf der anderen Seite der Skala? Das Extrem ist China, wo wir die tiefste «Man kann über Kontrolle viel erreichen, das stimmt. Betrugsaversion fanden, sehr tief war auch Aber sie ist teuer.» Brasilien. Hier gibt es praktisch keinen Unterschied zwischen Risiko- und Betrugsaversion. Einer Person zu vertrauen, fühlt sich ähnlich an, wie wenn man und sie laufend überprüfen. Bei der und bietet mir 2000 Franken. In den USA ein Glücksspiel macht. Manchmal Diskussion mit der Kundenberaterin hat ist es nun sehr denkbar, dass ich ihr das funktioniert’s und manchmal auch nicht. man alle Daten vor Augen und kann Bild verkaufe und Ihnen die 1000 Franken verschiedenste Szenarien live durchspielen. zurückerstatte, plus etwas Schadenersatz, In jüngerer Zeit beschäftigen Sie sich Auf der einen Seite verfügt der Kunde immerhin habe ich Ihnen einen kleinen vermehrt mit der Intuition und wie uns also über mehr Informationen. Gleich- emotionalen Schaden zugefügt. Das nennt diese in die Irre führt. Aber ist es nicht zeitig ist für ihn die Lage unübersichtlicher man «efficient breach»: Wir sollen Verträge gerade der viel gerühmte sechste Sinn, der geworden, die Komplexität hat zugenom- brechen, wenn es effizient ist, die Verlierer uns Menschen auszeichnet? men, und er hat auch mehr Anbieter aber für ihren Verlust kompensieren. Es gibt sehr viel Forschung, die zeigt, wie zur Auswahl. Dann sind Vertrauen und uns die Intuition hintergeht, denn sie Expertise wieder enorm wichtig. In der Schweiz wäre das undenkbar. beruht auf Vorurteilen und Stereotypen. Hier beruht das System darauf, dass ein Gerade bei grossen Entscheidungen, Ein Teil Ihrer Forschung zeigt, wie sensibel Handschlag gilt. wie der Einstellung von Leuten, möchten Menschen darauf reagieren, wenn ihr Korrekt. Das hiesige System beruht auf Sie aber sicher sein, die allerbeste Vertrauen missbraucht wird. Sie nennen dem Rechtsprinzip «Pacta sunt servanda», Wahl getroffen zu haben. das Betrugsaversion. Ist das vergleichbar dass also Verträge einzuhalten sind. mit der Risikoaversion? Das heisst, hier hätte ich das Bild mit Und dazu gehört es, die Intuition Nein. Lassen Sie uns ein Beispiel durch- grosser Wahrscheinlichkeit dem ersten auszuschalten? gehen, dann erkennen wir den Unter- Käufer geben müssen. Ja. Sie ist nicht der beste Ratgeber, wenn schied gleich: Nehmen wir an, Sie gehen es darum geht, Leistung und Kom- ins Casino und spielen ein Glücks- Aus einer moralischen Perspektive erscheint petenzen in einem Bewerbungsprozess zu spiel, bei dem Sie Ihren Einsatz verdop- das korrekt. beurteilen. Sehen Sie, dass eine Kandida- peln können. Bei welcher Gewinn- Ja, doch auch das amerikanische System tin ein gewisses Alter hat, Mutter von wahrscheinlichkeit spielen Sie mit? fördert Vertrauen. Sie werden ja kompen- zwei Kindern ist oder an dieser oder jener siert bei Vertragsbruch. Und das System Universität studiert hat, löst das sofort Wenn wir etwas häufiger als jedes diskriminiert weniger stark. Man muss Assoziationen bei Ihnen aus, die zweite Mal gewinnen, sind wir dabei. sich nicht überlegen, ob man einer Person nicht unbedingt zutreffen. Eine Frage: Bulletin N° 2/ 2017 — 23
— Privatsphäre — Wenn Sie sich die Bevölkerung in Florida künftigen Erfolg viel besser voraus als Ja, das Vertrauen gegenüber der so- vorstellen, wer kommt Ihnen spontan in Interviews. genannten Elite nimmt ab. Für mich war den Sinn? es im amerikanischen Wahlkampf ein Sie sagen, Sympathien seien ein besonders grosser Schock, dass so locker Vorurteile Pensionäre, die die Sonne geniessen wollen. schlechter Ratgeber. Warum? ausgesprochen werden konnten. Vor ein In Tat und Wahrheit sind in Florida 84 Das Ziel der Rekrutierung darf nicht sein, paar Jahren noch war es nicht denkbar, Prozent der Bevölkerung unter 65 Jahre uns selbst zu replizieren, denn die soge- offen rassistische Statements zu äussern. alt. Das ist nur ein bisschen weniger als nannte kollektive Intelligenz ist höher in der amerikanische Durchschnitt. Also breit gemischten Teams. Stellt man In der Schweiz ist das Bild etwas anders. ist die Bevölkerung von Florida durchaus jene oder jenen an, die oder der einem Laut dem Sorgenbarometer der Credit Suisse etwas älter als der Rest, aber wenn auf sympathisch ist, ist das oft ein Klon wird der Schweizer Regierung nach wie einer Bewerbung «Florida» steht, gibt es von einem selbst. vor sehr stark vertraut, stärker als anderen überhaupt keinen Grund anzunehmen, Regierungen im Ausland. Warum? dass es sich um eine ältere Person handelt. Nicht alle Vorurteile sind falsch – eine Person Ich denke, das hat mit der direkten Das ist ein klassischer Bias oder Verzer- in der Schweiz ist vermutlich im Durch- Demokratie zu tun. Die Politik ist sehr rungseffekt, den wir in der Verhaltens- schnitt pünktlicher als eine in Indien. volksnah. In vielen Ländern tut sich ein ökonomie untersuchen und von denen Korrekt. Unsere Intuition funktioniert wie Graben zwischen den Bürgerinnen und es viele gibt. eine Faustregel – sie hilft uns, effizient Bürgern und der Politik auf – nicht in durch den Alltag zu kommen. Aber wie der Schweiz. Auch wenn zuweilen Wenn man sich nicht auf sein Gefühl alle Faustregeln hat sie Fehler. Sie wollen etwas anderes behauptet wird, sehe ich verlassen soll, worauf kommt es dann bei sich doch für eine wichtige Entscheidung keine abgehobene Classe politique einer Einstellung an? nicht auf ein bewiesenermassen fehler- in der Schweiz. Es gibt viele Untersuchungen, die zeigen, haftes System verlassen, vor allem was funktioniert und was nicht. Erst wenn es verlässlichere Prozesse gibt? Eine persönliche Frage zum Schluss: Wie einmal müssen sie ein Inserat schalten, das haben Sie eigentlich die wohl wichtigste die richtigen Kandidatinnen und Kandi- Sie versuchen, «möglichst viele Haken zu Personalentscheidung Ihres Lebens getroffen: daten anspricht – das ist nicht trivial, aber entfernen, an denen Vorurteile hängen Wie haben Sie Ihren Mann rekrutiert? Algorithmen können uns etwas helfen, bleiben können». Doch die Welt bewegt sich (Lacht.) Okay, da haben Sie mich erwischt unsere Sprache von ungewollten zurzeit in eine andere Richtung. – das war nicht sehr systematisch. Ich Verzerrungseffekten zu befreien. Dann Ja, leider. Es war historisch immer so, dass habe mich einfach in ihn verliebt. Doch sollten Lebensläufe anonymisiert werden, sich Menschen in Phasen grosser bevor wir heirateten, führten wir sachliche und nicht sehr romantische Diskussionen über die wichtigen Dinge im Leben: Wollen wir Kinder? Wollen wir berufs- «In vielen Ländern tut sich ein Graben tätig sein, und wie viel wollen wir zwischen den Bürgern und der Politik auf – arbeiten? Erst als das alles ausgehandelt war, haben wir den Ehevertrag unter- nicht in der Schweiz.» zeichnet. Das würde ich allen Paaren auch empfehlen. Name und Adresse gehören weg, und Unsicherheit und schneller Veränderung natürlich auch das Foto. Wir konnten zurückgezogen haben. Das erleben wir zeigen, dass die gar nichts bringen und im Moment. Es gibt einen Rückzug uns im Gegensatz in die Irre führen. zum eigenen Volk, zur eigenen Hautfarbe, zum eigenen Geschlecht, zur eigenen Und das Jobinterview an sich? politischen Partei. Wir bezahlen jetzt Wir wissen so viel über die Kandidatinnen den Preis dafür, dass viele westliche Länder und Kandidaten wie nie zuvor, trotzdem auf Kosten der unteren Mittelklasse führen wir immer noch unstrukturierte gewachsen sind. Die Ungleichheit zwi- Bewerbungsgespräche, wo die Interviewer schen Arm und Reich hat zugenommen ihren Vorurteilen gnadenlos ausgesetzt und erstmals sind nicht alle Sieger sind. Google beispielsweise hat unter- männlich und weiss. Ein Teil dieser Gruppe sucht, wie viele Interviewer optimal sind, lehnt sich nun gegen das Establishment nämlich vier, oder welche Fragen tatsäch- und gegen die Globalisierung auf. lich zukünftigen Erfolg in der Firma voraussagen. Das ist die Macht von Big Auch gegen Menschen wie Sie wird Data. Zudem sollten Sie Aufgaben gewettert, ein Mitglied der Elite, stellen, die etwas mit der späteren Arbeit eine Professorin, die mit Zahlen und Fakten zu tun haben. Solche Tests sagen zu- argumentiert. 24 — Bulletin N° 2 / 2017
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— Privatsphäre — Ein sicheres Geschäft? Die Cyberkriminalität verursacht jedes Jahr Schäden von mehreren hundert Milliarden Dollar. Bei den meisten Angriffen geht es um Geld- und Wirtschaftsspionage. Onlinesicherheit ist einer der am schnellsten wachsenden Märkte der IT-Branche. Von Helene Laube In der zunehmend digitalen und vernetzten emotionale Schaden, den immer mehr aus- E Welt steigt die Gefahr von Cyberangriffen. gehorchte, gehackte und um ihre Privat- 2016 war laut der Non-Profit-Organisa- sphäre gebrachte Menschen erleiden. tion Identity Theft Resource Center ein Re- Jeder und alles ist das Ziel digitaler kordjahr: Allein in den USA wurden 1093 Anschläge: von der Privatperson, ihrem Fälle von Verletzungen der Datensicher- Computer, Handy, vernetzten Haus und heit («data breaches») offiziell angezeigt – Auto über Organisationen und Unter- mehr als doppelt so viele wie noch vor fünf nehmen hin zu entscheidenden Infrastruk- Jahren (siehe Grafik). Dabei wurden laut turen und Regierungen. Bei den meisten der Sicherheitsanalysefirma Risk Based Se- Angriffen, so zeigen verschiedene Er- s war einer der grössten Datendiebstähle curity Milliarden von Datensätzen gestohlen. hebungen, geht es um Geld- und Wirt- der Geschichte: Hacker drangen in die schaftsspionage. Server des Internetkonzerns Yahoo ein und Jeder wird zum Angriffsziel Mächtige Cyberspionage-Organi- stahlen Informationen zu mindestens 500 Die wirtschaftlichen Schäden, die Cyber- sationen, hinter denen nicht selten Regie- Millionen Kunden: verschlüsselte Pass- kriminalität und Cyberdiebstahl von geis- rungen stehen, greifen weltweit andere wörter, E-Mail-Adressen, persönliche In- tigem Eigentum verursachen, sind gigan- Regierungen, Militäreinrichtungen, Infra- formationen wie Geburtsdaten oder Tele- tisch. Sie liegen bei jährlich 450 bis 600 struktur und Unternehmen an. Wertvolles fonnummern. Die Hacker verschafften Milliarden Dollar, schätzt das Center for Know-how aus Wirtschaft, Forschung sich ausserdem Zugang zu Millionen von Strategic and International Studies, eine und Entwicklung wird gestohlen. Hacker Nutzerkonten, um mit den ergatterten überparteiliche Denkfabrik in Washington. knackten sogar schon die Rechner der Informationen Spam zu versenden und Nicht kalkulierbar ist der finanzielle und EU-Kommission oder der Notenbank von Kredit- und Gutscheinkarteninformatio- nen zu stehlen. Das Unternehmen aus dem Silicon 1200 Valley machte den Angriff, der Ende 2014 Die Angriffe häufen sich erfolgt war, erst im September 2016 publik. 1000 Gemeldete Daten-Einbrüche Details nannte es keine, da das FBI ermit- in den USA (in Mio.) telte. Diesen Frühling nun liess das ameri- 800 kanische Justizministerium eine diplomati- sche Bombe platzen: Es erhob in der Causa Yahoo Anklage gegen vier Personen – dar- 600 Quelle: Identity Theft Resource Center unter zwei Mitarbeiter des russischen Ge- heimdiensts FSB, die die umfassende «kri- 400 minelle Verschwörung» gesteuert haben sollen. Die erbeuteten Informationen, so 200 heisst es in der Klageschrift, seien auch verwendet worden, um ausländische Regie- rungsmitarbeiter, Banken- und andere 0 2006 2008 2010 2012 2014 2016 Manager sowie Journalisten auszuspähen. 26 — Bulletin N° 2 / 2017
— Privatsphäre — Bei den meisten Angriffen geht es um Wirtschaftsspionage (im Bild: Innenansicht einer Datenfarm). Bangladesch – und erbeuteten dort über Security Services»: Hier übernimmt ein geber im Silicon Valley. Sie investierten 80 Millionen Dollar. externer Dienstleister den Schutz und die vergangenes Jahr 3,1 Milliarden Dollar Überwachung der ganzen IT-Infrastruk- in 279 Cybersicherheit-Start-ups, heisst Sicherheit ist gut und teuer tur einer Firma. es beim Marktforscher CB Insights. Das Die mit der fortschreitenden Vernetzung Der zweitgrösste Bereich ist Sicher- ist viermal so viel wie noch 2010. rasant zunehmenden Angriffsziele für heitssoftware: Hier wird am meisten in Hacker haben zu einem Boom für Anbieter die Sicherung von Endgeräten sowie Gefahr im Babyfon von Cybersicherheit geführt. «Sicherheit ins Identitäts- und Zugangsmanagement Ein ganz besonders hohes Risikopoten- ist einer der am schnellsten wachsenden investiert. zial birgt das Internet der Dinge (Internet Märkte der IT-Branche, und er wird weiter Der drittgrösste Bereich ist Sicher- of Things, IoT, siehe Seite 32). Das Gros wachsen», sagt Michael Diamond, Analyst heitshardware, der in erster Linie vom dieser IoT-Geräte – von Webkameras beim Marktforscher NPD. Die Ausgaben Kauf von sogenannten Unified-Threat- über Babyfone bis zu Fernsehern – wird von Unternehmen für Cybersicherheit Management-Systemen profitiert. Das ohne grosse Sicherheitsmechanismen ver- wachsen doppelt so schnell wie die gesam- sind Boxen, die unterschiedliche Aufga- kauft. Dadurch können sie von Angreifern ten IT-Ausgaben und werden sich im Jahr ben wie Firewall, VPN Gateway, Virus- problemlos und ohne Wissen der Besitzer 2020 auf über 100 Milliarden Dollar be- und Spamschutz, Authentifizierung und gekapert und zu einem aus Millionen von laufen, prognostiziert die amerikanische ein System zur Erkennung von Angriffen Geräten bestehenden, zentral gesteuerten Marktforschungsfirma IDC. auf einer Plattform vereinen. Netzwerk zusammengeschaltet werden. Am meisten Geld geben Unterneh- Kein Wunder ist der Bereich Cyber- Mit diesen sogenannten Botnetzen, einer men und Behörden für Sicherheitsdienst- sicherheit mittlerweile eines der beliebtes- Gruppe automatisierter Schadenpro- leistungen aus, vor allem für «Managed ten Betätigungsfelder für Risikokapital- gramme, greifen Hacker die Server Foto: Mischa Keijser / ISTL / Cultura / Keystone Bulletin N° 2/ 2017 — 27
— Privatsphäre — 90 Prozent der befragten Manager zu Protokoll, dass sie nicht imstande seien, einen Sicherheitsbericht zu verstehen. Des Weiteren seien ihre Unternehmen nicht auf einen grösseren Angriff vorbereitet. Und das, obwohl neun von zehn Unter- nehmen in den letzten fünf Jahren Ziel eines grösseren Cyberangriffs waren. Die Folgen einer Attacke können er- heblich sein. Ein Drittel der Unternehmen, die 2016 ein Datenleck vermeldeten, muss- te einen Verlust von 20 Prozent beim Um- satz, der Kundschaft und den Geschäfts- möglichkeiten hinnehmen. Das geht aus dem neuen «Annual Cybersecurity Report» des weltgrössten Netzwerkausrüsters Cisco hervor. 95 Prozent aller erfolgreichen An- griffe auf Unternehmen sind gemäss Un- tersuchungen auf menschliches Fehlver- halten zurückzuführen. Zu den häufigsten Fehlern gehören der Versand von E-Mails Zu den häufigsten Fehlern gehört der Versand von E-Mails mit heiklen Unterlagen Eingang zu einem Bunker in Amsteg (Uri), der zur Lagerung von Daten benützt wird. an falsche Empfänger. ihrer Opfer an und bringen sie zum immer ausgefeilter, es ist auch leichter mit heiklen Unterlagen an falsche Emp- Erliegen. denn je, sich das Rüstzeug für Angriffe fänger oder das Öffnen von mit Schadsoft- Der bisher prominenteste Botnetz- aller Arten zu beschaffen. Cybergangs ware bestückten E-Mails. Weit oben auf Angriff erfolgte vergangenen Oktober. Die verkaufen Werkzeuge, Informationen, der Liste ist auch das Einrichten von Stan- Websites von Internetriesen wie Amazon, Dienstleistungen und Rat im Darknet, dard-Namen und -Passwörtern durch die Netflix oder PayPal und Dutzenden ande- dem bei Kriminellen bevorzugt genutzten, firmeninterne IT. Dagegen helfen selbst ren viel besuchten Unternehmen wie Air- nur mit spezieller Software zugänglichen hohe Ausgaben in Cybersicherheit wenig. bnb, «The New York Times» und Twitter Teil des Internets. Die National Cyber Security Alliance, ein waren stundenlang nicht verfügbar, nach- In diesem Schattenbereich wird auch Verbund aus amerikanischen IT-Firmen dem ein Botnetz-Angriff die Server eines die Beute zum Kauf angeboten. Auf einem und dem US-Ministerium für Innere von den Unternehmen genutzten Netz- russischsprachigen Untergrund-Marktplatz Sicherheit, plädiert deshalb für mehr Mit- werkdienstleisters lahmgelegt hatte. Exper- etwa wurden letztes Jahr 70 000 geklaute arbeiterausbildung: «Die beste Sicherheits- ten vermuten, dass auf diese Weise eine Anmeldedaten für gehackte Server ange- technologie der Welt hilft nichts, wenn den Cyberwaffe getestet wurde. boten. Für nur 6 Dollar waren zum Bei- Mitarbeitern ihre Rolle und Verantwor- spiel die Zugangsdaten zum Regierungs- tung beim Schutz von heiklen Daten und Auch die Angreifer rüsten auf netzwerk eines EU-Staats zu kaufen. Firmenressourcen nicht klar ist.» Trotz des riesigen Angebots an Produkten Obschon viel Geld für die Cyber- und Dienstleistungen zum Schutz der abwehr ausgegeben wird, sind viele Unter- Daten, Systeme, Infrastrukturen, Konten nehmen und Behörden unzureichend auf und Privatsphäre wird das Internet nicht Cyberangriffe vorbereitet und räumen dem unbedingt sicherer. Parallel zum immer Kampf gegen die Cyberkriminalität wenig Helene Laube ist freie Journalistin in grösseren Angebot für die Verteidigung Priorität ein. In einer 2016 von der Nasdaq San Francisco. Sie war Gründungsmitglied rüsten die Angreifer laufend auf. Das und dem US-Sicherheitsanbieter Tanium der «Financial Times Deutschland» und deren Arsenal der Cyberkrieger wird nicht nur in Auftrag gegebenen Studie gaben über langjährige Silicon-Valley-Korrespondentin. 28 — Bulletin N° 2 / 2017 Foto: Martin Rütschi / Keystone
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