DAS WICHTIGSTE AUS POLEN 22.DEZEMBER 2019 - 25.JANUAR 2020 - RADIOdienst.pl
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DAS WICHTIGSTE AUS POLEN 22.DEZEMBER 2019 – 25.JANUAR 2020 Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Putins pseudohistorische Gener- aloffensive gegen Polen. Der Amok hat Methode ♦ Staatspräsident An- drzej Duda fährt nicht zu den Holocaust-Feierlichkeiten nach Jerusalem ♦ Justizreform. Ein neuer Höhepunkt der Auseinandersetzung. Worum geht es? ♦ Der neue Senatspräsident Tomasz Grodzki: Hochmut und Korrup- tionsvorwürfe. DURCHSTICH ZUR FREIHEIT. VON A BIS Z Der Kanal durch die Frische Nehrung wird Wirklichkeit. Polen baggert am Frischen Haff, dicht an der Grenze zu Russland, einen Zugang zu seinem heute weitgehend abgeschnittenen Hafen in Elbląg und beseitigt somit die seit 1945 andauernde russische Blockade. Auf den ersten Blick – die Frische Nehrung und das Frische Haff Die Frische Nehrung (polnisch Mierzeja Wiślana, fonetisch Mescheja Wis- lana – „Weichsel-Nehrung“, russisch Baltijskaja Kossa – „Baltische Nehrung“) ist eine schmale, sandige Landzunge von rund 70 Kilometern Länge und einigen hundert Metern Breite (maximal 1,8 Kilometer). Sie verläuft in nordöstlicher Richtung und trennt das Frische Haff von der offenen Ostsee (Danziger Bucht) ab.
Quer über die Frische Nehrung und das Frische Haff führt die Grenze zwischen Polen und Russland (Kaliningrader Gebiet). Alle Siedlungen auf der polnischen Seite waren einst Fischerdörfer. Heute sind es Er- holungsorte. Mit einer Fläche von 838 Quadratkilometern ist das Frische Haff etwa anderthalb mal so groß wie der Bodensee. Zu Polen gehören 328, zu Russ- land 510 Quadratkilometer des Haffs. Bei 90 Kilometern Länge ist das Haff 7 bis 15 Kilometer breit und nur 3 bis 6 Meter tief (tiefste Stelle auf polnischem Gebiet: 4,40 Meter). Pillauer Seetief. Luftaufnahme. Das Pillauer Seetief, die einzige Verbindung zwischen dem Frischen Haff und der offenen Ostsee, befindet sich auf der russischen Seite der Frischen Nehrung. Das Pillauer Seetief ist 2 Kilometer lang,
zwischen 450 und 750 Meter breit und 12 Meter tief. Über den Kalinin- grader/ Königsberger Seekanal mit einer Fahrrinnentiefe von ungefähr 9 Metern gelangen die Schiffe nach einer knapp 45 Kilometer langen Fahrt nach Kaliningrad. Die Entfernung nach Elbląg durch die Pillauer Rinne beträgt knapp 85 Kilometer. Vor allem bei Stürmen über der Ostsee dringt durch das Pillauer Seetief Meerwasser ins Frische Haff ein. Salzwasser macht zwei Drittel der gesamten Wasserzufuhr ins Haff aus. Der Rest wird gespeist durch die ins Haff mündenden Flüsse. Zu den gröβten zählen Szkarpawa/El- binger Weichsel, Nogat, Elbląg/Elbing, Pasłęka/Passarge in Polen und der Pregel in Russland Das Brackwasser im Haff weist bei Baltijsk/Pillau einen Salzgehalt von 5,5 Promille aus. Auf der polnischen Seite, bei Frombork/Frauenburg und Krynica Morska/Kahlberg, sind es nur noch 2,2 Promille. Im Haff leben sowohl Süß-, wie auch Salzwasserfische: u. a. Aale, Barsche, Brassen, Dorsche, Heringe, Lachse, Meerforellen, Plötze, Stichlinge und Zander. Polnische Fischer im Frischen Haff. Im Jahr 2017 waren im polnischen Teil 123 Fischerboote zugelassen, mit denen gut 1.850 Tonnen Fisch gefangen wurden. Entsprechende Angaben aus dem russischen Teil des Haffs sind lückenhaft und oft widersprüch- lich. Zwar legt jedes Jahr die Gemischte Polnisch-Russische Fisch- wirtschaftskommission Fangquoten im Haff fest, Russland weigert sich jedoch gegenseitige Kontrollen zuzulassen. Im polnischen Teil des Haffs spielt die Fischerei mittlerweile eine dem Fremdenverkehr untergeordnete Rolle. Die Versorgung mit frischem Fisch gehört jedoch zweifelsohne zu den regionalen touristischen Haup-
tattraktionen. Die gesamte Ausbeute wird direkt am Haff verspeist. Ausschreibung entschieden Zum Bau eines Kanals reichten 2018 sieben Unternehmen Angebote ein. Dabei sprengten sie jedoch die 2016 kalkulierten Kosten von insgesamt 205 Millionen Euro, denn die Baupreise waren inzwischen deutlich gestiegen. Der Urząd (fonetisch Uschond) Morski w Gdyni (Seeamt in Gdingen) öffnete Kam 22. Mai 2019 die eingereichten Offerten, von de- nen er sechs in Betracht zog. Sie bezogen sich auf die erste Bauphase, für die 167 Millionen Euro angesetzt waren. Seeamt in Gdynia. Sitz und Emblem. Am kostengünstigsten waren mit je 231 Millionen Euro die Angebote der belgischen Gesellschaft BESIX gemeinsam mit zwei polnischen Firmen aus der NDI-Gruppe und das Angebot des polnischen Bauunternehmens Budimex S.A. gemeinsam mit der spanischen Ferrovial Agroman SA. Die teuerste
Offerte stammte mit 267 Millionen Euro von einem Konsortium bestehend aus der polnischen Firma Polbud-Pomorze Sp. z o.o. und zwei chine- sischen Gesellschaften. Zu den übrigen Bietern zählten weitere chine- sische Akteure und Energopol-Szczecin S.A. aus Szczecin/Stettin. Den Zuschlag bekam das belgisch-polnische Konsortium. Die Bauarbeiten sollen noch im Herbst 2019 beginnen und 2022 beendet sein. Dem Baube- ginn im Weg steht nur noch der von einem der Ausschreibungsteilnehmer eingelegte Widerspruch, dem jedoch kaum Chancen eingeräumt werden, im September 2019 soll hierüber entschieden werden. Das Bauvorhaben insgesamt Neben dem Kanal mit einer Schleuse beinhaltet die Projektplanung eben- falls den Bau eines Hafens, zur Ostseeseite hin gesichert durch weit ausholende Wellenbrecher sowie Ankerplätzen für wartende Schiffe an beiden Enden des Kanals und eine künstliche Insel (→ Insel) im Frischen Haff. Ausholende Wellenbrecher sollen den Kanal von der Ostsee- seite her schützen. Die zweite Bauphase betrifft Arbeiten an den Ufern des Flusses Elbląg im Stadtgebiet von Elbląg und Ausbaggerungen zwischen dem Haff und dem sechs Kilometer weiter im Landesinneren liegenden Elbinger Hafen. Eine entsprechende Ausschreibung ist noch für 2019 vorgesehen. Bisher hat das Hafenbecken von Elbląg eine Tiefe von 2,5 Metern, was Schiffen mit einem Tiefgang von maximal 2 Metern das Anlegen dort erlaubt. Die fünf
Kaianlagen, gut ausgerüstet und gepflegt, haben eine Gesamtlänge von 2,5 Kilometern. Der dritte und letzte Projektabschnitt beinhaltet die Aushebung einer 10 Kilometer langen, 100 Meter breiten und 5 Meter tiefen Fahrrinne vom Kanal zum Hafen in Elbląg. Die Ausschreibung dafür wird für das er- ste Halbjahr 2021 erwartet. Das Bauwerk Der geplante Kanal hat eine Länge von 1,3 Kilometern, eine Breite von 40 Metern am Grund und 80 Metern an der Oberfläche, die Tiefe wird 5 Meter betragen. Ihn sollen Schiffe nach und von Elbląg mit einem Tief- gang von bis zu 4 Metern, einer Länge von 100 Metern und einer Breite von 20 Metern durchqueren können. Die Durchfahrt soll maximal zwanzig Minuten dauern. Das würde den Wasserweg von Gdańsk/Danzig und Gdynia/Gdingen in einer Richtung um über 90 Kilometer und die Transportzeit um zwölf Stunden verkürzen. (→ Chancen für Elbląg) Bernstein am Bau Die deutliche Beschleunigung der Vorbereitungsmaβnahmen für den Kanal- bau ab 2016 wurde immer wieder von Sensationsmeldungen begleitet. Mit den riesigen Mengen an Bernstein, die angeblich beim Ausheben der Kanaltrasse zum Vorschein kommen sollen, könne man einen erheblichen Teil des Vorhabens finanzieren, hieβ es. Groβe Erwartungen, wenig Bernstein.
Die im Sommer 2019 bekanntgegebenen Untersuchungsergebnisse jedoch sind mehr als ernüchternd. Ausgemacht wurden nur zwei Vorkommen mit jeweils 900 und 500 Kilogramm Bernstein. Ihr Wert insgesamt: umgerech- net etwa 350.000 Euro. Das sind etwa 0,17 Prozent der ursprünglich auf 205 Millionen Euro veranschlagten und inzwischen um bis zu 30 Prozent nach oben korrigierten Baukosten. Blockade durch Russland. Die Fakten Das Schicksal des Hafens in Elbląg ist heute auf Gedeih und Verderb von Russland abhängig. Ob und wieviel Schiffsverkehr es auf dem Haff von Elbląg nach Kalinin- grad gibt, das entscheiden willkürlich russische Behörden. Lang ist die Liste polnischer Unternehmen, die sich auf eine regelmäβige Be- förderung von Passagieren und Waren zwischen den beiden Häfen ein- gerichtet hatten und über Nacht aus Kaliningrad erfuhren, dass das nicht mehr geht. Frische Nehrung. Polnische Grenzpolizei. Noch rigoroser schnitten und schneiden die Russen Elbląg von der offe- nen Ostsee ab. Schon am 16. August 1945 unterschrieben die Sowjets und die von ihnen in Warschau eingesetzte Regierung ein Zusatzprotokoll zum Abkommen über den Verlauf der neuen sowjetisch-polnischen Grenze. Das Abkommen sanktionierte die Abtrennung von etwa 45 Prozent des polnischen Vorkriegsterritoriums zugunsten der UdSSR. Es waren weitgehend jene Ge-
biete, die Moskau in Folge des Hitler-Stalin Paktes beim Überfall auf Polen am 17. September 1939 erobert hatte und nach dem deutschen An- griff auf die UdSSR am 22. Juni 1941 vorläufig räumen musste. Das Zusatzprotokoll legte in Artikel 1 fest: „In Friedenszeiten bleibt das Pillauer Seetief offen für Handelsschiffe unter polnischer Flagge, die von und nach Elbląg fahren.“ Entgegen dieser sowjetischen Verpflichtung blieb das Pillauer Seetief zwischen 1945 und 1990 für polnische Handelsschiffe ausnahmslos gesperrt. Nach Elbląg gelangte in diesen 45 Jahren über das Pillauer Seetief kein einziges Schiff, nach Kaliningrad lieβen die Sowjets in diesem Zeitabschnitt nur ihre eigenen Handelsschiffe und kein einziges aus- ländisches einlaufen. Das gesamte Gebiet Kaliningrad war eine für Aus- länder unzugängliche Militärzone. Auch Sowjets aus anderen Teilen der UdSSR durften nur in Ausnahmefällen in das Gebiet reisen. In Balti- jsk/Pillau errichteten die Sowjets die U-Boot-Basis ihrer Baltischen Kriegsflotte. Ab 1991 begannen russische Behörden polnische Schiffe durch das Pil- lauer Seetief durchzulassen. Da sie jedoch zuvor jahrzehntelang die Pillauer Seerinne in Richtung Elbląg hatten versanden lassen, war und bleibt das bis heute ein riskantes Unterfangen. Hinzu kommt, dass es auf der russischen Seite der Haffgrenze keinen Winterdienst gibt, der mit Eisbrechern die Fahrrinne nach Elbląg offen hält. Frische Nehrung. Russische Grenzpatrouille. Polnische Reeder oder Kapitäne müssen zudem mindestens 15 Tage im Vo- raus einen Antrag auf Durchfahrt beim Hafenamt Kaliningrad stellen.
Die Erlaubnis wird erst einen Tag vor der Durchfahrt erteilt oder auch nicht: „aus Gründen der nationalen Sicherheit, des Umweltschutzes oder sonstiger.“ Die Einschränkung, es dürfen nur Handelsschiffe unter polnischer Flagge das Pillauer Seetief von und nach Elbląg passieren, trifft Polen in doppelter Hinsicht schmerzhaft. Zum einen fahren heute die meisten polnischen Handelsschiffe unter den Billigflaggen der Bahamas, Zyperns usw. Zum anderen sind ausländische Handelsschiffe, darunter die anderer EU-Staaten, von der Durchfahrt ausgeschlossen. Es sei denn, sie unterziehen sich noch komplizierteren Einreiseprozeduren als polnische Handelsschiffe. Schiffe der polnischen Marine und des Grenzschutzes haben bis heute keinen Zugang zum polnischen Hafen in Elbląg. Zudem schlieβen die Russen nach Gutdünken die Durchfahrt durch das Pil- lauer Seetief für polnische Handelsschiffe. In den Jahren 2003 und 2004 haben sie den Durchgang von heute auf morgen für mehrere Monate gesperrt. Eine im Mai 2006 verkündete Schlieβung dauerte bis Juli 2009. Am 1. September 2009 wurde im Beisein von Polens Ministerpräsident Don- ald Tusk und Wladimir Putin (damals gerade russischer Regierungschef) in Sopot/Zoppot, am Rande der Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs, ein polnisch-russisches Abkommen über den Seeverkehr auf dem Frischen Haff unterzeichnet. Das Abkommen schrieb im Grunde die existierende Willkür fest, an der Handhabung der russischen Seite änderte es nichts. Aus heutiger, polnischer Sicht gibt es keinen Zweifel daran, dass die Russen das Abkommen von 2009 und die mit ihm verbundenen polnischen Hoffnungen nur dazu benutzt haben, den immer wieder in Betracht gezoge- nen Kanalbau zu verzögern oder ihn am besten zu stoppen. (→ Völker- recht) Chancen für Elbląg Die Stadt Elbląg verspricht sich von der Verwirklichung des Projekts eine Vervierfachung oder sogar Verfünffachung des bisherigen Güterum- schlags ihres Hafens. Dieser war in den vergangenen Jahren, nach An-
gaben der Hafenverwaltung, drastisch gesunken, von 358.300 Tonnen 2014 auf nur noch 99.100 Tonnen im Jahr 2017. Zwei Drittel dieses Umschlags machte russische Steinkohle aus, die aus Kaliningrad kam. Elbląg. Polnische Briefmarke von 1954. Von den 660 Schiffen die 2017 in den Hafen von Elbląg eingelaufen sind, gehörten 470 zur Weiβen Flotte (Sommerfahrten nach Krynica Morska/Kahlberg auf der polnischen Seite der Frischen Nehrung und zurück, mit insgesamt ca. 40.000 Passagieren). Nur 190 Schiffe trans- portierten Güter. Von ihnen gelangten nicht einmal zehn von der Ostsee über das russische Pillauer Seetief nach Elbląg. Der Hafen von Elbląg führt heute ein Schattendasein. Nicht einmal zwanzig Prozent seiner Kapazität werden genutzt. Vor dem Zweiten Weltkrieg, zur deutschen Zeit, als der Zugang uneingeschränkt war, be- trug der Warenumschlag im Elbinger Hafen mehr als 500.000 Tonnen (1936). Dabei beschränkte sich damals sein Hinterland, das er sich zu- dem mit Königsberg teilte, lediglich auf das vom Reich abgetrennte Ost- preuβen.
Elbing. Schichau-Werft und Hafen in den Dreiβigerjahren. Diese Zahl wurde nach dem Krieg nur einmal, 1997, überboten, als der Hafen von Elbląg einen Rekordumschlag von 641.000 Tonnen bekannt gab, dank des Imports russischer Steinkohle aus Kaliningrad über das Frische Haff. Es war ein einmaliger Ausreiβer. Um die oberschlesische Kohleförderung nicht zu gefährden, wurden diese Einfuhren schon im Jahr darauf mit Zöllen und Kontingenten belegt. Die Russen antworteten mit ähnlichen Maβnahmen für polnische Baustoffe. Der Warenumschlag stürzte bereits 1998 auf knapp 50.000 Tonnen ab. Nach der Fertigstellung des Kanals soll der Elbinger Port, nun un- eingeschränkt zugänglich, als ein Feederhafen fungieren, der Zuliefer- dienste für die beiden großen Meereshäfen von Gdansk und Gdynia leis- tet und diese entlastet. Das erfordert weitere Investitionen, was zum Beispiel auch deutschen Anbietern von Hafentechnik Zulieferchancen eröffnet. Die Ausbaumaßnahmen würden der gesamten Region Auftrieb geben, zumal viele Firmen wie Speditionen, Verladebetriebe, die Bahn, Tankstellen oder direkt im Hafen von Elbląg angesiedelte Akteure davon profitieren würden. Nicht viel los. Hafen in Elbląg heute. Zu den im Hafen bereits vertretenen Firmen, denen der Kanal einen neuen Verkehrsweg direkt vor ihren Toren eröffnet, zählt General Elec-
tric. Ihr Werk in Elbląg (die einstigen Schichau-Werke) produziert Groβturbinen und groβe Stahlkonstruktionen, u. a. Brückenpfeiler, die jetzt die Stadt umständlich auf dem Landweg verlassen. Auch der Tourismus soll durch die Nehrungsdurchfahrt neuen Auftrieb er- halten. Sie soll schwedische Jachtbesitzer locken ihre Boote während der Wintermonate preiswert in Polen unterzubringen. Deutsche Kanalpläne vor 1945 Als Erster hatte Friedrich II. den Kanalbau erwogen. Nach der ersten polnischen Teilung 1772 kam Elbing zu Preuβen, während Gdańsk bei Polen blieb. Der König wollte Elbing zu einem gewichtigen Konkurrenten der Stadt an der Motlau machen. Friedrich II starb 1786, und 1793, nach der zweiten polnischen Teilung, kam auch Danzig zu Preuβen. Ein Kanalbau wurde überflüssig. Im Jahre 1874 machte der damals sehr einflussreiche Danziger Stadtar- chitekt Julius Albert Licht den Vorschlag das Frische Haff weitgehend trockenzulegen und als fruchtbares Polderland landwirtschaftlich zu nutzen. Diesen Gedanken griff Ende der zwanziger Jahre der Elbinger Stadtrat auf und stellte 1932 eine „Denkschrift über die Trockenlegung des Frischen Haffs und den Durchstich durch die Frische Nehrung bei Kahlberg“ vor. Frisches Haff trockenlegen. Denkschrift von 1932.
Etwa 65 Prozent des Haffs sollten trockengelegt werden. Auf rund 540.000 Hektar Neuland könnten anschlieβend bis zu 13.000 angeworbene Siedlerfamilien wirtschaften, geschützt durch Deiche, Pumpwerke und Me- liorationsgräben. Bestehen bleiben sollten nur die Gewässer am Pil- lauer Seetief mit der Fahrrinne nach Königsberg. Elbing würde ein 6 Me- ter tiefer Kanal zum Nehrungsdurchstich bei Kahlberg mit der Ostsee verbinden. Ein zweiter Kanal durch die trockengelegte Nehrung war nach Königsberg geplant. Nach Hitlers Machtübernahme 1933 geriet der Plan schnell in Vergessenheit. EU und der Kanal Anfang März 2019 meldeten polnische Medien, die EU-Kommission habe Polen aufgefordert alle Arbeiten am Kanalbau so lange einzustellen bis man sich in Brüssel eine endgültige Meinung über die Zweckmäβigkeit der Investition gemacht habe, die ja auf einem Natura 2000-Gebiet vorgenommen würde. Kanaltrasse ohne Bäume. Ausgelöst wurde die angebliche Brüsseler Unmutsäuβerung dadurch, dass am 15. Februar 2019, kurz vor Beginn der Vogelbrutzeit (am 1. März), die solche Maβnahmen ausschlieβt, die Behörden die Erlaubnis erteilt hatten den zum Bau vorgesehenen Streifen zu roden. In der 200 Meter breiten Schneise wurden knapp 25 Hektar Wald (0,5 Prozent der Wald- fläche auf dem polnischen Teil der Nehrung) gefällt und dabei 6.500 Ku- bikmeter Holz gewonnen. Der mediale Wirbel um den „EU-Baustopp“ rief Anfang April 2019 Marek
Gróbarczyk, den polnischen Minister für Seewirtschaft und Binnenschiff- fahrt auf den Plan, der in einer längeren Erklärung eine Klarstellung vornahm und die Wogen glätten konnte. Marek Gróbarczyk, Minister für Seewirtschaft und Binnen- schifffahrt. Gróbarczyks Äuβerungen kann man wie folgt zusammenfassen: 1. Die EU-Kommission erwog keinen Baustopp, sondern bat um Beantwor- tung einiger Detailfragen zum Bau im Rahmen eines Dialogs, der seit längerer Zeit zwischen Warschau und der EU-Kommission geführt wird. An- lass war der Vorstoβ des russischen stellvertretenden Landwirtschafts- ministers Ilja Schestakow, der in Brüssel um einen Baustopp nach- suchte. 2. Polen finanziert den Kanal ausschlieβlich mit eigenen Geldern. 3. Polen beruft sich bei dieser Investition auf Art. 4 des Vertrages über die Europäische Union: „Die Union achtet … die grundlegenden Funk- tionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Un- versehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit. Insbesondere die nationale Sicher- heit fällt weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mit- gliedstaaten.“ Die Schaffung eines ungehinderten Zugangs zu einem Teil seines Staatsgebietes wird eindeutig durch die Bestimmungen des Art. 4. abgedeckt. Die EU-Kommission teilt diese Meinung. 4. Obwohl es dazu in diesem Fall nicht verpflichtet sei, wendet Polen bei der Planung und Vorbereitung des Kanalbaus alle im EU-Recht vorge-
sehenen restriktiven Bestimmungen an. Das gilt insbesondere für die Umweltverträglichkeitsprüfung. Die EU-Kommission nimmt das anerkennend zur Kenntnis, so Gróbarczyk. Gdańsk und Gdynia Der Güterumschlag der polnischen Meereshäfen nimmt rasant zu. Polen, im Zentrum Europas gelegen, wird zu einer zunehmend wichtigen Logistik- drehscheibe. Allein der Tiefwasser Container Terminal (TCT) in Gdańsk will 2019 erstmals über 2 Millionen Standard-Container TEU (Twenty Foot Equivalent Unit) verladen. Diese Anzahl soll bis 2021 auf bis zu 3 Millionen Stück steigen Mittelfristig könnte der TCT seine Kapazität auf 4 Millionen Container pro Jahr erhöhen. Den Terminal übernahmen im Mai 2019 der zu einem In- vestment Fonds in Singapur gehörende globale Hafenbetreiber PSA, der Polski Fundusz Rozwoju (PFR, Polnischer Entwicklungsfonds) und der aus- tralische IFM Global Infrastructure Fund. Gdynia will einen Außenhafen bauen mit einer jährlichen Verladekapaz- ität von 2 Millionen Containern, die noch um weitere 500 Tausend Stück aufgestockt werden könnte. Ende 2018 wurde ein sogenannter technischer Dialog mit am Bau dieses Außenhafens interessierten Firmen abgeschlossen. Eine schnelle Verbindung über den geplanten Durchstich nach Elbląg wäre beiden Häfen sehr willkommen. Sie würde den Einzeltransport von Containern nach Elbląg und dessen Umland von der Straβe nehmen und durchaus beschleunigen. Insel Eine 2 Kilometer lange und 1,2 Kilometer breite künstliche Insel soll aus dem Schlick und Sand entstehen, die beim Ausheben des Kanals gewon- nen werden. Sie wird etwa 2 bis 3 Meter über dem Meeresspiegel liegen und eine Fläche von 181 Hektar haben. Diese Insel soll als Vogelreser- vat dienen, unzugänglich für Touristen. Sie wird im Frischen Haff ent- stehen, in linker Fahrtrichtung nach Elbląg.
Künstliche Insel auf dem Satellitenfoto des Frischen Haffs als weiβer Kreis eingezeichnet. Kaczyński, Tusk, der Kanal und die polnische Politik Als erster polnischer Politiker wollte König Stefan Bathory 1576 den Kanalbau durch die Frische Nehrung in Angriff nehmen. Bathory führte zu jener Zeit Krieg gegen Danzig. Die mächtige und reiche Stadtrepub- lik Danzig, die im polnischen Staatsverband über erhebliche Autonomierechte verfügte, wollte die durch Bathory beabsichtigte Ein- schränkung nicht hinnehmen. Der Kanal sollte Elbing wirtschaftlich aufwerten und Danzig schwächen. Nach einem Jahr war der Konflikt beigelegt, die Idee des Kanalbaus wurde verworfen. König Stefan Bathory. Pol- nische Briefmarke von 1998.
Nachdem sich Preuβen während der ersten polnischen Teilung 1772 Elbląg nahm, geriet der Kanal bis 1945, bis zum Ende der deutschen Herrschaft, völlig aus dem Blickwinkel der polnischen Politik. Nach 1945 brachten polnische kommunistische Vertreter einige Male den Ge- danken zaghaft ins Gespräch, dem setzte jedoch jedes Mal ein schroffes sowjetisches „Njet“ ein Ende. Nach 1989 wurde Jarosław Kaczyński zum führenden polnischen Verfechter des Kanalbaus. Es begann bei den ersten halbfreien Wahlen im Frühjahr 1989. Der damals vierzigjährige konservative Bürgerrechtler und enge Mitarbeiter Lech Wałęsas, deren Wege sich bald trennen sollten, kandi- dierte für Solidarność in den Senat, die obere Parlamentskammer. Sein Wahlkreis: Elbląg. Symbolisch. Jarosław Kaczyński stellt am 16. Ok- tober 2018 den letzten Markierungsstab zur Vermes- sung der Kanaltrasse auf. Der Warschauer Jarosław Kaczyński kam so mit der russischen Blockade Elblągs in Berührung. Der Gedanke sie mittels eines Kanalbaus zu durch- brechen lieβ ihn seither nicht mehr los. Als seine Partei, Recht und Gerechtigkeit, im Herbst 2005 zum ersten Mal die Parlamentswahl ge- wann, leitete er als Ministerpräsident den Bau in die Wege. Der
vorzeitige Sturz seiner Koalitionsregierung im Sommer 2007 und die in der Folge vorgezogenen Wahlen im Herbst desselben Jahres, die er ver- lor, setzten dem Vorhaben für die acht folgenden Jahre ein Ende. Der kühne Plan wurde damals von den anderen Akteuren der polnischen Politik entweder ignoriert oder abgelehnt. Die bis 2005 einfluss- reichen Postkommunisten, die Polen 1993 bis 1997 sowie 2001 bis 2005 regiert hatten, wie auch ihr Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski (1995 bis 2005) wollten sich mit Moskau in dieser Angelegenheit nicht anlegen. Ebenso wie Ministerpräsident Donald Tusk (2007 bis 2014). Dessen Karri- ere-Traumziel, mit Hilfe seiner politischen Ziehmutter Angela Merkel, Präsident des Europäischen Rates zu werden, wäre unerreichbar ge- blieben , wäre ihm der Ruf vorausgeeilt, er sei ein antirussischer Pol- itiker. Daher die vielen Versuche Tusks sich Wladimir Putin geradezu anzudienen, bis hin zu der Entscheidung den Russen die Untersuchung der Smolensk-Flugzeugkatastrophe zu überlassen. Eintracht hat groβe Macht. Donald Tusk zwischen Putin und Merkel, den künftigen EU-Spitzenjob vor Augen. Lange Zeit versuchte Tusk als Regierungschef dem Thema Kanal so gut es ging aus dem Wege zu gehen, behauptete man müsse „prüfen“, „unter- suchen“, „nachdenken“, „dürfe nichts überstürzen“. Als aber das Finale seiner EU-Karrierebemühungen nahte, bezog Tusk im Juni 2013 bei einem Besuch in Elbląg klar Stellung:
„Wir haben heute in Polen eine riesige Zahl vorrangiger Investitionen zu tätigen. Bei einem solchen sehr teuren Kanalvorhaben von zweifel- haftem ökonomischen Nutzen handelt es sich nur um einen wahltaktischen Trick. Es graust einen geradezu wenn man überlegt, was alles unsere Op- ponenten (gemeint sind Kaczyński und seine Partei Recht und Gerechtigkeit – Anm. RdP) noch alles durchgraben werden, welchen Fluss sie in die umgekehrte Richtung fließen lassen werden, welches Meer sie trockenlegen wollen, um Wahlen zu gewinnen. Ich empfehle ihnen ein Bad im Haff zu nehmen. Das Wasser ist noch recht frisch und könnte vielleicht diese Ideen ein wenig abkühlen.“ Es wäre interessant zu erfahren, ob Donald Tusk diese Worte beispiel- sweise in den Niederlanden offiziell wiederholen würde. Nach den gewonnen Parlamentswahlen im Herbst 2015 begann die nation- alkonservative Regierung das Vorhaben mit Nachdruck umzusetzen. Am 24. Februar 2017 verabschiedete der Sejm mit 401 Stimmen, bei 9 Gegenstim- men und 18 Enthaltungen das Kanalbau-Gesetz. Beinahe die gesamte Oppo- sition war damals dafür. Jetzt, im Wahlkampf vor den für den 13. Okto- ber 2019 angesetzten Parlamentswahlen, wettert sie wiederum heftig dagegen. Konsultationen mit Russland nicht erforderlich Russische Politiker fordern Polen immer wieder auf über russische Be- denken zum Kanalbau zu diskutieren. Polen sei dazu verpflichtet als Un- terzeichnerstaat der „Konvention zur grenzüberschreitenden Umweltverträglichkeitsprüfung“ (UVP), die 1991 im finnischen Espoo aus- gehandelt wurde. Die Konvention sieht vor, dass Vorhaben die voraussichtlich erhebliche grenzüberschreitende Auswirkungen zum Nachteil der Umwelt haben wer- den, den betroffenen Vertragsparteien angekündigt werden müssen. Es sei zudem eine UVP durchzuführen und eine UVP-Dokumentation zu er- stellen. Auch die Öffentlichkeit des möglicherweise betroffenen Gebi- etes muss über das geplante Projekt informiert werden. Sie soll eine Möglichkeit zur Stellungnahme im selben Umfang haben, wie die Öf- fentlichkeit des Urheberstaates. Polen lehnt das ab und verweist darauf, dass Russland als einziger Ost- seeanrainer die Espoo-Konvention nicht ratifiziert hat. Das erlaubte
den Russen seinerzeit jegliche ernsthaften Konsultationen über den Bau der Nord Stream 2-Gasleitung von Russland nach Deutschland unter der Ostsee abzulehnen. Genauso verhält es sich mit dem gerade stattfinden- den Bau eines Kernkraftwerkes nordöstlich von Kaliningrad. Des Weiteren lehnt Russland jegliche Gespräche über die ständige Ver- schmutzung des Frischen Haffs durch schlecht funktionierende Kläranla- gen in der Fünfhundertausend-Einwohner-Stadt Kaliningrad ab. Proteste Der gröβte Widerstand regte sich in Krynica Morska/Kahlberg, einem 1,300 Einwohner zählenden Ort am Ende des polnischen Teils der Frischen Nehrung, direkt an der russischen Grenze. Der schöne Ort lebt vom Tourismus. Immer wieder kam dort die Befürchtung zur Sprache, der Kanal werde den Ort in eine Insellage versetzten, die Zufahrt erschw- eren, Touristen wegen Staubildung verprellen. Krynica Morska/Kahlberg (o). Einwohner- protest. Ein Film des Seeamtes in Gdynia zeigt, dass der Autoverkehr durch die Nehrung nach und von Krynica Morska, dank einem Hebebrückensystem, zu keiner Zeit unterbrochen sein wird. Der Link befindet sich am Ende des Beitrags. Immer wieder wird auch hervorgehoben, der Durchstich werde eine höhere
Versalzug des Haffwassers im polnischen Teil verursachen. Das Gegenar- gument: eine Schleuse im Kanal soll dauerhaft das Ökosystem des Haffs vom Ökosystem der offenen Ostsee trennen, so wie es jetzt auch ist. Völkerrecht Im internationalen Seerecht gibt es das verbriefte Prinzip der friedlichen Durchfahrt, das insbesondre für Meerengen gilt, wo unter Umständen das weitergehende Recht der Transitdurchfahrt gilt oder wenn innere Gewässer eines anderen Staates durchfahren werden müssen, um ei- gene Gewässer zu erreichen. Beides gilt für die polnische Situation im Frischen Haff. Im Gegensatz zum gewöhnlichen Küstenmeer darf hier, so die Bestimmungen, das Recht der friedlichen Durchfahrt auch nicht zeitweise eingeschränkt werden. Das Konzept der freien Nutzung der Meere durch die Schiffe aller Staat- en, häufig unter dem Schlagwort „Freiheit der Meere“ zusammengefasst, erwähnte 1609 erstmals Hugo Grotius als anerkanntes Prinzip des inter- nationalen Rechts. 1958 hat man das Recht der friedlichen Durchfahrt im „Übereinkommen über das Küstenmeer und die Anschlusszone“ erstmals kodifiziert und 1982 im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen weiter ausgestaltet. Dieses Prinzip wird zum Beispiel zwischen Belgien und den Niederlanden angewandt. Der Zugang zum belgischen Hafen Antwerpen auf der Schelde führt teilweise über niederlädisches Gebiet, was völlig problemlos abläuft. Nicht so im Frischen Haff. Zum Schluss Der Kanal ist nicht nur ein wichtiges wirtschaftliches Projekt. Es ist auch ein durch und durch politisches Vorhaben. Es soll, so der Ansatz seiner Befürworter, eine Maβnahme sein, die eine viel zu lange an- dauernde, konfliktträchtige und von Russland gewollte Unwägbarkeit endlich beheben soll. Sehenswert: Der Kanalbau in der Animation des Seeamtes in Gdynia Keine Staus. Der Autoverkehr auf der Frischen Nehrung nach der Fertig-
stellung des Kanals. Animation des Seeamtes in Gdynia. Lesenswert: Kaliningrads Probleme mit Kläranlagen. © RdP FROH DIE EINEN, ANDERE BETRETEN. KOMMEN NACH POLEN US-ATOMRAKETEN? Nach dem Scheitern des INF-Vertrages. Die SPIEGEL ONLINE-Redaktion hat zu dick aufgetragen, als sie am 1. Fe- bruar 2019 titelte: „Polens Auβenminister fordert US-Atomraketen in Eu- ropa“. Warschau schob kurz darauf eine Klarstellung nach: der Minister habe in dem SPIEGEL-Gespräch die Stationierung nicht gefordert, son- dern „nicht ausgeschlossen“. Die Hamburger Redaktion besserte umgehend nach. Doch so oder so, die Frage, ob es in Polen schon bald US-Atom- raketen geben wird bleibt bestehen. Die Verstöβe Russlands gegen und daraufhin der Ausstieg der USA aus dem Washingtoner Abkommen über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Ver- trag) am 1. Februar 2019, haben jedenfalls eine Kette von Ereignissen in Bewegung gesetzt, die zur Stationierung amerikanischer Nuklearwaf- fen in Polen führen könnten. US-Präsident Reagan (r,) und der sowjetische Generalsekretär
Gorbatschow (l.) unterzeichnen den INF-Vertrag im Weißen Haus am 8. Dezember 1987. Das zu Grabe getragene amerikanisch-sowjetische (russische) INF-Abkom- men vom Dezember 1987 galt als ein Meilenstein in Sachen Abrüstung und Rüstungskontrolle. Nach siebenjährigen Verhandlungen haben sich damals Amerikaner und Russen verpflichtet, alle bestehenden landgestützten Flugkörper kürzerer, beziehungsweise mittlerer Reichweite (500 bis 5.500 Kilometer) zu vernichten sowie keine neuen herzustellen und zu testen. Briefmarke der sow- jetischen Post von 1987 aus Anlass der INF-Ver- tragsunterzeichnung. Mobil, genau, verheerend Gerade die landgestützten Marschflugkörper gelten als besonders gefähr- lich. Ihr Start ist schwieriger auszumachen als Abschüsse von Flugzeu- gen oder Schiffen. Auf geländegängigen Lkw montiert, mit einem nuk- learen Gefechtskopf versehen, steuert sich der Lenkflugkörper selbst ins Ziel und fliegt dabei in einer Höhe zwischen fünfzehn und hundert Metern so niedrig, dass er nur schwer vom gegnerischen Radar erfasst werden kann. Abgefeuert werden können auch taktische ballistische Mittelstrecken- raketen, die mit bis zu siebenfacher Schallgeschwindigkeit auf eine Höhe von bis zu fünfzig Kilometern gebracht werden, ehe sie in der ab-
steigenden Flugphase das Ziel punktgenau anpeilen. In beiden Fällen sind sie blitzschnell am Ziel. Den Verteidigern bleiben lediglich Minuten, um sie zu vernichten. Vertragsgemäβ haben bis Mai 1991 die Amerikaner 846 ihrer Pershing- und Gryphonraketen, die Russen 1.846 ihrer SS-4, SS-5, SS-20 und SS-22 Raketen zerstört. Die Franzosen folgten 1996 diesem Beispiel. Zum er- sten Mal wurden keine Obergrenzen festgelegt. Stattdessen hat man eine ganze Waffenfamilie aus Europa verbannt und das mit wirksamen Kontrol- lverfahren verbunden, die im Mai 2001 endeten. Russland steigt aus Putin am 10. Februar 2007 während seiner berüchtigten Rede auf der Münchner Sicher- heitskonferenz. Die Idylle dauerte jedoch nicht lange. Nach der Machtübernahme Wladimir Putins im Jahr 2000 begann Russland die INF-Verträge in Frage zu stellen. Vor allem, so hieβ es, weil Staaten wie China, Indien, Pak- istan, Nordkorea oder Israel über diese Raketen verfügen. INF be- friedige nicht mehr die Interessen Russlands. „Es ist offensichtlich, dass wir unter diesen Bedingungen darüber nachdenken müssen, unsere ei- gene Sicherheit zu gewährleisten“, so Putin am 10. Februar 2007 in seiner berüchtigten Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Zudem gefielen den Russen die US-Pläne nicht, ein europäisches Raketen- abwehrprogramm mit SM-3-Block-IIA-Raketen und X-Band-Radaren in Tschechien und Polen umzusetzen. Es sollte zwar ein Schutzschild gegen eventuelle Angriffe von Langstreckenraketen aus dem Iran und Nordkorea
sein, aber Moskau gab vor, dem nicht zu trauen. Aus amerikanischer- und Nato-Sicht hatte Moskau bereits Anfang der 2000er-Jahre beschlossen, den Vertrag auszuhöhlen, um erneut ein nuk- leares Drohpotential in Mitteleuropa aufzubauen. Schon 2013 bemühten sich die Amerikaner, auch Präsident Obama persönlich, die Russen von ihrem Vorhaben abzubringen. Wie leider üblich, so Dan Coats, Direktor der nationalen Nachrichtendienste im Januar 2018, „leugneten die Russen ihre Versuche. Sie gaben die Existenz des Marschflugkörpers erst dann zu, als wir ihnen zum Beweis die russische Bezeichnung des Geräts, 9M729, auf den Tisch gelegt haben“. Startvorbereitungen einer Iskander-Rakete. Im Juli 2014 machte das US-Verteidigungsministerium publik, Russland habe landgestützte Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern getestet und damit gegen das Verbot verstoßen. Medien- berichten zufolge handelte es sich um 9K720 Iskander-K. Dieser Typ wurde erstmals bereits 2007 erprobt. Im Februar 2017 hieβ es aus Washington, Russland habe den INF-Vertrag gebrochen, indem es Mittelstreckenraketen nicht nur herstelle und teste, sondern bereits zwei aktive Bataillone seiner Streitkräfte damit ausgerüstet habe. Die Waffen seien von Startvorrichtungen auf Lastwagen aus einsetzbar. Apokalyptische Bedrohung für Polen
Seit Juni 2018 sind Iskander-M-Abschussvorrichtungen mit ballistischen 9M723-Raketen bei Tschernjachowsk/ Insterburg im Gebiet Kaliningrad stationiert. Ihre Reichweite beträgt mindestens 700 Kilometer. Mit siebenfacher Schallgeschwindigkeit erreichen sie jedes Ziel in Polen in spätestens drei bis vier Minuten. Das amerikanische Flugabwehrsys- tem Patriot ist weitgehend machtlos gegen sie. Noch heikler wird die Lage werden, sollten die Russen ihre Drohung wahr machen und die Iskander-K-Abschussvorrichtungen mit ballistischen 9M729-Raketen in die Gegend von Kaliningrad verlegen. Mit ihrer Reich- weite können sie jede beliebige Stadt in Westeuropa, mit Ausnahme Por- tugals, einäschern. Für Polen ergibt sich daraus eine geradezu apokalyptische Bedrohung. Das in eine Atomartilleriefestung verwandelte Kaliningrader Gebiet er- laubt den Russen, Polen in eine atomare Todeszone zu verwandeln. Sie soll Russland wirksam von den übrigen Nato-Staaten trennen und diese Staaten davon abhalten eine Gegenoffensive zu starten. Das INF-Ende läutet eine neue Runde im atomaren Rüstungswettlauf ein. Die Amerikaner werden sehr schnell neue Kurz- und Mittelstrecken- raketen haben und sie in Europa stationieren wollen. Dass es sich dabei um eine wirksame Abschreckungsmethode handelt, beweist die Ent- stehungsgeschichte des INF-Vertrages. Moskau sah sich erst genötigt ihn zu unterschreiben, nachdem die USA 1983 ihre Preshing-2 Flugkörp- er, wider den gigantischen Proteststurm der „Friedensbewegung“, nach Westeuropa gebracht hatten. So wird es wahrscheinlich auch dieses Mal sein. Doch wohin mit den neuen US-Kurz- und Mittelstreckenraketen? Polen wird einer der ersten Staaten sein, bei denen Washington nachfragen dürfte. Was spricht für ein polnisches „Ja“? Ein russischer Angriff auf die Abschussvorrichtungen in Polen, egal ob atomar oder konventionell, würde einen sofortigen Nato-Vergeltungssch- lag nach sich ziehen. Ohne Nato-Raketen in Polen könnten Russlands Kriegsplaner dem Trugschluss erliegen, die Nato werde keinen Atomkonf- likt für Polen riskieren, auch wenn sie in dem Land Stützpunkte unter- hält und diese verloren geben müsste.
Testabschuss einer Iskander-Rakete. Oder wäre es gar kein Trugschluss? Ein konventioneller russischer Bl- itzangriff aus dem Stand, die schnelle Einnahme der baltischen Staaten und Polens bis zur Weichsel, bevor sich die Nato zu einer Gegenoffen- sive aufrafft, sind ein Szenario, das in den russischen Stäben immer wieder durchgespielt wird. Unmittelbar darauf folgen, soll ein öf- fentlichkeitswirksames Ultimatum Moskaus: eine Nato-Gegenoffensive zur Befreiung der besetzten Gebiete werde einen russischen atomaren An- griff auslösen. Man kann sich leicht den ungeheuren Druck der westeuropäischen Öf- fentlichkeit vorstellen mit Moskau zu verhandeln und die Nato-Ost- flanke lieber den Russen zu überlassen. Umfragen sprechen da eine deut- liche Sprache: knapp sechzig Prozent der Deutschen sind strikt dage- gen, östlichen Bündnismitgliedern wie Estland, Polen oder Lettland mil- itärisch beizustehen, wenn sie von Russland angegriffen werden. So gesehen, würde die Stationierung amerikanischer Atomraketen in Polen die Hemmschwelle gegen einen russischen Angriff deutlich an- heben. Stärke schreckt ab, Schwäche (siehe Georgien 2008, Ukraine – Krim 2014 und Donbass seit 2014) verleitet die russische Politik tradi- tionell zur Gewaltanwendung. Wird es zu einer Stationierung kommen? Sollte sie aufgrund eines ge- meinsamen Nato-Beschlusses erfolgen, dürfte es schwierig werden. Vor allem ist ein vehementer Widerstand aus Deutschland geradezu vorpro- grammiert.
© RdP DAS WICHTIGSTE AUS POLEN 11. – 24. MÄRZ 2018. EU, DEUTSCHLAND, RUSSLAND. AUSSENPOLITIK AUF DEM PRÜFSTAND Kommentator Prof. Marek Cichocki und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen. ♦ Polens neuer Auβenminister Jacek Czaputowicz im Sejm zum Stand der Auβenpolitik ♦ EU der Vaterländer Polens erklärtes Ziel, ♦ EU-Sanktionen gegen Polen wegen angeblich fehlender Rechtsstaatlichkeit wird es nicht geben. ♦ Maas und Merkel in Warschau. Polen-Deutschland: alte Streitpunkte bleiben, neue Sachlichkeit im Dialog kommt. ♦ Polen-Russland: keine An- näherung in Sicht. ♦ Trumps neue Zölle und wie Polen darauf reagieren sollte. DAS WICHTIGSTE AUS POLEN 19. NOVEMBER – 9. DEZEMBER 2017 Kommentatorin Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen. ♦ Der Wechsel an der Regierungsspitze. Die populäre und erfolgreiche Beata Szydło musste gehen wird aber weiterhin in der ersten Liga der polnischen Pol- itik wirken. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki: ein herausragender Wirtschaftsprofi soll den nationalkonservativen Umbau Polens zu neuen Erfolgen führen. ♦ Wie sich Polen nach und nach aus der Energieab- hängigkeit von Russland befreit. Amerikanisches Flüssiggas hilft dabei. ♦ Jamaika wäre für Polen besser. Mit der GroKo und „Polen- schreck“ Martin Schulz in der Regierung sind weitere deutsch-polnische
Spannungen bereits vorprogrammiert. DAS WICHTIGSTE AUS POLEN 23. JULI – 5. AUGUST 2017 Kommentatorin Olga Doleśniak-Harczuk und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen. ♦ Das Veto des Staatspräsidenten bremst die Justizreform aus. Reformbefürworter und Reformgegner mit den angekündigten eigenen Gesetzesvorlagen zufrieden- zustellen gleicht fast dem Versuch die Quadratur des Kreises zu lösen. Duda traut es sich zu. Man darf gespannt sein. ♦ Veto hin, Veto her, die EU droht wie immer mit Sanktionen. ♦ Auch Moskau will Polen mit Sanktionen belegen und zwar wegen des geplanten Abbaus der noch ver- bliebnenen sowjetischen Heldendenkmäler ♦ Brüssel und Moskau drohen, die Geburtenrate steigt. WOHIN MARSCHIERT DIE POLNISCHE ARMEE Stärke braucht Geld und Geist. Der stornierte Kauf von französischen Caracal-Hubschraubern, die Schaf- fung der Territorialverteidigung, personelle Veränderungen in der Armeeführung. Wenn überhaupt, dann wissen deutschsprachige Medien nur Negatives über die Verteidigungspolitik der nationalkonservativen pol- nischen Regierung zu berichten. Wie aber ist deren eigene Sicht der Dinge? Der stellvertretende polnische Verteidigungsminister Bartosz Kownacki (fonetisch Kownatski) hat sich den Fragen des Wochenmagazins „wSieci“ („imNetztwerk“) vom 18.06.2017 gestellt.
Stellv. Verteidigungsminister Bartosz Kownacki. Kownacki (Jahrgang 1979) ist von der Ausbildung her Jurist, er leitete zwischen 2003 und 2005 seine eigene Anwaltskanzlei in Warschau, arbeit- ete 2005 – 2007 beim Militärischen Abschirmdienst und 2007 – 2010 in der Kanzlei von Staatspräsident Lech Kaczyński. Er ist seit 2011 Abge- ordneter (2015 wiedergewählt) von Recht und Gerechtigkeit im Sejm und war bis zu seiner Berufung ins Verteidigungsministerium im parlamen- tarischen Verteidigungsauschuss tätig. Vor einigen Wochen sagte Verteidigungsminister Antoni Macierewicz, Polen werde erst in etwa zehn bis zwölf Jahren in der Lage sein sich selbst zu verteidigen. Wie darf man das verstehen? Wir sind heute in einer sehr schwierigen Lage, sowohl was unsere geos- trategische Situation angeht, wie auch den Zustand der polnischen Stre- itkräfte. Auf den ersten Umstand haben wir kaum Einfluss, aber auf den zweiten sehr wohl. Allerdings lassen sich die Modernisierung und die Instandsetzung der Armee nicht in wenigen Monaten bewerkstelligen, nicht einmal in einer Legislaturperiode. Da kann man nur mit der Ar- beit beginnen. Die Zerstörung, die Auflösung einer Armee hingegen, ge- ht viel einfacher vonstatten. Es genügt das Gros der Soldaten zu ent- lassen, die Ausrüstung zu entsorgen und die Kasernen zu verkaufen.
Verteidigungsminster Antoni Macierewicz. Wie ist die Regierung der Bürgerplattform unter Donald Tusk zwischen 2007 und 2015 mit der Armee umgegangen? Ein bitterer Witz aus jener Zeit lautet: „Wozu braucht Tusk die Armee? Zum Sparen!“ Die Streitkräfte wurden in dieser Zeit systematisch besch- nitten und in einen Beamtenapparat verwandelt. Erstes Beispiel: die rigorose Entlassung aller Zeitsoldaten nach nur zwölfjähriger Dienstdauer, damit sie in Zukunft keine direkten Armee- Rentenansprüche erwerben (die Renten von ehemaligen Armeeangehörigen werden in Polen nicht aus der Sozialversicherungskasse sondern aus dem Verteidigungshaushalt gezahlt – Anm. RdP). Es handelte sich dabei meis- tens um Soldaten und Unteroffiziere im Alter zwischen 32 und 35 Jahren, oft mit sehr großer praktischer Erfahrung, und nicht selten hat ihre Ausbildung viel Geld gekostet. Aber es gab kein Pardon, sie mussten gehen.
Ehem. Ministerpräsident Donald Tusk brauchte die Armee zum Sparen. Das haben wir bereits im Januar 2016 durch ein Gesetz geändert. Wäre das nicht geschehen, hätten im Jahr 2016 knapp eintausend Soldaten die Armee verlassen müssen, 2017 wären es schon tausendzweihundert, 2018 – tausendneunhundert, 2020 – siebentausendachthundert, 2021 – drei- tausendfünfhundert und im Jahr 2022 – noch einmal dreitausenddreihun- dert Soldaten gewesen. Zweites Beispiel: wir haben durchgesetzt, dass, wenn Fachstellen (Juristen, Programmierer usw.) mit niedrigeren Diensträngen besetzt werden, diese Leute, wenn nötig, wie ein Oberleutnant oder Oberst bezahlt werden können, ohne dass man sie befördern muss. Bis jetzt war das nicht möglich, und so haben wir ein Verteidigungsministerium vorge- funden, in dem allein gut siebenhundert Oberste arbeiteten. Zweites Beispiel: wir haben durchgesetzt, dass, wenn Fachstellen (Juristen, Programmierer usw.) mit niedrigeren Diensträngen besetzt werden, diese Leute, wenn nötig, wie ein Oberleutnant oder Oberst bezahlt werden können, ohne dass man sie befördern muss. Bis jetzt war das nicht möglich, und so haben wir ein Verteidigungsministerium vorge- funden, in dem allein gut siebenhundert Oberste arbeiteten. Generell hat unsere Armee viel zu viele „Häuptlinge“, und die Tusk- Regierung hat acht Jahre lang nicht nur nichts dagegen unternommen son- dern diesen Zustand noch verstärkt. Ungefähr vierzehntausend Of- fiziere, ca. zweiunddreißigtausend Unteroffiziere und etwa achtund- dreißigtausend Schützen gibt es heute in der polnischen Armee, d. h.
auf einen Kommandeur entfallen 0,9 Soldaten. Vor dem Zweiten Weltkrieg war das Verhältnis 1 : 4, in der US-Armee beträgt es heute 1 : 5. Auf einen Unteroffizier und Offizier entfällt weniger als ein Soldat. Eine weitere Katastrophe wurde durch die überstürzte Abschaffung der Wehrpflicht im Sommer 2008 ausgelöst. Man kann sich das kaum vorstellen, aber zwischen 2009 und 2014 wurden in Polen keine Reservis- ten mehr zu Übungen einberufen! Als dann die Russen die Krim besetzten und der Konflikt in der Ostukraine ausbrach, bekamen unsere Vorgänger plötzlich kalte Füße und haben im Oktober 2014 auf einmal begonnen über vierzigtausend Altreservisten aus der Wehrpflichtzeit vor 2008 einzuberufen, was in einem Chaos endete. Polen solle eine „Berufsarmee“ bekommen, das hatte Tusk seinen Wählern versprochen, doch die entsteht nicht automatisch mit der vorschnellen Abschaffung der Wehrpflicht. Der Wechsel kam abrupt, es wurde nicht mehr Geld zur Verfügung gestellt, obwohl eine Berufsarmee deutlich teurer ist als eine Armee aus Wehrpflichtigen. Im Gegenteil, es hieß, jetzt könne man erst recht sparen. Und so bekamen wir an den meisten Standorten einen Fehlstand von bis zu sechzig Prozent, also wahre „Geistereinheiten“, die nur auf dem Papier einen Kampfwert hatten. Zu- dem wurden Standorte reihenweise geschlossen. Liegenschaften des Mil- itärs fielen oft genug einer Raubprivatisierung zum Opfer. Auf die Mo- ral der Truppe wirkte sich das alles verheerend aus.
Die Armee als fünftes Rad am Wagen? So kann man das auch beschreiben. Wozu eine Armee, wenn es keine Bedro- hung mehr gibt für Polen? Der russische Krieg gegen Georgien von 2008 war gerade vorbei, als unsere Vorgänger ihr neues wehrpolitisches Cre- do vorstellten. Sie glaubten wirklich an den guten Willen Moskaus und daraus ergab sich ihr unverantwortliches Handeln. Außenminister Ra- dosław Sikorski plädierte sogar für die Aufnahme Russlands in die Na- to. Die Jahresetats für Modernisierung von Bewaffnung und Ausrüstung wur- den regelmäßig nicht ausgeschöpft. Dann haben unsere Vorgänger in den letzten Jahren ihres Amtierens ein gewaltiges Modernisierungsprogramm für die Armee im Wert von 300 Milliarden Zloty (ca. 72 Mrd. Euro – Anm. RdP) aufgestellt. In Wirklichkeit standen ihnen jedoch nur 70 Mil- liarden Zloty zur Verfügung (ca. 17 Mrd. Euro – Anm. RdP). Es endete damit, dass die damalige Regierung begann von allem ein bisschen was zu beschaffen. Die Armee wurde so lange verkleinert bis man mit allen Ange- hörigen der Landstreitkräfte nicht einmal das Warschauer Natio- nalstadion mit knapp 60.000 Plätzen füllen konnte. Während die einsatztaugliche Truppe schrumpfte, wuchs gleichzeitig der bürokratische Wasserkopf der Armee. Im Jahr 2014 konnte man mit allen Offizieren und Soldaten der polnischen Landstreitkräfte nicht einmal das neue Nationalstadion in Warschau mit seinen knapp sechzigtausend Sitzplätzen füllen, und das in einem Land mit 38 Millionen Einwohnern. Verteidigungsminister Antoni Macierewicz wird vorgeworfen, er hätte
verdiente und kompetente oberste Armee-Kommandeure rigoros gefeuert und durch ihm ergebene, inkompetente Offiziere ersetzt, um sich die Armee gefügig zu machen. Zwischen dem 16. November 2015 als Antoni Macierewicz das Ministerium übernahm und dem 31. Januar 2017 sind 34 Generäle und 47 Oberste aus dem Dienst ausgeschieden. Einige wegen familiären und gesundheitlichen Problemen. Einige, weil sie das Rentenalter erreicht haben. Einige, weil sie sich die Zusammenarbeit mit uns nicht vorstellen konnten, und einigen haben wir den Abschied nahegelegt. In den letzten beiden Gruppen waren ganz gewiss auch gute Fachleute mit guten Kontakten zur Nato. Doch sie haben die Zustände, die ich geschildert habe, entweder schweigend mitgetragen oder gar mitverur- sacht. Das war keine gute Empfehlung für die Zusammenarbeit mit uns. Von Inkompetenz ihrer Nachfolger kann keine Rede sein. Alle weisen die erforderlichen Qualifikationen vor, viele haben zudem Kommandeurskurse und Studiengänge in den USA und anderen Nato-Staaten belegt. Das Adjek- tiv „ergeben sein“ würde ich durch das Adjektiv „loyal“ ersetzen. Nur mit Kommandeuren, die generell unsere Vorstellungen teilen und unsere Vorhaben mittragen, können wir die Armee instand setzen und moder- nisieren. Es heißt, bei einem konventionellen Angriff auf Polen stünden rus- sische Einheiten innerhalb von 36 Stunden vor Warschau. Ja, noch vor zwei Jahren war das sehr wahrscheinlich. Unsere Landstre- itkräfte bestanden damals aus dreizehn Brigaden. Jede kann wirksam ei- nen Abschnitt von maximal fünfzehn Kilometern verteidigen. Das macht insgesamt knapp zweihundert Kilometer aus, aber unsere Ostgrenze ist tausendzweihundert Kilometer lang!
Steht die russische Armee innerhalb von zwei Tagen vor Warschau? Hinzu kommt, dass es damals auf dem riesigen Nato-Gebiet zwischen Est- land und Bulgarien, also in zehn Nato-Frontstaaten, weit und breit keine amerikanischen oder anderen westlichen Nato-Truppen gab, auβer einigen Stäben und Ausbildungszentren. Die Nato-Kampfverbände erschie- nen nur ab und an zu Übungen. Bis etwa 2010 hatte die Nato nicht ein- mal Verteidigungspläne für den östlichen Teil des Bündnisses. Unsere Nato-Mitgliedschaft war damals eine fast rein politische. Was die Tusk-Regierung hinsichtlich der Armee betrieb, war auch deswe- gen ein Spiel mit dem Feuer. Russland hat seit dem Machtantritt Putins im Jahr 2000 seine Armee völlig umgekrempelt und gewaltig moder- nisiert. Sie ist heute in der Lage, aus dem Stand, Blitzangriffe vorzunehmen und z. B. die baltischen Staaten oder Teile von Polen im Handstreich zu erobern, bevor sich die Nato für einen Gegenschlag entschließt. Und dann käme aus Moskau die Warnung, dass jeder Versuch der Nato diese Gebiete zu befreien mit einem russischen Atomschlag beantwortet werde. Man kann sich leicht vorstellen, wie westliche Politik und Öf- fentlichkeit, vor allem in Deutschland, reagieren würden: Ein Atom- krieg wegen des Baltikums oder Polens? Niemals! Lasst uns verhandeln, man muss „die legitimen Interessen Russlands berücksichtigen“ usw., usf. Wie mit der russischen Annexion der Krim, würde man sich schnell auch mit der russischen Annexion des Baltikums und/oder Polens abfind- en.
Zum Glück hat sich das seit den Nato-Gipfeln in Newport (2014) und vor allem in Warschau (2016) grundlegend geändert. US-Truppen sind in Ost- mitteleuropa, auch in Polen, stationiert und das bedeutet: ein Angriff auf Polen ist auch ein direkter Angriff auf amerikanische Stre- itkräfte. Das senkt die russische Risikobereitschaft erheblich. Nato-Gipfel in Warschau Juli 2016. Was kann und sollte Polen also im Falle eines russischen Angriffs tun? Wir müssen fähig sein den Angreifer bis zu zwei Wochen lang selbst aufzuhalten, damit die Nato-Verbündeten Zeit haben uns zur Hilfe zu kommen. Und dabei kann es sich nicht um die Verteidigung eines umzin- gelten Warschaus handeln, sondern das Ganze muss sich deutlich weiter im Osten abspielen. Schafft es der Gegner Warschau schnell zu erobern, dann kann er eine ihm genehme Regierung einsetzen und die Friedensbe- dingungen diktieren. Riskiert er langwierige Kampfhandlungen, ohne den Durchbruch zu erlangen, wächst für ihn das Risiko erheblich. Deswegen ist auch die Schaffung der Territorialverteidigung, die wir jetzt vornehmen so wichtig. Eine Armee so groß und so stark wie die russische werden wir nie haben.
Polnische Truppen im Irak. Natürlich nicht, brauchen wir auch nicht. Unsere Vorgänger haben je- doch lange Zeit behauptet, Polen muss eine reine Expeditionsarmee haben, die unsere Verbündeten in Auslandsmissionen unterstützt. Polnische Truppen in Afghanistan. So hat man das auch in Deutschland lange Zeit in Bezug auf die Bun- deswehr gesehen. Mit heute beklagenswerten Folgen für die dortige Armee. Expeditionsarmee: also kaufte man hier ein paar Hubschrauber, da ge- panzerte Patrouillenfahrzeuge usw., was man gerade im Irak, in
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