Creativ - Alles im grünen Bereich? - Vollzeitjob und obdachlos - Gemeinde creativ
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M A G A Z I N F Ü R E N G A G I E RT E K AT H O L I K E N Januar- Gemeinde Februar 2022 creativ GESELLSCHAFT Vollzeitjob und obdachlos VOR ORT Neue Wohnformen finden WOHNEN Alles im grünen Bereich? ISSN 1618-8322
Gemeinde creativ ISSN 1618-8322 65. Jahrgang Januar-Februar 2022 Informationen 4 Es geht! Gerecht. 5 Der Zauberer verlässt die Manege Alle im 6 Hagen Horoba schreibt 2022 Heft angegebenen die Meditationen Zusatzinformationen wie Links oder Literatur- F OTO : S T M B /AT E L I E R K R A M M E R Zukunftsplan: Hoffnung hinweise finden Sie auf 7 Gut aufhören unserer Homepage www.gemeinde-creativ.de Meditation stets beim jeweiligen Artikel. 8 »Mein Haus, mein Auto, mein Boot.« Von Hagen Horoba Wohnen: Alles im grünen Bereich? 10 Ein Schlüssel für soziale 23 Von hier aus kann‘s Gerechtigkeit weitergehen Von Martin Schneider Von Pat Christ 14 Gemischte Gefühle 24 „Was ich tat? Von Jörn M. Scheuermann Ich schlief halt.“ Von Pat Christ 16 Eines der knappsten Güter Von Pat Christ 26 Kirche zu verkaufen? Von Pat Christ 18 Bezahlbarer Wohnraum für alle 28 St. Klara – gemeinsam F OTO : TO N K T I T I / A D O B E S TO C K mittendrin! 20 Kein Akt der Barmherzigkeit Von Michael Eibl Von Martin Schneider 29 Bezahlbares Bauland 22 Abnabelung in ein selbst dringend gesucht bestimmtes Leben Von Klemens Deinzer Von Christine Bronner Ökumene 32 Mit der Welt im Gespräch F OTO : B L U E P L A N E T S T U D I O / A D O B E S TO C K Interviews zur Tagung des Ökumenischen Rats der Kirchen in Karlsruhe Katholisch in Bayern und der Welt 30 Aus Räten und Verbänden 35 Auch das noch, 34 Begeistert sein Impressum Interview mit Silvia Wallner-Moosreiner 36 Cartoon Von Thomas Plaßmann 2 Gemeinde creativ Januar-Februar 2022
12 „Mir ist wichtig, dass die Schön … teuer! EDITORIAL Menschen überall in Bayern leben können.“ Liebe Leserin, lieber Leser, Seit fast zwei Jahren ist Kerstin für Generationen war es eine Selbst- Schreyer inzwischen Bayerische verständlichkeit, dass man sich Staatsministerin für Wohnen, Bau Wohneigentum erarbeiten konnte. und Verkehr. In ihrem Ministerium Die eigenen vier Wände – das war laufen Megatrends zusammen kein unerreichbares Ziel, kein ferner – Wohnungsnot und die Frage nach Traum. Das hat sich geändert. Gebaut bezahlbarem Wohnraum, ökologi- wird trotzdem, und zwar kräftig. So sches Bauen und nachhaltige kräftig, dass vor einiger Zeit erstmals Flächennutzung und die Auswirkun- laut und deutlich darüber diskutiert gen der Corona-Pandemie, die viele worden ist, ob das Einfamilienhaus Städter auf’s Land getrieben hat. wirklich die Wohnform der Zukunft sein kann und soll. Den Grünen, die diese Diskussion mit angestoßen Wir freuen uns, Gemeinde creativ haben, hat das viel Häme und Kritik ab diesem Jahr kostenfrei anbieten eingebracht. Der Grundansatz aller- zu können. Die bayerischen Diöze- dings ist richtig: wir müssen darüber ma, das vermutlich viel zu komplex ist, sen finanzieren die Zeitschrift des sprechen, wie wir in Zukunft leben um es auf 36 Seiten zu behandeln. Wir Landeskomitees künftig als wichtiges wollen – und dazu gehört auch die versuchen es trotzdem – und wollen Arbeitsmittel für die Ehrenamtlichen Frage, wie wir wohnen möchten. dabei neben dem Blick auf das „gro- vor Ort – eine tolle Wertschätzung für Die Ressourcen unseres Planeten ße Ganze“ vor allem jene Menschen die wertvolle und ermüdliche Arbeit, sind nicht unendlich, das wissen wir in den Mittelpunkt rücken, auf die die in unseren Gemeinden geleistet längst. Nur handeln wir auch danach? sonst kaum einer schaut: Menschen wird! Dass das Wachstum unserer Städte am Rand der Gesellschaft, die keine Unsere Zeitschrift finden Sie vollstän- und Gemeinden „auf der grünen Chance auf eine reguläre Wohnung dig auch im Internet: www.gemeinde- Wiese“ durch die Ausweisung von haben, wenn sie nicht unterstützt creativ.de. In den nächsten Monaten Neubaugebieten und Gewerbeflächen werden. Aber auch auf Seniorinnen werden wir unseren Internetauftritt nicht ungebremst so weitergehen und Senioren, denen ein selbstbe- kontinuierlich weiter ausbauen und kann, das leuchtet den allermeisten stimmtes Leben und Wohnen im Al- um neue Rubiken erweitern. Künftig ein – zumal viele Ortskerne zuse- ter wichtig ist. Und nicht zuletzt auch finden Sie neben den Themen aus dem hends veröden – doch auf das Eigen- auf die Verantwortung der Kirche. Heft dort auch aktuelle Nachrichten heim verzichten? Das sollen dann Wohnen ist eines der Megathemen aus den Räten und Verbänden sowie doch besser die anderen… unserer Zeit, da können wir uns als Materialien zu Liturgie, Arbeitshilfen … die anderen wären allerdings Kirche nicht verschließen und sagen: und Best-Practice-Beispiele zu vielen schon froh, wenn sie sich überhaupt „Das geht uns nichts an.“ Die Beiträge unterschiedlichen Themen (Umwelt, ein Dach über dem Kopf leisten in diesem Heft zeigen Möglichkeiten Eine Welt, Soziales ...) und vieles mehr. könnten. In unseren Städten werden und auch Verpflichtungen der Kirche horrende Mieten gezahlt, viel zu teuer auf, sich hier engagiert einzubringen. für Normal- oder gar Geringverdiener. Wohnen ist eine Frage der sozialen Mehr Mensch, Der Katholische Männerfürsorgever- Gerechtigkeit – Kirche muss sich in weniger Markt ein hat 2020 in München ein Wohn- Sachen Glaubwürdigkeit an ihrem heim eröffnet – für Menschen mit Engagement messen lassen. einem Vollzeitjob, die sich aber trotz- dem keine Wohnung leisten können. Viel Freude beim Lesen und gute Katholische Verbände wie IN VIA Anregungen für Ihre kirchliche Arbeit oder Sant‘Egidio stellen fest: die Co- wünscht Ihnen 31 rona-Pandemie hat viele Menschen in existenzielle Nöte getrieben. Die Schlangen vor der Bahnhofsmission werden länger, die an den Essensaus- Aus dem gabestellen auch. Die Zahl der Woh- nungslosen, sie steigt. Dies kann nur Ihre Alexandra Hofstätter Landeskomitee ein kurzes Blitzlicht sein, auf ein The- Redaktionsleiterin Gemeinde creativ Januar-Februar 2022 3
Gemeinde creativ Es geht! Gerecht. Die diesjährige Misereor-Fastenaktion steht unter dem informationen Leitwort „Es geht! Gerecht.“ Im Mittelpunkt stehen 2022 Projekte zur Anpassung an den Klimawandel in Bangla- Entmachtung desch und auf den Philippinen sowie die gemeinsame Ver- In seinem neuen Buch diskutiert antwortung für Wege zur globalen Klimagerechtigkeit. der bekannte Soziologe Michael N. Ebertz vier Thesen zur Ge- genwart und Zukunft der Kirche – Entmachtung lautet der Titel. „Es geht! Gerecht.“ – mit diesem Auf- Außer sich sein.“ Was bedeutet: Wer Er stellt fest: aus den Familien ruf will Misereor deutlich machen, Antworten auf die genannten Fragen kommt der Nachwuchs für die dass mit gemeinsamen Anstrengun- sucht, sich mit den Zusammenhän- Kirche längst nicht mehr wie frü- gen und einer größeren Solidarität gen von eigenem Alltag und dem Le- her. Die Kirche hat die „Luftho- eine Welt möglich ist, in der allen ben in benachteiligten Weltregionen heit über Körper, Geist und Seele Menschen Anerkennung und Acht- auseinandersetzt, soll ins Handeln der Einzelnen“ verloren. Entspre- samkeit entgegengebracht und die kommen, sich gegen globale Unge- chend bunt sind ihre Mitglieder Schöpfung für zukünftige Genera- rechtigkeiten und die Zerstörung der zusammengesetzt, die ihrerseits tionen bewahrt wird. Die globale Schöpfung einsetzen: mit Aktionen mit einer pluralen Gesellschaft Erderhitzung treibt immer mehr und Spenden, im Gebet und in politi- verflochten sind. In Entmachtung Menschen dauerhaft in Armut und schem Engagement. geht es um Macht und ihre Re- Migration. „Mit einer ambitionierten Eröffnet wird die Misereor-Fas- duktion, um Familien- und Rollen- Begrenzung der Klimakrise können tenaktion am Sonntag, 6. März 2022, bilder, die Frage nach der Stellung wir gegensteuern, dass Menschen mit einem Gottesdienst im Freibur- der Frau und darum, wie kirchli- in Not geraten und Ungleichheiten ger Münster. Am 3. April 2022, dem che Sozialisation in der modernen zunehmen“, betont Pirmin Spiegel, 5. Fastensonntag, wird dann in allen Welt gelingen kann. Michael N. Hauptgeschäftsführer von Misere- katholischen Kirchengemeinden Ebertz beschreibt nicht nur diese or, und appelliert weiter: „Setzen Sie Deutschlands für die Arbeit von existenziellen Zäsuren, sondern sich für anspruchsvolle Klimaziele Misereor gesammelt. Bereits eine analysiert die Hintergründe und ein, um die Treibhausgasemissionen Woche zuvor, am 27. März 2022, Zusammenhänge der Entmach- deutlich zu reduzieren. Teilen wir die findet ein virtuelles Fastenkochen tung der Kirche – und skizziert die uns geschenkten und doch spürbar statt. Sternekoch Björn Freitag und Richtung möglicher Wege in eine begrenzten Ressourcen unserer Erde Misereor-Hauptgeschäftsführer Pir- Zukunft. (pm) geschwisterlich und in gegenseitiger min Spiegel kochen gemeinsam kli- Ebertz, Michael (2021), Ent- Verantwortung.“ mafreundliche und faire Gerichte. machtung. 4 Thesen zu Gegen- Neben Präsenz-Veranstaltungen bie- IN SICH GEHEN, wart und Zukunft der Kirche. tet Misereor auch Online-Workshops AUSSER SICH SEIN 160 Seiten, Paperback. Patmos zu den Themen der Fastenaktion an. Verlag, 19 Euro. Fastenzeit, das heißt für Misereor An den ersten fünf Donnerstagen der auch, einander zu motivieren, sich Fastenzeit finden jeweils um 19 Uhr persönlich zu fragen: Woraus schöp- Online-Stammtische mit inspirie- fe ich Kraft? Wofür setze ich mich renden Gesprächspartnerinnen und ein? Wie geht teilen? Das Werk für Gesprächspartnern zu Themen der Entwicklungszusammenarbeit bringt Fastenaktion statt. (pm) diesen Prozess der Selbstvergewisse- Mehr dazu unter www.gemeinde- rung auf die Formel: „In sich gehen. creativ.de. 4 Gemeinde creativ Januar-Februar 2022
Der Zauberer Gemeinde creativ verlässt die informationen Manege Gott ist bunt Der Franziskanerpater Helmut Von Karl Eder Schlegel sagt, „dass Liturgie oft nicht lebendig genug, und ja, auch F OTO : K N A Geschäftsführer des Landeskomitees nicht mystisch genug ist. Eine Der ehemalige Vorsitzende des Lan- fertige Sprache, ein abgehobener deskomitees der Katholiken in Bay- Ritus, der Mangel an Stille – das ern, Helmut Mangold, ist im vergan- Gremium des Laienapostolats natür- spricht offensichtlich Menschen genen November im Alter von 83 Jah- licherweise gebe, das auf überregi- nicht im Kern ihrer Seele an.“ – mit ren nach kurzer schwerer Krankheit onaler Ebene die gemeinsamen An- seinem neuen Buch, erschienen in gestorben. Der frühere Ingenieur für liegen vernetzen und vertreten soll. der Reihe Kon- Nachrichten- und Informationstech- „Dies ist ihm meisterhaft gelungen, krete Liturgie des nik sowie Telematik war von Jugend ohne dabei nivellierend zu agieren“, Friedrich Pustet an ehrenamtlich in der katholischen betont Unterländer und verweist da- Verlags, will er Kirche engagiert: angefangen von bei auf die Dankesworte des früheren Abhilfe schaffen. seiner Heimatgemeinde in Senden- Geistlichen Beauftragten der Frei- Gott ist bunt. Aufheim (Kreis Neu-Ulm), über das singer Bischofskonferenz und heuti- Kreative Gottes- Dekanat Neu-Ulm und den Diöze- gen Diözesanbischofs von Augsburg, dienste für beson- sanrat der Katholiken der Diözese Bertram Meier, bei der Verabschie- dere Zeiten und Augsburg bis zum Landeskomitee der dung Mangolds als Vorsitzender an besonderen Katholiken in Bayern. des Landeskomitees im Jahr 2009: Orten heißt es, Bereits im Jahr 1971, also wenige „Manchmal glich unser Vorsitzender und der Name ist Jahre nach dem Zweiten Vatikani- auch einem kleinen Zauberer, der die Programm. Denn schen Konzil und kurz nach Einfüh- unterschiedlichen Meinungen unter der Autor ist rung der Pfarrgemeinderäte heutigen einen Hut brachte und überraschen- überzeugt, das Kirchenjahr bietet Zuschnitts in Bayern, wurde Hel- de Lösungen hervorholte, damit aus zahlreiche Anlässe, Themen und mut Mangold zum Vorsitzenden des der Manege der Kirche kein Zirkus Orte an, um ausgetretene Pfade Pfarrgemeinderates seiner Heimatge- wurde.“ zu verlassen und kreativ mitein- meinde St. Johann Baptist in Senden- Neben dem bisweilen mühsamen ander zu feiern: wie immer in der Aufheim gewählt. Noch im selben Dienst an der Einheit innerhalb der Reihe Konkrete Liturgie bündelt Jahr bestimmten ihn die Delegierten eigenen Kirche und des Laienaposto- Gott ist bunt eine ganze Menge zum Vorsitzenden des Dekanatsrates lats in Bayern, das in den Augen Man- an Bausteinen für liturgische Fei- Neu-Ulm. Diese Funktion übte er bis golds auch gleichwertige Strukturen ern. Neben besonderen Tagen im 2014 aus, also 43 Jahre lang. Mitglied voraussetzt, sei ihm besonders am Kirchenjahr berücksichtigt Pater seines Pfarrgemeinderates blieb Hel- Herzen gelegen, die Ökumene voran- Helmut Schlegel dabei auch Orte – mut Mangold ebenfalls bis 2014. zubringen, betont Joachim Unterlän- bei „Weizenkorn und Ackerboden“ Erstmals wurde Helmut Mangold der. „Der Ökumenische Kirchentag geht es um gutes Wachstum, bei im Jahr 2001 von den Mitgliedern der im Jahr 2010 in München trägt nach- „Brücken der Gerechtigkeit“ um Vollversammlung zum Vorsitzenden weislich auch die Handschrift von Geld und Ethik. Mit Gott ist bunt des Landeskomitees gewählt. In die- Helmut Mangold, der maßgeblich an kommt man gut durch’s Kirchen- ser Mitgliederversammlung in Re- der Vorbereitung beteiligt war.“ jahr: vom Dreifaltigkeitsfest bis gensburg wurde zugleich das 50-jäh- Als „aufrechten Christen und Allerheiligen, vom Schöpfungsfest rige Bestehen des Landeskomitees wertvollen Moderator“ würdigt auch bis zum Totengedenken, vom Flur- gefeiert. Landeskomitee-Mitglied war Kardinal Reinhard Marx den ehema- gottesdienst bis zur Mitternachts- er aufgrund seiner Funktionen im Di- ligen Vorsitzenden des Landesko- andacht. (alx) özesanrat der Katholiken der Diözese mitees. „Helmut Mangold war eine Schlegel, Helmut (2021), Gott Augsburg sogar von 1986 bis 2014. überzeugende Gestalt der katholi- ist bunt. Kreative Gottesdienste Der Vorsitzende des Landeskomi- schen Kirche in Bayern.“ Christ sein, für besondere Zeiten und Orte. tees, Joachim Unterländer, hebt in das war für ihn klar, erschöpft sich 144 Seiten, kartoniert. Verlag der Würdigung für seinen früheren nicht im sonntäglichen Kirchbesuch, Friedrich Pustet, 16,95 Euro. Vorgänger dessen außergewöhnli- so der Kardinal. „Christsein bedeute- ches Talent hervor, die unterschied- te ihm vielmehr, die Welt da, wo Gott lichen Perspektiven und Richtungen ihn hingestellt hatte, im Sinne von zusammenzuführen, die es in einem Jesu Botschaft mitzugestalten.“ Gemeinde creativ Januar-Februar 2022 5
Verkaufsoffen im Advent Hagen Horoba schreibt Die Stadt Regensburg hat Ende vergangenen Jahres informiert, 2022 die Meditationen den ersten Adventssonntag verkaufsoffen halten zu wollen, Wörter / meine Fallschirme / mit euch / springe / ich / ab soweit dieser bereits im Novem- Ich fürchte nicht die Tiefe / wer euch richtig / öffnet ber stattfindet. Das hat einige schwebt katholische Akteure mit deutlicher Kritik auf den Plan gerufen. Das Von Hagen Horoba Diözesankomitee der Katholiken, die Katholische Arbeitnehmer- Dieses Gedicht des in Gleiwitz gebo- Bewegung (KAB) und die Betriebs- renen und 1990 in München verstor- seelsorge im Bistum Regensburg benen Horst Bieneck begleitet mich haben sich mit einer Stellungnah- seit meiner Schulzeit in Mainz, wo me zu Wort gemeldet. „Unabhän- ich 1972 geboren wurde. Bienecks rufliche Laufbahn zum Bischöflichen gig davon, ob diese Entscheidung Gedicht, seine Sensibilität für Spra- Ordinariat Regensburg. Nach Aufga- überhaupt auf einer ausreichend che, erinnern mich immer wieder ben im Bereich Öffentlichkeitsarbeit rechtlichen Grundlage getroffen daran, dass Wörter und ihre Anein- und Weltkirche kam ich an den Re- anderreihung in Sprache, in Texten gensburger Dom, in dessen Umfeld und im gesprochenen Wort eine Be- ich seit zehn Jahren arbeite. Im Feb- deutung haben. Dies gilt umso mehr ruar 2015 übernahm ich die Leitung F OTO : N AT E E M E E P I A N / A D O B E S TO C K in unserer Zeit, wo wir allerorten des Informations- und Besucherzen- erfahren müssen, dass Sprache mehr trums DOMPLATZ 5. ausgrenzt als verbindet und verletzt Während der verschiedenen Lock- als heilt. down-Zeiten der Jahre 2020 und 2021 Nach dem Studium der katho- schrieb ich Impulse und »Gedanken F OTO : U W E M O O S B U R G E R lischen Theologie an der Philoso- in besonderen Zeiten«, die wohl mit phisch-Theologischen Hochschule den Ausschlag dafür gaben, dass ich Sankt Georgen in Frankfurt und an nun für Gemeinde creativ schreiben der Universität Regensburg sowie ei- darf. Ich freue mich darauf, Sie, ver- ner Tätigkeit in einer Münchner De- ehrte Leserinnen und Leser, durch wurde, wird damit die Intention signagentur führte mich meine be- das Jahr begleiten zu dürfen. des Gesetzgebers, nämlich die vier Adventsonntage verkaufsfrei zu halten, ausgehebelt“, heißt es dort. Ein verkaufsoffener Sonntag löse nicht die Probleme des stati- Zukunftsplan: Hoffnung onären Einzelhandels, die durch die Digitalisierung beschleunigt Weltgebetstag 2022 aus England, Wales und Nordirland und durch die Corona-Pandemie weiter verstärkt würden. „Sonn- Am Freitag, 4. März 2022, feiern Menschen in mehr als tagsöffnungen werden dem Struk- 150 Ländern den Weltgebetstag der Frauen. Dieses Jahr turwandel in den Innenstädten kommen die Vorlagen aus England, Wales und Nordirland. nicht entgegenwirken können“, Unter dem Motto „Zukunftsplan: Hoffnung“ laden sie ein, sind sich die Akteure sicher. „Da den Spuren der Hoffnung nachzugehen. Sie erzählen von das Geld nur einmal ausgegeben werden kann, ist nicht mit einer ihrem stolzen Land mit seiner bewegten Geschichte und Umsatzsteigerung zu rechnen, der multiethnischen, -kulturellen und -religiösen Gesell- sondern nur mit einer Verlagerung schaft. Aber auch Themen wie Armut, Einsamkeit und von den anderen Tagen.“ Wichti- Missbrauch kommen zur Sprache. ger wäre es, den Sonntag als von Arbeit und Konsum befreite Zeit Eine Gruppe von 31 Frauen aus 18 un- und irischen Weltgebetstagsfrauen zu erhalten, an dem man sich mit terschiedlichen christlichen Konfes- besteht eine enge freundschaftliche Freunden treffen, zusammen Un- sionen und Kirchen hat gemeinsam Beziehung. ternehmungen planen sowie allein die Gebete, Gedanken und Lieder Bei allen Gemeinsamkeiten hat oder gemeinsam eine Zeit der zum Weltgebetstag 2022 ausgewählt. jedes der drei Länder des Verei- Entspannung und Muße erleben Sie sind zwischen 20 und 80 Jahre alt nigten Königreichs seinen ganz ei- kann. (pm) und stammen aus England, Wales genen Charakter: England ist mit und Nordirland. Zu den schottischen 130.000 km² der größte und am dich- 6 Gemeinde creativ Januar-Februar 2022
Gut aufhören Sozialwahlen Die nächsten Sozialwahlen Bald werden in Bayern die Pfarrgemeinderäte neu gewählt sollen am 31. Mai 2023 stattfin- den – schon jetzt geht es aber in – für viele Männer und Frauen endet dann ein Lebenskapi- die Kandidatenfindung. So hat tel, wenn sie sich nicht mehr zur Wahl stellen. An sie richtet beispielsweise die Arbeitsgemein- sich ein Angebot im Bildungshaus Vierzehnheiligen. schaft Christlicher Arbeitnehmer- organisationen (ACA) Interessierte Menschliches Leben ist geprägt von schwierigere Momente zur Sprache dazu aufgerufen, sich für ein F OTO : J E N N Y O N T H E M O O N / A D O B E S TO C K Übergängen. Auch das Ausscheiden kommen. So soll es ermöglicht wer- aus einem Ehrenamt wie die Mitar- den, mit Dankbarkeit auf diese Zeit beit im Pfarrgemeinderat stellt einen zu blicken und sie gut abzuschließen. solchen Übergang dar. Anlässlich der Im gemeinsamen Austausch, im Pfarrgemeinderatswahlen im März Auseinandersetzen mit dem eigenen 2022 laden die Veranstalter schei- Weg im Pfarrgemeinderat und me- dende Pfarrgemeinderatsmitglieder thodisch abwechslungsreich wird ein, den Übergang bewusst wahr- ein passender Rahmen für den Über- zunehmen und zu gestalten. Es geht gang aus dem Pfarrgemeinderat ge darum, Rückschau zu halten auf die schaffen. Zeit im Pfarrgemeinderat und auf das Der Kurs wird in identischer Wei- eigene Engagement. Dabei dürfen se an zwei verschiedenen Terminen sowohl glückliche Erlebnisse als auch (04./05. April 2022 und 08./09. April Mandat zu bewerben. Die ACA 2022) angeboten. Veranstaltungsort ist vertreten bei den gesetzlichen ist das Bildungs- und Tagungshaus Krankenkassen, der gesetzlichen Vierzehnheiligen im Erzbistum Bam- Rentenversicherung und bei Be- berg. Anmeldeschluss ist am 18. März rufsgenossenschaften. 2023 soll 2022. (pm) erstmals eine Stimmabgabe auch Mehr Informationen zum Kurs und online möglich sein. Wer ein Man- zur Anmeldung unter www.gemein- dat übernimmt, wird sechs Jahre de-creativ.de. lang in den Entscheidungsgremien der Sozialversicherungsträger den Kurs mitbestimmen. In den Gre- mien fallen die Entscheidungen über die personelle, finanzielle und strategische Ausrichtung der Sozialversicherungsträger. testen besiedelte Teil des Königreichs Nach der jüngsten Reform der – mit mehr als 55 Millionen Menschen Sozialwahlen sei eine stärkere Mit- leben dort etwa 85 Prozent der Ge- wirkung von Frauen ein zentrales samtbevölkerung. Seine Hauptstadt Ziel, heißt es. „Ihre beruflichen London ist wirtschaftliches Zentrum Erfahrungen und Kompetenzen sowie internationale Szene-Metropo- werden zukünftig die Entschei- le für Mode und Musik. Die Walise- dungen bei den Sozialversiche- rinnen und Waliser sind stolze Men- rungsträgern wesentlich beein- schen, die sich ihre keltische Sprache flussen“, erklärte die bayerische und Identität bewahrt haben. Von der ACA-Landesvorsitzende Angelika Schließung der Kohleminen in den Das umfangreiche Begleitmaterial Görmiller. 1980er Jahren hat sich Wales wirt- dazu kann auf der Homepage des Die ACA ist ein ökumenischer schaftlich bisher nicht erholt. Grü- Deutschen Komitees für den Welt- Verband. In ihm sind in Bayern die ne Wiesen, unberührte Moorland- gebetstag heruntergeladen und be- Katholische Arbeitnehmer-Bewe- schaften, steile Klippen und einsame stellt werden. Dort gibt es neben in- gung (KAB), das Kolpingwerk, die Buchten sind typisch für Nordirland. teressanten Hintergründen zu den Evangelische Arbeitsgemeinschaft Jahrzehntelange, gewaltsame Kon- Gastgeberländern, Bildmaterial und für soziale Fragen, der Berufsver- flikte zwischen den protestantischen Projektvorstellungen natürlich auch band der Hauswirtschafterinnen Unionisten und den katholischen wieder die beliebten Rezeptideen, so und der Evangelische Handwer- Republikanern haben bis heute tiefe dass der Weltgebetstag 2022 auch ku- kerverein zusammengeschlossen. Wunden hinterlassen. Diese Identitä- linarisch wieder ein Genuss werden (pm) ten, Brüche, aber auch Gemeinsam- kann. (pm) Mehr unter www.gemeinde- keiten sind Thema beim diesjährigen Mehr dazu unter www.gemeinde- creativ.de. Weltgebetstag. creativ.de. Gemeinde creativ Januar-Februar 2022 7
M E D I TAT I O N Von Hagen Horoba »Balken seiner Wohnung im Wasser«, Die jüdische Tradition kennt neben nimmt sich die Wolken zum Wagen dem Eigennamen Gottes – JHWH – Wie in der legendären Werbung ei- und fährt einher auf den Flügeln des noch weitere Gottesbenennungen, ner Finanzgruppe, so sind wir Men- Windes (Ps 104)? Sind wir Menschen eine bezeichnet Gott als māqōm schen immer wieder versucht, ein- dabei, diese Wohnung Gottes zu zer- – hebräisch für »Ort«. Diese Benen- ander nach den äußeren Schichten stören durch die Vernichtung der na- nung führt über unsere gedanklichen unseres Daseins zu beurteilen, nach türlichen Lebensgrundlagen? Grenzen hinaus, auch über die von Körper, Kleidung und zuletzt auch Wohnt Gott in den Kirchen, die uns als besondere Orte der Gegen- den Häusern, in denen wir wohnen. wir als seine Häuser – Gotteshäuser wart Gottes bezeichneten Kirchen, Ob man in der Badstraße oder in der – bezeichnen? Macht es einen Un- die Menschen, die Natur oder den Schlossallee, im Flüchtlingscamp terschied, wenn im Ritus der Weihe Himmel: Gott ist allerorten erfahr- oder unter einem Brückenbogen sein einer Kirche diese so gut wie nie als bar, weil er als māqōm allerorten an- Zuhause – seine Wohnung – hat, ent- »Haus Gottes« bezeichnet wird, da- sprechbar ist: Allen Versuchen, Gott scheidet leider viel zu häufig nicht für aber als »Haus des Herrn« (be- zu verorten, ist er damit weit voraus. nur über die Entwicklung eines Men- zogen auf Christus), »Haus der Ge- Bei Gott/māqōm finden alle Zu- schen, sondern auch darüber, wie wir meinde« und »Haus des Gebetes«? flucht, gerade auch die, die keine über einen Menschen denken. Haben wir Gott seiner Wohnung Wohnung haben, die Heimatlosen Wie denken wir über Gott? Wie beraubt? und Hoffnungslosen, sie alle dürfen beeinflussen die Wohnungen, die wir Wohnt Gott in den Menschen, sich im Gottesraum geborgen wissen. ihm zuweisen unser Gottesbild? Wo in ihren Herzen, im Nächsten oder Auch das, was in unseren Vorstellun- »wohnt« Gott überhaupt? im Anderen? Respektieren wir die gen oder Schubladen keinen Platz Wohnt er im Himmel des Kin- Unverletzlichkeit dieser Wohnung, findet, bei Gott/māqōm hat es einen derglaubens oder im neuen Himmel, wenn wir Menschen nach ihrer Ort. von dem uns die Offenbarung des Jo- Hautfarbe und Geschlecht, nach Und selbst, wenn wir Menschen hannes kündet? Ist er in »unzugäng- ihrer sexuellen Orientierung und Gott keinen Raum in unserer Her- lichem Licht« (1 Tim 6, 16), scheinbar vielen anderen Kategorien un- berge anbieten (Lk 2), ihn in seinem unerreichbar für uns Menschen, terscheiden, ihnen Lasten Eigentum nicht aufnehmen (Joh 1) zugleich aber auch allgegenwär- aufbürden, ihnen wo- und er scheinbar aus der Welt ver- tig? möglich den Se- drängt wird: Gott/māqōm ist »Woh- Wohnt Gott in der Na- gen verwei- nung von Geschlecht zu Geschlecht« tur, der Umwelt, der gern? (Ps 90) – für uns und die Welt. ganzen Schöpfung? Verankert er die F OTO : K N A B I L D Gemeinde creativ Januar-Februar 2022 9
Bezahlbar wohnen Ein Schlüssel für soziale Gerechtigkeit teilungswirkungen. Die Wohnungs bedingungen sind nicht nur ein Spiegel bestehender Ungleichheit, sondern tragen zu einer Steigerung der Ungleichheit bei. Es steigen die Vermögen und bei Vermietungen die Einkommen jener Wohlhaben- F OTO : A N D R I I YA L A N S K Y I / A D O B E S TO C K den und Wohnungskonzerne noch weiter, die in den Ballungsräumen über eine Vielzahl von Wohnungen verfügen. Zugleich machen sie dort den Erwerb von Wohneigentum für Einkommensschichten der unteren Mitte unerschwinglich und erschwe- ren es einkommensschwachen Haus- halten, sich adäquat mit Wohnraum zu versorgen. WOHNEN Seit Jahren steigen die Wohnungskosten dramatisch, vor allem in ALS MENSCHENRECHT Metropolregionen. Die Menschen sind davon unterschiedlich be- Diese Diagnose zeigt, dass es ein Irr- troffen. Wer bereits ein Eigenheim besitzt, ist von den Preissteige- weg ist, Marktkräften zuzutrauen, unseren Lebensraum zu gestalten. rungen auf dem Boden- und Wohnungsmarkt weniger betroffen, Es ist ein Gebot der sozialen Gerech- sondern profitiert meist davon, über den Wertzuwachs für seine tigkeit, in das freie Spiel der Kräfte Immobilie. Nirgendwo in der EU wohnen aber weniger Menschen einzugreifen. Denn der Wohnraum in den eigenen vier Wänden als in Deutschland, im Schnitt nur ist nicht einfach eine Ware. Er hat, so Papst Franziskus in der Enzyklika jeder zweite. Eine entscheidende Rolle, ob das Wohnen zu einer Laudato si‘, „viel mit der Würde der sozialen Frage wird, spielt das verfügbare Einkommen. Personen“ (LS 152) zu tun. Deswegen ist das Menschenrecht auf Wohnen Von Martin Schneider Blick auf die Mietbelastungsquote Teil des Rechtes auf einen adäquaten Theologischer Grundsatzreferent zeigt. 27 Prozent ihres Nettoein- Lebensstandard, das der Internatio- beim Diözesanrat München und kommens müssen Mieterinnen und nale Pakt über die wirtschaftlichen, so- Freising Mieter in Deutschland im Durch- zialen und kulturellen Rechte (ICESCR schnitt für die Kaltmiete ausgeben. bzw. UN-Sozialpakt) garantiert. Laut einer Studie der Hans-Böckler- Mehr als 40 Prozent des Einkom- Daraus folgt erstens, dass die Stiftung (2021) werden die Unter- mens für die Miete auszugeben, kann Schaffung von bezahlbarem Wohn- schiede zwischen Arm und Reich armutsgefährdend sein. 2019 lebten raum eine öffentliche Aufgabe ist. durch das Wohnen größer. Es gibt in Deutschland 11,4 Millionen Men- Dies sollte schon aus Gründen der genügend reiche Leute, an die man schen in durch ihre Wohnkosten Marktgerechtigkeit einsichtig sein. jederzeit eine Wohnung verkaufen überlasteten Haushalten. Das sind Denn auf dem Wohnungsmarkt ha- oder vermieten kann, während die 14 Prozent der Bevölkerung. ben die Anbietenden eine zu große anderen nicht wissen, wo sie bleiben. Die Entwicklungen auf dem Woh- Marktmacht, zumindest in Ballungs- Wohnen kann arm machen, wie ein nungsmarkt haben erhebliche Ver- gebieten. Dies hängt zum einen mit 10 Gemeinde creativ Januar-Februar 2022
SCHWERPUNKT dem Gut des Bodens zusammen. dras tischen Anstieg der Bodenprei- darf es Anreize und Instrumente, den Dieses unterscheidet sich merklich se. Gewinne, die aus der Spekulation vorhandenen Wohnraum effizienter von einem „üblichen marktgängigen mit Grund und Boden resultieren, zu nutzen. Gut“. „Erstens braucht jeder woh- zu besteuern, ist eine Forderung der Fünftens sollte mehr Energie in nende Mensch Boden, und zweitens Gerechtigkeit. Denn Bodenwertstei- die Förderung des Wohneigentums ist Boden nicht beliebig vermehrbar gerungen sind fast vollständig unver- für möglichst breite Bevölkerungs- und immobil“, so die im Frühjahr diente Gewinne, die den Bodeneigen- kreise gesteckt werden. Für etwas Ei- 2021 erschienene EKD-Studie „Be- tümern ohne eigene Leistungen al- genes verantwortlich zu sein und da- zahlbar wohnen“ (S. 33). Weil zudem lein aufgrund der gesellschaftlichen rauf vertrauen zu können, dass dieses die Entscheidung, eine Wohnung oder wirtschaftlichen Entwicklung Eigene auch geschützt wird, schafft in einer bestimmten Stadt zu su- der Region zufallen. für den Einzelnen langfristige Si- chen, durch berufliche und familiäre Viertens kann einer Ursache für cherheit und eröffnet Freiheitsräume. „Zwänge“ bestimmt ist, entfalle ein den Anstieg der Wohnkosten ent- Eine breite Eigentumsstreuung ist wesentliches Marktkorrektiv, das gegengewirkt werden, indem das zudem gesellschaftlich wünschens- bei üblichen Gütern besteht, indem Postulat „gleichwertiger Lebensver- wert, denn sie verringert die Abhän- ohne großen Aufwand auf ein preis- hältnisse im Bundesgebiet“ (Art 72.2 gigkeit der Bürgerinnen und Bürger günstigeres Produkt ausgewichen GG) umgesetzt und die Attraktivität von Vermietern und trägt substan- werden kann (S. 35). Wenn aber keine von strukturschwachen Regionen er- ziell zur individuellen Alterssiche- Marktgerechtigkeit herrscht, muss höht wird. Umso mehr Menschen im rung bei. Dazu müsste aber vor allem die öffentliche Hand eingreifen, auch ländlichen Raum verbleiben oder auf das soziale System an sich beitragen. um die Bildung übermäßiger wirt- das Land ziehen, umso mehr wird der Die sozialstaatlich garantierten Leis- schaftlicher Macht zu verhindern. Druck auf die Metropolregionen ge- tungen und Schutzmechanismen Aus diesem Grund ist es parallel zur bremst. Eigentlich müsste die nächs- sollten als „Sozialeigentum“ angese- Etablierung von Mietpreisbremsen ten 20 Jahre keine einzige neue Woh- hen werden. Dass das Versprechen und zur massiven Ankurbelung des nung gebaut werden, wenn die Suche auf soziale Sicherheit im Rahmen sozialen Wohnungsbaus notwendig, nach Wohnraum geografisch klüger eines erhitzten Wohnungsmarktes eine „Neue Wohngemeinnützigkeit“ verteilt wäre und der vorhandene bis in die Mittelschicht hinein nicht einzuführen – also dieses 1990 im Wohnraum effizienter genutzt wer- mehr garantiert werden kann, ist Zuge des Skandals mit der „Neuen den würde. Einer einzelnen Person gefährlich, weil damit das Vertrauen Heimat“ zu Grabe getragene Instru- steht derzeit in Deutschland so viel in das demokratische Gemeinwei- ment wiederzubeleben. Wohnfläche wie nie zuvor zur Verfü- sen unterminiert wird. Dieser Ent- Zweitens braucht es selbstbe- gung. Aktuell sind es im Schnitt etwa wicklung nicht taten- und wortlos wusste Kommunen, die soziale und 47 m², 1991 waren es lediglich 31,9 m². zuzuschauen, ist ein „Zeichen der genossenschaftliche Wohnprojekte Bevor einfach mehr gebaut wird, be- Zeit“. fördern. Kommunen können eigene Wohnungsgesellschaften gründen, Land vorausschauend erwerben und Ein Blick in die Geschichte zeigt, rechten Gestaltung des Wohnungs- an diejenigen Bauherren verkaufen, dass in den 1960er und 1970er marktes im Spannungsfeld sozialer, die ein schlüssiges Konzept für eine Jahren die Reform des Eigentums- ökologischer und ökonomischer soziale Durchmischung und günstige und vor allem des Bauboden- Verantwortung“. Es wird erkannt, Mieten haben. Mit festen Quoten für rechts maßgeblich von sozialka- dass es längst an der Zeit ist, die den sozialen Wohnungsbau in Neu- tholischen und -protestantischen Wohnungs- und Bodenordnungs- baugebieten kann vermieden werden, Initiativen beeinflusst wurde. In politik in den Fokus der Aufmerk- dass in bestimmten Stadtteilen der den 1980er Jahren sind die Stim- samkeit zu rücken. Im EKD-Text Anteil von sozial schlecht gestellten men der Kirchen hierzu nahezu von 2021 wird dabei von drei Bürgerinnen und Bürger unverhält- verstummt. Angesichts der dras- Handlungsfeldern ausgegangen, nismäßig hoch ist. Wenn Baugenos- tisch steigenden Wohnungskos- die sich für die Kirchen ergeben: senschaften und Baugemeinschaften ten werden sie mittlerweile aber „Sie sehen innerhalb ihres Auftra- bei der Baulandvergabe stärker zum wieder lauter. Beispiele sind zum ges zur öffentlichen Verantwor- Zuge kommen, ist sichergestellt, dass einen das im Juni 2020 veröffent- tung die Aufgabe der ethischen dieses unter Maßgabe einer größt- lichte Papier „Mehr Teilhabe und Orientierung im öffentlichen möglichen Nutzung für das Gemein- Zusammenhalt durch gleichwerti- Diskurs, sie sind mit ihren Kir- wohl veräußert wird. Darüber hinaus ge Lebensverhältnisse. Ein kirchli- chengemeinden, Beratungsstel- ist es überlegenswert, dass kommu- cher Diskussionsbeitrag“ der Kom- len und Einrichtungen zur Woh- nales Bauland nicht verkauft, son- mission für gesellschaftliche und nungslosenhilfe sozialdiakonisch dern im Rahmen von Erbpachtverträ- soziale Fragen der deutschen Bi- tätig und sie sind als Eigentümer gen vergeben wird. schöfe, zum anderen der im März von Boden und Gebäuden in der Drittens benötigen wir Instru- 2021 publizierte EKD-Text „Be- Pflicht, mit diesen Gütern ethisch mente, um der Haupttriebfeder der zahlbar wohnen. Anstöße zur ge- verantwortlich umzugehen.“ steigenden Wohnkosten in Ballungs- räumen entgegenzuwirken: dem Gemeinde creativ Januar-Februar 2022 11
INTERVIEW „Mir ist wichtig, dass die Menschen überall in Bayern leben können.“ Seit fast zwei Jahren ist Kerstin Schreyer inzwischen Bayerische schaffen lassen können. Wir als Frei- Staatsministerin für Wohnen, Bau und Verkehr. In ihrem Minis- staat müssen da schon auch mit an- terium laufen Megatrends zusammen – Wohnungsnot und die schieben. Das tun wir auch sehr in- tensiv und erfolgreich. Frage nach bezahlbarem Wohnraum, ökologisches Bauen und Stichwort „Sozialer Wohnungsbau“ – nachhaltige Flächennutzung sowie die Auswirkungen der wurde hier in den vergangenen Jahren Corona-Pandemie, die viele Städter auf’s Land getrieben hat. etwas verpasst? In den vergangenen Jahren konnten Gemeinde creativ: In der aktuellen gegangen. Insofern war die Frage des wir den Stand der Sozialwohnun- Ausgabe von Gemeinde creativ geht es Wohnens nicht ganz so entscheidend. gen auf einem konstanten Niveau um das Thema „Wohnen“, können Sie Jetzt wird sie aber umso wichtiger. halten. 2020 waren es bayernweit zu Beginn einen kurzen Überblick zur Mehr als jeder achte Bewohner von mehr als 135.000. In den nächsten Wohnraumsituation in Bayern geben? Städten mit mehr als einer halben Jahren laufen weiterhin planmäßig Kerstin Schreyer: Der Bereich „Woh- Million Einwohner will diese laut ei- Sozialmietwohnungsbindungen aus, nen“ ist eine ganz große Herausfor- ner Befragung des Münchner ifo-Ins- gleichzeitig werden im Rahmen der derung. Und zwar deswegen, weil tituts und des Immobilienportals Im- Wohnraumförderung neue Bindun- hier die Fragen so unterschiedlich mowelt binnen maximal eines Jahres gen begründet. Wir investieren also sind. In Städten wie München haben verlassen. Wenn man feststellt, dass weiterhin kräftig in kostengünstigen wir noch nicht mal mehr die Frage man vielleicht nur zweimal die Wo- Wohnraum. nach kostengünstigem Wohnraum. che zum Arbeiten in eine Stadt fah- Viele Städter drängen ins Umland, Denn es gibt praktisch keinen. Hier ren muss, weil man den Rest zuhause welche Konsequenzen hat das für die- müssen wir überlegen: Wie kriegen digital machen kann, dann wird man se Regionen. Sehen Sie hierin eher Vor- wir überhaupt diesen Wohnraum sich auch überlegen, ob man nicht oder Nachteile? her? Im ländlichen Raum stellt sich lieber weiter rauszieht und sich viel- Mir ist wichtig, dass die Menschen dagegen eher die Frage: Kann ich mir leicht dort Wohneigentum schafft. überall in Bayern leben können. Da- ein Eigenheim erwerben? Diese ver- In den Ballungsräumen können sich mit es im Umland nicht bald die glei- schiedenen Fragen müssen wir unter heute schon viele Menschen das Woh- chen Probleme wie in den Städten einen Hut bekommen. nen nicht mehr leisten, sind auf Hilfen gibt, müssen wir das Thema Wohnen Preise für Wohnungen und Bauland angewiesen und das, obwohl sie eine ganzheitlich betrachten. Ich spreche steigen seit Jahren stetig an, wie sehen Vollzeitbeschäftigung haben… zum Beispiel von der Straßen- und Sie diese Entwicklung? Wird Wohn- Es gibt nur ein Mittel gegen Woh- Schieneninfrastruktur und natürlich eigentum bald nur noch etwas für die nungsmangel: Bauen. Wir als Frei- auch vom ÖPNV. Wir müssen hier Privilegierten der Gesellschaft sein? staat unterstützen natürlich auch die richtigen Rahmenbedingungen Wohneigentum in Städten wie Mün- entsprechend. Zum Beispiel über die und Anreize setzen, dann werden chen zu schaffen, ist tatsächlich selbst Wohnraumförderung. Das waren im auch die Vorteile überwiegen. für sehr gut verdienende Menschen vergangenen Jahr 848,6 Millionen Es wird viel gesprochen über Flächen- fast unmöglich geworden. Hier gibt Euro, die wir da zur Verfügung hatten. versiegelung, darüber, dass das Einfa- es auf dem Land mehr Möglichkeiten. 2020 haben wir bayernweit mit ähn- milienhaus nicht das Wohnmodell der Corona bringt da nun noch mal eine lichen Mitteln mehr als 9.500 Woh- Zukunft sein sollte, und über ressour- völlig neue Dynamik rein. Früher nungen gefördert. Und wir bauen censchonendes Bauen. Wie sieht für war man es in der Stadt oft einfach auch selbst! Mit der Stadibau, mit der Sie nachhaltiges Bauen und Wohnen gewohnt, in einer kleineren Woh- BayernHeim und mit der Siedlungs- zukünftig aus? nung ohne Garten und ohne Balkon werk Nürnberg. Weil wir eben auch Das Thema Nachhaltigkeit ist zent- zu leben. Abends ist man vielleicht der Auffassung sind, dass wir unsere ral für uns. Mit den Modellvorhaben eh noch zum Essen oder zum Sport Kommunen nicht allein Wohnraum des Experimentellen Wohnungsbaus 12 Gemeinde creativ Januar-Februar 2022
haben wir in meinem Ministerium in seiner Regierungserklärung zum Grünflächen zu Straßenbiotopen für schon vor vielen Jahrzehnten einen Klimaschutz viele Bereiche ange- Bienen, Schmetterlinge und Co. eigenen Impulsgeber ins Leben ge- sprochen, in denen wir noch besser Während der Corona-Pandemie ha- rufen. Er liefert uns seitdem Innova- werden wollen: Fassadenbegrünung, ben viele Menschen ins Homeoffice tionen und Blaupausen für zukünf- Photovoltaik auf Dächern oder auch gewechselt, nicht alle werden (wieder tiges und bezahlbares Wohnen für urban gardening. Wir sind hier an vie- vollständig) in die Büros zurückkehren die Praxis. Und da ist wirklich eine len Themen dran und wollen auch als – leer stehende Büroflächen auf der Menge Musik drin. Im neuesten Mo- Verwaltung mit unseren eigenen Ge- einen, längere Pendlerstrecken (wenn dellvorhaben „Klimaanpassung im bäuden Vorbild sein. auch nicht täglich) auf der anderen Wohnungsbau“ geht es zum Beispiel Neben den „großen Projekten“, was Seite. Wie kann man dem infrastruk- um den Klimawandel und seine Aus- kann im Kleinen, in jeder Gemein- turell begegnen? wirkungen auf das Wohnen und die de und in jedem privaten Vorgarten, Wenn wir möchten, dass Pendler die Gesundheit der Bewohnerinnen und getan werden? öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, Bewohner. In unserer Broschüre „Artenschutz müssen wir Angebote schaffen. Ein Es gibt viele Visionen von „grünen leicht gemacht“ haben wir Tipps Thema ist die Reaktivierung von Städten“, wie können Artenvielfalt und und Tricks zusammengefasst, wie Bahnstrecken. Allerdings muss man Umweltschutz an Straßen, auf Dä- Artenschutz auch zuhause gelingt. hier ganz genau hinschauen. Es bringt chern, an Fassaden und in Gärten ge- Die Broschüre kann auf unserer In- nichts, in leeren Zügen Luft zu bewe- fördert werden bzw. welche Projekte ternetseite kostenlos bestellt werden. gen. Wenn nicht eine bestimmte Zahl gibt es hier schon? Wir wollen auch hier Vorbild sein: An von Fahrgästen erreicht wird, sind Das Ökologie-Thema wird uns natür- den Staats- und Bundesstraßen im Busse oft die ökologisch sinnvollere lich immer mehr beschäftigen. Etwa Freistaat lassen wir an Böschungen Alternative. Und dazu braucht man 30 Prozent der CO2-Emissionen in und entlang der Straßen, wo es die wieder den Straßenbau, denn Busse Deutschland gehen auf Gebäude Straßenverkehrssicherheit zulässt, und Sammeltaxis fahren bekanntlich zurück – im Verkehrssektor sind es ganz bewusst Blühflächen und Rück- auch auf Straßen. Wir müssen Ange- etwa 19 Prozent. Wir können hier zugsräume für Insekten und andere bote in allen Bereichen schaffen. also richtig etwas bewegen. Unser Tiere stehen. Außerdem werden etwa Mehr unter www.gemeinde- Ministerpräsident Markus Söder hat 1.000 Hektar besonders wertvolle creativ.de. Kerstin Schreyer (*1971) ist seit Februar 2020 Bayerische Staatsministerin für Wohnen, Bau und Verkehr. Davor war sie Bayerische Sozialministerin (2018 bis 2020) und Integrationsbeauftragte der Bayerischen Staatsregierung (2017 bis 2018). Die studierte Sozialpädagogin gehört dem Landtag seit 2008 an. F OTO : S T M B /AT E L I E R K R A M M E R Gemeinde creativ Januar-Februar 2022 13
SCHWERPUNKT Gemischte Gefühle Von Jörn M. Scheuermann ßen, dass die Zahl der betroffenen an sich mit einer exorbitanten Sum- Geschäftsführer der Arbeitsgemein- Menschen in Bayern bis heute auf me subventioniert werden muss, weil schaft Wohnungsnotfallhilfe Mün- ca. 18.000 weiter rasant gestiegen sich Teile der eigentlichen Marktteil- chen und Oberbayern ist. Es ist mit dem geflügelten Wort nehmerinnen- und teilnehmer die der „sozialen Marktwirtschaft“ nur aufgerufenen Preise überhaupt nicht Seit der Wiedervereinigung Deutsch- schwer in Einklang zu bringen, dass mehr leisten können – einen Markt lands verfolgen wir wohnbaupoli- in strukturstarken Regionen Men- nennen sollte, muss an dieser Stelle tisch eine klare Strategie: Der Staat schen teilweise trotz Vollbeschäfti- eine philosophische Frage bleiben. Es hält sich zurück und versucht Vertei- gung keinen leistbaren Wohnraum wäre jedenfalls hilfreich, sauber ein- lungsgerechtigkeit auf dem versor- finden und so im Einzelfall gar auf zuordnen, dass diese im Bundeshaus- gungsrelevanten Feld des Wohnens einen Platz in einer Einrichtung der halt als Sozialabgaben „getarnten“ über marktwirtschaftlich organisier- Wohnungsnotfallhilfe angewiesen Steuermittel eigentlich eine indi- te Prozesse zu erzielen. So wurden sind. „Wohnungslos trotz Voller- rekte Wirtschaftsförderung privater beginnend mit den 1990er Jahren werbstätigkeit“ – in den Metropolre- Wohnbauunternehmen sowie deren eine größere Anzahl von ehemals gionen unserer Republik sind Teile Gewinne darstellen. gemeinnützigen Wohnungsunter- der sogenannten gesellschaftlichen nehmen – insbesondere aus dem Mitte – Stichwort Niedriglohnsek- EINE LÄNGST Besitz des Bundes, der Länder und tor und unterbezahlte Berufe – mit VERGANGENE ÄRA? Kommunen – an deutsche und inter- einem die Existenz bedrohenden Ar- Nachdem es überspitzt formuliert nationale Finanzinvestoren verkauft, mutsrisiko konfrontiert. unsere Bundeskanzlerin a.D. Angela die heute zu großen börsennotierten Es ist zu bedauern, dass dieses Merkel also geschafft hat, mit ihrer Konzernen mit Orientierung auf ma- brennende Thema von der bishe- Wirtschafts-, Finanz- und Wohnbau- ximale Renditen verschmolzen sind. rigen Bundesregierung mit dem politik das 20. Jahrhundert um 16 Jah- Die Wohngemeinnützigkeit, also Wohngipfel 2018 lediglich öffentlich- re zu verlängern, scheint die FDP nun die Wohnraumversorgung breiter keitswirksam genutzt wurde – nen- Willens zu sein, in der neuen Koali- Bevölkerungsschichten ohne Rendi- nenswerte, substanzielle gesetzliche tion in ihre Fußstapfen zu stolpern teerwartung, wurde 1990 in Gänze Veränderungen für die Schaffung von – die beiden anderen Koalitionäre abgeschafft. Das Ergebnis: Von Bun- günstigem Wohnraum wurden we- bleiben seltsam blass. Es ist neben desweit einst ca. 3,3 Millionen Woh- der in der letzten, noch in den Legis- weiteren namhaften Wirtschafts- nungen mit Sozialbindung 1990 exis- laturen zuvor geschaffen. wissenschaftlerinnen und -wissen- tieren aktuell noch ca. 1,1 Millionen, Eine kurze Analyse des parteiüber- schaftlern immerhin der ehemalige Tendenz weiter fallend. greifend und zu jeder Zeit gerühmten Chefökonom der Weltbank und Instrumentes „Wohngeld“ führt uns Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. WOHNUNGSLOS zu den politisch verantwortlichen Stieglitz, der überraschend scharf da- TROTZ VOLLZEITJOB Akteuren, die sich in Talkshows stets vor warnt, die FDP huldige mit ihrem In München regeln die rechtlichen in Sorge über die steigenden Sozi- wirtschaftspolitischen Ansatz bezüg- Rahmenbedingungen des Markt- alausgaben des Bundeshaushaltes lich Schuldenbremse und Europa geschehens, dass die Zahl woh- zeigen. Dass es aber in der Regel ge- konservativen Klischees einer längst nungsloser Menschen, die von der nau diese Akteure sind, die stets eine vergangenen Ära. Im Ignorieren der Landeshauptstadt im Kontext der Erhöhung dieser sogenannten „Sub- ökonomischen Erkenntnisse der ordnungsrechtlichen Unterbringung jektförderung“ fordern, sich also für vergangenen Jahre sowie der damit im Sofortunterbringungssystem ver- den Ausgleich steigender Mietpreise verbundenen Verweigerung der Wei- sorgt werden müssen, in den vergan- durch die Erhöhung von Wohngeld, terentwicklung der Schuldenbremse genen zehn Jahren von unter 2.500 der Kosten der Unterkunft oder der werden zur Ermöglichung der Finan- auf mittlerweile ca. 8.200 Personen Grundsicherung einsetzen, entfal- zierung überfälliger Investitionen, gestiegen ist, darunter mehr als 1.700 tet auf den ersten Blick eine gewisse unter anderem für eine substanzielle Kinder unter 18 Jahren. Die im Jahr Komik – doch auf den zweiten kann Bautätigkeit des Bundes, der Länder 2019 veröffentlichten, bereits 2017 man die harte Vertretung von Wirt- und Kommunen, allerlei haushalte- erhobenen Zahlen wohnungsloser schaftsinteressen klar erkennen: Ge- rische Verrenkungen notwendig sein. Menschen in Bayern, weisen allein nau genommen subventionieren alle Der Bundesminister der Finanzen für den Zeitraum 2014 bis 2017 einen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler scheint den Versuch zu wagen, die Anstieg um annähernd 30 Prozent einen völlig aus dem Ruder gelaufe- Herausforderungen der Zukunft mit aus (von knapp 12.000 auf ca. 15.500 nen Mietwohnungsmarkt mit jähr- den ökonomischen Glaubenssätzen Personen). Allein die Steigerungs- lich 18 Milliarden Euro. Ob man ei- der Vergangenheit bewältigen zu rate in München lässt darauf schlie- nen „Markt“ – der vom Steuerzahler wollen. 14 Gemeinde creativ Januar-Februar 2022
SCHWERPUNKT So bleibt die Aussicht auf eine Wen- gemeinheit nutzbar zu machen sind. baut auf Boden und Immobilien auf de am Mietwohnungsmarkt vorerst Die Erträge aus Bodenwertsteigerun- – mehr als 50 Prozent der Kredite an trotz des im Koalitionsvertrag ange- gen werden nun auch unter der neu- Unternehmen und Haushalte sind kündigten Bauzieles von 400.000 en Regierung überhaupt nicht oder durch Boden besichert, 80 Prozent Wohneinheiten/Jahr ziemlich verne- wenn dann nur in geringem Umfang des Vermögens von Haushalten ist belt: Ziele bauen keine Wohnungen. besteuert, sind aber überwiegend Immobilienbesitz. Der Deutsche Städtetag begrüßt nicht auf Leistungen des Grundei- Hoffnung macht hingegen der von die angekündigte Novellierung des gentümers zurückzuführen, sondern Experten schon seit Jahren geforderte Baugesetzes, die effizientere Ausge- vielmehr auf Leistungen des Gemein- (Wieder)Einstieg in eine neue Wohn- staltung von bestimmten Instrumen- wesens durch die das Umfeld aufge- gemeinnützigkeit, um die Schaffung ten, die Digitalisierung und Verkür- wertet wird, beispielsweise durch die von günstigem Wohnraum wieder zung der Planverfahren, aber auch Schaffung von Baurecht und Infra- ökonomisch sinn- und reizvoll zu die Absenkung der Kappungsgrenze struktur. Eine Reform der Bodenbe- machen. Hier ist grundsätzlich da- im Kontext legaler Mietsteigerungen steuerung, die eine gemeinwohlori- von auszugehen, dass dem Einsatz in angespannten Mietmärkten. Kriti- entierte Wohnraumpolitik im Blick öffentlicher Fördermittel – egal ob siert wird hingegen zu Recht deutlich, hat und zwischen unterschiedlichen durch Steuerverzichte, Steuergut- dass die wirklich wirksame Stellen- regionalen Gegebenheiten diffe- schriften oder Zuschüsse und För- schraube, nämlich die mietpreis- renziert, hätte bewirken können, derdarlehen – auch ein dementspre- treibende Spekulation mit Grund dass leistungslose Steigerungen des chender dauerhafter und nicht nur und Boden, nicht justiert wird. Am Bodenwertes abgeschöpft und für zeitlich eng begrenzter öffentlicher Beispiel München lässt sich zeigen, Aufgaben der kommunalen Daseins- Förderzweck gegenüberstehen wird. dass 1961 acht Prozent der Baukosten fürsorge genutzt werden können. Es Doch auch eine Bautätigkeit, auch eines Hauses auf die Grundstücks- ginge hier nicht um das zum Wohnen wenn sie nicht renditeorientiert ist, kosten fielen. 1970 waren es bereits oder Erwerb dienende Boden- und braucht ein Grundstück. Ob nun das 16 Prozent. Mittlerweile sind es gar Immobilieneigentum breiter Schich- Vorhaben der Weiterentwicklung der F OTO : K E N I S H I R OT I E / A D O B E S TO C K 80 Prozent der Gesamtkosten. ten der Bevölkerung, sondern aus- Bundesanstalt für Immobilienaufga- Nun steht im Grundgesetz der schließlich und gezielt um jene Im- ben (BIMA) zu einer Wohnbaugesell- Bundesrepublik Deutschland nicht mobilienvermögen, die gewerbsmä- schaft und damit verbunden das Ein- nur, dass Eigentum verpflichtet, in ßig betrieben und gehandelt werden bringen bundeseigener Grundstücke der Bayerischen Verfassung steht in und vor allem auf die Erzielung von punktgenau in den Ballungszentren Artikel 161 sogar, dass Steigerungen Maximalrenditen aus Bodenwert- die Abhilfe schafft, welche die explo- des Bodenwertes, die ohne besonde- steigerungen angelegt sind. Trivial dierenden Zahlen wohnungsloser ren Arbeits- oder Kapitalaufwand des wäre dies allerdings nicht gewesen: Menschen fordern: Es bleibt, dies als Eigentümers entstehen, für die All- Das Finanzsystem in unserem Land Gesellschaft kritisch zu beobachten. Gemeinde creativ Januar-Februar 2022 15
Eines der knappsten Güter Der Flächenfraß in Bayern muss aus ökologi- schen Gründen dringend gestoppt werden Vor genau 20 Jahren richtete Günther Beckstein einen dringen- BUND-Vorsitzende Richard Mergner, den Appell an die Städte und Gemeinden in Bayern: Angesichts ist aktuell eines der größten Umwelt- fortschreitender Versiegelung, so der damalige Innenminister, probleme im Freistaat. Anne Weiß stimmt dem, was der sollten die Kommunen sehr sparsam mit ihren Flächen umge- Vorsitzende des Naturschutzver- hen. Zu jener Zeit wurden noch Tag für Tag im Schnitt 28 Hektar bands sagt, voll und ganz zu. Die an Fläche im Freistaat verbraucht. Im vergangenen Jahr waren Geografin ist Flächensparmanagerin es „nur“ noch 11,6 Hektar täglich. Insgesamt aber wurden in bei der Regierung von Unterfran- ken. Als solche berät sie Gemeinden, den letzten zwei Jahrzehnten riesige Areale versiegelt. wie sie Boden schützen können. Das ist nicht immer einfach. Ein großes Von Pat Christ wiederum verschärft die Gefahr von Problem besteht darin, dass Bürger Freie Journalistin Hochwasser.“ Böden als Spekulationsobjekt erwor- Unter der Webadresse der Stadt ben haben. Rein pekuniär betrachtet, Die Bodenversiegelung ist ein Prob- Nürnberg kann ein interessantes lem, welches das industrielle ZeitalterKonzept zum behutsamen Umgang den Menschen beschert hat. Immer mit freien Flächen abgerufen wer- mehr Flächen wurden zunächst für den: „Masterplan Freiraum“ nennt Bahnlinien und später für Straßen es sich. „Die Stadt Nürnberg setzt auf verbraucht. Boden wurde genutzt, eine nachhaltige Stadtentwicklung um Wohnungen, Gewerbe- und mit der Vorgabe: Innenentwicklung Industriebetriebe zu bauen. Hinzu vor Außenentwicklung‘“, erklärt kommen heute Flächen für erneuer- dazu Umweltreferentin Britta Walt- bare Energien. Etwa für große Pho- helm. Diese städtebauliche Strategie tovoltaikanlagen. Längst weiß man: bezweckt, den zukünftigen Bedarf an Der Flächenfraß kann und darf nicht Fläche für den Bau von Wohnungen, derart ungebremst weitergehen. Die Arbeitsstätten und Kitas dadurch zu Anne Weiß ist Flächensparmanagerin in Staatsregierung bekräftigte denn decken, dass man bereits erschlos- Unterfranken. auch in der Bayerischen Nachhaltig- sene Flächen im Stadtinneren nach- keitsstrategie 2017, dass sie den Ver- verdichtet. Flächen auf der „Grünen ist das clever: Wer sein übriges Geld brauch an Fläche langfristig deutlich Wiese“ sollen in Nürnberg möglichst vor zehn Jahren in Böden investiert reduzieren möchte. Ziel sei eine „Flä- nicht mehr ausgewiesen werden. hat, ist heute ein „gemachter Mann“. chenkreislaufwirtschaft“. Flächen im Inneren von Städten oder Viele Menschen, vor allem die Jün- GROSSES UMWELTPROBLEM Dörfern brachliegen zu lassen, wider- geren, sind heute sehr besorgt wegen Allein auf den CO2-Fußabdruck zu spricht allerdings eklatant dem Ge- des Klimawandels. Dieses Thema schauen, reicht nicht. Im Sinne der meinwohl. Denn dann muss neues dominiert seit langem den öffentli- Nachhaltigkeit muss der gesamte Land außerhalb verbraucht werden. chen Diskurs über Umweltproble- „ökologische Rucksack“, also der Res- Gemeinden können in dieser Situ- me. Die Bodenversiegelung scheint sourcenverbrauch, der Wasserfuß- ation in ein großes Dilemma geraten. eher zweitrangig zu sein. Dabei ist abdruck und der Flächenverbrauch, Wie geht man mit Bürgerinnen und auch sie ganz und gar nicht „ohne“. betrachtet werden. In Nürnberg Bürgern um, die Flächen blockieren? Wird immer mehr Fläche versiegelt, wird eben dies versucht. Hier setzt „Mir sagte einmal ein Bürgermeister, verursacht das vielfältige Probleme, man auch keineswegs allein auf dass es nichts nützt, solche Bürger warnte das Bundesumweltministeri- Flächensparen durch Nachverdich- einmal anzusprechen, es nützt auch um schon vor mehr als zehn Jahren. tung, betont Britta Walthelm: Die nichts, sie zweimal anzusprechen“, Wertvoller fruchtbarer Boden geht Innenstadt soll gleichzeitig grüner schildert Anne Weiß. Immer wieder verloren: „Pflanzen und Tiere verlie- werden. Solche Konzepte sind ganz müssten die Eigentümer beackert ren ihren Lebensraum.“ Versiegelter im Sinn des Bund für Umwelt- und und auf den Grundsatz „Eigentum Boden vermindert zudem die Versi- Naturschutz in Bayern (BUND). Der verpflichtet!“ hingewiesen werden, ckerung von Niederschlägen: „Das hohe Flächenverbrauch, mahnt der bis sie sich einsichtig zeigen und die 16 Gemeinde creativ Januar-Februar 2022
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