Bulletin - Privatsphäre Der Balanceakt zwischen Sicherheit und Freiheit - Credit Suisse

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Bulletin - Privatsphäre Der Balanceakt zwischen Sicherheit und Freiheit - Credit Suisse
CREDIT SUISSE

                                                           Bulletin
Seit 1895. Das älteste Bankmagazin der Welt. N° 2 / 2017
                 075360D

                                                                     Privatsphäre
                                                           Der Balanceakt zwischen Sicherheit und Freiheit
Bulletin - Privatsphäre Der Balanceakt zwischen Sicherheit und Freiheit - Credit Suisse
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                                       Z ü r i c h   I   G e n f   I   F r a n k f u r t   I   M a d r i d   I   S i n g a p u r   I   L o n d o n
Bulletin - Privatsphäre Der Balanceakt zwischen Sicherheit und Freiheit - Credit Suisse
— Editorial —

                                                    4
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                                                                          3
                                                                                 Es geht um uns

                                                                                 W
An dieser Ausgabe haben mitgearbeitet:                                                       arum braucht es die Privatsphäre? Seit der Aufklärung
                                                                                             wissen wir: zum Schutz unserer Freiheit. Doch was, wenn
1 – Wolf Lotter                                                                              etwas anderes auch die Freiheit garantieren könnte? Dann
Der Journalist und Autor mit österreichi-                                        würde die Privatsphäre hinfällig.
schen Wurzeln beschäftigt sich seit Jahren                                            Die amerikanische Rechtsforscherin Julie E. Cohen, von der dieses
mit den Schnittstellen zwischen wirtschaft-                                      Gedankenspiel stammt, argumentiert, die Privatsphäre müsse nicht
lichen, politischen und gesellschaftlichen                                       etwas anderes sichern, sondern habe uns selbst als Subjekt. Ohne
Fragen. Sein Essay geht der Frage nach,
                                                                                 den Schutz der Privatsphäre können wir uns nicht entwickeln, verlieren
wie viel Privatsphäre und wie viel Öffentlich-
                                                                                 wir unsere Fähigkeit zur Selbstreflexion – und letztlich unsere Identität.
keit wir heute wollen. Seite 6
                                                                                 Wir und der Schutz unserer Privatsphäre sind unzertrennlich.
2 – Helene Laube                                                                      Cohen und viele andere kluge Köpfe beschäftigt zurzeit der
Die Journalistin lebt seit dem Jahr 2000 in                                      Schutz der Privatsphäre. Sorgen macht sich auch der ehemalige Daten-
San Francisco, zunächst als Silicon-Valley-                                      schützer Hanspeter Thür: «Es gibt im digitalen Zeitalter keine harm-
Korrespondentin der «Financial Times                                             losen Daten mehr. Das realisieren die Leute viel zu wenig» (Seite 38).
Deutschland», zu deren Gründungsteam sie                                         Doch so einfach ist es nicht – das ist auch Thür bewusst.
zählte. In dieser Ausgabe schreibt sie über
einen der am schnellsten wachsenden Märkte

                                                                                 D
                                                                                           ie Menschen teilen ihre Daten heute relativ bereitwillig, weil
der IT-Branche: Onlinesicherheit. Seite 26
                                                                                           sie dafür auch etwas erhalten: Wer bei einem Loyalitäts-
3 – Iris Kuhn-Spogat                                                                       programm mitmacht, kann die gesammelten Punkte für eine
Die 52-Jährige ist eine erfahrene Wirtschafts-                                   Prämie eintauschen; wer einen modernen Chatdienst nutzt, kom-
journalistin und schreibt für verschiedenste                                     muniziert viel einfacher mit seinen Freunden; wer einmal die Vorzüge
Titel wie «Bilanz», «Handelszeitung» oder                                        einer Cloud-Lösung kennengelernt hat, will kaum mehr auf sie
«Women in Business». Als Mutter von zwei                                         verzichten.
Teenagern und als Frau, die nach eigenen                                              Diesen modernen Balanceakt zwischen Privatsphäre und Offen-
Angaben seit 1997 permanent online ist, war                                      heit greift der Einstiegsessay auf (Seite 6), und er wird sichtbar in der
sie die ideale Autorin für den Text zum an-
                                                                                 erstaunlichen Auslegeordnung über das Internet der Dinge (Seite 32).
geblich lockeren Umgang von Jugendlichen
mit der Privatsphäre online. Seite 48

                                                                                 E
                                                                                         inen anderen Zugang zum Thema hat die Schweizer Harvard-
4 – Christian Heinrich                                                                   Professorin und Verwaltungsrätin der Credit Suisse Iris Bohnet.
Der promovierte Mediziner und regelmäs-                                                  Sie sagt: «Vertrauen ist der Schlüssel zur Privatsphäre» (Seite 20).
sige «Zeit»-Autor war selten so an einem                                         Und der Immobilienspezialist der Credit Suisse Fredy Hasenmaile
Porträt interessiert wie an dem von Sophia                                       erklärt, warum es ein urmenschliches Bedürfnis ist, die eigenen vier
Genetics aus Saint-Sulpice: Das Start-up                                         Wände zu besitzen, und warum Wohneigentümer die glücklicheren
bringt künstliche Intelligenz, Big Data und                                      Bürger sind (Seite 62).
personalisierte Medizin zusammen und wird
                                                                                      Noch eine gute Nachricht: Im grossen Jugendreport sagen die
als nächstes «Einhorn» der Schweiz gehan-
                                                                                 Experten und zeigen die befragten Schülerinnen und Schüler, dass
delt, als Firma mit über einer Milliarde
Marktwert. Seite 66                                                              sich die Jugendlichen im digitalen Raum gut zu schützen wissen.
                                                                                 Wenn es Nachholbedarf gibt, ist es eher bei den Erwachsenen.

Das Cover stammt von Michael Wolf. Der vielfach                                  Wir wünschen eine spannende Lektüre.
prämierte deutsche Fotograf (u. a. gewann er zwei Mal                            Ihre Redaktion
den World Press Photo Award) wuchs mehrheitlich
in den USA und Kanada auf und lebt heute in
Hongkong. Wolf hat 13 Fotobücher veröffentlicht.

Fotos: Sarah-Esther Paulus; Mika Jakubal; zVg (2)   Cover: Michael Wolf / laif                                                            Bulletin N° 2 / 2017 — 1
Bulletin - Privatsphäre Der Balanceakt zwischen Sicherheit und Freiheit - Credit Suisse
Wir verstehen
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     Wir wollen die Bedürfnisse all unserer Kunden verstehen. Darum bauen wir Barrieren ab,
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     credit-suisse.com/barrierefreiheit

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Bulletin - Privatsphäre Der Balanceakt zwischen Sicherheit und Freiheit - Credit Suisse
— Privatsphäre —

                                                                                                      Inhalt

     4        Leserbriefe / Impressum                                            32             Das neue Nervensystem          48   Denn sie wissen, was sie tun
                                                                                                Das Internet der Dinge              Haben Jugendliche ein Problem

     6
                                                                                                und das Dilemma Komfort             mit der Privatsphäre im Internet?
              Der Balanceakt                                                                    versus Privatsphäre.                Nein, aber die Erwachsenen.

                                                                                                                               58
              Vom Abwägen zwischen
              Sicherheit, Bequemlichkeit                                                                                            Düstere Vorahnung
              und Freiheit.                                                                                                         Die Angst vor der totalen
                                                                                                                                    Überwachung hat Klassiker der
                                                                                                                                    Weltliteratur hervorgebracht.

                                                                                                                               62   Fata Morgana Wohneigentum?
                                                                                                                                    Immobilienexperte Hasenmaile
                                                                                                                                    über sinkende Mieten, getrenntes
                                                                                                                                    Wohnen und digitales Bauen.

                                                                                                                               66   Im Innersten des Menschen

                                                                                 38
                                                                                                                                    Ein Start-up vom Genfersee
                                                                                                «Privatsphäre                       revolutioniert die Medizin.

10
                                                                                                ist nicht verhandelbar»
              Privat, halbprivat                                                                Der ehemalige eidgenössische
              Eine Bilderreise durch die                                                        Datenschützer Hanspeter Thür
              Privatsphäre unterschiedlichster                                                  spricht Klartext.

                                                                                 42
              Menschen in der ganzen Welt.

20
                                                                                                Jäger in der Krise
              «Vertrauen ist der Schlüssel                                                      Warum das Geschäftsmodell
              zur Privatsphäre»                                                                 der Paparazzi von Hollywood
              Harvard-Professorin Iris Bohnet                                                   stark unter Druck ist.

                                                                                                                               68
              über Vertrauen und die Gefahr
              beim Hören auf die Intuition.                                                                                         Bitte nicht stören

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                                                                                                                                    Das Bedürfnis nach Rückzug
              Ein sicheres Geschäft?                                                                                                ist im Tierreich unterschiedlich
              Durch Cyberkriminalität                                                                                               ausgeprägt.

                                                                                                                               72
              verursachte Schäden
              kosten Milliarden.                                                                                                    Unter vier Augen

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                                                                                                                                    Die Illustratorin Sarah Mazzetti

                                                                                 45
              Die Firma ist Sache der Familie                                                                                       über die Schwierigkeit, etwas
              Die sehr privaten Grundpfeiler                                                    Muss man (nicht) wissen             privat zu halten.
              der Schweizer Wirtschaft.                                                         Überraschende Zahlen
                                                                                                und Fakten (sowie ein Quiz)
                                                                                                über die vernetzte Welt.

Fotos: Thomas Meyer / Ostkreuz; Cyrill Matter; Manfred Mehner / Okapia; Illustration: Matt Blease                                                Bulletin N° 2 / 2017 — 3
Bulletin - Privatsphäre Der Balanceakt zwischen Sicherheit und Freiheit - Credit Suisse
— Privatsphäre —

                                                                               CREDIT SUISSE

                                                            Bulletin
 Seit 1895. Das älteste Bankmagazin der Welt. N° 1 / 2017

                                                                                                                      Reaktionen                                                                Service
                                                                                                                      Bulletin «Das neue Asien», 1/2017
                  075360D

                                                                       Das neue Asien
                                                            Eine kurze Reise durch die aufregendste Region der Welt

                                                                                                                                                                                                                    Credit Suisse
Älteste und Beste                                                                                                                                  Grosses Interesse
Die neueste Nummer des Bulletin ist                                                                                                                Seit über einem Jahr lese ich das Bulletin
                                                                                                                                                                                                                    Bulletin
in jeder Beziehung hervorragend.                                                                                                                   und schätze es für seine informativen                            kostenlos
Ich kann vor allem die Texte über China                                                                                                            und analytischen Beiträge. Die Ausgabe                           abonnieren!
gut beurteilen – im August 1974 leitete                                                                                                            zum Thema Asien habe ich allgemein               Schreiben Sie ein Mail mit Ihrer Adresse
ich die Swiss Industrial Technology                                                                                                                mit grossem Interesse gelesen, und               an: abo.bulletin@credit-suisse.com
Exhibition in Peking. Das Bulletin ist                                                                                                             besonders aber jene Artikel über Indien.
nicht nur die älteste schweizerische                                                                                                               R. D. N. Rao, Hyderabad, Indien
Bankenpublikation, sondern auch nach                                                                                                                                                            Wir freuen uns über jeden Leserbrief.
                                                                                                                                                                                                Die Redaktion behält sich vor, eine Auswahl
wie vor die beste.
                                                                                                                                                                                                zu treffen und Zuschriften zu redigieren.
Hans J. Halbheer, Zollikerberg                                                                                                                                                                  Schreiben Sie uns:
                                                                                                                                                   Überraschende Vielseitigkeit
                                                                                                                                                   Ich bin immer wieder überrascht              E-Mail: bulletin@abk.ch
                                                                                                                                                   über die Vielseitigkeit der Themen und       Adresse: Credit Suisse AG,
Indien macht grosse Fortschritte                                                                                                                   Berichte, die mich übrigens trotz            Redaktion Bulletin, HTG, 8070 Zürich
Den Ansichten von Parag Khanna                                                                                                                     meiner über 90 Jahre immer noch sehr
möchte ich in einem Punkt wider-                                                                                                                   interessieren.
                                                                                                                                                                                                Folgen Sie uns!
sprechen: Indien, sagt Khanna, sei arm                                                                                                             Werner Karth-Weiss, Basel
                                                                                                                                                                                                    www.twitter.com/creditsuisse
und chaotisch. Das mag oberflächlich
                                                                                                                                                                                                    www.facebook.com/creditsuisse
betrachtet so sein, aber heute können
die meisten Inder ihren Alltag selbst                                                                                                                                                               www.youtube.com/creditsuisse
bestimmen. Man muss auch die Grösse                                                                                                                Geschäfte per Telex                              www.flickr.com/creditsuisse
des Landes beachten, den fest verwur-                                                                                                              Ich habe jeden Artikel gelesen und
zelten Glauben an die Demokratie –                                                                                                                 stelle fest, wie stark sich die asiatische
                                                                                                                                                                                                Archiv
so rudimentär diese für Aussenstehende                                                                                                             Geschäftswelt verändert hat. Wenn ich        Alle bisherigen Ausgaben des Bulletin
auch wirken mag –, die enorme                                                                                                                      mir überlege, wie ich früher mit den         stehen in digitaler Form zur Verfügung:
Bevölkerungsgrösse mit unterschied-                                                                                                                Asiaten Importgeschäfte gemacht habe,        www.credit-suisse.com/bulletin
lichen kulturellen, ethnischen und                                                                                                                 und sehe, wie es heute abläuft, ist das
religiösen Wurzeln sowie die Vielspra-                                                                                                             unglaublich. Früher musste ich alles mit
chigkeit. Mit einer guten politischen                                                                                                              Telex machen. Der Fax kam erst An-
Führung wird Indien weiterhin grosse                                                                                                               fang 80er Jahre und das Handy Anfang
Fortschritte machen, die allen                                                                                                                     90er. Auch die Reisen nach Asien
Bevölkerungsteilen zugutekommen.                                                                                                                   waren viel aufwendiger, die Flugzeiten
Phiroze M. Daruwala, Mumbai, Indien                                                                                                                waren länger und Flugtickets
                                                                                                                                                   kosteten doppelt so viel wie heute.
                                                                                                                                                   Andreas Bähler, Wichtrach

Impressum: Herausgeberin: Credit Suisse AG, Projektverantwortung: Christoph G. Meier, Mandana Razavi
Mitarbeit: Jessica Cunti, Katrin Schaad,Yanik Schubiger, Simon Staufer, Inhaltskonzept, Redaktion: Ammann, Brunner
& Krobath AG (www.abk.ch), Gestaltungskonzept, Layout, Realisation: Crafft Kommunikation AG (www.crafft.ch),
Fotoredaktion: Studio Andreas Wellnitz, Berlin, Druckvorstufe: n c ag (www.ncag.ch),
Übersetzung: Credit Suisse Language & Translation Services, Druckerei: Stämpfli AG, Auflage: 110 000
                                                                                                                                                                                                                                                    PERFORM ANCE

Redaktionskommission: Oliver Adler, Felix Baumgartner, Thomas Beyeler, René P. Buholzer, Béatrice Fischer,
                                                                                                                                                                                                                                                           neutral
André Helfenstein, Anja Hochberg, Thomas Hürlimann, Manuel Rybach, Frank T. Schubert, Robert Wagner,                                                                                                                                                    Drucksache
                                                                                                                                                                                                                           No. 01-17-330151 – www.myclimate.org
Michael Willimann, Gabriele Zanzi                                                                                                                                                                                          © myclimate – The Climate Protection Partnership

4 — Bulletin N° 2 / 2017
Bulletin - Privatsphäre Der Balanceakt zwischen Sicherheit und Freiheit - Credit Suisse
Unser Engagement.
Weniger Jugend-
arbeitslosigkeit.

Mit der Initiative zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit engagiert sich die Credit Suisse in der Schweiz
seit 2010 für die Zukunftschancen von Berufseinsteigern. Über 8800 junge Erwachsene haben durch unsere
Partnerorganisationen und durch uns bereits Unterstützung erhalten. Seit 1. April 2015 werden die Angebote
vom rechtlich selbständigen Verein «Check Your Chance» mitgetragen und durch die Partnerorganisationen
nachhaltig weitergeführt.

credit-suisse.com/jugendarbeitslosigkeit
Bulletin - Privatsphäre Der Balanceakt zwischen Sicherheit und Freiheit - Credit Suisse
— Privatsphäre —

                                                                  i ch  t ig  ?
                                                    it ät ist r                  t   es?
                                            ti m                       ra  u  ch
                             ie v iel In                 h k e i t  b
                           W                ff  e n  tlic                  r a  g en
                                     el Ö                         se    F
                           Wie vi            o   rt a  u f  d i e
                                                                           e n
                                  A   n t w                      i s  c h
                            Die                    ä g e n  zw                   i t  u n d
                                    n   A   b w                     l i c hk   e
                            ist  ei                    e qu  e m                      on
                                        h   e i t , B                     i tu  a t i
                                                                        S
                              Sicher das je nach den muss.

                                                                                                                     a
                                  e ih  e it ,                 e n    w   e r
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                                                                                                                   l
                                                 e  n o m  m
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                                                                                                                 a
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                                   Von W

                                                                      r B
                                    D e                         Wenn es ein zuverlässiges Messinstrument für den Zeitgeist
                                                                gibt, dann sind es die Bestsellerlisten. Seit einigen Monaten
                                                                taucht dort wieder «1984» auf, die düstere Zukunftsvision
                                                                des 1950 verstorbenen George Orwell. Das ist Welt-
                                                                literatur, wird also oft zitiert und gekauft, aber selten ge-
                                                                lesen. Das ist vielleicht auch diesmal so, und das ist
                                                                schade. Denn man kann von Orwell, dem grossen
                                                                Freund der persönlichen Freiheit und Widersacher
                                                                alles Totalitären, eine Menge lernen. (Wer trotzdem
                                                                die Abkürzung nehmen will: Ab Seite 58 gibt es die
                                                                Zusammenfassung von «1984» und sechs anderen
                                                                dystopischen Werken.)

6 — Bulletin N° 2 / 2017
Bulletin - Privatsphäre Der Balanceakt zwischen Sicherheit und Freiheit - Credit Suisse
— Privatsphäre —

                                                     a k t
    n c e                                                               duelle Rechte nicht denkbar. Sie ist die Basis für autonomes Han-
                                                                        deln. Privatsphäre, Freiheit und Eigentum sind eng miteinander
                                                                        verbunden und bedingen sich geradezu gegenseitig. «My home
                                                                        is my castle» steht seit dem 17. Jahrhundert dafür, dass Privat-

a
                                                                        sphäre und Privateigentum auch von der Staatsgewalt zu respek-
                                                                        tieren sind – und gegen sie verteidigt werden dürfen.
                                                                              Privatsphäre ist das Recht, in seinen vier Wänden so zu
                                                                        leben, wie man leben will (innerhalb des gesetzlichen Rahmens).
                                                                        Egal, ob das den anderen, dem Staat, dem Chef passt oder nicht.
                                                                        Egal, ob das andere vielleicht als «unmoralisch», «gesellschaftlich
                                                                        verpönt» oder «politisch unkorrekt» erachten.

                                                                        Das Öffentliche dient dem Glück des Individuums
In «1984» gerät ein kleiner Mann, Winston Smith, ins Mahlwerk           Die Privatsphäre ist Freiraum. Die ewige Frage ist: Wie viel
eines menschenverachtenden Kollektivs, das sich selbst als gute         braucht man davon, oder besser: Wie viel lassen «die anderen»
Gemeinschaft versteht. In Big Brothers Welt ist alles geregelt und      davon zu? Wird der Freiraum selbst gewählt oder wird er von oben
überwacht. Es gibt keine Privatsphäre mehr, nicht einmal mehr           gewährt, vom Staat, den Mitmenschen, dem Anführer, den Pries-
im intimsten Bereich der eigenen vier Wände: Der Fernseher              tern und anderen Autoritäten? Das ist seit der Antike eine wich-
ist gleichzeitig Überwachungskamera – das Synonym für eine              tige Frage. Und fast immer beruft sich dabei die Autorität auf
hoffnungslose Welt. Das spricht noch mehr als Folter, Mord und          das «Gemeinwohl», wenn es darum geht, die Privatsphäre zurecht-
permanente Lüge, die sich als Wahrheit ausgibt, für den Plot            zustutzen oder Eigentumsrechte einzuschränken (zuweilen geht
George Orwells.                                                         es auch um Sicherheit, dazu später mehr).
       Wir ahnen es, und die Menschen, die derzeit «1984» kaufen,             Das Mittelalter war auch deshalb finster, weil es mit dem
auch: Wo Unsicherheit, Terror, Umbruch und eine neue Weltord-           Individuum nichts anfangen konnte. Das Private war eine Sünde.
 nung die Schlagzeilen bestimmen, wird der Ruf nach Sicherheit,         Erst danach kam das Licht, allmählich. Die Aufklärung ist der bis
  Stabilität und Kontrolle laut. Und das Private, das Eigene, es ver-   heute anhaltende Versuch, die Grenzen des Privaten und Öffent-
   liert zunehmend an Boden. Der Preis der Sicherheit ist immer         lichen zu bestimmen. Wie viel Freiraum passt zu wie viel Gesell-
     auch der Verlust der eigenen Entscheidung.                         schaft? Und welches ist der richtige Mix zwischen meiner Privat-
                                                                        heit und meinem Sicherheitsanspruch?
     Das Recht auf die eigenen vier Wände                                     Der britische Intellektuelle John Locke erdenkt im 17. Jahr-
     Sind unsere Ängste vor dem Schwinden der Privatsphäre              hundert die Grundlage eines Ausgleichs zwischen den widerstre-
      übertrieben? Oder ist es unser Streben nach Sicherheit, das       benden Kräften der Privatsphäre und der Öffentlichkeit. Ein guter
       keine Grenzen mehr kennt? Haben wir nicht so viele Frei-         Staat fördert die Selbstbestimmung des Einzelnen nach Kräften.
        heiten wie keine Generation vor uns? Und sind es nicht oft      Er beschränkt sie nur dort, wo Leben, Glück und Fortschritt der
         dieselben Leute, die sich auf Facebook über den Verlust        Person bedroht sind, in Kriegs- und Notzeiten etwa. Ansonsten ist
          der Privatsphäre beklagen, die kurz darauf ein Foto ihres     der Job des Staates sehr einfach: alles zu tun, um dem Individuum
           Abendessens in die Welt posten? Privatheit ist immer         zu nutzen. Das Öffentliche dient dem Glück des Individuums.
            auch ein Paradox. Sie lebt von Widersprüchen, die                 Das führt zu Gesellschaftsverträgen, Verfassungen, Eigen-
             sich gegenseitig herausfordern.                            tumsgarantien, Gesetzen und Revolutionen. Aber nichts davon
                    Die Privatsphäre ist eine der grössten Errun-       machte Sinn, wenn nicht klar wäre, dass das Verhältnis zwischen
               genschaften der Moderne und ein fundamentales            Privatsphäre und Öffentlichkeit eine Art Dauerverhandlung not-
                Menschenrecht. Ohne Privatsphäre sind indivi-           wendig macht. Dazu braucht es klare Regeln, Rechtssicher-

                                                                                                                       Bulletin N° 2/ 2017 — 7
Bulletin - Privatsphäre Der Balanceakt zwischen Sicherheit und Freiheit - Credit Suisse
— Privatsphäre —

                                          De
heit, aber auch Vertrauen, dass jede Seite es gut mit der jeweils                    rB
                                                                                                                               aal
anderen meint.
      Das bedeutet nicht, dass jeder tun und lassen darf, worauf
er gerade Lust hat. Aber es ergibt sich daraus ein Auftrag an Staat
und Gesellschaft und damit die Öffentlichkeit, sich so wenig wie
möglich in die Angelegenheiten des Einzelnen einzumischen.
Die Privatsphäre kann nicht weit und gross genug sein.

Schöner wohnen statt besser leben
Aber Vorsicht. Nur Privates reicht nicht. Eine intensive Privat-
sphäre hatte auch das Biedermeier. Im Polizei- und Überwachungs-
staat des Fürsten Metternich lebten die Menschen in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts nach innen, weil es draussen zu gefähr-
lich war. Jeder durfte sich nach seiner Façon einrichten – schöner
wohnen statt besser leben. Man soll auch das nicht gering schät-       von Millionen unbescholtener Reisender erfassen. Aber es ist eben
zen. Es ist ein existenzielles Recht. Aber wer sich damit begnügt,     auch ein wichtiges Mittel im Kampf gegen den Terror. Es wäre
wird ein Biedermeier, einer, der nach den ironisch gemeinten           Willkür, wenn diese Massnahmen grundlos erfolgten. Und es
Liedzeilen des deutschen Dichters Hoffmann von Fallersleben            wäre Willkür, wenn sie dauernd eingesetzt würden, auch dann,
«Die Gedanken sind frei» singt: «Ich denke, was ich will / und was     wenn längst keine Gefahr mehr besteht. Wann das ist? Schwer zu
mich beglücket,/doch alles in der Still/und wie es sich schicket.»     sagen. Die Privatsphäre ist eine feste Grösse, aber ihre Grenzen
       Eine Privatsphäre aber, die schweigt, ist ein Gefängnis. Muss   sind beweglich – je nach Situation.
also, wie die 68er forderten, «das Private auch politisch» und damit
öffentlich sein? Ende der achtziger Jahre formulierte die ameri-       Der Mensch entscheidet
kanische Trendforscherin Faith Popcorn ihre These vom «cocoo-          Das gilt auch für neue Technologien. Computer und Automation
ning». Gemeint war damit der Rückzug der Bürger in ihre Woh-           können viel zur Befreiung von stupider Arbeit beitragen, aber
nungen, das raupenhafte Einspinnen in einen Kokon. Die ein-            gleichzeitig auch ein nie gekanntes Mass an Kontrolle und Mani-
flussreiche Generation 68 hat das vielfach kritisiert. Sie verlangte   pulation erzeugen. Ein Smartphone oder Tablet kann nützlich
permanente Rechenschaft vom Individuum, und solche Töne sind           und unterhaltend sein und die Grenzen der persönlichen
heute wieder vom äusseren linken und rechten Spektrum weltweit         Mobilität deutlich erweitern. Es weiss aber, wo sich der Be-
zu hören.                                                              nutzer bewegt, die auf ihm gespeicherten Daten können zum
       Hier haben einige nicht verstanden, was offene Gesellschaft     Schaden ihres Eigentümers missbraucht werden.
bedeutet. Eine offene Gesellschaft ist stolz auf die Grenzen zwi-             Gewiss liesse sich mit der Abschaffung des Bargelds
schen Privatem und Öffentlichem, auf die maximalen Freiräume,          die eine oder andere kriminelle Tat verhindern. Aber will
die sich ihre Bürger nehmen, auf ihre Unterschiede und Vielfalt.       man dem Staat die totale Kontrolle über sein Eigentum
Niemand kann sich in Ruhe entwickeln, wenn Big Brother kont-           geben? Eine Freiheit, die ohne das Recht auf materielle
rolliert, ob das regelkonform geschieht. Es ist dabei irrelevant, ob   Selbstbestimmung auskommen muss – nichts anderes
man es «gut meint» oder bloss herrschen will. Privatheit ist ein       ist ja das persönliche Eigentum –, ist eine Farce. Wer
Grundrecht. Es ist auch das Recht, in Ruhe gelassen zu werden.         kann das Recht auf Privateigentum garantieren, wenn
       Dieses Recht kann bewirken, dass öffentliche Plätze mit         es abgeschafft ist? Eine Taschengeldgesellschaft,
Videokameras bestückt werden, um Anschläge zu verhindern und           die von der politischen Willkür von oben abhängig
Verbrechen zu minimieren. Das Speichern von Flugpassagier-             ist? Das ist, abgewogen, die grössere Gefahr als die,
daten ist die Grundlage für Bewegungsprofile, die das Verhalten        die es zu bannen gilt.

8 — Bulletin N° 2 / 2017
— Privatsphäre —

  Autonomes Fahren kann Unfälle vermeiden. Andererseits über-                Der Respekt vor der Privatsphäre der Kunden und Bürger ist eine
  nimmt das System in Ballungszentren die Kontrolle über das                 der wichtigsten Geschäftsgrundlagen des 21. Jahrhunderts. Man
  Auto. Aus dem Fahrer wird ein Passagier. Das ist okay, wenn der            muss an andere denken, wenn man sich etwas Gutes tun will. Ein-
  das auch will. Es ist nicht okay, wenn wir keine Wahl mehr haben,          fühlungsvermögen ist gefragt oder, wie die Philosophin Hannah
  den Autopiloten auszuschalten. Der Mensch denkt. Der Mensch                Arendt es so brillant formulierte, «repräsentatives Denken».
  lenkt. Und wenn er es nicht tut, muss das seine Entscheidung sein.               Das ist eine Art moralischer Imperativ für unsere Zeit, der
                                                                             uns helfen kann, die Balance zwischen den eigenen und anderen
  Der Schlüssel: Eigenverantwortung und kritisches Denken                    Interessen zu finden. Dieses Denken setze voraus, so Arendt in
  Wer Freiräume wahren will, muss Chancen und Gefahren wahr-                 «Wahrheit und Politik», ohne die eigene Identität aufzugeben,
  nehmen – und seine Entscheidungen treffen. Die nimmt uns                   einen Standort in der Welt einzunehmen, der nicht der eigene ist,
  niemand ab. Und sie sind nicht einfach und werden es auch nicht,           und von diesem Standort aus eine eigene Meinung zu bilden.
  weil es eben keine Gewissheit gibt. Technik suggeriert das zuwei-                Rücksicht, Berücksichtigung – also Respekt – ist, was die
  len. Aber sie kann tatsächlich nichts anderes, als uns bei der             Waage von Privatsphäre und Sicherheit in der Balance hält.
  Umsetzung von Entscheidungen, die wir getroffen haben, zu
  unterstützen. Wenn wir nicht weniger Freiheit haben wollen,
  müssen wir mit dieser Wahrheit leben.
        Der Schlüssel zu einer guten Balance aus Privatsphäre und
  Sicherheit heisst Eigenverantwortung und kritisches, eigenständiges
                                                                                        Eine Ges

ala
      Denken. Deshalb ist es so wichtig, Selbstbewusstsein und Ent-
            scheidungsfreudigkeit zu lernen – und zu lehren. Eine                                  ellschaf t
                 Gesellschaft, die nur mehr aus Risikogesellschaftern                   aus ängstl
                       besteht, aus ängstlichen Bürgern, die der Staat                            ichen Bür
                            mit Rundum-Fürsorge versichern muss,
                                                                                       die der St             gern,
                                  bringt nichts mehr zustande. Damit
                                                                                                  aat mit
                                       ist nicht nur kein Staat zu ma-
                                                                                       Rundum-

               nce
                                             chen, sondern auch kein
                                                   Geschäft.                                     Fürsorge
                                                                                      versichern
                                                                                                  muss, brin
                                                                                      nichts me                gt
                                                                                                hr zustan
                                                                                                           de.

                                                                    akt
                      Wolf Lotter ist Mitbegründer und Autor des
                      Wirtschaftsmagazins «brand eins». Das Branchenblatt
                      «Wirtschaftsjournalist» verlieh ihm kürzlich den
                      Titel des Wirtschaftsjournalisten des Jahres 2016 in
                      der Kategorie «Wirtschaftspolitik und Gesellschaft».

                                                                                                                           Bulletin N° 2/ 2017 — 9
— Privatsphäre —

Was öffentlich sein soll und was nicht, ist nicht
zuletzt eine kulturelle Frage. Eine fotografische Reise
um die Erde – und darüber hinaus – in die
Privatsphäre unterschiedlichster Menschen und Orte.

10 — Bulletin N° 2 / 2017
— Privatsphäre —

                                                        Die perfekte Stadt
                                                        S O N G D O C I T Y, S Ü D K O R E A
                                                        Nahe der Hauptstadt Seoul wächst ein Geschäfts-
                                                        viertel, das auf dem Reissbrett entstanden ist: Die
                                                        durchgeplante urbane Welt wird bis ins Jahr 2020 auf
                                                        Land gebaut, das dem Wattenmeer abgerungen
                                                        wurde – mit Wohnraum für 70 000 und Arbeitsplätze
                                                        für 340 000 Menschen. Die Stadt der Zukunft ist
                                                        grün: Die Hälfte der Fläche besteht aus Parks. Sie ist
                                                        smart: Durch eine durchgehende Vernetzung und
                                                        mit Sensoren wird der Energie- und Ressourcenver-
                                                        brauch drastisch gesenkt. Und schliesslich ist sie
                                                        komplett überwacht: All die Kameras, Chips und
                                                        Sensoren zeichnen zum Zwecke der Optimierung des
                                                        Energieverbrauchs auch jeden Schritt der Stadt-
                                                        bewohner auf.

Foto: Giulio Di Sturco / Institute                                                    Bulletin N° 2/ 2017 — 11
— Privatsphäre —

                                                                                                                  Allein unter vielen
                                                                                                                                                J A PA N
                                                                                                            3,1 Milliarden Fahrgäste benutzen jedes Jahr
                                                                                                                 die Tokioter U-Bahn, das meistbenutzte
                                                                                                                    Untergrundverkehrssystem der Welt.
                                                                                                              Täglich fahren rund 8 Millionen Japaner in
                                                                                                                beengten Verhältnissen zur Arbeit. «Der
                                                                                                               Spiegel» nannte es «die Knautschzone des
                                                                                                                   Kapitalismus»: In der U-Bahn würden
                                                                                                                   Individuen zur transportierten Masse.
                                                                                                                  Für Frauen gibt es spezielle Wagen: der
                                                                                                                   einzige Ort, um dem unvermeidlichen
                                                                                                              Körperkontakt mit männlichen Fahrgästen
                                                                                                               auszuweichen – falls noch Plätze frei sind.

Heimat auf Zeit
MONGOLEI
Die Dukha sind mongolische Rentierhirten, die nomadisch leben. Das ist für sie aber keine Selbstverständ-
lichkeit: In den achtziger Jahren bis zum Ende der Mongolischen Volksrepublik wurden die Dukha vom
kommunistischen Regime gezwungen, in zwei Kollektiven sesshaft zu werden. Nach dem Zusammenbruch
der Sowjetunion zogen sie wieder in die Wälder der Taiga, noch heute leben etwa vierzig nomadische
Familien dort. Das Bild zeigt eine mobile Siedlung in Zuun Taiga, etwa 17 Kilometer von der russischen
Grenze entfernt.

12 — Bulletin N° 2 / 2017                                                                                                           Foto: Jeroen Toirkens
— Privatsphäre —

Foto: Michael Wolf / Laif                      Bulletin N° 2/ 2017 — 13
— Privatsphäre —

                                               Einsam
                                               im Universum
                                               I N T E R N AT I O N A L E
                                               R A U M S TAT I O N I S S
                                               Die italienische Astronautin
                                               Samantha Cristoforetti arbeitet
                                               bei der European Space Agency
                                               (ESA) und ist die erste Italienerin
                                               im All. Ihr Arbeitsplatz ist die
                                               Raumstation ISS (International
                                               Space Station), wo sie sich
                                               zum Ruhen in eine Kabine von
                                               der ungefähren Grösse einer
                                               Telefonzelle zurückziehen kann.
                                               Die ISS-Mission «Futura», auf
                                               der dieses Bild entstanden ist,
                                               dauerte vom 23. November 2014
                                               bis zum 11. Juni 2015.

14 — Bulletin N° 2 / 2017                         Foto: NASA / Science Photo Library / Keystone
— Privatsphäre —

Ruhe, bitte
AGENTUR HI-RES!, BERLIN-NEUKÖLLN
Was auf diesem Bild aussieht wie eine schwer verständliche Kunstinstallation, hat einen ganz einfachen und
praktischen Hintergrund: Bei der Digitalagentur Hi-ReS! mit 80 Mitarbeitenden in Berlin-Neukölln
zieht man sich für ein Telefongespräch zurück in solche schwarzen Boxen, wo man völlig ungestört sprechen
kann. Das moderne Bürodesign ist übrigens preisgekrönt – und es werden noch Mitarbeitende gesucht.

       Foto: Thomas Meyer / Ostkreuz                                                                         Bulletin N° 2/ 2017 — 15
— Privatsphäre —

16 — Bulletin N° 2 / 2017                      Foto: Luca Zanetti / Laif / Keystone
— Privatsphäre —

Die Insel der Glückseligen
S A N TA C R U Z D E L I S LOT E , K O L U M B I E N
Die am dichtesten besiedelte Insel der Welt ist nur etwa 1,2 Hektaren gross und komplett
bebaut. Das künstliche Eiland liegt rund 20 Kilometer nordwestlich der Küste Kolumbiens und
hat in knapp hundert Gebäuden Platz für 1200 Menschen. Es gibt keinen Arzt, keine konstante
Trinkwasserversorgung und bloss einen Generator, der nicht immer in Betrieb ist. Von einem
Reporter gefragt, was die Insel trotzdem so lebenswert mache, sagte ein Bewohner: «Es gibt hier
keine Gewalt, wir brauchen keine Polizei, wir kennen uns alle und geniessen das Leben.»

                                                                         Bulletin N° 2/ 2017 — 17
— Privatsphäre —

WG für Gründer
EMBASSY NETWORK, SAN FRANCISCO
Es könnte der Eindruck entstehen, dass hier das Wohnzimmer einer nicht ganz durchschnittlichen ameri-
kanischen Familie abgebildet ist. Tatsächlich handelt es sich aber um eine ungewöhnliche Wohngemeinschaft:
Im «The Embassy» in San Francisco leben vor allem Start-up-Gründer und Leute aus der Technologiewelt
zusammen. 13 Menschen unter einem Dach versuchen Raum und Leben zu teilen und neue Formen
des Wohnens auszutesten.

18 — Bulletin N° 2 / 2017                                                                                    Foto: Winni Wintermeyer
— Privatsphäre —

Auf der Flucht
HOLZ BOOT VOR DE R LI BYSCH E N KÜ STE
Rund 700 Migranten waren im Sommer 2005 in zwei Holzbooten unterwegs, als sie von der Organisation
Médecins Sans Frontières (MSF) aufgegriffen wurden. Diese Flüchtlinge konnten gerettet werden,
doch über 5000 ertranken letztes Jahr im Mittelmeer. Die Boote sind überfüllt und kaum seetauglich.
Und zwischen den verschiedenen Flüchtlingsgruppen kommt es immer wieder zu Konflikten mit
teilweise tödlichem Ausgang.

     Foto: Paolo Pellegrin / Magnum Photos / Keystone                                        Bulletin N° 2/ 2017 — 19
— Privatsphäre —

«Vertrauen ist
der Schlüssel zur
Privatsphäre»
       Die Schweizer Harvard-Professorin Iris Bohnet hält ein Plädoyer gegen
       die Intuition, erklärt, wie man Jobinterviews richtig gestaltet, und warnt vor
       den Gefahren auf Social Media.
       Von Mandana Razavi und Simon Brunner (Interview) und Yves Bachmann (Fotos)

20 — Bulletin N° 2 / 2017
— Privatsphäre —

Frau Bohnet, zuerst eine einfache Frage:   das Beste zu geben bei der Arbeit,         Status, Einkommen, Vermögen, Macht:
Was treibt den Menschen an?                aber auch auszuharren in einem miesen      All das beeinflusst uns von aussen. Aber
Sie meinen das vielleicht ironisch, aber   Job, um die Familie zu ernähren, oder      wenn Sie mich fragen, was den Menschen
darauf gibt es tatsächlich eine kurze      einen Gefängnisaufenthalt zu überstehen.   wirklich antreibt, dann sind es nicht
Antwort: die Leidenschaft.                                                            diese Dinge, sondern unser Innerstes. Und
                                           Sie sind studierte Ökonomin.               Leidenschaft ist ein guter Sammelbegriff
So einfach?                                Ja. Welche Antwort hätten Sie erwartet     für die inneren Kräfte, die man auch
Ich hätte auch sagen können: «Wissens-     von mir? Dass Geld den Menschen            als intrinsische Motivation bezeichnet.
durst» oder «der Sinn des Lebens». Aber    antreibt?
Leidenschaft geht tiefer. Sie bringt uns                                              Ihre Forschung befasst sich mit Vertrauen aus
dazu, zu arbeiten, zu lieben, am Morgen    Vielleicht, oder etwas allgemeiner:        verhaltensökonomischer Sicht: Wie
joggen zu gehen, Blumen zu kaufen,         Nutzenmaximierung.                         hängt es mit der Privatsphäre zusammen?

                                                                                                              Bulletin N° 2/ 2017 — 21
— Privatsphäre —

            «Vertrauen steigert die Effizienz»: Verhaltensökonomin Bohnet.

Je besser ich jemanden kenne, desto mehr              men mit seinem Namen und seiner
kann ich ihm oder ihr vertrauen. Und                  Adresse. Das ersparte mir den Aufwand,
je besser ich jemanden kenne, desto näher             nach Hause gehen zu müssen und
lasse ich sie oder ihn an mich heran. Der             zurückzukommen. Als ich ihm dann einen
Schlüssel zur Privatsphäre ist Vertrauen.             Check schickte, legte ich eine Schachtel
                                                      Pralinen dazu – also eine Art Zinsen.
Der Volksmund sagt: Vertrauen ist gut,                Vertrauen steigert zweifelsohne die
Kontrolle ist besser.                                 Effizienz, es macht den Kuchen grösser.
Man kann über Kontrolle viel erreichen,
das stimmt. Aber sie ist teuer. Wird jeder            Ob man jemandem vertraut oder nicht,
Passagier im Tram kontrolliert, wird                  hängt auch mit dem Ruf zusammen.
niemand mehr schwarzfahren – aber ist                 Manchmal ist die eigene Meinung
das effizient?                                        weniger wichtig als das, was andere über
                                                      jemanden denken. Das ist die Macht der
Der kürzlich verstorbene Wirtschafts-                 Reputation. Und mit dem technischen
                                                                                                  Iris Bohnet, 51, geboren in
nobelpreisträger Kenneth J. Arrow sagte:              Fortschritt nimmt diese Macht zu. Bevor     Luzern, ist Verhaltensökonomin
«Sich auf das Wort anderer Leute verlassen            wir etwas konsumieren, schauen wir heute    und Professorin an der Harvard
zu können, erspart eine Menge Aufwand                 erst mal die Bewertung an. Amazon,          Kennedy School sowie Direktorin
                                                                                                  des dortigen «Women and Public
und Probleme.» Der Politologe Francis                 Ricardo oder TripAdvisor haben die Welt
                                                                                                  Policy Program». Sie ist ausserdem
Fukuyama sieht Vertrauen sogar als den                einfacher gemacht und den Kunden-           Verwaltungsrätin der Credit
Faktor für den Wohlstand eines Landes oder            fokus verstärkt. Aber wie mit jedem Fort-   Suisse und Autorin des viel
eines Unternehmens. Einverstanden?                    schritt gibt es auch Gefahren.              beachteten Buches «What works –
Ich kaufte kürzlich etwas ein und merkte                                                          Gender equality by design»,
                                                                                                  das im Herbst 2017 bei C. H. Beck
beim Bezahlen, dass ich den Geldbeutel                Die unkontrollierte Kommentarflut?          auch auf Deutsch erscheint.
vergessen hatte. Ich fragte den Kunden                In letzter Zeit muss ich immer wieder an    Iris Bohnet ist verheiratet mit
hinter mir in der Schlange, ob er mir den             «Die verlorene Ehre der Katharina Blum»     dem Anwalt Michael Zürcher,
Betrag leihen könnte, was er tat, zusam-              von Heinrich Böll denken. In diesem         das Paar hat zwei Söhne.

22 — Bulletin N° 2 / 2017
— Privatsphäre —

Roman wird eine unschuldige Frau wegen          Gut, also ungefähr bei 55 Prozent. Nun          nun trauen kann oder nicht, da das System
ihrer Freundschaft zu einem Straftäter          fragt Sie ein Kollege, den Sie nicht            die Kosten von Vertragsbruch sehr tief
öffentlich verunglimpft und in ein              gut kennen, ob Sie ihm etwas Geld leihen        hält, ein bisschen wie eine Versicherung.
tragisches Schicksal getrieben. Bei Böll ist    könnten – er gebe Ihnen dafür Ende              Im Gegensatz dazu können Sie in
es eine Kritik an den Boulevardmedien.          Woche das Doppelte zurück. Ab welcher           Ländern, wo es extrem wichtig ist, nicht
Doch die sind harmlos im Vergleich zu           Rückerstattungswahrscheinlichkeit               betrogen zu werden, nur mit den
den sozialen Medien. Wie wollen wir             machen Sie mit?                                 Menschen einen Handel eingehen, denen
überprüfen, was da alles geschrieben wird?                                                      sie zu 100 Prozent trauen, also Ihrer
Kein Wunder leben wir im Zeitalter der          Da müssten wir schon ziemlich sicher sein.      Familie oder Ihrem Clan.
«fake news». Der Schutz der Privatsphäre        Vielleicht 75 Prozent?
ist wichtiger denn je.                          Sehen Sie, Ihre Risikoaversion ist tiefer       Welche Kulturen sind das?
                                                als Ihre Betrugsaversion, um 20 Prozent-        Wir haben unsere Experimente rund um
Nimmt die Bedeutung von Vertrauen               punkte. Das ist bei den allermeisten            die Welt durchgeführt und konnten
eigentlich zu?                                  Menschen so. Man wird einfach nicht             zeigen, dass in vielen Ländern im Mittleren
Sie verändert sich. Grundsätzlich braucht       gerne betrogen.                                 Osten Vertrauen entsteht, indem der
es Vertrauen, wenn Information asymmet-                                                         Vertrauensbruch möglichst ausgeschaltet
risch verteilt ist – wenn wir alle das          Sie zeigen jedoch auch, dass es grosse          wird. Der Betrug hat in dieser Region eine
Gleiche wissen, müssen wir niemandem            kulturelle Unterschiede gibt, wie man auf       grosse moralische Komponente. Ausser-
vertrauen. Die neueren Technologien             Betrug reagiert.                                dem verliert man dort auch noch das
haben beispielsweise in der Finanzwelt          Nehmen wir an, ich leite eine Galerie           Gesicht, wenn man betrogen wird, denn
mehr Transparenz geschaffen und führen          und Sie haben bei mir ein Bild für 1000         es bedeutet, dass man das Gegenüber
zu einem grösseren Informationsaustausch.       Franken gekauft, aber das Werk noch             nicht genügend überprüft hat. Entspre-
Man kann heute mit dem iPad seine               nicht abgeholt. Nun kommt eine andere           chend drakonisch sind die Strafen.
eigene Investitionsstrategie mitgestalten       Kundin, der das Bild noch besser gefällt,
                                                                                                Welche Länder stehen auf der anderen Seite
                                                                                                der Skala?
                                                                                                Das Extrem ist China, wo wir die tiefste
«Man kann über Kontrolle viel erreichen, das stimmt.                                            Betrugsaversion fanden, sehr tief war auch
               Aber sie ist teuer.»                                                             Brasilien. Hier gibt es praktisch keinen
                                                                                                Unterschied zwischen Risiko- und
                                                                                                Betrugsaversion. Einer Person zu vertrauen,
                                                                                                fühlt sich ähnlich an, wie wenn man
und sie laufend überprüfen. Bei der             und bietet mir 2000 Franken. In den USA         ein Glücksspiel macht. Manchmal
Diskussion mit der Kundenberaterin hat          ist es nun sehr denkbar, dass ich ihr das       funktioniert’s und manchmal auch nicht.
man alle Daten vor Augen und kann               Bild verkaufe und Ihnen die 1000 Franken
verschiedenste Szenarien live durchspielen.     zurückerstatte, plus etwas Schadenersatz,       In jüngerer Zeit beschäftigen Sie sich
Auf der einen Seite verfügt der Kunde           immerhin habe ich Ihnen einen kleinen           vermehrt mit der Intuition und wie uns
also über mehr Informationen. Gleich-           emotionalen Schaden zugefügt. Das nennt         diese in die Irre führt. Aber ist es nicht
zeitig ist für ihn die Lage unübersichtlicher   man «efficient breach»: Wir sollen Verträge     gerade der viel gerühmte sechste Sinn, der
geworden, die Komplexität hat zugenom-          brechen, wenn es effizient ist, die Verlierer   uns Menschen auszeichnet?
men, und er hat auch mehr Anbieter              aber für ihren Verlust kompensieren.            Es gibt sehr viel Forschung, die zeigt, wie
zur Auswahl. Dann sind Vertrauen und                                                            uns die Intuition hintergeht, denn sie
Expertise wieder enorm wichtig.                 In der Schweiz wäre das undenkbar.              beruht auf Vorurteilen und Stereotypen.
                                                Hier beruht das System darauf, dass ein         Gerade bei grossen Entscheidungen,
Ein Teil Ihrer Forschung zeigt, wie sensibel    Handschlag gilt.                                wie der Einstellung von Leuten, möchten
Menschen darauf reagieren, wenn ihr             Korrekt. Das hiesige System beruht auf          Sie aber sicher sein, die allerbeste
Vertrauen missbraucht wird. Sie nennen          dem Rechtsprinzip «Pacta sunt servanda»,        Wahl getroffen zu haben.
das Betrugsaversion. Ist das vergleichbar       dass also Verträge einzuhalten sind.
mit der Risikoaversion?                         Das heisst, hier hätte ich das Bild mit         Und dazu gehört es, die Intuition
Nein. Lassen Sie uns ein Beispiel durch-        grosser Wahrscheinlichkeit dem ersten           auszuschalten?
gehen, dann erkennen wir den Unter-             Käufer geben müssen.                            Ja. Sie ist nicht der beste Ratgeber, wenn
schied gleich: Nehmen wir an, Sie gehen                                                         es darum geht, Leistung und Kom-
ins Casino und spielen ein Glücks-              Aus einer moralischen Perspektive erscheint     petenzen in einem Bewerbungsprozess zu
spiel, bei dem Sie Ihren Einsatz verdop-        das korrekt.                                    beurteilen. Sehen Sie, dass eine Kandida-
peln können. Bei welcher Gewinn-                Ja, doch auch das amerikanische System          tin ein gewisses Alter hat, Mutter von
wahrscheinlichkeit spielen Sie mit?             fördert Vertrauen. Sie werden ja kompen-        zwei Kindern ist oder an dieser oder jener
                                                siert bei Vertragsbruch. Und das System         Universität studiert hat, löst das sofort
Wenn wir etwas häufiger als jedes               diskriminiert weniger stark. Man muss           Assoziationen bei Ihnen aus, die
zweite Mal gewinnen, sind wir dabei.            sich nicht überlegen, ob man einer Person       nicht unbedingt zutreffen. Eine Frage:

                                                                                                                       Bulletin N° 2/ 2017 — 23
— Privatsphäre —

Wenn Sie sich die Bevölkerung in Florida        künftigen Erfolg viel besser voraus als           Ja, das Vertrauen gegenüber der so-
vorstellen, wer kommt Ihnen spontan in          Interviews.                                       genannten Elite nimmt ab. Für mich war
den Sinn?                                                                                         es im amerikanischen Wahlkampf ein
                                                Sie sagen, Sympathien seien ein besonders         grosser Schock, dass so locker Vorurteile
Pensionäre, die die Sonne geniessen wollen.     schlechter Ratgeber. Warum?                       ausgesprochen werden konnten. Vor ein
In Tat und Wahrheit sind in Florida 84          Das Ziel der Rekrutierung darf nicht sein,        paar Jahren noch war es nicht denkbar,
Prozent der Bevölkerung unter 65 Jahre          uns selbst zu replizieren, denn die soge-         offen rassistische Statements zu äussern.
alt. Das ist nur ein bisschen weniger als       nannte kollektive Intelligenz ist höher in
der amerikanische Durchschnitt. Also            breit gemischten Teams. Stellt man                In der Schweiz ist das Bild etwas anders.
ist die Bevölkerung von Florida durchaus        jene oder jenen an, die oder der einem            Laut dem Sorgenbarometer der Credit Suisse
etwas älter als der Rest, aber wenn auf         sympathisch ist, ist das oft ein Klon             wird der Schweizer Regierung nach wie
einer Bewerbung «Florida» steht, gibt es        von einem selbst.                                 vor sehr stark vertraut, stärker als anderen
überhaupt keinen Grund anzunehmen,                                                                Regierungen im Ausland. Warum?
dass es sich um eine ältere Person handelt.     Nicht alle Vorurteile sind falsch – eine Person   Ich denke, das hat mit der direkten
Das ist ein klassischer Bias oder Verzer-       in der Schweiz ist vermutlich im Durch-           Demokratie zu tun. Die Politik ist sehr
rungseffekt, den wir in der Verhaltens-         schnitt pünktlicher als eine in Indien.           volksnah. In vielen Ländern tut sich ein
ökonomie untersuchen und von denen              Korrekt. Unsere Intuition funktioniert wie        Graben zwischen den Bürgerinnen und
es viele gibt.                                  eine Faustregel – sie hilft uns, effizient        Bürgern und der Politik auf – nicht in
                                                durch den Alltag zu kommen. Aber wie              der Schweiz. Auch wenn zuweilen
Wenn man sich nicht auf sein Gefühl             alle Faustregeln hat sie Fehler. Sie wollen       etwas anderes behauptet wird, sehe ich
verlassen soll, worauf kommt es dann bei        sich doch für eine wichtige Entscheidung          keine abgehobene Classe politique
einer Einstellung an?                           nicht auf ein bewiesenermassen fehler-            in der Schweiz.
Es gibt viele Untersuchungen, die zeigen,       haftes System verlassen, vor allem
was funktioniert und was nicht. Erst            wenn es verlässlichere Prozesse gibt?             Eine persönliche Frage zum Schluss: Wie
einmal müssen sie ein Inserat schalten, das                                                       haben Sie eigentlich die wohl wichtigste
die richtigen Kandidatinnen und Kandi-          Sie versuchen, «möglichst viele Haken zu          Personalentscheidung Ihres Lebens getroffen:
daten anspricht – das ist nicht trivial, aber   entfernen, an denen Vorurteile hängen             Wie haben Sie Ihren Mann rekrutiert?
Algorithmen können uns etwas helfen,            bleiben können». Doch die Welt bewegt sich        (Lacht.) Okay, da haben Sie mich erwischt
unsere Sprache von ungewollten                  zurzeit in eine andere Richtung.                  – das war nicht sehr systematisch. Ich
Verzerrungseffekten zu befreien. Dann           Ja, leider. Es war historisch immer so, dass      habe mich einfach in ihn verliebt. Doch
sollten Lebensläufe anonymisiert werden,        sich Menschen in Phasen grosser                   bevor wir heirateten, führten wir sachliche
                                                                                                  und nicht sehr romantische Diskussionen
                                                                                                  über die wichtigen Dinge im Leben:
                                                                                                  Wollen wir Kinder? Wollen wir berufs-
             «In vielen Ländern tut sich ein Graben                                               tätig sein, und wie viel wollen wir
           zwischen den Bürgern und der Politik auf –                                             arbeiten? Erst als das alles ausgehandelt
                                                                                                  war, haben wir den Ehevertrag unter-
                      nicht in der Schweiz.»                                                      zeichnet. Das würde ich allen Paaren
                                                                                                  auch empfehlen.

Name und Adresse gehören weg, und               Unsicherheit und schneller Veränderung
natürlich auch das Foto. Wir konnten            zurückgezogen haben. Das erleben wir
zeigen, dass die gar nichts bringen und         im Moment. Es gibt einen Rückzug
uns im Gegensatz in die Irre führen.            zum eigenen Volk, zur eigenen Hautfarbe,
                                                zum eigenen Geschlecht, zur eigenen
Und das Jobinterview an sich?                   politischen Partei. Wir bezahlen jetzt
Wir wissen so viel über die Kandidatinnen       den Preis dafür, dass viele westliche Länder
und Kandidaten wie nie zuvor, trotzdem          auf Kosten der unteren Mittelklasse
führen wir immer noch unstrukturierte           gewachsen sind. Die Ungleichheit zwi-
Bewerbungsgespräche, wo die Interviewer         schen Arm und Reich hat zugenommen
ihren Vorurteilen gnadenlos ausgesetzt          und erstmals sind nicht alle Sieger
sind. Google beispielsweise hat unter-          männlich und weiss. Ein Teil dieser Gruppe
sucht, wie viele Interviewer optimal sind,      lehnt sich nun gegen das Establishment
nämlich vier, oder welche Fragen tatsäch-       und gegen die Globalisierung auf.
lich zukünftigen Erfolg in der Firma
voraussagen. Das ist die Macht von Big          Auch gegen Menschen wie Sie wird
Data. Zudem sollten Sie Aufgaben                gewettert, ein Mitglied der Elite,
stellen, die etwas mit der späteren Arbeit      eine Professorin, die mit Zahlen und Fakten
zu tun haben. Solche Tests sagen zu-            argumentiert.

24 — Bulletin N° 2 / 2017
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— Privatsphäre —

Ein sicheres Geschäft?
Die Cyberkriminalität verursacht jedes Jahr Schäden von mehreren
hundert Milliarden Dollar. Bei den meisten Angriffen geht es
um Geld- und Wirtschaftsspionage. Onlinesicherheit ist einer der
am schnellsten wachsenden Märkte der IT-Branche.
Von Helene Laube

                                              In der zunehmend digitalen und vernetzten         emotionale Schaden, den immer mehr aus-

         E
                                              Welt steigt die Gefahr von Cyberangriffen.        gehorchte, gehackte und um ihre Privat-
                                              2016 war laut der Non-Profit-Organisa-            sphäre gebrachte Menschen erleiden.
                                              tion Identity Theft Resource Center ein Re-             Jeder und alles ist das Ziel digitaler
                                              kordjahr: Allein in den USA wurden 1093           Anschläge: von der Privatperson, ihrem
                                              Fälle von Verletzungen der Datensicher-           Computer, Handy, vernetzten Haus und
                                              heit («data breaches») offiziell angezeigt –      Auto über Organisationen und Unter-
                                              mehr als doppelt so viele wie noch vor fünf       nehmen hin zu entscheidenden Infrastruk-
                                              Jahren (siehe Grafik). Dabei wurden laut          turen und Regierungen. Bei den meisten
                                              der Sicherheitsanalysefirma Risk Based Se-        Angriffen, so zeigen verschiedene Er-
s war einer der grössten Datendiebstähle      curity Milliarden von Datensätzen gestohlen.      hebungen, geht es um Geld- und Wirt-
der Geschichte: Hacker drangen in die                                                           schaftsspionage.
Server des Internetkonzerns Yahoo ein und     Jeder wird zum Angriffsziel                             Mächtige Cyberspionage-Organi-
stahlen Informationen zu mindestens 500       Die wirtschaftlichen Schäden, die Cyber-          sationen, hinter denen nicht selten Regie-
Millionen Kunden: verschlüsselte Pass-        kriminalität und Cyberdiebstahl von geis-         rungen stehen, greifen weltweit andere
wörter, E-Mail-Adressen, persönliche In-      tigem Eigentum verursachen, sind gigan-           Regierungen, Militäreinrichtungen, Infra-
formationen wie Geburtsdaten oder Tele-       tisch. Sie liegen bei jährlich 450 bis 600        struktur und Unternehmen an. Wertvolles
fonnummern. Die Hacker verschafften           Milliarden Dollar, schätzt das Center for         Know-how aus Wirtschaft, Forschung
sich ausserdem Zugang zu Millionen von        Strategic and International Studies, eine         und Entwicklung wird gestohlen. Hacker
Nutzerkonten, um mit den ergatterten          überparteiliche Denkfabrik in Washington.         knackten sogar schon die Rechner der
Informationen Spam zu versenden und           Nicht kalkulierbar ist der finanzielle und        EU-Kommission oder der Notenbank von
Kredit- und Gutscheinkarteninformatio-
nen zu stehlen.
       Das Unternehmen aus dem Silicon             1200

Valley machte den Angriff, der Ende 2014                          Die Angriffe häufen sich
erfolgt war, erst im September 2016 publik.        1000           Gemeldete Daten-Einbrüche
Details nannte es keine, da das FBI ermit-                        in den USA (in Mio.)
telte. Diesen Frühling nun liess das ameri-
                                                   800
kanische Justizministerium eine diplomati-
sche Bombe platzen: Es erhob in der Causa
Yahoo Anklage gegen vier Personen – dar-           600
                                                                                                                                           Quelle: Identity Theft Resource Center

unter zwei Mitarbeiter des russischen Ge-
heimdiensts FSB, die die umfassende «kri-          400
minelle Verschwörung» gesteuert haben
sollen. Die erbeuteten Informationen, so
                                                   200
heisst es in der Klageschrift, seien auch
verwendet worden, um ausländische Regie-
rungsmitarbeiter, Banken- und andere               0
                                                              2006             2008      2010            2012         2014          2016
Manager sowie Journalisten auszuspähen.

26 — Bulletin N° 2 / 2017
— Privatsphäre —

Bei den meisten Angriffen geht es um Wirtschaftsspionage (im Bild: Innenansicht einer Datenfarm).

Bangladesch – und erbeuteten dort über               Security Services»: Hier übernimmt ein         geber im Silicon Valley. Sie investierten
80 Millionen Dollar.                                 externer Dienstleister den Schutz und die      vergangenes Jahr 3,1 Milliarden Dollar
                                                     Überwachung der ganzen IT-Infrastruk-          in 279 Cybersicherheit-Start-ups, heisst
Sicherheit ist gut und teuer                         tur einer Firma.                               es beim Marktforscher CB Insights. Das
Die mit der fortschreitenden Vernetzung                    Der zweitgrösste Bereich ist Sicher-     ist viermal so viel wie noch 2010.
rasant zunehmenden Angriffsziele für                 heitssoftware: Hier wird am meisten in
Hacker haben zu einem Boom für Anbieter              die Sicherung von Endgeräten sowie             Gefahr im Babyfon
von Cybersicherheit geführt. «Sicherheit             ins Identitäts- und Zugangsmanagement          Ein ganz besonders hohes Risikopoten-
ist einer der am schnellsten wachsenden              investiert.                                    zial birgt das Internet der Dinge (Internet
Märkte der IT-Branche, und er wird weiter                  Der drittgrösste Bereich ist Sicher-     of Things, IoT, siehe Seite 32). Das Gros
wachsen», sagt Michael Diamond, Analyst              heitshardware, der in erster Linie vom         dieser IoT-Geräte – von Webkameras
beim Marktforscher NPD. Die Ausgaben                 Kauf von sogenannten Unified-Threat-           über Babyfone bis zu Fernsehern – wird
von Unternehmen für Cybersicherheit                  Management-Systemen profitiert. Das            ohne grosse Sicherheitsmechanismen ver-
wachsen doppelt so schnell wie die gesam-            sind Boxen, die unterschiedliche Aufga-        kauft. Dadurch können sie von Angreifern
ten IT-Ausgaben und werden sich im Jahr              ben wie Firewall, VPN Gateway, Virus-          problemlos und ohne Wissen der Besitzer
2020 auf über 100 Milliarden Dollar be-              und Spamschutz, Authentifizierung und          gekapert und zu einem aus Millionen von
laufen, prognostiziert die amerikanische             ein System zur Erkennung von Angriffen         Geräten bestehenden, zentral gesteuerten
Marktforschungsfirma IDC.                            auf einer Plattform vereinen.                  Netzwerk zusammengeschaltet werden.
      Am meisten Geld geben Unterneh-                      Kein Wunder ist der Bereich Cyber-       Mit diesen sogenannten Botnetzen, einer
men und Behörden für Sicherheitsdienst-              sicherheit mittlerweile eines der beliebtes-   Gruppe automatisierter Schadenpro-
leistungen aus, vor allem für «Managed               ten Betätigungsfelder für Risikokapital-       gramme, greifen Hacker die Server

Foto: Mischa Keijser / ISTL / Cultura / Keystone                                                                           Bulletin N° 2/ 2017 — 27
— Privatsphäre —

                                                                                                  90 Prozent der befragten Manager zu
                                                                                                  Protokoll, dass sie nicht imstande seien,
                                                                                                  einen Sicherheitsbericht zu verstehen. Des
                                                                                                  Weiteren seien ihre Unternehmen nicht
                                                                                                  auf einen grösseren Angriff vorbereitet.
                                                                                                  Und das, obwohl neun von zehn Unter-
                                                                                                  nehmen in den letzten fünf Jahren Ziel
                                                                                                  eines grösseren Cyberangriffs waren.
                                                                                                        Die Folgen einer Attacke können er-
                                                                                                  heblich sein. Ein Drittel der Unternehmen,
                                                                                                  die 2016 ein Datenleck vermeldeten, muss-
                                                                                                  te einen Verlust von 20 Prozent beim Um-
                                                                                                  satz, der Kundschaft und den Geschäfts-
                                                                                                  möglichkeiten hinnehmen. Das geht aus
                                                                                                  dem neuen «Annual Cybersecurity Report»
                                                                                                  des weltgrössten Netzwerkausrüsters Cisco
                                                                                                  hervor.
                                                                                                        95 Prozent aller erfolgreichen An-
                                                                                                  griffe auf Unternehmen sind gemäss Un-
                                                                                                  tersuchungen auf menschliches Fehlver-
                                                                                                  halten zurückzuführen. Zu den häufigsten
                                                                                                  Fehlern gehören der Versand von E-Mails

                                                                                                      Zu den häufigsten
                                                                                                        Fehlern gehört
                                                                                                   der Versand von E-Mails
                                                                                                    mit heiklen Unterlagen
       Eingang zu einem Bunker in Amsteg (Uri), der zur Lagerung von Daten benützt wird.            an falsche Empfänger.

ihrer Opfer an und bringen sie zum                  immer ausgefeilter, es ist auch leichter      mit heiklen Unterlagen an falsche Emp-
Erliegen.                                           denn je, sich das Rüstzeug für Angriffe       fänger oder das Öffnen von mit Schadsoft-
      Der bisher prominenteste Botnetz-             aller Arten zu beschaffen. Cybergangs         ware bestückten E-Mails. Weit oben auf
Angriff erfolgte vergangenen Oktober. Die           verkaufen Werkzeuge, Informationen,           der Liste ist auch das Einrichten von Stan-
Websites von Internetriesen wie Amazon,             Dienstleistungen und Rat im Darknet,          dard-Namen und -Passwörtern durch die
Netflix oder PayPal und Dutzenden ande-             dem bei Kriminellen bevorzugt genutzten,      firmeninterne IT. Dagegen helfen selbst
ren viel besuchten Unternehmen wie Air-             nur mit spezieller Software zugänglichen      hohe Ausgaben in Cybersicherheit wenig.
bnb, «The New York Times» und Twitter               Teil des Internets.                           Die National Cyber Security Alliance, ein
waren stundenlang nicht verfügbar, nach-                  In diesem Schattenbereich wird auch     Verbund aus amerikanischen IT-Firmen
dem ein Botnetz-Angriff die Server eines            die Beute zum Kauf angeboten. Auf einem       und dem US-Ministerium für Innere
von den Unternehmen genutzten Netz-                 russischsprachigen Untergrund-Marktplatz      Sicherheit, plädiert deshalb für mehr Mit-
werkdienstleisters lahmgelegt hatte. Exper-         etwa wurden letztes Jahr 70 000 geklaute      arbeiterausbildung: «Die beste Sicherheits-
ten vermuten, dass auf diese Weise eine             Anmeldedaten für gehackte Server ange-        technologie der Welt hilft nichts, wenn den
Cyberwaffe getestet wurde.                          boten. Für nur 6 Dollar waren zum Bei-        Mitarbeitern ihre Rolle und Verantwor-
                                                    spiel die Zugangsdaten zum Regierungs-        tung beim Schutz von heiklen Daten und
Auch die Angreifer rüsten auf                       netzwerk eines EU-Staats zu kaufen.           Firmenressourcen nicht klar ist.»
Trotz des riesigen Angebots an Produkten                  Obschon viel Geld für die Cyber-
und Dienstleistungen zum Schutz der                 abwehr ausgegeben wird, sind viele Unter-
Daten, Systeme, Infrastrukturen, Konten             nehmen und Behörden unzureichend auf
und Privatsphäre wird das Internet nicht            Cyberangriffe vorbereitet und räumen dem
unbedingt sicherer. Parallel zum immer              Kampf gegen die Cyberkriminalität wenig
                                                                                                  Helene Laube ist freie Journalistin in
grösseren Angebot für die Verteidigung              Priorität ein. In einer 2016 von der Nasdaq   San Francisco. Sie war Gründungsmitglied
rüsten die Angreifer laufend auf. Das               und dem US-Sicherheitsanbieter Tanium         der «Financial Times Deutschland» und deren
Arsenal der Cyberkrieger wird nicht nur             in Auftrag gegebenen Studie gaben über        langjährige Silicon-Valley-Korrespondentin.

28 — Bulletin N° 2 / 2017                                                                                                    Foto: Martin Rütschi / Keystone
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