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UNI NOVA Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel — N°130 / November 2017 Dos sier Quantencomputer Rechner der Zukunft. Gespräch Debatte Album Essay Leben in der Genauigkeit Wie ein Kraut Gibt es eine politisch Klassengesellschaft. in der Wissenschaft. unsere Wälder erobert. korrekte Sprache?
Marc Ch Chagall hagall Se Selbstbildnis, 1914, Kunstmuseum Basel, Stiftung Im Obersteg, Depositum im Kunstmuseum Basel, © 2017, ProLitteris, Zurich, Foto: Kunstmuseum Basel, Martin P. Bühler DIE JAHRE 1911——1919 DES DURCHBRUCHS CHAGALL 16. 9. 2017 —— 21.1. 2018 Neubau: St. Alban-Graben 20
Editorial Team An dieser Ausgabe haben mitgearbeitet: Eine neue Art des Rechnens. 1 Noch existieren sie erst im Labor, sie gelten aber als gros- ses Versprechen für die Zukunft: Quantencomputer sollen komplexe Probleme lösen und in Echtzeit riesige Datenmengen berechnen können. Heutige Verschlüs- selungsverfahren etwa würden im Nu geknackt. Weltweit 2 liefern sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen Wettlauf, um den ersten voll funktionsfähigen Quantencomputer zu bauen. Anders als herkömmliche Rechner beruhen Quantencom- puter auf den Effekten der Quantenmechanik. In der 3 Welt der kleinsten Teilchen gelten Regeln, die sich mit un- serer Alltagserfahrung nicht in Einklang bringen lassen: Teilchen können sich zugleich in verschiedenen Zuständen 1 Dominik Zumbühl leitet das Departe- befinden, auf merkwürdige Weise miteinander verbunden ment Physik der Universität Basel und sein und sich verändern, sobald wir sie beobachten. erforscht als Experimentalphysiker unter Quantencomputer machen sich diese Phänomene zunutze, anderem den Quantentransport, die Quan- tenkohärenz, Elektronenspins und Kern- was es ihnen erlaubt, wesentlich mehr Informationen spins in Nanostrukturen. Sich selbst be- zu speichern und diese viel schneller zu verarbeiten, als zeichnet der 43-Jährige als einen von der es mit klassischer Elektronik je möglich sein wird. Physik faszinierten Menschen, der davon angetrieben ist, neue Gesetze der Natur Während die theoretischen Konzepte weit fortgeschritten zu entdecken, und der versucht, diese in sind, braucht es bis zum funktionierenden Quanten - nützliche Technologien zu entwickeln. computer nicht nur Rechen- und Speichereinheiten, die Seiten 16 –17 über längere Zeit stabil bleiben und miteinander verbunden werden können. Gefragt sind etwa auch neue Ansätze 2 Benedikt Vogel hat die Redaktion beim Zustandekommen des Dossiers zur Fehlerkorrektur sowie neuartige Messinstrumente und dieses Hefts tatkräftig unterstützt. Nach Fertigungstechnologien. An alledem wird in Basel geforscht. dem Studium der Germanistik und Phy- sik mit Doktorabschluss arbeitete er In diesem Heft stellen wir Ansätze zum Rechnen mit Quan- rund 20 Jahre als Redaktor und ist heute teninformationen vor und zeigen, wie an der Universität selbständiger Wissenschaftsjournalist Basel im Zusammenspiel von theoretischen Entwürfen und in Berlin. Seiten 14 – 33 raffinierten Experimenten an der Zukunft des Rechnens gearbeitet wird. Wir wünschen Ihnen bei der Lektüre viele 3 Luca Gaggini untersucht als Dokto- rand in der Forschungsgruppe Natur- neue Einblicke! schutzbiologie den Einfluss von invasi- Reto Caluori, ven Pflanzenarten auf Biodiversität und Ökosystemfunktionen. Sein Forschungs- Redaktion UNI NOVA projekt über das Drüsige Springkraut in den Wäldern der Region haben wir foto- grafisch begleiten lassen. Seiten 38 – 49 UNI NOVA 130 / 2017 3
Inhalt Klassenunterschiede sind real: Quantenforschung entsteht im Wechselspiel von Theorie und Experiment. Oliver Nachtwey im Gespräch, Seite 8 6 Kaleidoskop Dossier Quantencomputer 8 Gespräch Die westlichen Gesellschaften sind Rechner der durchzogen von strukturellen Asymmetrien, die Merkmale von Klassengesellschaften sind, sagt Zukunft. der Soziologe Oliver Nachtwey. 16 Die zweite Revolution. 24 Das Majorana-Fermion. 12 Nachrichten Die Quantenphysik verspricht revo- Für einen Quantenrechner braucht Lasker-Preis, Uni auf Baselbieter lutionäre neue Technologien – es stabilere Speicherbausteine als Märkten, Politikwissenschaft. mit weitreichenden Konsequenzen. die Qubits. Eine mögliche Lösung ist ein Elementarteilchen namens 19 Bausteine des Majorana-Fermion. Quantencomputers. Ein Qubit kann ein Bit Information 26 Silizium für den Superrechner. speichern – es ist der elementare Die klassischen Silizium-Chips Baustein eines künftigen Quanten- könnten auch für die Entwicklung computers. leistungsstarker Quantencomputer UNI NOVA Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel — N°130 / November 2017 wichtig werden. 21 57 Sekunden sind Weltrekord. Dos sier Quantencomputer Rechner der Zukunft. Basler Wissenschaftler haben es 29 Rechnen in einer Welt geschafft, den Spin eines Elektrons voller Störungen. während knapp einer Minute in einer Ein Quantencomputer muss in der Richtung zu halten: Weltrekord. Lage sein, in einer Art dauernder Gespräch Debatte Album Essay Leben in der Genauigkeit Wie ein Kraut Gibt es eine politisch Selbstdiagnose Fehler zu erkennen. Klassengesellschaft. in der Wissenschaft. unsere Wälder erobert. korrekte Sprache? Titelbild 22 Rechnen mit Qubits. Mario Palma, Doktorand Quantenbits, kurz Qubits, bilden die 31 Quantensensoren und in der Forschungsgruppe von Prof. Dominik Zumbühl, zentralen Rechen- und Speicher- Mikroskopie. platziert einen Chip an der Spitze bausteine eines Quantencomputers. Quantenbasierte Sensoren sind eines Kryostaten, mit dem bereits Realität. Basler Physiker sich Experimente bei extrem tiefen Temperaturen durch- haben extrem empfindliche Mess- führen lassen. instrumente entwickelt. 4 UNI NOVA 130 / 2017
Inhalt Impressum UNI NOVA, Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel. Herausgegeben von der Universität Basel, Kommunikation & Marketing (Leitung: Matthias Geering). UNI NOVA erscheint zweimal im Jahr, die nächste Ausgabe im Mai 2018. Das Heft kann kostenlos abonniert werden; Bestellungen per E-Mail an uni-nova@unibas.ch. Exemplare liegen an mehreren Orten innerhalb der Universität Basel und an weiteren Institutionen in der Region Basel auf. KONZEPT: Matthias Geering, Reto Caluori, Urs Hafner REDAKTION: Reto Caluori, Christoph Dieffenbacher ADRESSE: Universität Basel, Kommunikation & Marketing, Postfach, 4001 Basel. Tel. +41 61 207 30 17 E-Mail: uni-nova@unibas.ch UNI NOVA ONLINE: unibas.ch/uninova, issuu.com/unibasel GESTALTUNGSKONZEPT UND GESTALTUNG: New Identity Ltd., Basel ÜBERSETZUNGEN: Sheila Regan und Team, UNIWORKS (uniworks.org) Genetische Analysen helfen, die Ausbreitung von Neophyten zu verstehen, Seite 38 BILDER: S. 6: Mehmed A. Akšamija, Sarajevo. siba.4859; S. 7: Annetrudi Kress; Cosmos; S. 12: Albert and Mary Lasker Foundation; S. 18: Enrique Sahagún/Scixel; S. 33: Enrique Sahagún/Scixel; S. 52: Peter Stein/Shutterstock; S. 56: Departement Pharmazeutische Wissenschaften der Univer- sität Basel; SNF/Swiss Atrial Fibrillation Cohort; S. 62: Lumenfilm; S. 63: Jorge Royan/royan.com.ar (CC BY-SA 3.0); S. 65: Yonsei University, Seoul; S. 67: John Englart/Takver (CC-BY-SA-2.0). ILLUSTRATION: Studio Nippoldt, Berlin 34 Mein Arbeitsplatz 54 Forschung KORREKTORAT: Birgit Althaler, Basel (deutsche Ausgabe), Lesley Paganetti, Basel (englische Aus- Das Departement Biomedizin be- Frühe Sprachförderung. gabe). treibt einen Reinraum mit besonders Je früher Kinder mit Migrationshin- DRUCK: Birkhäuser+GBC AG, Reinach BL INSERATE: Universität Basel, Leitung strengen Vorschriften – ein Labor tergrund ausserhalb der Familie Marketing & Event, E-Mail: bea.gasser@unibas.ch UNI NOVA ist Mitglied des Swiss Science Pool für höchste Qualitätsstandards. betreut werden, desto rascher lernen (swisssciencepool.com) sie Deutsch. AUFLAGE DIESER AUSGABE: 14 000 Exemplare deutsch 36 Debatte 1200 Exemplare englisch Wie genau ist die Wissenschaft? 56 Forschung Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin. Der Historiker Tobias Straumann Zebrafische, Vorhofflimmern ISSN 1661-3147 (gedruckte Ausgabe deutsch) ISSN 1661-3155 (Online -Ausgabe deutsch) und der Evolutionsbiologe Dieter und Demenz. ISSN 1664-5669 (gedruckte Ausgabe englisch) Ebert diskutieren. ISSN 1664-5677 (Online -Ausgabe englisch) facebook.com/unibasel 57 Bücher instagram.com/unibasel 38 Album Neuerscheinungen von Forschenden twitter.com/unibasel Das Kraut aus dem Osten. der Universität Basel. Das Drüsige Springkraut verdrängt nicht nur seine einheimischen Ver- 58 Essay wandten, sondern auch die umge- Gibt es eine politisch korrekte bende Pflanzenwelt und bremst das Sprache? Wachstum der Bäume. Die Philosophin Deborah Mühlebach über politische Sprachkritik 50 Forschung und darüber, was Wörter bewirken. Stammzellen gegen Hirnlähmung. Das Potenzial von Stammzellen 60 Porträt könnte zur Behandlung der Zerebral- Die Völkerrechtlerin und die parese eingesetzt werden. Seeräuberei. In Sachen Piraterie und Kriminalität 52 Forschung auf See kennt sich die Juristin Anna UNI NOVA Wie Schneeflocken entstehen. Petrig bestens aus. gibt es auch in Englisch. Damit sich Schneeflocken bilden, Und im Internet: braucht es neben der Kälte oft auch 62 Alumni issuu.com/unibasel unibas.ch/uninova biologische Partikel als Eiskeime. 66 Mein Buch 67 Agenda UNI NOVA 130 / 2017 5
Kaleidoskop Historische Pressefotos Alltag im Umbruch. Sarajevo, Istanbul, Belgrad und Ankara durchliefen nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs einen rasanten Modernisie- rungsprozess. Eingefangen wur- de diese dynamische Zeit in den Bildern von Pressefotogra- fen, die zwischen 1920 und 1940 in den grossen türkischen und jugoslawischen Zeitungen erschienen sind. Sie legen Zeugnis ab von der kulturellen, politischen und städtischen Entwicklung. Ein Forschungsprojekt am Fachbereich Nahoststudien hat zusammen mit internatio- nalen Partnern die Bilder online zugänglich gemacht und eine Wanderausstellung konzipiert. Nach ihrer Vernissage in Basel wird die Ausstellung nun auch in Belgrad, Istanbul, Sarajevo, Graz und Cambridge zu sehen sein. Auf der Fotografie von 1939 ist ein katholisches Bauern- paar aus dem Umland Saraje- vos abgelichtet. Beide tragen die für die Region charakteristi- sche Kleidung. bit.ly/SIBA-unibasel 6 UNI NOVA 130 / 2017
Kaleidoskop Neurowissenschaften Spielen für die Wissenschaft. Mit Online-Games beschreitet das For- schungsprojekt Cosmos neue Wege in der Erhebung psychologischer Daten. Vier Videospiele sollen dazu beitragen, die Funk- tionsweise des menschlichen Gehirns besser zu verstehen. Die einzelnen Games messen unterschiedliche kognitive Fähig- keiten wie Reaktion, Kurzzeit- oder Arbeits- gedächtnis. Der fliegenfressende, von Teich zu Teich hüpfende Frosch etwa ist ein Natura Obscura Go/No-Go-Test, der Rückschlüsse zum Im Zaubergarten Verhalten unter Zeitdruck zulässt. Die For- schenden untersuchen, welche molekula- der Natur. ren Mechanismen für bestimmte kognitive oder emotionale Funktionen wichtig sind. Die Online-Plattform dient dabei als Werk- Seit 200 Jahren widmet sich die Naturforschende zeug, um die nötigen grossen Fallzahlen Gesellschaft in Basel der Natur und Wissenschaft und zu erreichen. hat – oft eng vernetzt mit der Universität – zur Ent- cosmos.psycho.unibas.ch wicklung des Wissens- und Forschungsstandorts Basel beigetragen. Zum Jubiläum legt die Gesellschaft mit natura obscura einen Band vor, in dem 200 Natur- forschende von einem Stück Natur erzählen, das sie persönlich fasziniert. Entstanden ist ein Lesebuch mit prächtigen Bildern, wie diese Aufnahme einer Cuthona coerulea: einer im Meer lebenden Schnecke ohne Schale, die trickreiche Verteidigungsstrategien entwickelt hat, um den Verlust des schützenden Gehäuses zu kompensieren. ngib.ch/jubilaeum UNI NOVA 130 / 2017 7
Gespräch «Die ökonomischen und kulturellen Ressourcen sind ungleich verteilt und reproduzieren sich ungleich.» Oliver Nachtwey 8 UNI NOVA 130 / 2017
Gespräch « Wir leben in einer Klassengesellschaft.» Die Menschen müssten offen über ihre unterschiedlichen ökonomischen Interessen streiten, findet der Soziologe Oliver Nachtwey. Die Klassengesellschaft sei nie vorbei gewesen. Interview: Urs Hafner Foto: Christian Flierl Oliver Nachtwey ist neuer Professor für durch staatliche Hände geht, ist ein male von Klassengesellschaften sind: Die Soziologie an der Universität Basel. An- höchst ungenaues Mass, um sozialistische ökonomischen und kulturellen Ressour- fang August, ein paar Tage nach seinem oder auch nur soziale Verhältnisse zu be- cen sind ungleich verteilt und reproduzie- Arbeitsbeginn, ist sein Büro am Petersgra- stimmen. In Deutschland ist die Staats- ren sich ungleich. Von den Fünfziger- bis ben nicht einfach zu finden, weil es noch quote nach den sozialstaatlichen Kürzun- in die Achtzigerjahre schien es, als wür- nicht angeschrieben ist. Der Raum sieht gen kaum gesunken. Eine hohe Staats- den die Klassenunterschiede an Bedeu- frisch renoviert aus, das leere Regal wartet quote kann für Verschiedenes stehen: für tung verlieren – der Soziologe Ulrich Beck auf das erste Buch. In der Ecke steht der viel Bürokratie, für hohe Militärausgaben, hat von der «Fahrstuhlgesellschaft» ge- Aluminiumkoffer bereit für die Wochen- für niedrige Löhne, die staatliche Trans- sprochen: Ökonomisch ging es allen im- endreise nach Frankfurt, wo Nachtwey ferleistungen erfordern. Da muss man mer besser. Aber selbst damals blieben noch wohnt. Er werde bald in die Stadt genau hinschauen. Eine Gegenfrage an die strukturellen Unterschiede bestehen. Basel ziehen, betont der junge Soziologe, die Rechtsliberalen könnte lauten: Ist die UNI NOVA: Das Wirtschaftswunder hat den bevor er Kaffee und Wasser serviert, er hohe Staatsquote auch dann ein Übel, Blick der Wissenschaft getrübt? wolle hier leben und sich einbringen. wenn der Staat imstande ist, marode Ban- NACHTWEY: Eine Zeit lang, ja. Und nun ha- Eben habe er sich spontan das erste Mal in ken vor dem Untergang zu retten und die ben die sozialen Klassen wieder an Sicht- den Rhein gewagt. Er trägt einen modi- Volkswirtschaft vor grösserem Schaden barkeit gewonnen: Die Reichsten und schen Haarschnitt, Bart und Anzug, am zu bewahren? Mächtigsten, also die obersten fünf bis Handgelenk eine elegante deutsche Uhr. UNI NOVA: Lassen wir also die Sozialismus- zehn Prozent der Bevölkerung, stellen frage offen. In Ihrem aufsehenerregenden ihren Wohlstand unverhohlen zur Schau. UNI NOVA: Herr Nachtwey, fühlen Sie sich Buch über die «Abstiegsgesellschaft» be- Reichtum wird per se als Zeichen von in der Schweiz wie im Sozialismus? schreiben Sie plausibel, wie in Europa die Leistung gedeutet; wer viel verdient, gilt OLIVER NACHTWEY: Den Sozialismus stelle unteren Mittelschichten und die Unter- als Leistungsträger, egal, wie er zu seinem ich mir ein wenig anders vor … Die Le- schichten verarmen, während die Ober- Geld gekommen ist. Wenn die Perfor- bensqualität hier ist sehr hoch. Als Kind schichten ökonomisch zulegen. Leben mance eines Unternehmens sinkt, wird war ich ein paar Mal im Wallis in den Fe- wir wieder in einer Klassengesellschaft? dem Topmanager der Lohn nicht gekürzt. rien, wo es mir jeweils sehr gut gefiel. NACHTWEY: Wir haben schon immer in Die Unterschichten dagegen werden grös- UNI NOVA: Ich hatte weniger an das Befin- einer Klassengesellschaft gelebt, sie kehrt ser und verlieren quasi den Anschluss an den als an Zahlen gedacht: Die Rechtslibe- nicht zurück – wobei ich die Verhältnisse die Gesellschaft. In Deutschland zählt ein ralen behaupten, wir würden im Sozialis- in der Schweiz noch zu wenig kenne, um Viertel aller Jobs zum prekären Niedrig- mus oder Semi-Sozialismus leben, weil qualifizierte Aussagen machen zu kön- lohnbereich, im deutschen Parlament die Staatsquote über 50 Prozent betrage. nen. Die westlichen Gesellschaften jeden- sitzt noch ein einziger Arbeiter. NACHTWEY: (lacht) Die Staatsquote, also falls sind nach wie vor durchzogen von UNI NOVA: Wer «Klasse» sagt, evoziert den der Anteil des Bruttoinlandprodukts, der strukturellen Asymmetrien, die Merk- Marxismus, aber die Theorien vom Klas- UNI NOVA 130 / 2017 9
Gespräch «Es gibt heute senbewusstsein, von der Klasse an sich zu viele prekäre Jobs, die und für sich, vom Proletariat und so wei- ter: Sie stimmen nicht. den Leuten keine Sicherheit NACHTWEY: So einfach ist es nicht. Auch mehr bieten.» für den Soziologen Ralf Dahrendorf, der Oliver Nachtwey alles andere als ein Marxist war, sondern ein überzeugter Liberaler, waren kapita- listische Gesellschaften notwendig Klas- sengesellschaften. Er hat schon in den Neunzigerjahren gesagt, die Bedeutung der Klassen werde wieder zunehmen. leugnet, redet einem scheinbaren Kon- mentare, die, wie wir wissen, etwa auch Der Begriff Klasse meint, dass die Men- sens das Wort, der in gesellschaftlicher von gut ausgebildeten Technikern abge- schen aufgrund des Umstands, dass sie Anomie enden kann. setzt werden, weisen darauf hin, dass sich sich in unterschiedlichen ökonomischen UNI NOVA: Anomie: Sie gehen also davon soziale Pathologien in beunruhigendem Lagen befinden, verschiedene Interessen aus, dass die Normen der Gesellschaft ero- Mass ausbreiten. Viele Menschen fressen haben. Und daraus entstehen zwangsläu- dieren, dass sie vor dem Auseinanderfal- Frustration und Ängste in sich hinein, fig Konflikte: Die Klassen streiten und len steht? während der Leistungsdruck auf dem Ar- kämpfen gegeneinander, sie müssen NACHTWEY: Nicht zwangsläufig. Aber Phä- beitsmarkt steigt. Die Anzahl Krankheits- aber auch verhandeln und Lösungen su- nomene wie die deutsche Pegida-Bewe- tage in den Unternehmen sinkt, also die chen. Im Idealfall entstehen aus dem gung, die im Internet kursierenden Ver- Leute gehen arbeiten, obschon sie nicht Streit Integration und Befriedung. Wer schwörungstheorien unter Gleichgesinn- wirklich fit sind, gleichzeitig aber neh- die Existenz der Klassengesellschaft ten oder auch die anonymen Hasskom- men psychosoziale Erkrankungen zu. MICHAEL, MANAGER HR SYSTEMS ICH WILL MICH ENTFALTEN. WIR WACHSEN ÜBER UNS HINAUS. Lidl lohnt sich – auch für unsere Mitarbeitenden: Angefangen bei einem tollen Team und viel Raum für Ideen bis hin zu einmaligen Weiterbildungsangeboten und besten Aufstiegsmöglichkeiten bietet Lidl vielfältige Möglichkeiten für gemeinsames Wachstum. Karrierechancen auf karriere.lidl.ch
Gespräch UNI NOVA: Wieso wehren sich die Leute sechs Millionen Menschen getragen NACHTWEY: Ich streite nicht gern. Zunächst nicht, wenn sie unter Druck stehen? wurde. Deutschland hat die Flüchtlinge möchte ich meine Kolleginnen und Kolle- NACHTWEY: Das tun sie, aber auf eine dest- aufgenommen und ist nicht zusammen- gen besser kennenlernen, deren Arbeit ruktive Weise. Sie melden sich lautstark gebrochen. ich schätze. Allerdings würde es einer so im Rechtspopulismus zurück. Das ist aus UNI NOVA: Das deutsche Feuilleton be- vielfältigen Wissenschaft wie der Soziolo- ihrer Sicht eine Art Notwehr … zeichnet Sie als linken Wissenschaftler. gie guttun, wenn man mehr kollegiale UNI NOVA: … Notwehr? Was sagen Sie dazu? Kontroversen führen würde, um den sozi- NACHTWEY: Weil sie sich nicht mehr ange- NACHTWEY: Wenn es in der Zeitung steht, alen Wandel besser zu verstehen. Streiten hört fühlen. Die Angehörigen der Unter- wird es wohl stimmen … sollten wir aber in der Gesellschaft. So schichten und der abstiegsbedrohten UNI NOVA: Was macht ein linker Soziologe? paradox es klingt: Konflikte fördern die Mittelschichten haben im öffentlichen NACHTWEY: Ich interessiere mich für Ar- soziale Integration – sofern der Kampf Leben an Bedeutung und Sichtbarkeit ver- beit, für soziale Gerechtigkeit, für Wirt- darum nicht, wie dem einflussreichen loren. Von den etablierten Volksparteien schaft und politische Phänomene. Mein und mit dem NS-Regime sympathisieren- sehen sie sich immer weniger repräsen- Ideal ist, zu wissenschaftlich fundierten den Staatstheoretiker Carl Schmitt vor- tiert. Die Vereine verschwinden und die Ergebnissen über gesellschaftliche Unge- schwebte, in der Vernichtung des Gegners Gewerkschaften schwächeln. In diesen rechtigkeit und sozialen Wandel zu gelan- enden soll. In der Auseinandersetzung zivilgesellschaftlichen Organisationen gen. Meine Erkenntnisse sollen interes- entsteht Reibung, aber auch der Kompro- konnten die Leute früher ihre Wut und sierten Bürgerinnen und Bürgern ermög- miss und manchmal sogar ein wenig Empörung artikulieren und fanden Reso- lichen, die Welt besser zu verstehen und Wärme. nanz. Die Gewerkschaft bot Schutz vor diese vielleicht sogar besser zu machen. den Zumutungen des Markts, der Stamm- Ich steige nicht auf den Feldherrenhügel tisch spendete Trost und empfahl nach und sage, wo es langgeht. dem letzten Bier Mässigung. Die Erosion UNI NOVA: Nicht wie Lenin also. Und wie Oliver Nachtwey Geboren 1975, seit 1. August dieser Milieus führt zur Anomie. arbeitet ein konservativer Soziologe? 2017 Professor für Sozial- UNI NOVA: Das heisst also, dass früher, als NACHTWEY: Eigentlich sollte er zu ähnli- strukturanalyse an der Uni- es noch lebendige Vereine und starke Ge- chen Resultaten kommen wie der linke versität Basel. Vorher lehrte werkschaften gab, alles besser war? Soziologe, aber er wird sie anders inter- und forschte Oliver Nacht- NACHTWEY: Es gibt heute zu viele prekäre pretieren. Viele konservative Soziologen wey an der Technischen Universität Darmstadt und Jobs, die den Leuten keine Sicherheit behaupten, den Gegensatz von Rechts am Institut für Sozial- mehr bieten, aber ich sehne mich nicht und Links gebe es nicht mehr, oder sie forschung in Frankfurt am nach den guten alten Zeiten zurück, die stünden nicht rechts, sondern arbeiteten, Main. Der Wirtschafts- es so nie gab. Die Verhältnisse waren auch wie der grosse Soziologe Max Weber ge- soziologe befasst sich mit rückschrittlich, etwa in der Frage der fordert hat, frei von Werturteilen objek- Arbeit, Ungleichheit, Protest und Demokratie. Er Emanzipation von Frauen. Deshalb kann tiv. Wer so argumentiert, ist jedoch selbst schreibt für Tages- und man die Uhr nicht einfach zurückdrehen. ideologisch, weil die eigenen Überzeu- Wochenzeitungen sowie Die Situation ist heute offen, vieles ist gungen immer in die Forschung mit ein- Online-Portale. Seine 2016 bei möglich. Das Problem ist nicht das Weg- fliessen. Linke Soziologinnen und Soziolo- Suhrkamp erschienene fallen der Vereine, sondern: Was tritt an gen analysieren eher die Folgen des sozi- Studie «Die Abstiegsgesell- schaft. Über das Aufbe- ihre Stelle, welche Formen der Verge- alen Wandels bezüglich sozialer Gerech- gehren in der regressiven meinschaftung sind sinnvoll? Das Inter- tigkeit, Konservative schauen eher darauf, Moderne» stiess auf ein net, das den sozialen Wandel beschleu- wie die gesellschaftliche Stabilität erhal- grosses Echo und ist zum nigt, kann ein Medium der Emanzipation ten werden kann. Linke kritisieren die Bestseller geworden – eine wie der Regression sein. Global sehe ich negativen Folgen des Markts für die Ein- für ein gehaltvolles Sach- buch seltene Auszeichnung. im Moment beides: autoritäre und demo- kommensverteilung, Konservative die – kratische Tendenzen, den ins Stocken ebenfalls negativen – Auswirkungen auf geratenen Arabischen Frühling und die die traditionelle Familie. Occupy-Bewegung einerseits, die neuen UNI NOVA: In der Schweiz dominiert eine Autokraten anderseits. Ich glaube, Bernie empiristische Soziologie, die mit der Be- Sanders hätte anstelle von Hillary Clinton rechnung ihrer kleinteiligen Daten be- Trump geschlagen. Auf Deutschland bezo- schäftigt und – anders als Sie – im öffent- gen: Es gibt Pegida, aber es gibt auch die lichen Diskurs kaum präsent ist. Werden «Willkommenskultur», die von rund Sie den wissenschaftlichen Streit suchen? UNI NOVA 130 / 2017 11
Nachrichten Preis, Präsenz und Politikwissenschaft. Uni am Markt Unterwegs im Baselbiet. Von Reigoldswil bis Birsfelden, von Rei- nach bis Gelterkinden: Die Universität präsentiert sich im Herbst der Baselbieter Bevölkerung auf acht verschiedenen regi- onalen Märkten. In ungezwungener At- mosphäre suchen ortsansässige Uni-Mit- arbeitende das Gespräch mit den Markt- besucherinnen und -besuchern. Ziel der Initiative «Uni am Markt» ist es, die Uni- versität im Baselbiet besser sichtbar zu machen und auch mit Personen in Kon- takt zu treten, die noch keinen direkten Bezug zur Hochschule haben. Bei einem Glas Most beantworten Mitarbeitende aus unterschiedlichen Fachbereichen Fragen rund um die Universität und kommen so ins Gespräch mit der Bevölkerung. Lasker-Preis Nächste Termine: Sissach (15. November) und Muttenz (22. November). Grosse Ehre für Michael Hall. Professor Michael N. Hall vom Biozentrum der Universität Basel erhält den diesjährigen Lasker-Preis für medizinische Grundla- genforschung – eine der höchsten und prestigeträchtigsten Aus- Michael Hall über das zeichnungen in der biomedizinischen Forschung. Die in New Protein, welches York ansässige Albert and Mary Lasker Foundation würdigt den das Wachstum von Zellen reguliert: 64-jährigen Biochemiker für die Entdeckung und Erforschung youtu.be/yRsSBSiRQ-o des Proteins Target of Rapamycin, kurz TOR. Durch das An- und Abschalten verschiedener Signalwege kontrolliert es das Wachs- tum und die Grösse von Zellen. Michael Hall – hier mit Claire Pomeroy, Präsidentin der Lasker Foundation, und Willard J. Overlock, Vorsitzender des Stiftungsvorstands – hat damit ein Schlüsselelement für die Steuerung des Zellwachstums ent- deckt, das auch mit der Entstehung von Krankheiten wie Krebs, Herz-Kreislauf-Beschwerden und Diabetes in Zusammenhang steht. 12 UNI NOVA 130 / 2017
Neues Studienfach Glänzender Start für Das Magazin Politikwissenschaft. für noch 95 Studierende – etwa gleich viel Frauen wie Män- ner – haben im September ein Bachelorstudium in Politikwissenschaft aufgenommen, das in diesem mehr Wissen. Semester erstmals in Basel angeboten wird. Zu Be- ginn ihres Studiums werden sie die Grundlagen in vergleichender Politikwissenschaft, internationalen Jetzt abonnieren. Beziehungen und politischer Theorie erarbeiten. Schon im Bachelorstudium können die Studierenden einen Schwerpunkt auf eine bestimmte Weltregion legen und diesen Fokus dann im ebenfalls neu ange- botenen Masterstudium vertiefen. Die thematischen Schwerpunkte des Fachs bilden Friedens- und Kon- UNI NOVA Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel — N°130 / November 2017 fliktforschung, Demokratie, europäische Integration, Aussenpolitikanalyse, die Europäische Union sowie die politische Repräsentation. Insgesamt traten im Dos sier Quantencomputer Rechner der September über 1900 neue Studierende ihr Studium Zukunft. an der Universität Basel an, davon allein 1500 im Ba- Das Wissenschaftsmagazin chelorstudium. Der Einstieg wurde den Studienan- der Universität Basel fängern erstmals mit einer Start-Smart-Woche er- bequem zu Hause erhalten. leichtert, die einen Einblick ins universitäre Leben Schnell und einfach im vermittelte und den neuen Studierenden Gelegen- Gespräch Leben in der Debatte Genauigkeit Album Wie ein Kraut Essay Gibt es eine politisch Internet bestellen. Klassengesellschaft. in der Wissenschaft. unsere Wälder erobert. korrekte Sprache? heit bot, Kontakte zu knüpfen. unibas.ch/uninova Rankings 2017–2018 Weiterhin unter Coupon ausschneiden und senden an: Universität Basel, Kommunikation, Petersgraben 35, Postfach, 4001 Basel den Top 100. UNI NOVA erscheint zweimal im Jahr und kann kostenlos abonniert werden. Wie im Vorjahr reiht sich die Universität Basel auch Bitte senden Sie mir UNI NOVA in folgender Sprache: im aktuellen «Times Higher Education World Univer- Deutsch Englisch sity Ranking» unter die 100 weltweit besten Hoch- schulen ein und verbessert sich um drei Plätze auf Bitte senden Sie UNI NOVA an: Rang 95. Auf dieselbe Position platziert sie das Aca- demic Ranking of World Universities, das jährlich von der Shanghai Jiao Tong University publiziert Name, Vorname wird. Hier gelang der Universität Basel dieses Jahr die Rückkehr auf Platz 95, nachdem sie 2016 im soge- nannten «Shanghai-Ranking» erstmals aus den Top Strasse, Hausnummer oder Postfach 100 gefallen war. PLZ, Ort E-Mail Datum, Unterschrift
Dossier 14 UNI NOVA 130 / 2017
Dossier Rechner der Zukunft. Fotos: Christian Flierl Die Nutzung von Quanteneffekten gilt als neue Schlüsseltechnologie: Einmal funktionsfähig, werden Quantencomputer Probleme lösen, die sich heute nicht berechnen lassen. Seite 16 Seite 19 Seite 26 «Die Quantenphysik Qubits sind die Silizium-Chips bilden stellt Technologien in zentralen Bausteine die Grundlage Aussicht, die unsere des Quantencom- heutiger Computer. Lebenswelt tiefgreifend puters. Ein aussichts- Das Material soll verändern werden.» reiches Konzept auch bei Quanten- dafür stammt aus computern eine Basel. Rolle spielen. UNI NOVA 130 / 2017 15
Dossier Die zweite Revolution der Quantenphysik. Die Quantenphysik verspricht revolutionäre neue Technologien wie den Quantencomputer – mit weitreichenden Konsequenzen für Wirtschaft und Gesellschaft. Die Universität Basel nimmt seit Jahren eine Vorreiterrolle in der Quantenforschung ein. Text: Dominik Zumbühl I m ersten Drittel des 20. Jahrhunderts stellten Phy- Ein Rechner für völlig neue Fragestellungen siker wie Max Planck, Albert Einstein, Erwin Die Quantenphysik hat ein atemberaubendes Inno- Schrödinger und Werner Heisenberg unser Ver- vationspotenzial. Vor den Hintergrund verfolgen ständnis der Natur auf eine neue Grundlage. Mit der Physiker der Universität Basel die Vision eines Rech- Quantenmechanik entstand damals eine Theorie, die ners, der sich die Gesetze der Quantenmechanik zu- die menschliche Vorstellungskraft auf die Probe nutze macht. stellt. Ihre Vordenker waren verblüfft und verstört Ein Quantencomputer kann eine Vielzahl von Re- Dominik Zumbühl zugleich. Sie versuchten in Gedankenexperimenten, chenoperationen parallel ausführen; er ist daher un- ist Professor für die paradoxen Konsequenzen der neuen Theorie zu vorstellbar schnell und löst innerhalb von Stunden Experimentelle Physik und Vorsteher veranschaulichen. Im bekanntesten schildert Schrö- Probleme, für die heutige Supercomputer Milliarden des Departements dinger eine Katze, die – folgt man den Gesetzen der von Jahren bräuchten. Während aktuelle Spitzenrech- Physik der Universi- Quantenphysik – lebendig und tot zugleich ist. So ner eine Milliarde Transistoren enthalten, wären es bei tät Basel. absurd solche Überlegungen anmuten: Die Quanten- einem Quantencomputer eine Milliarde Quantenbits theorie gilt heute als eine zentrale Errungenschaft (Qubits). Während klassische Bits nur den Zustand 0 der modernen Naturwissenschaften. Sie hat unser oder 1 annehmen können, lassen sich mit Qubits Weltbild revolutioniert. mehr als nur zwei Zustände definieren. Ihre schiere Seit rund zwanzig Jahren sorgt die Quantenphy- Rechenkraft könnte in Zukunft Antworten auf Fragen sik für eine zweite Revolution. Wissenschaftler füh- ermöglichen, die wir bisher erst gar nicht zu stellen ren mit immer neuen Experimenten vor Augen: Wir wagten. Denkbar wird etwa, dass wir Moleküle und können die verrückte Welt der Quantenphysik nut- damit Materialien mit bisher ungekannten Eigen- zen, um mit ihr nützliche Dinge anzustellen, zu de- schaften kreieren können: neuartige pharmazeutische nen wir mit der klassischen Physik nicht in der Lage Wirkstoffe zum Beispiel. Oder Supraleiter für den ver- waren. Hochempfindliche Quantensensoren erlau- lustfreien Transport von Strom bei Zimmertempera- ben es heute, Magnetfelder schneller und genauer zu tur. Oder chlorophyllähnliche Stoffe, die Sonnenlicht messen als je zuvor. In naher Zukunft könnte die in nutzbare Energie umwandeln. Bisher wurden inno- Quantenphysik abhörsichere Kommunikationska- vative Stoffe eher zufällig entdeckt. Dank Quanten- näle möglich machen. Bereits früher waren medizi- computern könnten Wissenschaftler künftig Materia- nische Diagnostikgeräte wie die Magnetresonanz- lien mit Wunscheigenschaften gezielt designen. tomografie entwickelt worden, die auf den Gesetzen Der Quantencomputer ist ein grosses Verspre- der Quantenphysik beruhen. chen. An seiner Umsetzung arbeiten erstklassige 16 UNI NOVA 130 / 2017
Dossier Forscherteams von Harvard bis Tokio. Eine der Grund- reich Quantencomputing arbeiten. Diese Initiative lagen ihrer Arbeit ist eine Idee, die der Physiker orientiert sich am Vorbild US-amerikanischer Stif- Daniel Loss vor zwanzig Jahren formuliert hat: Der tungen, die Postdocs an Top-Forschungsplätzen fi- Drehimpuls (Spin) einzelner Elektronen soll als nanzieren. kleinster Informationsträger eines Quantencompu- ters genutzt werden. Solche Qubits gelten in Labors Kooperation mit Industriepartner IBM rund um den Globus als aussichtsreiche Kandidaten Wir stehen in der Quantenphysik vor wichtigen Wei- zum Bau eines Quantencomputers. Der Urheber der chenstellungen, die den strategischen Schwerpunkt Idee, Daniel Loss, arbeitet in Basel. Hier widmet er der Universität Basel weiter stärken werden. Dazu sich der Entwicklung eines Basler Qubits. Dieses aus gehört die Teilnahme am milliardenschweren EU- einem Halbleitermaterial gefertigte Qubit ist extrem Flagship-Projekt zu Quantentechnologien, das im klein und schnell. Silizium ist ein bestens erprobter kommenden Jahr starten soll. Zurzeit bewerben wir Werkstoff von Computerchips, Silizium-Qubits ha- uns beim Schweizerischen Nationalfonds um einen ben daher entscheidende Vorteile gegenüber ande- Nationalen Forschungsschwerpunkt zum Quanten- ren Qubit-Konzepten. Die Entwicklung eines Qubits computing unter Basler Leitung. In diesem For- ist die übergeordnete Zielsetzung der Basler Physik. schungscluster wollen wir gemeinsam mit dem In- Zwölf Professorinnen und Professoren arbeiten mit dustriepartner IBM und weiteren Partneruniversitä- dem Knowhow ihrer Forscherteams auf dieses ge- ten Silizium-Qubits auf der Grundlage von Elektro- meinsame Ziel hin. nenspins bauen. In zwölf Jahren – so das ambitio- nierte Ziel – wollen wir eine Anordnung von fünf- Basler Forscher laufen in der Spitzengruppe mit zehn Qubits unter voller Kontrolle haben. Das ist Damit kein Missverständnis entsteht: Das Departe- dann noch kein Quantencomputer, aber es ist ein ment Physik der Universität Basel ist kein Industrie- Blueprint für einen Quantenchip. labor, das in den nächsten Monaten und Jahren einen Die ersten Konzepte für einen Quantencomputer Quantencomputer baut. Wir betreiben Grundlagen- sind seinerzeit in Europa entstanden. Auf dieser Basis forschung. Solche Forschung braucht viel Zeit, hat haben wir heute die Chance, die Grundlagen für ein aber das Potenzial, echte Innovationen hervorzubrin- neues Silicon Valley zu legen. Die Forschung am gen. Zur Erinnerung: Nach der Entdeckung des Tran- Quantencomputer ist ein Investment in eine Zu- sistors 1947 ist ein halbes Jahrhundert vergangen, bis kunftstechnologie und damit in das industrielle Fun- Personalcomputer und Mobiltelefone in unseren dament der Schweiz. In unseren Laboren wächst zu- Alltag Einzug hielten und unsere Arbeitswelt um- dem eine Generation von Fachleuten heran, die diese pflügten. Der Marathonlauf mit Blick auf den Quan- Zukunftstechnologie verstehen, handhaben und tencomputer hat gerade erst begonnen. Firmen wie vermitteln können. Nur mit ihnen kann es gelingen, Microsoft, Google und Intel setzen heute auf den die zweite Revolution der Quantenphysik für die Ge- Quantencomputer, weil sie realisieren, dass die zu- sellschaft fruchtbar zu machen. nehmende Miniaturisierung des klassischen CMOS- Chips an Grenzen stösst. Basel hat den Ehrgeiz, in der Spitzengruppe mitzulaufen. Bisher sind wir gut unterwegs. Basler Physiker «Heute haben wir die haben in den letzten Jahren acht der renommierten ERC-Grants des Europäischen Forschungsrats einge- Chance, die Grundlagen worben, die letzten beiden durch unsere Professorin- für ein neues Silicon nen Jelena Klinovaja und Ilaria Zardo. Die Förderzu- Valley zu legen.» sagen attestieren unserer Forschung Spitzenniveau. Dominik Zumbühl Die Leuchtkraft der Basler Quantenforschung lockt viele Nachwuchsforscherinnen und -forscher an. Seit Herbst 2016 existiert die Doktorandenschule «Quan- tum Computing and Quantum Technologies», die zurzeit 20 Doktorandinnen und Doktoranden zusam- menbringt. Ebenfalls dank grosszügiger Unterstüt- zung der Georg H. Endress Stiftung können wir ab Januar 2018 einen grenzüberschreitenden Postdoc- Cluster mit der Universität Freiburg einrichten. Zehn zusätzliche Wissenschaftler werden damit im Be- UNI NOVA 130 / 2017 17
Dossier Modell des Basler Qubits: In einem Quantenpunkt sind zwei einzelne Elektronen (rot) gefangen, deren Spinzustände (Pfeile) die Informations- einheiten (Qubits) bilden. Kontakte aus Gold erlauben, die Elektro- nen mit elektrischen Feldern in Schach zu halten. Die Struktur ist rund einen halben Mikrometer gross und in ein Halbleitermaterial eingebettet – hier aus Gallium- und Arsen-Atomen (grün/violett). Ein angrenzender Sensor dient der Messung der Spins. 18 UNI NOVA 130 / 2017
Dossier Qubits – Bausteine des Quantencomputers. Ein Qubit kann ein Bit Information speichern – die kleinstmögliche digitale Informationsmenge. Es ist der elementare Baustein eines künftigen Quantencomputers. Qubits aus Halbleitermaterialien, wie sie in Basel erforscht werden, zählen zu den aussichtsreichsten Kandidaten. Text: Benedikt Vogel W ie herkömmliche Computer verarbeiten ben, kann ein Qubit erst ausspielen, wenn es mit und speichern auch Quantencomputer anderen Qubits in einer speziellen Art gekoppelt Informationen digital: Informationen wird – nämlich mit der für die Quantenphysik cha- werden in einem System kodiert, das nur aus zwei rakteristischen Verschränkung. Erst wenn mehrere Zeichen (0 und 1) besteht. Diese Zeichen enthalten Qubits zu Gruppen (Quantenregistern) verschränkt jeweils ein Bit Information, und diese lässt sich mit werden, entstehen sehr leistungsfähige Systeme zur jedem technischen System speichern, das man ein- Informationsverarbeitung. Daniel Loss und ausschalten kann. In Computern wird ein Bit ist Professor für gespeichert in einem schaltbaren Stromkreis, der 100 Millionen auf einem Quadratzentimeter Theoretische Physik an der Universität entweder eingeschaltet (ON = 1) oder ausgeschaltet Die Herstellung von Qubits ist auf sehr unterschied- Basel. 2017 erhielt er (OFF = 0) ist. Computer zerlegen komplexe Informa- lichen Wegen denkbar. «In der Physik kennen wir den König-Faisal- tionen wie Zahlen und Texte in Bits und verarbeiten viele Systeme, die zwei genau definierte Zustände Preis in der Sparte diese durch sehr viele, sehr schnelle Ein-Aus-Schalt- haben und bei denen die Regeln der Quantenphysik Wissenschaft. vorgänge. gelten. In den letzten 20 Jahren sind denn auch un- zählige Vorschläge gemacht worden, wie sich Qubits ON und OFF gleichzeitig bauen lassen», sagt Daniel Loss, Physikprofessor an Auch ein zukünftiger Quantencomputer zerlegt der Universität Basel, «die meisten sind allerdings komplexe Informationen in Bits. Er verwendet zu wieder fallen gelassen worden». Denn physikalische ihrer Verarbeitung und Speicherung aber nicht Systeme, die als Qubits dienen sollen, müssen spezi- schaltbare Stromkreise, sondern ein quantenphysi- elle Eigenschaften aufweisen. Dazu gehören neben kalisches System, das die Zustände ON und OFF an- den quantenphysikalischen Eigenschaften noch ei- nehmen kann. Während der schaltbare Stromkreis nige mehr: Die Qubits müssen klein genug sein, dass entweder ON oder OFF ist, existieren im quantenphy- man idealerweise 100 Millionen davon auf einem sikalischen System die Zustände ON und OFF gleich- Plättchen von einem Quadratzentimeter Fläche un- zeitig – auch wenn dies unserer Alltagserfahrung terbringt; nur so lässt sich ein handlicher Computer widerspricht. Für ein solches System, das sich durch bauen. Auch müssen sich Qubits schnell von ON auf die Überlagerung (Superposition) von zwei Zustän- OFF schalten lassen und umgekehrt – idealerweise den auszeichnet, hat sich der Name Quantenbit eine Milliarde Mal pro Sekunde, wie bei elektrischen (Qubit) eingebürgert. Schaltkreisen in modernen Computern üblich. Doch man darf sich von der schicken Bezeich- Diese Anforderungen zeigen: Ein taugliches nung nicht blenden lassen: Auch ein Qubit enthält Qubit zu konstruieren ist eine Herkulesaufgabe. für sich genommen nur ein Bit Information, genauso Auch ein Vierteljahrhundert nach den ersten Versu- viel wie ein schaltbarer Stromkreis. Die speziellen chen sind Wissenschaftler noch längst nicht am Ziel. Eigenschaften, die sich aus der Superposition erge- Allerdings haben sie seit den Neunzigerjahren be- UNI NOVA 130 / 2017 19
Dossier trächtliche Fortschritte erzielt. Möglich wurden sie elektrischen Feldern in Schach gehalten. In dieser unter anderem dank eines Konzepts, das Loss mit Anordnung lässt sich der Spin des Elektrons elekt- dem US-Amerikaner David DiVincenzo 1998 publi- risch schalten («nach oben»/«nach unten») – und da- zierte. Die beiden skizzierten darin einen konkreten mit zur Speicherung einer kleinsten Informations- Weg, wie sich Qubits realisieren und zum Bau eines einheit (0/1) verwenden. Quantencomputers nutzen lassen. Phänomenale Leistung Elektronenspin als Schaltelement Vor 20 Jahren war die Realisierung eines Qubits in Die Veröffentlichung der beiden Physiker ist heute Form eines Quantenpunkts noch eine kühne Vision. der meistzitierte wissenschaftliche Aufsatz über Sie ist unterdessen in verschiedenen Materialsyste- Quantencomputing. Er bildet die Grundlage für die men und Anordnungen Realität geworden und wird Erforschung und den Bau von Qubits aus Halbleiter- auch von Firmen wie Intel vorangetrieben. Damit der materialien in Spitzenlabors von Universitäten und in einem Quantenpunkt enthaltene Elektronenspin Industrieunternehmen weltweit. Eine führende For- für die Datenverarbeitung eingesetzt werden kann, schungsgruppe sind die Festkörper-Spezialisten um muss die Superposition der beiden Spin-Zustände Loss. Ihre Grundidee: Sie wollen den Spin eines Elek- («nach oben»/«nach unten») möglichst lange anhal- trons als Qubit nutzen. Das ist eine kühne Idee – ten, und die Richtung des Spins muss sich sehr schliesslich ist ein Elektron extrem klein und sein schnell umschalten lassen. Spin extrem schwach. Der Spin produziert wegen der Forscher haben es geschafft, die Superposition Eigenrotation ein Magnetfeld, das «nach oben» oder während einer Millisekunde aufrechtzuerhalten und «nach unten» zeigt, also exakt zwei Zustände hat. in dieser kurzen Zeit mittels elektrischer Felder eine Zudem unterliegt der Elektronenspin den Gesetzen Million Schaltvorgänge vorzunehmen. «Damit schal- der Quantenphysik. Ideale Voraussetzungen also, ten Qubits mit einer Taktfrequenz im Gigahertz- dieses System als elementaren Baustein eines Quan- Bereich, wie wir sie von modernen Computern ken- tencomputers zu nutzen. nen», sagt Loss: «Mit den Quantenpunken gelingt es Soll der Spin eines Elektrons als Qubit dienen, uns auch, mehrere Qubits zu verschränken. Das ist muss man seine Richtung jederzeit erstens zuverläs- die Voraussetzung, um künftig eine Vielzahl davon sig bestimmen und zweitens umschalten können. zu einem Rechner zu kombinieren, dessen phänome- Dies wollen die Wissenschaftler mit dem Konzept nale Leistungsfähigkeit daher rührt, dass er Rechen- des Quantenpunkts erreichen. Ein Quantenpunkt operationen wegen der quantenphysikalischen ist – stark vereinfacht – ein (gedachtes) kugelförmi- Eigenschaften der Qubits parallel ausführen kann.» ges Volumen von typischerweise einem Zehntau- sendstel Millimeter Durchmesser in einem Festkör- Drei weitere Kandidaten per. In der Kugel ist ein freies (also nicht in einem Neben Quantenpunkten aus Halbleitermaterialien Atom gebundenes) Elektron «eingesperrt». Der Fest- werden heute drei weitere Konzepte für die Herstel- körper ist schichtweise aus zwei Halbleitermateria- lung von Qubits diskutiert und erprobt: Firmen wie lien (etwa Silizium und Germanium) aufgebaut und IBM und Google wollen Qubits aus supraleitenden stark abgekühlt – nur ein Zehntel Kelvin über dem Materialien fertigen, also aus Stoffen, die stark abge- absoluten Nullpunkt. Das freie Elektron wird mit kühlt Strom widerstandslos leiten. Diese Qubits las- sen sich relativ schnell schalten, sind aber – Stand heute – rund tausendmal grösser als Quantenpunkte aus Halbleitern. «Mit den Quantenpunken Mehrere Forschungsgruppen wollen Qubits auf der Grundlage gefangener Ionen (etwa Kalzium- gelingt es uns auch, mehrere Qubits ionen) herstellen. Diese haben den Vorteil, dass sie zu verschränken. Das ist die nochmals hundertmal kleiner sind als Quanten- Voraussetzung, um künftig eine punkte. Sie lassen sich allerdings nur träge schalten und können nicht kompakt zu Qubit-Clustern ver- Vielzahl zu einem Rechner baut werden. Dies, weil die Ionen sehr weit vonein- zu kombinieren.» ander platziert werden müssen, damit sie sich nicht Daniel Loss gegenseitig unkontrolliert beeinflussen. Eine vierte Gruppe sind topologische Qubits, eine Kombination aus dem Halbleiter- und dem Supraleiter-Ansatz. Das Konzept steht noch am Anfang, aber Microsoft steckt viel Geld in die entsprechende Forschung. 20 UNI NOVA 130 / 2017
Dossier 57 Sekunden sind Weltrekord. Der Quantencomputer, an dem Basler Physiker arbeiten, will den Elektronenspin als Träger digitaler Informationen nutzen. Dafür muss der Spin genug lange stabil gehalten werden. In Basel wurde kürzlich ein neuer Weltrekord aufgestellt. Text: Benedikt Vogel I m Labor an der Klingelbergstrasse in Den Spin am Kippen hindern ren, war eine grosse Herausforderung. Basel: Wo früher ein Beschleuniger Um die Bedeutung des neuen Weltrekords Das Elektron – platziert auf dem erwähn- für Elementarteilchen stand, haben zu ermessen, muss man sich vergegen- ten Chip – muss dabei mit ausgeklügelten Wissenschaftler ein Experiment aufge- wärtigen, dass die Basler Physiker mit ei- Techniken auf 60 Millikelvin – knapp baut, mit dem sie Elektronen auf kleins- nem unvorstellbar kleinen Gegenstand über dem absoluten Nullpunkt – gekühlt tem Raum fixieren können. Neben zwei hantieren. Das Elektron ist ein Teilchen werden. Während des mehrtägigen Ver- Heliumtanks und einem Turm aus Mess- fast ohne Ausdehnung: Hätte ein Steckna- suchs wurden Tausende von Relaxationen geräten ragt ein Kolben in den Raum. Er delkopf die Grösse unserer Sonne, fänden gemessen – ihr Durchschnittswert betrug trägt an seiner Spitze einen 5 mal 5 Mil- im Durchmesser eines menschlichen 57 Sekunden. limeter grossen Chip aus dem Halblei- Haars immer noch mehr als 1000 Elektro- termaterial Galliumarsenid. Damit un- nen Platz. Dieser Winzling trägt eine elek- Spinrichtung mit einem Trick bestimmt tersuchen Forschende um Physikprofes- trische Ladung, die wegen der Eigenrota- Teil der Versuchsanordnung war ein Me- sor Dominik Zumbühl, wie ein Elektron tion ein – extrem schwaches – Magnetfeld chanismus, mit dem sich feststellen lässt, so manipuliert werden kann, dass es erzeugt: den Spin. Weil ein Magnetfeld wie lange der Spin «nach oben» zeigt, be- sich zum Bau eines Quantencomputers stets eine Richtung hat, wird der Elektro- vor er kippt. Die Bestimmung der Spin- eignet. nenspin gern durch einen Pfeil veran- richtung ist sehr anspruchsvoll, denn das Erst kürzlich konnten die Wissen- schaulicht. Unter dem Einfluss eines von äusserst schwache Magnetfeld des Elekt- schaftler einen Weltrekord vermelden: aussen angelegten Magnetfelds kann der rons lässt sich nur schwer messen. Die Sie schafften das Kunststück, den Spin Spin zwei Richtungen einnehmen: «nach Physiker griffen deshalb zu einem Trick: eines Elektrons während 57 Sekunden in oben» oder «nach unten». Im natürlichen Sie bestimmten die Spinrichtung nicht einer Richtung zu halten und daran zu Zustand tendiert der Spin dazu, vom Zu- über das Magnetfeld, sondern entwickel- hindern, in die Gegenrichtung zu kippen. stand «nach oben» auf den energetisch ten eine Messanordnung, die sich die La- Damit übertrafen sie den eigenen 1-Se- tieferen Zustand «nach unten» zu kippen. dung und das höhere Energieniveau des kunden-Rekord von 2008 bei Weitem, Diesen Kippvorgang – Physiker spre- «Nach-oben»-Zustands zunutze macht. aber auch jenen von 30 Sekunden, den chen von Relaxation – suchen die Wissen- Die Relaxationszeit von 57 Sekunden ein australisches Team im Frühjahr 2017 schaftler um Zumbühl zu verhindern ist ein wissenschaftlicher Erfolg. Ob der mit einem Silizium-Chip aufgestellt hatte. oder möglichst lange zu verzögern. Denn Quantencomputer einmal Realität wird, «Dieses Ergebnis ist ein Zwischenschritt nur solange sich der Elektronenspin in hängt allerdings nicht mit der Relaxation, auf dem langen Weg zu einem Quanten- einer Richtung halten lässt, kann er als sondern mit der Kohärenz zusammen. Das computer», sagt Zumbühl. «Wenn wir ei- zuverlässiger Informationsträger verwen- ist die Dauer, während welcher der Spin nen solchen Hochleistungsrechner bauen det werden. Den Forschern ist nun ein zuverlässig in einer Richtung («nach oben» wollen, müssen wir den Elektronenspin Experiment geglückt, in dem der Elektro- oder «nach unten») gehalten werden kann. erstens stabil halten und zweitens auch nenspin 57 Sekunden «nach oben» zeigte. Die Erforschung der Relaxation hilft den gezielt steuern können.» Eine stabile und zweckmässige Versuchs- Pionieren des Quantencomputers, die Ko- anordnung auf kleinstem Raum zu kreie- härenz des Elektronenspins zu nutzen. UNI NOVA 130 / 2017 21
Dossier Rechnen mit Qubits. Quantenbits, kurz Qubits, bilden die zentralen Rechen- und Speicherbausteine eines Quantencomputers. Ihre quantenmechanischen Eigenschaften ermöglichen eine neue Art des Rechnens. Klassisches Bit Überlagerung Ein klassisches Bit hat zwei Zustände: Es kann entwe- Die Quantentheorie erlaubt die Überlagerung von der den Wert 0 oder den Wert 1 annehmen. Zuständen. Das bedeutet, dass sich ein Qubit gleich- zeitig in den Zuständen 0 und 1 befinden kann. Da- durch kann ein Quantencomputer auch gleichzeitig 0 1 verschiedene Berechnungen vornehmen. Als Qubit kann zum Beispiel der Eigendreh- impuls (Spin) von Elektronen dienen. Dieser kann gleichzeitig die Zustände 0 und 1 («oben»/«unten») annehmen sowie alle weiteren Zustände, die durch die Überlagerung entstehen. Bestimmt man den Zustand eines Qubits, geht die Überlagerung verloren und aus der Messung resul- tiert wieder ein klassisches Bit – eine 0 oder eine 1. Das Potenzial eines Quantencomputers entsteht erst durch die Verbindung und Verschränkung mehrerer Qubits. Qubit Ein Qubit hat viel mehr mögliche Zustände: Denn in der Welt der Quantenphysik ist eine Überlagerung der beiden Zustände möglich. So kann das Qubit gleichzeitig die Werte 0 und 1 annehmen sowie be- liebig viele Zustände dazwischen. 0 und 1 22 UNI NOVA 130 / 2017
Dossier Verschränkung Quantenregister Mehrere Quantenteilchen können miteinander ver- Qubits lassen sich miteinander zu Registern verbin- schränkt sein. Sie sind dann so miteinander verbun- den. Durch die Verschränkung wird es möglich, grosse den, dass eine Änderung am einen Teilchen auch Mengen von Daten parallel zu verarbeiten. Dank der eine Änderung am anderen bewirkt – auch wenn sie Überlagerung und der Verschränkung kann ein weit auseinanderliegen. Die Messung eines Teilchens Quantencomputer eine Vielzahl möglicher Rechen- legt auch das Ergebnis für das andere fest. Gelingt es, schritte gleichzeitig ausführen. zwei Qubits miteinander zu verschränken, ist ihr Darauf beruht seine Schnelligkeit. Beispiel Schach: gemeinsamer Zustand eine Überlagerung aller Ein- Statt einen Zug nach dem andern wie ein herkömm- zelzustände. licher Schachcomputer, würde ein Quantencomputer Die Zahl der Kombinationen in einem Quanten- zugleich alle möglichen Züge berechnen. register wächst dann exponenziell mit der Anzahl der Qubits. 0 0 1 1 0 Mit fünf klassischen Bits lässt sich zur selben Zeit nur eine von insgesamt 32 möglichen Kombinationen repräsentieren, in diesem Beispiel: 00110 Ein Quantenregister kann eine Überlagerung von allen 2n-Zuständen annehmen. Bei fünf Qubits sind bereits 32 Zustände gleichzeitig möglich: 00000 / 00001 / 00010 / 00011 / 00100 / 00101 / 00110 / 00111 / 01000 / 01001 / 01010 / 01011 / 01100 / 01101 / 01110 / 01111 / 10000 / 10001 / 10010 / 10011 / 10100 / 10101 / 10110 / 10111 / 11000 / 11001 / 11010 / 11011 / 11100 / 11101 / 11110 / 11111 Entsprechend steigt die Menge der gespeicherten Information, mit der ein Quantencomputer rechnen kann. UNI NOVA 130 / 2017 23
Dossier Die wundersame Eigenschaft des Majorana- Fermions. Künftige Quantencomputer versprechen, herkömmliche Computer um Längen zu schlagen, weil sie mit hoher Leistung parallele Rechenoperationen ausführen können. Das Problem: Noch können die quantenmechanischen Speicherbausteine, die Qubits, Information nicht lange speichern. Text: Tim Schröder A ls Speicher dient Qubits ihr Spin, listen, deren Steckenpferd die Suche nach Ettore Majorana zu dem Schluss, dass es also die Ausrichtung des Magnet- einem ganz besonderen Elementarteil- Materieteilchen geben müsse, die zu- feldes eines Elementarteilchens chen ist, das – so die Theorie – deutlich gleich ihr Antiteilchen sind. wie beispielsweise des Elektrons. Dieser unempfindlicher auf störende elektroma- Diese exotischen Teilchen haben zu- Spin kann bestimmte Zustände anneh- gnetische Felder reagieren dürfte und dem eine beinahe wundersame Eigen- men – das heisst, im Raum unterschied- damit ein vielversprechender Kandidat schaft: Tauscht man zwei solche identi- lich ausgerichtet sein. Übertragen auf den für den Quantencomputer der Zukunft sche Teilchen durch eine Drehung um- Computer entsprächen verschiedene Aus- wäre. einander aus, kann diese Veränderung als richtungen dem Zustand AN und AUS, Speicher für die Quanteninformation ge- also im binären Code der 1 und der 0. Postulat eines italienischen Physikers nutzt werden. Da dieser Austausch nicht Qubits sind heute noch ausgespro- Konkret gemeint ist das Majorana-Fer- von einem speziellen Weg abhängig ist, chen instabile Speicher, die sensibel auf mion, ein Elementarteilchen, das vor nennt man diese Art von Qubits oft auch Störungen in der Umwelt reagieren – ins- mehr als 70 Jahren der italienische Physi- «topologisch». Dabei steht der Begriff «topo- besondere auf Wärme oder elektromag- ker Ettore Majorana aufgrund theoreti- logisch» dafür, dass eine Eigenschaft un- netische Felder, wie sie in elektronischen scher Berechnungen postuliert hatte. Im abhängig von der Art der Veränderung – Systemen auftreten. Innerhalb weniger Detail geht es beim Majorana-Fermion, im konkreten Fall dem Austausch und Sekunden oder gar in Sekundenbruchtei- wie so oft in der Physik, um zwei Gegen- dem dabei beschriebenen Weg – erhalten len kann der Spin kippen, sodass die In- spieler: ein Elementarteilchen und sein bleibt. formation verloren geht. Antiteilchen. Beispiele für solche Paare Für den Quantenrechner der Zukunft gibt es zur Genüge, das Proton und das Nachweis von Majorana-Zuständen braucht es also gewissermassen stabilere Antiproton etwa oder das Elektron und Tatsächlich gelang es vor wenigen Jahren Speicherbausteine. Auf dieses Ziel hin ar- das Positron. Allen Paaren ist gemein, einem niederländischen Forscherteam in beiten Forscherinnen und Forscher der dass die Partner recht ähnliche Eigen- einem komplizierten Versuchsaufbau, Universität Basel, unter ihnen Physik- schaften haben, aber auch, dass es stets erstmals sichere Anzeichen für die Exis- Professorin Jelena Klinovaja, eine Exper- irgendeinen wesentlichen Unterschied tenz von Teilchen mit Majorana-Eigen- tin für die Physik kondensierter Materie. gibt. Anders beim Majorana-Fermion. Auf- schaften zu messen. Sie befestigten ei- Jelena Klinovaja gehört zu jenen Spezia- grund theoretischer Überlegungen kam nen Nanodraht aus Halbleitermaterial 24 UNI NOVA 130 / 2017
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