DAS JOURNAL #MUSIK UND MEDIEN - HFMT KÖLN

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DAS JOURNAL #MUSIK UND MEDIEN - HFMT KÖLN
Das Journal
#Musik
und Medien

                                                     Heft 2 | Mai 2021
Nicolas Berge / Evelyn Buyken /
Heinz Geuen / Tobias Hartmann / Jonathan Hennig /
Susanne Kessel / Felix Knoblauch / hans w. koch /
Liga Korne / Svantje Lichtenstein / Uwe Mattheiß /
Johannes Moser / Jaana Müller-Brehm /
Rainer Nonnenmann / Isabel Pfeiffer-Poensgen /
Kobie van Rensburg / Heike Sauer /
Stephanie Schroedter / Johannes Tiemann
DAS JOURNAL #MUSIK UND MEDIEN - HFMT KÖLN
Das Journal                                                    ZUR SACHE! – DAS THEMENHEFT
                                                          05 Von der Notenschrift zum Digital Editing: Gedanken zum zweiten Heft »Das Journal«
                                                               von Rainer Nonnenmann

#Musik
                                                               DISKUSSION – MUSIK UND GESELLSCHAFT
                                                          09 »Ich bin Berufsoptimistin«: Isabel Pfeiffer-Poensgen, Ministerin für Kultur und
                                                               Wissenschaft des Landes NRW, im Gespräch mit Rainer Nonnenmann
                                                          11 Algorithmen für die Massen: Informationen und Kunst vermessen von Jaana Müller-Brehm
                                                          13 Rundfunkstaatsvertrag (RStV), II. Abschnitt, § 11 Auftrag

und Medien                                                     GLOBALE KULTUR – GEDANKEN UND ERFAHRUNGEN
                                                          15 Latent gegenwärtig: Wie die Pandemie das Unbekannte berührt von Swantje Lichtenstein
                                                          19 Regeln und Repräsentation: Über zeitbasierte Künste in der Pandemie und die
                                                               Grammatik digitaler Medien von Uwe Mattheiß

                                                               MEDIAMORPHOSE – PERSPEKTIVEN UND VISIONEN
                                                          21 Quo vadis homo digitalis? von Johannes Moser
                                                          25 medien kunst stücke von hans w. koch
                                                          29 Mixturen von Sein und Schein: Der Sänger und Regisseur Kobie van Rensburg über
                                                               Multimedia in der Oper, im Gespräch mit Rainer Nonnenmann

                                                                                                                                                             03 | Das Journal – Inhalt
                                                               WIE TICKT KÖLN? – STREIFZÜGE DURCH DIE MUSIKSTADT
                                                          33 Symbiosen von Musik und Medienkunst in der Kölner Szene von Felix Knoblauch
                                                          35 Wo ist das Publikum? Ein Selbstreport mit Ausflügen von Evelyn Buyken

                                                               AUS DER PRAXIS – LEHRE UND BERUF
                                                          39 Kopieren, Adaptieren, Referenzieren: Komponieren im postdigitalen Zeitalter von Nicolas Berge
                                                          41 Algorithmische Choreographien in virtuellen Klangwelten von Stephanie Schroedter

                                                               AUF DEM PRÜFSTAND – ANALYSE UND WERTURTEIL
                                                          45 Drei Fragen an Sampling von Tobias Hartmann

                                                               GESTERN UND HEUTE – ALUMNI ERINNERN SICH
                                                          47 »Die Scheinwerfer auf unsere Zeit richten«: Die Pianistin Susanne Kessel im Gespräch
                                                               mit Jonathan Hennig, Liga Korne und Johannes Tiemann

                                                               BEMERKENSWERT – MENSCHEN UND AKTIONEN
                                                          51 Raum für Assoziationen: Videos in Produktionen der »Literaturoper« der
                                                               HfMT Köln von Heike Sauer
                                                          55 »Massieren« uns die Medien? von Heinz Geuen
Sophia Bauer, »Forest Scapes«, 2019, Klanginstallation:
Die aufgenommenen Klänge reflektieren die koloniale       58 Impressum
Vergangenheit des Waldes mit im Wald eingesprochenen
Zitaten von Forest Reports aus dem National Archive
Kenia ebenso wie athmosphärische Aufnahmen der
Gegenwart, Interviews mit Menschen, die in und mit
dem Wald leben, und Mikro-Aufnahmen der Bäume
mit supersensitiven Kontaktmikrofonen.
DAS JOURNAL #MUSIK UND MEDIEN - HFMT KÖLN
Von der Notenschrift                                                                                                                          zipieren. Und im Zuge der Corona-Pandemie gibt es noch mehr
                                                                                                                                              Uploads, Streamings, Podcasts. Wie verändert das unsere Musik-,
                                                                                                                                              Selbst- und Weltwahrnehmung?
                                                                                                                                                                                                                    Weil Klänge und Bilder nicht mehr analog bzw. linear auf-
                                                                                                                                                                                                                    gezeichnet werden, sondern nach dem binären Raster 0
                                                                                                                                                                                                                    und 1, lassen sie sich auch nach Belieben neu editieren,

zum Digital Editing
                                                                                                                                                                                                                    formatieren, transformieren und mit anderen Digitalisaten
                                                                                                                                              Schon die Notenschrift war nicht nur Konservator, sondern auch        kombinieren. Das geschieht so lückenlos und realistisch,
                                                                                                                                              Generator von Musik. Sie entfesselte die graphische Vorstellungs-     dass Originale, Kopien und Derivate nicht mehr zu unter-
                                                                                                                                              kraft und kompositorische Kreativität zu polyphonen, akkordi-         scheiden sind. Mittels digitaler Medien gestalten immer

Gedanken zum
                                                                                                                                              schen und immer komplexeren Strukturen und Großformen. Das            mehr Kunst- und Musikschaffende immersive »Augmen-
                                                                                                                                              moderne Fünfliniensystem befördert tonale Skalen und Terzschich-      ted Realities« für alle Sinne, indem sie Realitäten, Eventua-
                                                                                                                                              tungen, erschwert aber die Notation von Mikrotönen, Geräusch-         litäten und Virtualitäten verschmelzen. Und genau damit
                                                                                                                                              klängen und irrationalen Rhythmen. Was lernen wir daraus?             wirft diese neue Medienmusik zentrale Fragen unserer Ge-

zweiten Heft
                                                                                                                                                                                                                    genwart auf: Was ist Fakt oder Fake? Worin unterscheiden
                                                                                                                                                                                                                    sich Aufklärung oder Propaganda, Satire oder demokratie-
                                                                                                                                                           Medien sind nie bloß                                     gefährdende Meinungsmache, Unterhaltung oder Unter-
                                                                                                                                                                                                                    drückung? Wann handelt es sich um reale Personen oder
Wer heute von »Medien« spricht, meint in der Regel Massenme-
dien, digitale und soziale Medien. Doch der Gebrauch von Medien
                                                                      band, Kassette, Compact Disk, Computer, Smartphone. Heute ist
                                                                      Musik über Rundfunk, Fernsehen, Tonträger, Festplatten und Inter-
                                                                                                                                                       neutrale Transmitter von                                     um Avatare, Bots, Trolls, Fake-Accounts?

ist viel älter und umfassender, im Alltag ebenso wie in der Musik.
Das lateinische »medium« bedeutet Mitte, Mittelpunkt, auch da-
                                                                      net jederzeit und überall verfügbar. Aktuelle Surround-Sound-Tech-
                                                                      nologien lassen kaum mehr Unterschiede zwischen Originalklang
                                                                                                                                                        Informationen, sondern                                      McLuhan charakterisierte Medien als »Extensions of man«,
                                                                                                                                                                                                                    die wie Werkzeuge die menschlichen Sinne und Kräfte er-
zwischen. Ein Medium vermittelt zwischen zwei oder mehreren
Polen, und zwar schon seit die Spezies Homo Sapiens mit Sprach-
                                                                      und Kopie erkennen. Doch wie perfekt die Reproduktion von Musik
                                                                      auch sein mag, sie bleibt stets vom Ort und Zeitpunkt ihrer Produk-
                                                                                                                                                        entscheidende Faktoren                                      weitern. Aktuell verwachsen immer mehr User mit ihren
                                                                                                                                                                                                                    Endgeräten. Halo-Armbänder teilen schon heute mit, wie
und Klopflauten begann, sich zu verständigen oder Musik zu ma-
chen. Das elementare Ausbreitungsmedium Luft lässt Schallwel-
                                                                      tion getrennt. R. Murray Schafer charakterisierte diese Situation
                                                                      daher schon 1969 pathologisch als »Schizophonie«. Inzwischen
                                                                                                                                                          bei deren Produktion,                                     sich die Trägerinnen und Träger gerade fühlen. Filterbla-
                                                                                                                                                                                                                    sen, Augmented Reality Games, Chipimplantate, Holo-
                                                                                                                                                              Formatierung und

                                                                                                                                                                                                                                                                                             05 | Zur Sache – Das Themenheft
len von der Quelle ihrer Entstehung zu unseren Ohren gelangen,        werden weltweit in jeder Minute – laut Statistik 2018 – rund vier-                                                                            gramme und Cyborgs hybridisieren Menschen und Ma-
sei es im Konzertsaal oder über die vibrierenden Membranen von        hundert Stunden Videos und Sounds ins Internet hochgeladen. Die                                                                               schinen in einer Weise, die der Physiknobelpreisträger
Lautsprechern. Jahrhunderte lang ereignete sich die in Luft ge-
zeichnete Zeitkunst nur aktuell hier und jetzt, um im Moment
                                                                      Datenmenge wächst also täglich um rund 576.000 Stunden, also
                                                                      24.000 Mal schneller, als man über Lebenszeit verfügt, all das zu re-
                                                                                                                                                                  Manipulation.                                     Werner Heisenberg 1953 in seinem Vortrag »Das Naturbild
                                                                                                                                                                                                                    der heutigen Physik« womöglich schon vorausahnte:
ihrer Vollendung bereits aus und vorbei zu sein. Live aufgeführte                                                                                                                                                   »Vielleicht werden später die vielen technischen Apparate
Musik erfüllte sich in ihrem unwiederbringlichen Verklingen.                                                                                                   Der Philosoph und Medientheoretiker Mar-             ebenso unvermeidlich zum Menschen gehören, wie das
Bewahrt und festgehalten werden konnte sie erst durch Ver-                                                                                                     shall McLuhan formulierte daher in seinem            Schneckenhaus zur Schnecke oder das Netz zur Spinne.«
schriftlichung und technische Reproduktion. Seitdem überwin-                                                                                                   Buch »Understanding Media« (1964) den be-
det Musik Raum und Zeit. Doch zu welchem Preis?                                                                                                                rühmten Leitspruch: »The media is the messa-         Was macht die aktuelle Mediamorphose mit uns? Und wel-
                                                                                                                                                               ge«. Speziell mit und für Radio und Lautspre-        che Aufgaben wachsen Kunst und Musik dabei zu? Sofern
Ab dem 9. Jahrhundert gab es erste musikalische Schriftzeichen,                                                                                                cher konzipiert sind etwa die rein elektronisch      ästhetische Erfahrung immer auch gesteigerte Selbst- und
sogenannte Neumen. Gregorianische Choräle wurden nicht mehr                                                                                                    generierte Musik und die aus Aufnahmen von           Welterfahrung ist, geben uns Kunst und Musik auch zu er-
nur mündlich tradiert, memoriert und dabei immer auch leicht                                                                                                   Alltagsklängen basierende musique concrète.          kennen, dass Luft, Schrift, Computer, Internet, Audio-, Vi-
variiert und adaptiert. Ihre handschriftliche Fixierung legte den                                                                                              Die Popmusik gestaltet spezielle Videoclips für      deo-, Lichttechnik oder sonstige Medien maßgeblich unser
Grundstein für die wirkungsmächtigen Kategorien Werk, Autor-                                                                                                   Fernsehen und Internet. Und nicht erst seit Co-      Selbst- und Weltverständnis prägen. Und genau das gilt es
schaft und Originalität. Die Erfindung des Notendrucks durch                                                                                                   rona sucht man nach neuen Online-Formaten.           bewusst zu machen: Wenn wir schon Netze auswerfen und
Ottaviano Petrucci 1501 sorgte für größere Verbreitung von Kom-                                                                                                                                                     Schneckenhäuser bauen, dann mit dem Wissen, dass, wie
positionen. Doch während man Tonhöhen und Rhythmen notier-                                                                                                     Hard- und Software durchdringen heute sämtli-        und warum wir es tun.
te, setzte man die jeweilige lokale und situative Aufführungspra-                                                                                              che Arbeits- und Lebensbereiche, einschließlich
xis als selbstverständlich voraus: Besetzung, Ornamentik, Impro-                                                                                               Kunst, Kultur und Musik. Das Internet ist mo-        Ich wünsche Ihnen
visation, Dynamik, Phrasierung, Artikulation, Agogik. Mit dem                                                                                                  bil, interaktiv und partizipativ. Bei Google, You-   viel Freude beim Lesen.
Wandel der Praxis zerfiel dann jedoch die ursprüngliche Einheit                                                                                                Tube, Facebook, TikTok, Spotify oder Bandcamp
von notiertem Text, implizierter Spielanweisung und intendierter                                                                                               sind fast alle sowohl Empfangende als auch Sen-      Prof. Dr. Rainer Nonnenmann
Wirkung. Spätere Zeiten konnte deren Verhältnis dann nur noch                                                                                                  dende. Der bereits im Jahr 2000 am Massachu-
historisch rekonstruieren. Jüngere Notationsformen versuchen                                                                                                   setts Institute of Technology (MIT) aufgekom-                         Der Musikwissenschaftler Prof. Dr. Rainer Nonnenmann
zwar möglichst alle Eigenschaften von Musik zu erfassen, bleiben                                                                                               mene Begriff »postdigital« benennt den Um-                            ist Dozent an der HfMT Köln und Chefredakteur von
aber ebenfalls lückenhaft.                                                                                                                                     stand, dass digitale Medien inzwischen so tief                        DAS JOURNAL. Schwerpunkte seiner Forschung und
                                                                                                                                                                                                                                     Lehre liegen auf der Musik, Ästhetik und Kultur-
                                                                                                                                                               in die menschliche Selbstdarstellung, Kommu-
                                                                                                                                                                                                                                     geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts. Er ist Autor
Der 1877 von Thomas Edison patentierte Phonograph erlaubte erst-                                                                                               nikation und Interaktion eingegriffen haben,                          zahlreicher Aufsätze und Bücher, zudem Heraus-
malig die technische Aufzeichnung, Speicherung und Wiedergabe                                                                                                  dass davon längst auch nicht-digitale Lebensbe-      geber der »MusikTexte« sowie freier Musikjournalist für verschiedene
von Klang. Zahlreiche optimierte Geräte folgten: Schallplatte, Ton-                                                                                            reiche überformt werden.                             Magazine, Zeitungen und Rundfunkanstalten.
DAS JOURNAL #MUSIK UND MEDIEN - HFMT KÖLN
Isabel Pfeiffer-Poensgen,
                                                 Ministerin für Kultur und Wissenschaft
                                                         des Landes NRW, im Gespräch
                                                                mit Rainer Nonnenmann

                                            Ich bin
                                            Berufsoptimistin

                                                                                                                                 07 | Diskussion – Musik und Gesellschaft
                                                  Sehr geehrte Frau Ministerin, welche Erfahrungen als Kanzlerin
                                                  der Hochschule für Musik und Tanz Köln von 1989 bis 1998 helfen
                                                  Ihnen heute in ihrem Ministeramt?
                                                  Das war damals mein erstes Amt in größerer Verantwortung, in dem ich
                                                  für den ganzen inneren Betrieb der Hochschule, für Verwaltung, Veran-
                                                  staltungen, Finanzierungen zuständig war. Da habe ich sehr viel gelernt,
                                                  auch in verschiedenen Gremien und vom damaligen Rektor Franz Mül-
                                                  ler-Heuser. Er hatte eine gute Art, die Hochschule zusammenzuhalten.
                                                  Außerdem habe ich viele junge Künstlerinnen und Künstler kennenge-
                                                  lernt, von denen ich einige auf meinen nächsten Stationen wieder getrof-
                                                  fen habe. Das war eine prägende und sehr schöne Zeit, auch weil ich nach
                                                  den langen Tagen mit Verwaltungsgeschäften nur ein paar Treppenstu-

                                                                                                                             …
Sybella Perry, »Rustic Airs«, 2020,
                                                  fen hinunter zu gehen brauchte, um ein schönes Konzert zu hören. Das
Künstlerbuch und Schallplatte, gezeigt in         hat mein persönliches Repertoire in der Musik ungemein erweitert.
der Ausstellung Diplome 2020 an der KHM
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Das gemeinsame
                                                                chen war das teilweise wirklich erholsam. Aber bei         freien Initiativen aus Kunst, Kultur, Wissenschaft und
                                                                mir selber und eigentlich allen, die mit Kultur zu tun     Gesellschaft, und zum anderen Fellowships für einzel-
                                                                haben, merke ich, was ohne Kulturveranstaltungen für       ne Akteure, damit diese eine Zeitlang in Nord-
                                                                Defizite entstehen und welche riesigen Veränderun-         rhein-Westfalen forschen, arbeiten, größere Projekte

      Erleben, der                                              gen das zur Folge hat. Wir alle sind soziale Wesen und
                                                                halten das nicht ewig aus. Das gemeinsame Erleben,
                                                                der Austausch darüber und die Interaktion zwischen
                                                                                                                           realisieren, hier Impulse geben und sich vernetzen
                                                                                                                           können. Wir haben in NRW ja eine unglaublich große,
                                                                                                                           freie, experimentelle Szene, wo regelmäßig Genregren-

Austausch darüber
                                                                Künstlern und Publikum sind unerlässlich. Doch             zen überschritten und aufgelöst werden. Zudem pla-
                                                                kommt das Publikum auch sofort wieder in Clubs,            nen wir für den Herbst ein Medienkunstfestival auf der
                                                                Theater, Konzerte, wenn sie unter Auflagen wieder öff-     Zeche Zollverein.
                                                                nen können? Oder sind vor allem ältere Menschen

und die Interaktion                                             dann immer noch vorsichtig? Diese Ungewissheit be-
                                                                steht natürlich gerade.
                                                                                                                           Ein Meilenstein der jüngeren Musik- und Medien-
                                                                                                                           geschichte ist das 1953 gegründete Studio für elek-
                                                                                                                           tronische Musik des (N)WDR, das Köln zeitweilig

zwischen Künstlern
                                                                Wie fördert Ihr Ministerium mediengerechte Prä-            zu einem Magneten für Komponisten und Kompo-
                                                                sentationsmöglichkeiten von Musik, Tanz und                nistinnen aus aller Welt machte. Seit zwanzig Jah-
                                                                Theater angesichts der aktuell verhängten Veran-           ren ist dieses einmalige Ensemble aus analogen
                                                                staltungsverbote?                                          und digitalen Geräten in einem Keller ausgelagert.

 und Publikum sind                                              Dazu gibt es kein spezielles Programm des Landes, weil
                                                                sich der Bund hier bereits engagiert. Aber wir haben als
                                                                Kulturministerium im vergangenen Jahr unbürokra-
                                                                                                                           Was tun Sie für dessen Erhalt und Revitalisierung?
                                                                                                                           Hier sind wir gerade dabei, das neu zu ordnen. Schon
                                                                                                                           zu Beginn meiner Amtszeit habe ich alle an diesen Pla-

      unerlässlich.
                                                                tisch alle Förderungen, zumeist langfristig projektierte   nungen Beteiligten von WDR, Stadt Köln, Kunsthoch-         In ihrer Doppelpublikation »Rustic Airs«, die ein

                                                                                                                                                                                                                                                            09 | Diskussion – Musik und Gesellschaft
                                                                Dinge, die geplant und fest zugesagt waren, genau so       schule für Medien und Hochschule für Musik und             Künstlerbuch und eine Schallplatte umfasst, nimmt
                                                                weiterlaufen lassen oder nach Bedarf – was haushalte-      Tanz Köln an einen Tisch geladen. Vor einiger Zeit ha-     Sybella Perry das Beispiel der englischen Airs –
                                                                risch komplizierter ist – in die Zukunft verschoben.       be ich mir auch die Geräte in Köln-Ossendorf angese-       einfacher, austauschbarer Melodien von Volksliedern,

  …
                                                                                                                                                                                      die sich auf dem Weg ihrer Verbreitung durch
                                                                Dazu haben wir dankenswerterweise die Rückende-            hen. Das ist alles gut archiviert und in Stand gehalten.
                                                                                                                                                                                      Großbritannien stetig verändert haben – zum Anlass,
                                                                ckung des Finanzministers bekommen, so dass die Bud-       Das Studio hat eine enorme Bedeutung für die Ent-
                                                                                                                                                                                      um über Mobilität, Transformation und Pluralität
      Die Nutzung von Medien ist auch generationenab-           gets, die den Häusern zur Verfügung stehen, von diesen     wicklung der neuen Musik, auch im Popbereich. Und          nachzudenken.
      hängig. Woran denken Sie beim Thema »Musik                auch erneut abgerufen werden können.                       jetzt gibt es eine Idee für eine Unterbringung in Köln,
      und Medien« als erstes?                                                                                              die gerade ausgearbeitet wird. Aus dem Studio soll
      Ich bin ein analog sozialisierter Mensch und erinnere     NRW ist ein wichtiger Standort für Technologien,           kein Museum werden, sondern es soll aktiv nutzbar
      aus meiner Zeit an der Kölner Hochschule, was für ein     Industrien, Wissenschaft, Kunst, Kultur und Me-            sein, zum Beispiel für Menschen an der Musikhoch-
      großes Abenteuer es war, die Hochschule mit digitalen     dien. Nun hat Ihr Ministerium im Volumen von               schule und der Medienhochschule. Ich bin Berufsopti-       Wir haben in NRW ja
      Möglichkeiten zu versehen. Wir hatten damals einen        knapp einer Million Euro bis 2023 zwei neue För-           mistin: Es wird sicherlich nicht einfach, das zukunfts-
      Tonmeister und einen Fernsehmeister, die ihre Sache       derprogramme für Medienkunst und digitale Kul-             fähig zu machen, aber ich bin absolut dafür, und wir       eine unglaublich große, freie,
      toll gemacht haben, aber keine IT-Spezialisten waren.     tur aufgelegt.                                             müssen alles tun, damit es gelingt.
      Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.        Es gab schon früher die Überlegung, in diesem Bereich                                                                 experimentelle Szene,
      Durch die schwierige Pandemie-Zeit, die wir gerade        aktiv zu werden. Wir entwickeln solche Programme           Medien werden gerne als vierte Gewalt im Staat
      erleben, hat die Digitalisierung nochmals einen enor-     aber nicht einfach am Schreibtisch, sondern sehen erst     bezeichnet, weil sie nicht nur Wirklichkeit abbil-         wo regelmäßig Genregrenzen
      men Schub bekommen, was ich sehr gut finde – auch         einmal, was es alles schon gibt. Sehr interessante Ein-    den, sondern auch Informationen und Öffentlich-
      beim Erleben von Kunst und Musik. Aber das ist ambi-      richtungen sind beispielsweise die Akademie für Thea-      keit generieren. Politik sucht daher gerne die Nähe        überschritten und
      valent: man freut sich, etwas zu hören oder die Premie-   ter und Digitalität in Dortmund und der Hartware Me-       zu Medien. Sie auch?
      re einer Oper als Stream zu verfolgen, aber noch viel     dienkunstverein, der im Dortmunder U Ausstellungen         Ich bin ja nicht die »klassische« Politikerin und deswe-   aufgelöst werden.
      mehr freue ich mich – da bin ich wieder ganz analog –,    präsentiert und erst kürzlich für »Artists & Agents –      gen vielleicht kein so ganz typisches Exemplar. Aber
      hoffentlich bald wieder Musik live erleben zu können.     Performancekunst und Geheimdienste« von der deut-          natürlich sind Medien für uns wahnsinnig wichtig, um
      Das ist einfach etwas anderes.                            schen Sektion des Internationalen Kunstkritikerver-        Inhalte zu transportieren, vor allem wenn sie einen
                                                                bands AICA mit der »Ausstellung des Jahres 2020«           qualitativen Anspruch haben, also guter Journalismus                          Isabel Pfeiffer-Poensgen ist Volljuristin
      Was geschieht mit einer Gesellschaft, wenn Kunst          auszeichnet wurde. Eingehend informiert haben wir          wichtige Informationen und deren Einordnung liefert.                          und war von 1989 bis 1999 Kanzlerin der Hoch-
      und Kultur nicht mehr gemeinschaftlich erlebt             uns auch seit 2018 im Rahmen der Ruhrkonferenz, wo         Deswegen bin ich eine leidenschaftliche und überzeug-                         schule für Musik Köln. Anschließend wirkte
      werden, sondern nur noch vereinzelt von zu Hause?         wir viele Künstlerinnen, Künstler und Kulturorganisa-      te Zeitungsleserin, elektronisch, aber auch gerne auf                         sie als Beigeordnete für Kultur und Soziales der
                                                                                                                                                                                                         Stadt Aachen sowie als Generalsekretärin der
      Im ersten Lockdown vor einem Jahr haben sicherlich        toren aus dem Ruhrgebiet zusammengeführt und dabei         Papier, was immer mir zwischen die Finger kommt.
                                                                                                                                                                                                         Kulturstiftung der Länder in Berlin.
      viele Menschen, die sehr beschäftigt und beruflich ein-   festgestellt haben, wie viele bereits im Bereich Medien-   Qualitätsjournalismus, auch im Rundfunk, ist ein           Seit 30. Juni 2017 ist sie Ministerin für Kultur und Wissenschaft
      gespannt sind, es auch einmal als ganz angenehm           kunst unterwegs sind. Wir fördern jetzt zum einen          wichtiges Gut, aber wirtschaftlich in Gefahr und des-      des Landes Nordrhein-Westfalen. Das Interview mit ihr fand
      empfunden, öfter zu Hause zu sein. In den ersten Wo-      neue kooperative Projekte zwischen Institutionen und       wegen leider etwas im Rückzug.                             am 10. Februar 2021 statt.
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Algorithmen
für die Massen
Informationen und
Kunst vermessen

                                                 11 | Diskussion – Musik und Gesellschaft
Eine unbekannte Dreizehnjährige
veröffentlicht 2015 beim Audiostreaming-
dienst Soundcloud einen Song. In den
zwei Folgewochen hören ihn mehrere
Hunderttausend. Ein Jahr später produziert
sie ein Musikvideo für einen weiteren
Song und stellt es auf der Videoplattform
YouTube online. Bis Anfang 2021 wird es
über 29 Millionen Mal aufgerufen.
Mittlerweile ist diese Künstlerin,
Billie Eilish, ein Weltstar, der 2020 vier
Grammy Awards erhält.                        …
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Laut einer Statista-                                 auch den zu Kunst – insbesondere zu Musik. Die Umfrage »Mu-
                                                             sic Listening 2019« der International Federation of the Phono-
                                                                                                                                Derzeit kommt bei Intermediären vor allem die Vielfalt zu kurz.
                                                                                                                                Das zeigen unter anderem die Dienste erfolgreicher Musikstrea-

          Umfrage stieg in                                   graphic Industry ergab, dass in den 19 Musik-Kernmärkten welt-
                                                             weit beinahe neun von zehn Befragten Streamingdienste nut-
                                                                                                                                minganbieter, gerade weil deren Empfehlungsalgorithmen kom-
                                                                                                                                merzielle Interessen bedienen, die die Nutzer*innen lange auf den

Deutschland der Anteil der                                   zen. Laut einer Statista-Umfrage stieg in Deutschland der Anteil
                                                             der Internetnutzer*innen, die online Musik streamen, von neun
                                                                                                                                Plattformen halten sollen. Damit das gelingt, weisen algorithmi-
                                                                                                                                sche Musikempfehlungen möglichst viel Ähnlichkeit zum be-

 Internetnutzer*innen, die                                   Prozent im Jahr 2013 auf 57 Prozent im Jahr 2020. Für 2023 wer-
                                                             den rund 23,8 Millionen Musikstreaming-Nutzer*innen prog-
                                                                                                                                reits Gehörten auf. Andere Musikstile kennenzulernen, ist so fast
                                                                                                                                unmöglich. Zudem gleichen Algorithmen die Playlists verschie-

   online Musik streamen,                                    nostiziert.                                                        dener Nutzer*innen ab. Gibt es viele Übereinstimmungen von
                                                                                                                                Titeln, erhält eine Person Vorschläge für bislang ungehörte Songs

      von neun Prozent im                                    Auch in der Kunst brechen Teile der »Gatekeeper« weg. Das birgt
                                                             die Chance, Aufmerksamkeit breiter zu streuen und auch auf
                                                                                                                                aus den Playlists der anderen. Je häufiger bestimmte Titel zu Play-
                                                                                                                                lists hinzugefügt und gehört werden, desto wahrscheinlicher

  Jahr 2013 auf 57 Prozent                                   Künstler*innen fernab des Mainstreams zu lenken. Deshalb von
                                                             einer Demokratisierung zu sprechen, erscheint jedoch ange-
                                                                                                                                sind Übereinstimmungen. Die Empfehlungen beinhalten des-
                                                                                                                                halb eher bereits bekannte und weit verbreitete Songs. Unbe-

             im Jahr 2020.                                   sichts dessen, wie erfolgreiche Angebote derzeit gestaltet sind
                                                             und benutzt werden, mindestens romantisierend, wenn nicht
                                                                                                                                kanntere Künstler*innen haben schlechtere Chancen auf algo-
                                                                                                                                rithmische Empfehlungen.
                                                             gar verklärend.
 Wie viele Künstler*innen nutzt Eilish Streamingdiens-                                                                          Wissenschaftliche Untersuchungen wie »Seek and you shall              ter den vorherrschenden Bedingungen repräsentieren können
 te und Social-Media-Angebote, um ihre Musik zu streuen.     Soziale Netzwerke, Suchmaschinen und Streamingdienste sind         find?« der Universität Mainz von 2020 stellen fest: Wir nehmen        oder wollen. In Algorithmen bilden sich auch gesellschaftliche
 Diese zunehmend bedeutsamen Verbreitungsmedien              Angebote privatwirtschaftlicher Unternehmen. Sie verdienen         über Intermediäre nicht die Diversität an Inhalten wahr, die wir      Stereotype, Bewertungsmuster oder strukturelle Missstände ab.
 sind für alle zugänglich und ohne große Hürden bedien-      Geld damit, Inhalte zu vermitteln. Dabei spielen insbesondere      dort sehen könnten. Das hat vor allem damit zu tun, wie die ver-      Ihre Ergebnisse sind nicht neutral, sondern das Produkt mensch-
 bar. Demokratisiert das den Musikmarkt?                     Werbeeinnahmen eine Rolle. Intermediäre bieten personalisier-      mittelnden Algorithmen dieser Angebote gestaltet sind. Hinzu          licher Vorgaben. Immer wieder kommt es deshalb zu Diskrimi-

                                                                                                                                                                                                                                                                             13 | Diskussion – Musik und Gesellschaft
                                                             te Werbung an. Grundlage dafür sind die detaillierten Datenpro-    kommt, dass bestimmte Akteure die Funktionsweise der Inter-           nierungen, beispielsweise rassistischen oder sexistischen.
 Hinter dieser Idee steht der Gedanke einer Demokrati-       file ihrer Nutzer*innen. Sie erlauben es den Anbietern, günstige   mediäre gezielt ausnutzen, um das Meinungsklima zu bestimm-
 sierung von Öffentlichkeit durch neue Technologien,         Werbeplätze mit hohen Wirkungsraten anzubieten, was das            ten Themen zu beeinflussen. Zugleich treten andere in den Hin-
 insbesondere durch so genannte Intermediäre. Damit          Werben über Intermediäre besonders attraktiv macht. Zugleich       tergrund, weil sie sich nicht in dieser öffentlichen Form und un-
                                                                                                                                                                                                      Erste Regulierungen versuchen,
 sind Plattformen gemeint, die als Vermittlerinnen           sind die Angebote so gestaltet, dass die Nutzer*innen möglichst                                                                          einigen dieser Entwicklungen zu
 zwischen Angebot und Nachfrage treten wie soziale           lange auf den Plattformen verweilen, so dass sie mehr Werbung
                                                                                                                                                                                                      begegnen.
 Netz werke, Suchmaschinen, Video- und Audiostrea-
 mingdienste oder Online-Warenhäuser. Ihre Leistung
                                                             sehen und mehr Daten über sie gesammelt werden können.
                                                                                                                                   Rundfunkstaatsvertrag
 besteht vor allem darin, ein passendes Produkt, eine In-
 formation oder einen Inhalt zielgerichtet an die Nut-
                                                             Die Funktionsweise der Angebote dient also in erster Linie kom-
                                                             merziellen und nicht demokratischen Zwecken. Dabei sind Algo-
                                                                                                                                   (RStV)                                                             Ein besonders umfangreiches Vorhaben ist der »Digital Service
                                                                                                                                                                                                      Act« der Europäischen Union. Der Gesetzesentwurf, der sich im An-
 zer*innen zu vermitteln. Das verändert Öffentlichkeit       rithmen zentral, mit deren Hilfe uns jeweils die zu uns passen-                                                                          fangsstadium einer umfangreichen Aushandlungsphase befindet,
                                                                                                                                   II. ABSCHNITT: VORSCHRIFTEN FÜR DEN                                sieht unter anderem mehr Transparenz für die Forschung vor. Auch
 maßgeblich. Besonders klar zeichnet sich das im Kont-       den Inhalte erreichen sollen. Algorithmen selektieren Inhalte
                                                                                                                                   ÖFFENTLICH-RECHTLICHEN RUNDFUNK                                    die Nutzer*innen sollen nachvollziehen können, warum ihnen In-
 rast zur Vermittlung von Informationen über klassische      nach bestimmten vorab von Menschen festgelegten Kriterien.
 Medien ab: Dort spielen Redakteur*innen und Journa-         Sie folgen dabei nicht breit ausgehandelten gesellschaftlichen                                                                           halte angezeigt werden und wie sie diese Einstellungen nach Belie-
                                                                                                                                   § 11 AUFTRAG                                                       ben verändern. Das könnte eine Chance für die Vielfalt der Inhalte
 list*innen eine zentrale Rolle, denn sie bestimmen, wel-    Kodizes oder einer eigens hierfür entwickelten Rechtsgrundlage,
 che Informationen relevant für die Gesellschaft und         sondern vor allem wirtschaftlichen Erwägungen.                        (1) Auftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist,      sein, die Intermediäre vermitteln. Letztlich hat die naiv romantisch
 bestimmte Zielgruppen sind. Das entscheiden diese »Ga-                                                                            durch die Herstellung und Verbreitung ihrer Angebote als           anmutende Idee, die Vermittlung von Informationen und auch
 tekeeper« unter anderem auf Grundlage gesellschaftlich                                                                            Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öf-       Kunst könne sich mithilfe von Intermediären demokratisieren, ein
 ausgehandelter Kriterien, wie dem Pressekodex. Darü-
                                                             Derzeit kommt bei Intermediären                                       fentlicher Meinungsbildung zu wirken und dadurch die demo-         sehr gewichtiges Argument auf ihrer Seite: Die Technologie an sich,
 ber hinaus müssen sie sich an das Presserecht halten, das   vor allem die Vielfalt zu kurz.                                       kratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesell-       die zunächst einmal vielen das Publizieren und den Austausch er-
 bestimmte Pflichten für die Berichterstattung festlegt.                                                                           schaft zu erfüllen. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstal-     möglichen, hat hohes demokratisches Potential. Sie kann Vielfalt
                                                             Indes ist das genaue Vorgehen der Algorithmen in Intermediä-          ten haben in ihren Angeboten einen umfassenden Überblick           und Teilhabe stärken. Doch um dieses Potential auszuschöpfen,
 Diese verkürzte und idealtypische Darstellung ent-          ren weitgehend unbekannt. Ihr Code gilt als Geschäftsgeheim-          über das internationale, europäische, nationale und regiona-       müssen wir sie dementsprechend gestalten, einsetzen und nutzen.
 spricht sicherlich nicht immer der Realität. Dennoch        nis. Bekannt ist, dass hohe Interaktionsraten – also Klicks, Li-      le Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen zu ge-
 zeigen sich grundlegende Unterschiede zur Funktions-        kes, Kommentare oder das Teilen der Inhalte – die Relevanzbe-         ben. Sie sollen hierdurch die internationale Verständigung,                           Jaana Müller-Brehm arbeitet beim unabhängigen
 weise von Intermediären, die das Sende-Empfangs-Sche-       wertung beeinflussen und damit auch, wie viele Nutzer*innen           die europäische Integration und den gesellschaftlichen Zu-                            Think Tank iRights.Lab (https://irights-lab.de)
 ma des vordigitalen Zeitalters aufbrechen. Alle, die über   einen Inhalt sehen und an welcher Stelle er ihnen begegnet.           sammenhalt in Bund und Ländern fördern. Ihre Angebote                                 und beschäftigt sich dort vor allem mit den
 die notwendigen Kenntnisse und die Ausstattung ver-         Die Informationsgrundlagen einzelner Personen unterschei-             haben der Bildung, Information, Beratung und Unterhaltung                             Themen Öffentlichkeit, Medien, Demokratie,
                                                                                                                                                                                                                         Menschenrechte, Gesellschaft und Bildung
 fügen, können ihre Themen und Ansichten streuen. Die        den sich hierdurch stark. Das trägt zu einem grundlegenden            zu dienen. Sie haben Beiträge insbesondere zur Kultur anzu-
                                                                                                                                                                                                                         im Zusammenhang der Digitalisierung.
 Intermediäre durchsuchen die so entstehenden Massen         Medienwandel und dem Zerfall der Öffentlichkeit in Teilöf-            bieten. Auch Unterhaltung soll einem öffentlich-rechtlichen        Sie schreibt wissenschaftsjournalistische Beiträge, Expertisen
 an Inhalten und sortieren sie automatisiert. Das verän-     fentlichkeiten bei. Verständigung und gesellschaftlicher Kon-         Angebotsprofil entsprechen.                                        und entwickelt Vermittlungskonzepte, um Kenntnisse über
 dert nicht nur den Zugang zu Informationen, sondern         sens werden seltener.                                                                                                                    die Digitalisierung in die Breite zu tragen.
DAS JOURNAL #MUSIK UND MEDIEN - HFMT KÖLN
Latent
gegenwärtig
Wie die
Pandemie
das

              15 | Globale Kultur – Gedanken und Erfahrungen
Unbekannte
berührt
DAS JOURNAL #MUSIK UND MEDIEN - HFMT KÖLN
Die Pandemie                                                        Die Latenz wird historisch auch als Grundbedingung
                                                                          für die Kunst betrachtet, die darin besteht, sich selbst
                                                                          als Verfahren zu verbergen. Ovid schreibt im 10. Buch
                                                                                                                                     on droht leicht übergriffig zu werden; ihr geht es, wie einem Text,
                                                                                                                                     der schwer zu lesen ist, erst kommt es zu Abwehr und Kampf,
                                                                                                                                     dann zum Versuch, alles in bekannte Bahnen lenken zu wollen.
                                                                                                                                                                                                            nahme. Sie wünscht sich, dass sie das Andere meta-
                                                                                                                                                                                                            morphosieren würde. Die Stimme allein durch ihr
                                                                                                                                                                                                            Bitten einer unerklärlichen Kraft. Des Wünschens.

zwingt uns in einen                                                       der »Metamorphosen«: »ars adeo latet arte sua« (»so
                                                                          verbirgt durch die eigene Kunst sich die Kunst«). Als
                                                                          ein Aspekt der Verborgenheit beinhaltet Latenz
                                                                                                                                     Dabei bietet die überragend-überraschende Situation, in die uns
                                                                                                                                     die Pandemie alle unvorbereitet gebracht hat, latente künstleri-
                                                                                                                                     sche und musikalische Räume. Auch wenn zweifellos einiges
                                                                                                                                                                                                            Heftig genug wünschen. Sie wünscht sich, dass die
                                                                                                                                                                                                            Person in das zurück metamorphosiert würde, was
                                                                                                                                                                                                            sie vorher war, erfindet, wenn nötig. Es braucht weni-

   Transitraum, der                                                       zwangsläufig etwas, das die Kunst ausmacht und er-
                                                                          öffnet. Momentan werden wir in einen Zustand ver-
                                                                          setzt, der uns glauben macht, wir könnten uns beim
                                                                                                                                     nicht überleben wird, vielleicht auch einiges, was sich schon län-
                                                                                                                                     ger überlebt hatte. Es könnte also zunächst darum gehen, in der
                                                                                                                                     Kunst und Musik Machbares auszuloten.
                                                                                                                                                                                                            ger Zeit, um zu bemerken, dass es keine magische Ver-
                                                                                                                                                                                                            schiebung gab.«

uns an die Grenzen                                                        künstlerischen Handeln beobachten, da wir uns auf
                                                                          Bildschirmen und abgefilmt von Kameras selbst an-
                                                                          sichtig werden. Aber natürlich sehen wir uns beim
                                                                                                                                     Vielleicht könnte es auch die Poesie sein, die zwischen Musik
                                                                                                                                     und Sprache steht, denn: »Die Poesie ist die Art, mit der wir dem
                                                                                                                                                                                                            Nicht nur meine Stimme hat sich verändert, sondern
                                                                                                                                                                                                            mein ganzer Körper ist durch die Starre in Bewegung
                                                                                                                                                                                                            geraten und darum vertraue ich fest darauf, dass die-

   des Absehbaren,                                                        Denken oder künstlerischen, musikalischen Han-
                                                                          deln nicht wirklich zu, sondern bedauern zumeist
                                                                          vielmehr, dass wir damit und mit unseren Projekten
                                                                                                                                     Unbenannten Namen geben, sodass es gedacht werden kann«,
                                                                                                                                     wie Audre Lorde in »Kraft und Widerstand« schreibt. Die Poesie
                                                                                                                                     ist die latente Sprache für das, was verzögert, das heißt sich als
                                                                                                                                                                                                            se Zeit viel Festgefahrenes bewegen wird, was wir in
                                                                                                                                                                                                            der derzeitigen Trauer über die verlorengegangenen
                                                                                                                                                                                                            Auftritte und Zusammenkünfte noch nicht sehen

      aber auch des                                                       nicht voranschreiten können.

                                                                          Wir befinden uns in einem latenten Raum, in dem
                                                                                                                                     Widerhall dieser Zeit entgegen und zugleich an die Seite stellt.
                                                                                                                                     Denn die Poesie ist eine Beziehungsstifterin, ein Verbindungs-
                                                                                                                                     glied und eine machbare Aktion (Poiesis).
                                                                                                                                                                                                            können, was sich aber bereits im Entstehen befindet
                                                                                                                                                                                                            und wichtige Wechsel hervorzubringen vermag.
                                                                                                                                                                                                            Vielleicht sogar die Loslösung des immerwährenden

   Bekannten führt                                                        etwas ins Stocken gerät, sich verzögert und zugleich
                                                                          unaufhaltbar ist. Einem verborgenen Raum, in dem
                                                                          wir uns gleichzeitig und gemeinsam aufhalten, in
                                                                                                                                     Wir haben noch wenig körperliche Erfahrung mit der pandemi-
                                                                                                                                     schen Situation, aber ein Jahr ist zum Erlernen eines Instru-
                                                                                                                                                                                                            Echos eines nicht unproblematischen Künstler*in-
                                                                                                                                                                                                            nentums, weg von eurozentrischen und identitären
                                                                                                                                                                                                            Kulturmodellen, hin zu einer größeren Offenheit,

        und so eine

                                                                                                                                                                                                                                                                              17 | Globale Kultur – Gedanken und Erfahrungen
                                                                          dem wir uns nach und nach zurechtfinden, ihn bele-         ments oder der Arbeit mit Stimme und Körper auch ein sehr kur-         Beziehungsfähigkeit, hin zur Verbindung aller Men-
                                                                          ben und interpretierbar machen. Éduoard Glissant           zer Zeitraum. Wir werden unsere Instrumente, Stimmen, Perfor-          schen und Kulturen, die latent immer schon dazu-
                                                                          erklärte in »Kultur und Identität. Aufsätze zu einer       mances und Konzerte mit einem langfristigeren Verzögerungs-            und zusammengehörten. Dies könnte ein tröstlicher

 Weiterentwicklung                                                        Poetik der Vielfalt«: »Das Unvorhersehbare zu ken-
                                                                          nen, bedeutet, sich auf [...] seine Gegenwart, in der
                                                                          man lebt, auf neue, nicht mehr empirische oder syste-
                                                                                                                                     effekt an diese neue Realität anpassen müssen. Wir werden uns
                                                                                                                                     beim Bespielen dieses latenten Raums langsam vortasten, um
                                                                                                                                     mit all seinen technischen Herausforderungen und Versuchun-
                                                                                                                                                                                                            und stimmiger Gedanke sein.

                                                                                                                                                                                                            Das Latente ist
 unterstützen kann.                                                       matische, sondern auf poetische Weise einzustim-
                                                                          men.« Die poetischen Verbindungsformen, die durch
                                                                          das Unbekannte entstehen können, haben wir als
                                                                                                                                     gen vertraut zu werden.

                                                                                                                                     Dieser Prozess des tastenden Berührens und zögerlichen Aneig-          nichts, was in der
                                                                          Chance oder eine Art Kulturentwicklungsplan drin-          nens erscheint uns professionellen Musiker*innen und Künst-
                                                                          gend nötig. Die Pandemie zwingt uns in einen Tran-         ler*innen beunruhigend, da uns das Unbekannte selbst in den            Zeit der Pandemie
                                                                          sitraum, der uns an die Grenzen des Absehbaren, aber       avanciertesten, experimentellsten und improvisationsgeschul-
   Gegenwärtig ist vieles latent. Die Verzögerungszeit, die zwi-          auch des Bekannten führt und so eine Weiterent-            ten, europäischen Kontexten häufig noch als Bedrohliches entge-        erst entstanden
   schen dem Auftreten eines Ereignisses und dem erwarteten Folge-        wicklung unterstützen kann.                                gentritt. Dabei liegt in diesem Moment des Neuansetzens, des
   ereignis vergeht, bezeichnet man als Latenz (Latency Effect). Es ist                                                              Ein- und Ausatmens, des Delays oder der Pause eine große Wich-         wäre, es wird nur
   die Zeit, die benötigt wird, eine Verbindungsstrecke zu überwin-       Als vor einhundert Jahren die letzte globale (Grippe)      tigkeit. Sie gestattet eine andere Anordnung, die neu montiert
   den oder ein Signal zu übertragen. Die Latenz in ihren vieldeuti-      Pandemie wütete, war es noch nicht möglich, zeit-          und abgemischt auch unbekannte Anschlussstellen zulässt.               in deutlicherem
   gen Bezugsmöglichkeiten ist ein Begriff, den ich in vielen Video-      gleich Zugänge zu schaffen und in Verbindung zu
   treffen gehört habe, als Hintergrund und Hinderungsgrund in die-       bleiben. Diese Möglichkeiten machen Dinge einfa-           Das Latente ist nichts, was in der Zeit der Pandemie erst entstanden   Ausmaß sichtbar
   ser Übergangszeit, in der wir zwar alle zugleich sind, aber eben       cher und komplizierter zugleich, da es immer noch          wäre, es wird nur in deutlicherem Ausmaß sichtbar und hörbar,
   nicht synchronisiert. Die Klagen kommen gehäuft dort vor, wo           unklar ist, wie wir mit all dem umgehen sollen. Wir        auch für die, die sich vorher in sicheren Räumen wähnten. Latent       und hörbar.
   der Latency Effect das kollektive (Musik)Machen beeinträchtigt,        können in Beziehung treten, aber das heißt noch            sind die Stimmungen, die in jedem Raum vorhanden sind. Es sind
   durch ungewollte Echokammern, widerhallenden Widerstand,               nicht, dass wir verstehen können. Bislang haben wir        auch die Stimmen, mit denen wir gegen Bildschirme anzusprechen
   dauernde Delays, akustische Verschiebungen oder visuelle Glit-         allenfalls eine latente Ahnung.                            versuchen. Meine Stimme benötigt jedenfalls eine veränderte Art
                                                                                                                                                                                                                               Swantje Lichtenstein, Performance-/
   ches. Unsere Gegenwart hat sich verschoben, nicht nur auf der                                                                     zu Atmen beim Sprechen gegen die festen Bildschirm(Flächen).                              Klang-Künstlerin, Poetin, mit Hauptinteresse
   Ebene des klanglichen oder kommunikativen Datenverkehrs.               Die Folge eines allgegenwärtigen Glaubens, wir wür-        Mein Körper musste diese Bewegung hin zur Öffnung erst einmal                             auf transtextuellen Erweiterungen der
                                                                          den doch alles verstehen, zeigte Susan Sonntag mit         einsehen und sich großflächig umorientieren.                                              Sprache sowie elektroakustischen
   Für meine Arbeit sind Widerstand und Spannung sehr wichtig,            »Against Interpretation« bereits 1961 auf: »die zeitge-                                                                                              Aufzeichnungsweisen. Sie performt inter-
   weil sie das vermeintlich Normale überraschend überwinden; aber        nössische Begeisterung für die Interpretation hat ih-      Die Nymphe Echó hat aus ihrer Sprechnot ein Kommunikations-                               national auf Festivals, in Museen und
                                                                                                                                                                                                            Konzerthäusern. Ihre Publikationstätigkeit umfasst Poesie,
   darum bewege ich mich wohl auch im sogenannten experimen-              ren Grund häufig nicht in der Ehrfurcht vor dem be-        modell entwickelt, durch den Einsatz des Widerhalls ihrer Stim-
                                                                                                                                                                                                            Essay, Theorie, Übersetzung und Text-Sound-Arbeiten. Sie ist
   tellen Bereich der Künste, wo Kunst und Musik, Klang und Spra-         schwerlichen Text [...], sondern in einer offenen Ag-      me. Die amerikanisch-koreanische Künstlerin Theresa Hak                im Kurator*innenteam der Monheim Triennale (2021) und
   che dazu dienen, etwas herauszufinden, um abzurücken von Er-           gressivität.« Die Auslegung und Notwendigkeit der          Kyung Cha poetisiert dies in »Dictee« so: »Sie [die Stimme] ist die    lehrt als Professorin für Ästhetische Praktiken in Düsseldorf
   wartungen und dem, womit ich mich schon gut genug auskenne.            Interpretation einer kulturell gänzlich neuen Situati-     erste, die ihre Ankunft bekannt gibt. Die Stimme der Vorweg-           sowie anderen Kunst- und Musikhochschulen.
DAS JOURNAL #MUSIK UND MEDIEN - HFMT KÖLN
Setzt
                 Öffentlichkeit
                 tatsächlich
                 noch die
                 körperliche
                 Nähe eines

                                              19 | Globale Kultur – Gedanken und Erfahrungen
                 Kollektivs
Regeln           zwingend
und              voraus?

Repräsentation
                 Über zeitbasierte Künste
                 in der Pandemie und die
                 Grammatik digitaler Medien
der Bühne oder dem Podium statt. Ihr liegt vielmehr ein    Rimini Protokoll machen mit ihrem Parcours das
                                                                                       mimetischer Prozess zugrunde, in dem sich anwesen-         Theater zum Museum seiner selbst. Das ist erstmal                        Wenn die Künste nicht
                                                                                       des Publikum als eine Vergegenwärtigung des Ideals         eine nette Pointe auf Legitimationskrisen, mit denen
                                                                                       einer bürgerlichen Öffentlichkeit entwirft, mit dem        sich vor allem textbasierte Theaterformen im Hori-                       auf falsche Zeitgenossenschaft
                                                                                       fernen Horizont der antiken Polis und dem Körperge-        zont einer postmodernen Kritik der Repräsentation
                                                                                       fühl der fußläufigen (Klein)Stadt des 19. Jahrhunderts.    herumschlagen. Die Auseinandersetzung mit poeti-                         schielen, sondern ihren
                                                                                       Dieses idyllische Gemeinschaftsgefühl der gebildeten       schen Texten wird obsolet und als überkommenes
                                                                                       Stände ist von der Alltagspraxis der Gegenwart über-       kulturelles Distinktionsmittel abgetan. Das Als-ob                       immanenten Widerstand und
                                                                                       formt. Haben die Kanäle, über die der Traffic digitaler    des Schauspielens erscheint grundsätzlich affirma-
                                                                                       Kommunikation sich ins Unermessliche steigert, nicht       tiv. Der Verdacht, letztlich doch imitatio zu sein, er-                  ihr repräsentationskritisches
                                                                                       auch etwas mit zeitgenössischer Öffentlichkeit zu tun?     klärt Mimesis zur Ideologie. Eine Ästhetik des Per-
                                                                                                                                                  formativen versucht, sie durch die Forderung nach                        Potential aktualisieren,
                                                                                       Wir sind gänzlich andere Menschen als in der Antike        Authentizität zu ersetzen, die sich am Ende erst recht
                                                                                       oder im 19. Jahrhunderts. Die wundersamen apparati-        als Abbild einer schlechten Wirklichkeit erweist.                        kann es wieder spannend
                                                                                       ven Erweiterungen des menschlichen Körpers, die die
                                                                                       Cyborg-Theorien einer Sciencefiction-Literatur der         Der archäologische Blick gewinnt im noch nicht be-                       werden.
                                                                                       1990er Jahre für eine ferne Zukunft versprochen haben,     zogenen Theaterhaus eine weitere Facette. Erinnert
                                                                                       sind längst da. In der Sozialisation mit digitalen Tech-   kann hier nur werden, was einmal sein wird, was Er-
                Weil Aufführungen vor hunderten Menschen derzeit nicht stattfinden
                                                                                       nologien, ihrer Einverleibung in die Alltagspraxis, ei-    innerung immer mehr als etwas erweist, das im Lim-
              können, spielt man im Wiener Volkstheater nur für jeweils eine Person.   ner Neuformatierung des gesamten Wahrnehmungs-             bus zwischen Faktum und Fiktion angesiedelt bleibt.       Gesellschaft und nicht abgehängt zu werden, wenn diese den
              Mit einem Kopfhörer ausgerüstet wird man e inzeln durch das gesamte      apparats im Gebrauch digitaler Medien sind wir fast        Das Theater scheint aus der Zeit gefallen, weil die       Betrieb wieder »hochfährt«.

…

                                                                                                                                                                                                                                                                                  21 | Globale Kultur – Gedanken und Erfahrungen
                     Theaterhaus geleitet und erhält neue und ungewohnte Einblicke.    unbemerkt »Cyborgs« geworden.                              Dauer des Stillstands seine Zeitstruktur übersteigt.
                                                                                                                                                  Die pandemische Beeinträchtigung von Theatern             Dabei ist nicht überraschend, dass die medialen Formate einen
    Das Wiener Volkstheater war immer ein wenig Schmuddelkind                          Was aber ist das Theater, der Tanz und die Musik des-      und Konzertsälen über nahezu ein Jahr ist kurz da-        anderen Takt vorgeben, andere Konventionen, andere Gramma-
    dessen, was man in dieser Stadt naturvergleichend gerne Theater-                   sen, was man vor gut hundert Jahren euphorisch den         vor, deren längstes Wiederkehrintervall, die »Spiel-      tiken, andere Aufmerksamkeitsspannen, andere Sichtweisen,
    landschaft nennt. An einer zugigen Straßenkreuzung abseits der                     »Neuen Menschen« nannte? Und wie realisiert man            zeit«, zu überschreiten.                                  andere Ökonomien. Diese Kollision kann erkenntnistreibend
    imperialen Prachtbauten der Wiener Ringstraße gelegen war das                      das alles in den Repräsentationsbauten des späten 19.                                                                sein, wenn man sich nicht der Illusion einer Erweiterungsmög-
    1889 erbaute Haus anfänglich der Ausdruck bürgerlichen Selbstbe-                   Jahrhunderts? Solche Fragen mögen die Handelnden           Institutionen der Aufführungspraxis zeitbasierter         lichkeit in einen herrschaftsfreien »digitalen Raum« hingibt,
    wusstseins gegenüber einer höfischen Repräsentationskultur am k.                   um den neuen Intendanten des Wiener Volkstheater           Künste fußen auf einem doppelten Versprechen, dem         sondern versteht, dass man in das technische Substrat ganz und
    k. Hofburgtheater ein paar hundert Meter weiter.                                   Kay Voges bewegt haben, noch vor einem ungewissen          des einmaligen, unwiederbringlichen Moments und           gar »analoger« Verhältnisse wirtschaftlicher Macht hineingera-
                                                                                       Eröffnungsdatum die – präventionstaugliche – Ver-          dem seiner vorhersagbaren regelmäßigen Wiederkehr.        ten ist. Deren Verwertungsgebot reproduziert ästhetische Inhal-
    In der Ära einer kulturellen Hegemonie der Sozialdemokratie wäh-                   suchsanordnung »Black Box« von Stefan Kaegi und            Die Regelhaftigkeit und Anverwandlung von Kultur          te in der Warenform und drängt in die Affirmation.
    rend der 1970er Jahren war hier von »Kultur für alle« zumindest                    Rimini Protokoll anzusetzen.                               an Natur im Jahresrhythmus stabilisiert das symboli-
    die Rede. Bald aber war das Haus außen patiniert, innen morsch bis                                                                            sche Kapital der Künste gegenüber der Gesellschaft,       Wenn die Künste nicht auf falsche Zeitgenossenschaft schielen,
    zur Grenze der Funktionstüchtigkeit und prekär in den Finanzen.                    Sie schickt im Fünf-Minuten-Takt einzelne Zuschau-         sichert Aufmerksamkeit und regelmäßige Budgets oh-        sondern ihren immanenten Widerstand und ihr repräsentati-
    Eine Generalrenovierung war unumgänglich. Zwischen dem ers-                        er*innen mit einem Audio-Guide bewaffnet auf einen         ne permanenten Legitimationsdruck. Sie lässt sogar an     onskritisches Potential aktualisieren, kann es wieder spannend
    ten und zweiten Lockdown des Jahres 2020 fertiggestellt, steht nun                 Parcours durchs Haus und dringt dabei vom Maschi-          Produktionsformen wie dem Repertoirebetrieb festhal-      werden. Eine, wenn man so will, »technophagische« Praxis der
    das neue Volkstheater in seiner hellen Pracht in der abendlichen                   nenraum der Klimatisierung bis zum Souffleurkasten         ten, der bei über Jahrzehnte rückläufigen Publikums-      Einverleibung digitaler Medien und ihrer Zergliederung und Ver-
    Silhouette der Stadt und harrt wie unzählige andere Kultureinrich-                 in Welten vor, die das Publikum selten zuvor gesehen       zahlen ökonomisch zunehmend fragwürdig erscheint          arbeitung im Präsenzmodus der Künste könnte tatsächlich so et-
    tungen in rasendem Stillstand seiner Bestimmung.                                   hat. Die Aufführung ist in eine Audiodatei entschwun-      und immer weniger den immanenten Erfordernissen           was wie einen hybriden Möglichkeitsraum aufspannen, der von
                                                                                       den. Eine Stimme vom Datenträger kommandiert mit           der Kunstproduktion entspricht.                           medial-präsenten Akteur*innen, menschlichen wie nicht-mensch-
    Was kann man tun, auch wenn man nichts tun kann? Der Lock-                         der salbungsvollen Autorität eines Navigationssystems                                                                lichen Ursprungs, reich bevölkert ist.
    down wirft Fragen auf, die man im vollen Lauf des Betriebs so nicht                durch sie hindurch.                                        Eine vom Virus verpatze Saison lässt sich noch ganz
    gestellt hätte: Nicht allein, wann es in den Theatern und Konzert-                                                                            gut wegstecken. Was darüber hinausgeht, öffnet den        Adornos Kalenderspruch, dass Aufgabe der Kunst heute sei, Chaos
    sälen wieder weiter geht, sondern ob es das ohne Abstriche über-                   Die geskriptete Wahrnehmung hat alle Mühe, den Zeit-       Blick ins alles verschlingende Nichts eines Aus-der-      in die Ordnung zu bringen, gilt in naher Zukunft umso dringlicher.
    haupt je wieder wird? Kann man die Erfahrung der Pandemie so                       takt der Tonspur mit den Referenzpunkten in der Reali-     Zeit-Fallens. Die hektische Betriebsamkeit in den
    einfach wegstecken und sich wieder unbefangen zwischen Frem-                       tät des Gebäudes in Übereinstimmung zu bringen. Sie        darstellenden Künsten beim Streamen vorprodu-
    den und fremd Bleibenden ins Dunkel eines Zuschauerraums drän-                     ist die permanente Forderung, geistesgegenwärtig zu        zierter Inhalte und der Einarbeitung digitaler Medi-                         Uwe Mattheiß lebt und arbeitet als Autor
    gen? Wieso verharrt die darstellende Kunst der Gegenwart in                        handeln. Quick Response statt Reflexion. Was der Tour      en in aktuelle Arbeitsprozesse, hat ihre entscheiden-                        und Dramaturg in Wien und an der hessischen
    Raumkonzepten und -hierarchien des späten 19. Jahrhunderts?                        weit mehr abgeht als hüstelnde Sitznachbar*innen ist       de Ursache möglicherweise genau darin und weni-                              Bergstraße, schreibt für die tageszeitung (taz),
                                                                                                                                                                                                                               das in Wien erscheinende Wochenmagazin
                                                                                       das deliberative Moment einer Aufführung. Man han-         ger in der naiven Erwartung, irgendetwas im Medi-
                                                                                                                                                                                                                               FALTER und die Tageszeitung Der Standard.
    Setzt Öffentlichkeit tatsächlich noch die körperliche Nähe eines                   delt alleine, statt im Hinblick auf eine Gemeinschaft      um »rüberzubringen«, was im Zuschauerraum ver-                               Seine Themen sind Theater, Tanz, zeitgenös-
    Kollektivs zwingend voraus? Fiktion findet in einer Theater-,                      Handlungsmodelle zu erwägen und in der Wahrneh-            wehrt bleibt. Es ist vielmehr der Versuch, »in Takt«      sische bildende Kunst und die gesellschaftlichen Verhältnisse,
    Opern-, Tanz- oder Konzertaufführung schließlich nicht nur auf                     mung durchzuspielen.                                       zu bleiben mit der veränderten Betriebsamkeit einer       in denen sie stattfinden.
Wer eine künstlerische Ausbildung beginnt,
          lernt von Anfang an, dass man kurz vor dem Auftritt
             durch einen gehörigen Adrenalinschub ins »Fight
             or Flight« versetzt wird, Angriff oder Weglaufen –
             das Monster fletscht die Zähne! Allein: Weglaufen
                ist leider keine Option, denn Frau Mayer hat ja
                                    ihre Konzertkarte bezahlt…

                                                                  23 | Mediamorphose – Perspektiven und Visionen
Quo vad is
homo di gitalis?
Die Umstellung, ohne Publikum zu konzertieren, fällt
                                                                                                                                   mir persönlich sehr schwer, der Energieaustausch und
                                                                                                                                   das rauschhafte Konzerterlebnis müssen jetzt irgend-
                                                                                                                                   wie künstlich hergestellt werden – maximal kräftezeh-
                                                                                                                                                                                              Die
                                                                                                                                   rend. Und natürlich bleibt die nicht allein wegen mas-
                                                                                                                                                                                              kulturaffinen
…
                                                                                                                                   siv bedrohter Musiker-Existenzen äußerst drängende
                                                                                                                                   Frage, wie man diese Konzerte monetarisieren soll?

                                                                                                                                                                                              Internetnutzer
    Auch jetzt heißt es, sich mit der Realität zu konfron-                                                                         Was ist so ein steril digitales Konzert wert? Wofür wird
    tieren und grundlegend zu überdenken, wie wir aus                                                                              mit einer Konzertkarte denn eigentlich bezahlt? Allein
    der Vielzahl der Möglichkeiten und Entwicklungen,                                                                              für die aufspielenden Musiker? Oder für das Gesamter-
    die sich durch die radikale Digitalisierung unseres                                                                            lebnis mit großem Saal, kollektivem Erleben im Publi-

                                                                                                                                                                                              wollen
    Lebens ergeben haben, Formate herausdestillieren,                                                                              kum und dem seit Generationen abonnierten Plüsch-
    die auch nach der Pandemie unser musikalisches                                                                                 klappsessel in der Oper? All das fällt weg vor dem hei-
    und kulturelles Leben bereichern können.                                                                                       mischen Bildschirm. Was bekomme ich in einem digi-
                                                                                                                                   talen Live-Angebot, was eine CD oder die Digital Con-
    Ich selbst bin in den sozialen Medien während der
    letzten Jahre immer aktiv gewesen. Dabei war das di-
    gitale Spielfeld immer nur als Zuspieler für meine
    künstlerische Realität relevant, nie jedoch als digita-
                                                                                                                                   cert Hall nicht in viel besserer Auflösung bereithalten?
                                                                                                                                   Wieviel bleibt übrig vom live-Charakter, nachdem er
                                                                                                                                   durch Kabel und Bildschirm gelaufen ist? Letztendlich
                                                                                                                                   ist hier von unserer Seite mehr Kreativität gefordert.
                                                                                                                                                                                              Interaktion!
    le Echokammer. Der digitale Raum als autarkes Akti-
    onsfeld hatte mich nie interessiert. Dementspre-          Plötzlich ist der digitale Raum nicht mehr allein Zuspieler für      Im Moment bieten wir zu oft herkömmliche Konzert-          Fairerweise muss man sagen, dass damals von Corona

                                                                                                                                                                                                                                                              25 | Mediamorphose – Perspektiven und Visionen
    chend radikal war dann im letzten Jahr die Umstel-        die Wirklichkeit, keine abstrakt augmentierte Realität, sondern      formate an, ohne dabei die digitalen Möglichkeiten         noch nichts »in der Luft« lag (sic). Jetzt sind die Mühlen
    lung zum Homo digitalis auch für mich.                    zum Hauptspielfeld meiner Tätigkeit geworden.Doch auch diese         auch nur ansatzweise auszuschöpfen. Ein erfrischen-        ordentlich in Schwung gekommen, und das ist gut so.
                                                              Welle bricht, zumindest teilweise: Auf die emotionalen Sympathie-    des Gegenbeispiel habe ich gerade bei meinem letzten       Ich persönlich habe mit Online-Unterricht äußerst po-
    Zeitblende zurück zu Anfang 2020. Vor mir liegen          bekundungen und die einhellige Solidarität nach den ersten On-       Konzert in Paris erlebt, wo man sich mit einer App an      sitive Erfahrungen gemacht, die Studierenden machen
    sechs Monate intensiver Unterrichtswochen und             line-Konzerten folgt die zu erwartende allgemeine Erschöpfung.       verschiedene Positionen des Orchesters setzen und          sehr gute Fortschritte. Sogar Klassenstunden haben wir
    ausgebuchtes Touring, jede Woche von Januar bis En-       Die ubiquitär gestreamten Angebote nehmen überhand. Irgend-          mitspielen konnte. Quasi ein klassisches Karaoke.          während Corona digital abgehalten, inklusive Buch-
    de Juli ist komplett durchgeplant. Anfang März ist        wann erträgt man die schnöde Wohnzimmer-Akustik über miser-                                                                     Club und gemeinsamer Koch-Sessions per Zoom. So
    der Wiener Musikverein zweimal ausverkauft mit            able Mikros und Handystreaming nicht mehr. Vielleicht jetzt die      Die kulturaffinen Internetnutzer wollen Interaktion!       konnten wir bis zuletzt ein sehr gutes Klassengefühl
    meiner Uraufführung des Konzerts von Bernd                alte LP-Sammlung mal wieder abstauben?                               War die Rezeption im Konzertsaal bisher passiv oder        herstellen. Mit grundlegendem Equipment, das wir in-
    Deutsch, in den Wochen davor war ich ohne freien                                                                               allenfalls durch aufmerksames Zuhören, gelegentli-         zwischen wirklich alle haben sollten, ist hervorragen-
    Tag in New York, Milwaukee, Boston, Warschau, in          Meine Masterclasses auf YouTube laufen indessen im Coro-             che Huster und Applaus mitgestaltet, sind jetzt die        der Instrumentalunterricht ohne Einbußen zu machen.
    Wien zu Proben, und natürlich beständig an der            na-Sommer weiter, die Interaktion mit jungen Musiker*innen ist       interaktiven Möglichkeiten der digitalen Sphäre un-        Auch das leidige Zoom hat extrem nachgebessert und
    Hochschule für Musik und Tanz Köln. Dann der              sehr dynamisch und gibt mir bei allen beruflichen Hiobsbot-          sere Chance, augmentierte Konzerterlebnisse zu bie-        bietet inzwischen tolle Audioqualität.
    Schock: am Morgen nach der Wiener Uraufführung            schaften Halt. Die Reaktion darauf lässt nicht lange auf sich war-   ten, die man im herkömmlichen Konzertbetrieb so
    schließt der Musikverein seine Tore. Tags darauf flie-    ten: die Anfragen, um vor den anstehenden Aufnahmeprüfun-            nicht bekommen kann (Stichwort Virtual Reality,            Die Praxis hat wirklich alle Zweifel ausräumen können.
    ge ich nach Hamburg, Haydn-Konzert in der Elbphil-        gen für einen Studienplatz bei mir vorzuspielen, verzehnfachen       Oculus Rift etc.). Nur so werden auch nach Corona bei      Und das wird uns erhalten bleiben, Hybridformate wer-
    harmonie. Am Tag danach macht auch die Elphi              sich. Dazwischen immer wieder Konzerte ohne Publikum, ge-            geöffneten Konzerthäusern diese kreativen Formate          den zu unserem Alltag gehören. Eine Rückkehr zur gu-
    dicht. Die Schließungen verfolgen mich wie ein Ts-        streamt und dann auf YouTube verfügbar.                              bleiben und uns bereichern. Der seit Jahren beschwo-       ten alten, komplett analogen Zeit wird es auch in der
    unami. Am 13. März holt mich die Welle ein, alle                                                                               renen Klassik-Krise könnte man ironischerweise gera-       Lehre nicht geben, zumal Prognosen uns das Virus
    Konzerthäuser geschlossen, alle Reisen untersagt,                                                                              de mit den Mitteln der Corona-Krise beikommen –            noch für einige Jahre voraussagen. Man sollte also alles
    DELETE-Taste im Konzertkalender für den Rest der                     Die Anfangsphase dieser                                   wenn man die sich jetzt bietenden Chancen nutzt.           daran setzen, um die neuen Unterrichtsformate zu per-
    Saison, Konzerte mit dem Los Angeles Philharmonic
    und Gustavo Dudamel sowie eine Konzerttournee
                                                                         neuen Digitalität fühlt sich                              Und an der Hochschule? Dass ich die forcierte Digita-
                                                                                                                                                                                              fektionieren, statt von vorübergehenden Krücken zu
                                                                                                                                                                                              sprechen, die man nach der allgemeinen Genesung im
    durch die USA mit einem Kammerorchester, alles                       trotz aller schmerzlichen                                 lisierung in der Lehre sehr begrüße, lässt mich nicht      Corona-Kuriositäten-Keller wieder verschwinden lässt.
    abgesagt.                                                                                                                      zuletzt an einen Besuch vor zwei Jahren im Rektorat
                                                                         Absagen und finanziellen                                  der HfMT Köln zurückdenken. Damals begegnete
    Ich war zu hundert Prozent im Touring-Modus, wie                                                                               man meiner Idee, einen digitalen Unterrichtsraum
    ein heißgefahrener Rennwagen. Um der plötzlichen                     Einbußen an wie ein Rausch,                               einzurichten, noch mit sehr viel Skepsis. Nach einiger
                                                                                                                                                                                                              Der von FonoForum als »einer der spek-
                                                                                                                                                                                                              takulärsten Cellisten dieser Zeit« gepriesene

                                                                         Goldgräberstimmung –
    Leere und meiner Unruhe zumindest etwas Aktivi-                                                                                Überzeugungsarbeit gab es dann einen ernüchtern-                           Johannes Moser gehört nicht zuletzt seit
                                                                                                                                                                                                              seinem fulminanten Debüt bei den Berliner
    tät entgegen zu setzen, beginne ich in der ersten Co-                                                                          den Besuch bei der Hochschul-IT: Für Online-Unter-
                                                                                                                                                                                                              Philharmonikern unter Zubin Mehta zur Welt-
    vid-Woche digitale Formate zu entwickeln, mit Mas-                   überall ungeahnte                                         richt seien die Bedingungen trotz Highspeed-Internet                       spitze seines Fachs. 2002 gewann er den
    ter Class-Videos, Online-Konzerten, Übertragungen                                                                              einfach noch nicht geschaffen. Ich solle mal wieder in     Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau. An der Hochschule für
    meines Übe-Alltags in der Ausnahmesituation.                         Möglichkeiten.                                            ein paar Monaten vorbeischauen.                            Musik und Tanz Köln hat er seit 2012 eine Professur inne.
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