DEMOKRATISCHE SICHERHEIT FÜR EINE STARKE GESELLSCHAFT - Hans-Böckler-Stiftung
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DOSSIER Nr. 7, Juni 2020 DEMOKRATISCHE SICHERHEIT FÜR EINE STARKE GESELLSCHAFT Hilmar Höhn SICHERHEIT IN ZEITEN EINER Es ist einiges besser geworden: die Ausstattung, die Stellen und die Zusammenarbeit von Polizeien PANDEMIE über Grenzen hinweg. Aber es ist nicht alles gut. Beispiel: Die Öffnung und Einbindung der Polizei in Als die Arbeiten an dem vorliegenden Dossier im Ja- den demokratischen Alltag erleidet Rückschläge, weil nuar 2020 begonnen wurden, gab es über den Aus- Leitbildprozesse möglicherweise gut gemeint, aber bruch einer ernst zu nehmenden Grippe in der fer- an der Wirklichkeit vorbei gemacht wurden. Stattdes- nen Stadt Wuhan erste Berichte. Das schien zu- sen entwickele sich eine „Cop Culture“, die salopp nächst weit genug entfernt zu sein, um den formuliert rustikal auf Bedrohungslagen antwortet, Vorgängen wenig Beachtung zu schenken. Dennoch statt die Eskalation so lange wie möglich und am bes- war von Anfang an geplant, das Thema Sicherheit ten überhaupt zu vermeiden. nicht allein an dem konservativen Konzept „innere Die Verfassungspatriotinnen und -patrioten unter Sicherheit“ aufzuarbeiten. Denn am 13. Januar 2020 den Polizistinnen und Polizisten stellen die übergroße hatte der Innenausschuss des Bundestages sich in Mehrheit der Frau- und Mannschaft im Dienst der Si- einer Expertenanhörung mit zwei Berichten der Bun- cherheit. Aber die Vielzahl an Fällen von Rechtsextre- desregierung zur Risikoanalyse im Bevölkerungs- mismus in der Polizei lässt Jörg Radek, stellvertreten- schutz und einem Antrag der FDP zu dem Thema be- der Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP) fasst. Der Bericht offenbarte, dass sich die Vertreter im Gespräch für dieses Dossier wütend werden. „Wir von Technischem Hilfswerk und Feuerwehren oder haben einen Eid auf die Verfassung geschworen.“ Rotem Kreuz gleichermaßen über fehlende Ressour- Wer sich an den nicht mehr gebunden fühle, habe in cen beklagten. der Polizei nichts verloren. Das ähnelt der Mängelanzeige, welche die Ge- Schon früh setzte sich die GdP für eine Demokrati- werkschaft der Polizei über fast zwei Jahrzehnte der sierung der Polizei ein. Das reichte bis zum Vorschlag Politik ausstellte: zu wenig Personal, zu schlechtes einer neuen Berufsbezeichnung des Sozialingenieurs. Material. In den 1990er Jahren beispielsweise kauf- Die Recherche zeigt: Die Diskussion bewegt sich ten sich Polizisten und Polizistinnen ihre schusssi- trotz mancher Widerstände aus Teilen von Politik und cheren Westen selbst, bevor sie von alten Bleipan- Polizei unter der Überschrift bürgernaher Polizeiarbeit zern bedrückt ihren Dienst erleiden mussten. wieder Richtung Reformkurs.
INHALT Inhalt Kapitel 3 Sicherheit in Zeiten einer GdP-Vize Jörg Radek:„Das erworbene Pandemie 1 Vertrauen dürfen wir nicht verlieren“ 32 Kapitel 1 Kapitel 4 „Ohne Sicherheit ist keine Freiheit“ 3 Reformideen aus Wissenschaft, Gesellschaft und Politik für ein Humboldt im Zeugenstand 3 demokratisches Sicherheitskonzept 44 Soziale Sicherheit schafft erst einen Netzwerke gegen die Kriminalität 44 Raum der Freiheit 4 Expertinnen und Experten warnen vor „Innere Sicherheit“ und „Grundrecht auf Aktionismus 46 Sicherheit“ zwei konservative Kampfbegriffe 5 Gewerkschaften prägen Sicherheitskultur 47 Sicherheit in Zeiten von Terror 6 Die Parteien bereiten sich auf eine Sicherheit in den Zeiten von Corona 9 Sicherheitsdiskussion vor 50 Das bestimmte und unbestimmte Schlussbemerkung 53 Verhältnis von Freiheit und Sicherheit 12 Öffentliche Sicherheit auf der Höhe Wer Sicherheit „macht“ 13 des demokratischen 21. Jahrhunderts 53 Sicherheit: eine dynamische Branche 14 Bibliographie 56 Kapitel 2 Autor, Impressum 60 Kriminalität geht zurück. Die Angst vor ihr nimmt zu. 16 Im Rückwärtsgang 16 Gespaltene Wahrnehmung von Kriminalität 19 Wachsende Angst vor Kriminalität 20 Viele Opfer bringen Verbrechen nicht zur Anzeige 20 Wirkt stärkerer Zusammenhalt Kriminalität entgegen? 21 Verrohung im Kinderzimmer oder Bonuspunkte für Kopfschüsse 23 Corona-Pandemie provoziert Verschwörungstheorien 24 Verschwörung als politische Kategorie 25 Von Videoüberwachung, Präventivhaft und Bürgerwehren 27 Der lange Kampf des Kurt Gintzel für eine demokratische Kultur der Polizei 28 Selbstverständnis der Polizei auch nach 50 Jahren Reformdiskussion unentschieden 29 Leitbilder für eine demokratische Polizeiarbeit vs. Cop Culture 30 Die „innere Autonomie“ der Polizistinnen und Polizisten 30 Soziale und öffentliche Sicherheit: zwei Seiten der gleichen Medaille 31 Dossier Nr. 7, 06.2020 · Seite 2
Kapitel 1 „OHNE SICHERHEIT IST KEINE FREIHEIT“ Sicherheit ist eine zentrale Voraussetzung für eine Gesellschaft der Freien und Gleichen. Es braucht Sicherheit vor Angriffen gegen Leib, Leben und Besitz. Sicherheit ist nicht nur eine Sache von Polizei und Justiz. Frei werden die Menschen nur sein, wenn ein Sozialstaat Si- cherheit vor Not und Elend, aber auch auf Teilhabe am Haben und Sagen auf der Höhe der Zeit ermöglicht. In der Diskussion geht das eine mit dem anderen häufig nicht zusammen. „Innere Sicherheit“ gilt als Schlüsselbegriff von Parteien, welche die Idee „eines starken Staates“ vertreten. Soziale Sicherheit wiederum ist das Ziel jener, die auf ständige Verbes- serung der Arbeits- und Lebensbedingungen aus sind. Dieses Kapitel handelt von den ne- beneinanderstehenden Konzepten von Sicherheit. Es blickt zugleich auf Feuerwehren, Technische Hilfswerke und auch Krankenhäuser als Institutionen in einem umfassenden Verständnis von Sicherheit. Beschrieben wird auch, wie Polizeien, Verfassungsschutz und privates Sicherheitsgewerbe unterschiedlich an der „Produktion“ von Sicherheit beteiligt sind. Humboldt im Zeugenstand ben zu genießen“. Denn, so Humboldt weiter, „ohne Sicherheit ist keine Freiheit“. Der Mensch kann vieles aus eigener Kraft errei- Als Garanten dieser Sicherheit sah er den Staat, chen. Eines jedoch nicht: „Sicherheit“, schrieb Wil- der seine Autorität durchsetzen können müsse. helm von Humboldt in seinem Buch „Ideen zu ei- „Auch bedarf nichts so eines zwingenden Befehls nem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des und eines unbedingten Gehorsams, als die Unter- Staates zu bestimmen“, sei „das Einzige, welches nehmungen des Menschen gegen den Menschen, der Mensch mit seinen eigenen Kräften allein nicht man mag an die Abtreibung eines auswärtigen zu erlangen vermag“. Feindes, oder an Erhaltung der Sicherheit im Staa- Der preußische Aufklärer sah in seiner Früh- te selbst denken“ (Humboldt, 1851). schrift die Sicherheit als Ausgangspunkt menschli- Der vollständige Text erschien 1851 – 16 Jahre cher Existenz. nach seinem Tod. Die 1848er Revolution war gera- „Ohne Sicherheit vermag der Mensch weder de von Adel und Militär blutig niedergeschlagen seine Kräfte auszubilden noch die Frucht dersel- worden und die Gründung des zweiten deutschen Dossier Nr. 7, 06.2020 · Seite 3
Kaiserreiches im Jahr 1871 stand bevor. Der Den- Soziale Sicherheit schafft ker hatte dem preußischen Staat gedient und des- erst einen Raum der Freiheit sen Vormachtstellung in einem künftigen Deutsch- land begründet. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates muss- Humboldt hatte die Grenzen des Staates be- ten keinen totalitären Staat mehr abwehren, das schreiben wollen, weil er mit dem Absolutismus hatten die Streitkräfte der Alliierten 1945 erledigt. des späten 18. Jahrhunderts im Hader lag. Er Aber Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten schreibt über seine Ausarbeitung in einem Brief- ihre Lehre aus der Niederschlagung der 1848er Re- wechsel mit dem Naturforscher Georg Forster: volution, der Repression im Kaiserreich, dem Schei- „[...] ich bin soweit gegangen, sie (Anmerkung: die tern der Weimarer Republik und den Verbrechen Sucht zu regieren, hih) allein auf die Sicherheit ein- des Nationalsozialismus zu ziehen. Sie schafften zuschränken“ (Humboldt, 1792). Distanz zu jeder Form von Totalitarismus: Keinem Mehr als 200 Jahre nach ihrer Niederschrift wer- Menschen sollte mehr die Würde genommen wer- den seine Schriften immer noch als Waffen gegen den können. Der Staat ist für den Menschen da, Staat und Bürokratie gerichtet, als sei der demo- hieß es noch in den allerersten Entwürfen vom Her- kratische Staat unserer Zeit dem spätabsolutisti- renchiemsee. schen Regime Friedrich Wilhelm II. in irgendeiner Auch die Freiheit ist nicht einfach zu beschrän- Weise ähnlich. ken. Es bedarf erheblicher individueller Vergehen Die marktautoritär ausgerichtete Neue Zürcher oder aber einer kollektiven Bedrohung, wie wir das Zeitung (NZZ) etwa zitierte den Schriftsteller als 2020 in der Corona-Pandemie erleben. Zeugen für die Absage „auch an den alles Mannig- Allein die formale Erklärung der Freiheit begrün- faltige planierenden Maximal-Staat der Revoluti- det noch lange nicht, dass alle Menschen auch on“, wie das Blatt schreibt. Sie ruft Humboldt in gleichermaßen von ihr Gebrauch machen können. den Zeugenstand: „Der Staat enthalte sich aller Es waren im Parlamentarischen Rat von 1948/49 Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger vor allem die Sozialdemokratinnen und Sozialde- und gehe keinen Schritt weiter [...]“ (NZZ, 2007). mokraten um den Juristen Carlo Schmid, die aus Humboldt wird von interessierter Seite zum diesem Grund auf die Aufnahme des Sozialstaat- Kronzeugen des liberalen Nachtwächterstaates, sprinzips in die damals noch vorläufige Verfassung der mit Polizeigewalt und Militär die Ordnung her- der noch zu gründenden Bundesrepublik bestan- stellt, unter deren Schutz gewirtschaftet, gearbei- den. tet und gelebt wird. Mehr nicht. Artikel 20 des Grundgesetzes legt seither fest: Der Rückgriff auf ein grundsätzliches Werk aus „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokra- einer anderen Zeit verrät Bildungsbürgerlichkeit ei- tischer und sozialer Bundesstaat.“ nerseits und Sehnsucht nach einer verglichen – mit Dass sie auf diesen Artikel bestanden, hatte ei- heute unterkomplexen – Welt. Humboldt schrieb nen triftigen Grund: Der Zugang zur Freiheit ist an seine Sätze zu einer Zeit, in der es keinen allgemei- soziale Voraussetzungen geknüpft, die von der nen Wohlstand gab, weil die Menschen im Allge- Verfassung selbst nicht geschaffen werden kön- meinen arm und vielfach – als Leibeigene – recht- nen. Eine kapitalistisch organisierte Wirtschaft los waren. Die Industrialisierung hatte noch nicht bringt diese aus sich heraus auch nicht hervor. Die stattgefunden, ebenso wenig der Erste Weltkrieg, Voraussetzungen für eine Gesellschaft der Freien nicht der Nationalsozialismus, nicht der Zweite und Gleichen können allein durch eine demokrati- Weltkrieg und nicht die deutsche Teilung und ihre sche, soziale und wie wir inzwischen wissen auch Vereinigung. ökologische Ordnung von Wirtschaft, Arbeitswelt Die Beschäftigung mit Humboldts Versuch und Gesellschaft geschaffen werden. macht an dieser Stelle anders Sinn. Seine Grenzzie- Die soziale Ordnung erst ringt dem auf Un- hung kann als Ausgangspunkt einer politischen gleichheit ausgelegten kapitalistischen Wirt- Kultur gesehen werden, wo, ausgehend von immer schaftssystem jenes Maß an Sicherheit für alle anderen Realitäten, das Verhältnis von Freiheit und Menschen ab, die es ihnen ermöglicht, wie Hum- Sicherheit immer wieder neu vermessen werden boldt das formulierte, ihre „Kräfte auszubilden“ muss. und deren „Früchte zu genießen“. Dann erscheint etwa die Verfassung des 1990 Seit mehreren Generationen leben Menschen in vereinten Deutschlands, das Grundgesetz, in just unserem Land mit der Gewissheit, dass sich frei zu dieser Tradition. Ganz im Sinne von Wilhelm von entfalten nicht bedeutet, die Existenz aufs Spiel zu Humboldt hat in Deutschland jeder Mensch das setzen. Recht, sein Leben selbstbestimmt zu leben. Die Andererseits wurden die sozialen Grundrechte „freie Entfaltung“ der Persönlichkeit findet ihre nicht in der Klarheit wie in der Weimarer Reichs- Grenzen lediglich in den Rechten anderer, wie dem verfassung aufgeführt. Das Grundgesetz setzt die „Sittengesetz“, gegen die nicht verstoßen werden Standards entlang von Werten und Prinzipien, und dürfe. überlässt die Aushandlung den Akteuren in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Dossier Nr. 7, 06.2020 · Seite 4
Leistungsfähige Sozialversicherungen, Mitbestim- Seinen Ursprung habe der Begriff und das ihm zu- mung, Schutz vor willkürlicher Kündigung, Lohnfort- grunde liegende Sicherheitsverständnis „Ende der zahlung im Krankheitsfall, gleiche Bezahlung von 60er und Anfang der 70er Jahre“, schreibt der Sozi- Frauen und Männern, Mitbestimmung und wir- alwissenschaftler Bernhard Frevel in seiner Einfüh- kungsvolle Tarifverträge definieren den Raum der rung in das Thema „Innere Sicherheit“. Freiheit, den Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, „Die damalige Sicherheitsdiskussion war häufig politische Parteien oder Gerichte geschaffen haben. mit Fragen der Systemkritik an Kapitalismus, West- Er ist allerdings nicht statisch organisiert. Es bindung, Notstandsgesetzen und Sozialismus- hängt von der Klugheit der Akteure und Akteurin- furcht verbunden.“ Folglich konzentrierte sich die nen und ihrem Druckpotential ab, ihrer gesellschaft- politische Diskussion auf den Schutz des Staates lichen und politischen Mehrheitsfähigkeit, wie es gegen innere Feinde. Aus der „innerstaatlichen gelingen kann, die Balance zu verschieben. Feinderklärung“ formte sich eine Seite der Sicher- Es ist also ein auf Ausgleich angelegtes System, heitsdebatte, die bis heute die politische Agenda das die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ ermög- bestimmt. Auf die Studentenproteste folgte Terror licht. von Links und Rechts. Nicht nur die RAF nahm den „Von hier aus gesehen erzwingt die innere Ver- bewaffneten Kampf gegen die Bundesrepublik auf, bindung von Demokratie und Sozialstaatlichkeit den von Linksextremistinnen und - extremisten be- eine Interpretation des Gleichheitssatzes nicht nur gangenen Attentaten fielen 38 Menschen zum Op- im Verhältnis der Individuen, sondern auch im Ver- fer (Hürter, 2009). Heute fast vergessen sind die hältnis der sozialen Gruppen zueinander“, schreibt Aktivitäten etwa der Wehrsportgruppe Hoffmann, Wolfgang Abendroth in seinem 1954 veröffentlich- der Hepp-Kexel-Gruppe. Auch sie finanzierten ihr ten Aufsatz „Zum Begriff des demokratischen und Leben im Untergrund durch Banküberfälle und at- sozialen Rechtsstaats im Grundgesetz der Bundes- tackierten Einrichtungen der US-Armee. Der An- republik Deutschland“ (Abendroth, 1954, S. 10). schlag im Jahr 1980 auf das Münchener Oktober- fest, bei dem allein 13 Menschen getötet wurden. Der Staat rüstete auf. Die sozialliberale Koalition „Innere Sicherheit“ und „Grundrecht auf der 1970er Jahre verwandelte das Bundeskrimi- Sicherheit“ zwei konservative Kampfbegriffe nalamt in eine starke Zentralbehörde mit weitge- henden Befugnissen. Neben den Auseinandersetzungen um die soziale Doch als 20 Jahre später RAF und rechtsterro- Sicherheit hat der Streit über das richtige Maß an ristische Vereinigungen ihre Bedeutung verloren „innerer Sicherheit“ die politische Entwicklung der oder sich auflösten, trat an die Stelle des Feindbil- Bundesrepublik Deutschland geprägt. des die „organisierte Kriminalität“, die sich zum Was den Anhängern des demokratischen und „innerstaatlichen Feindbilde“ entwickelt. sozialen Fortschritts die Weiterentwicklung des Wieder wurden neue Gefährdungen von interes- Sozialstaates, ist der politischen Rechten die „inne- sierter Seite genutzt, um – im Namen der „inneren re Sicherheit“. Sicherheit“ aufs Neue Eingriffe in die geschützte Dossier Nr. 7, 06.2020 · Seite 5
Münchner Krawalle 1962 SICHERHEIT IN ZEITEN VON TERROR Das Grundgesetz ist – wenn man es aus der Pers- Im Nationalsozialismus waren die „Wehrmacht“ pektive seiner Entstehung betrachtet – auch ein als Nachfolgerin der Reichswehr sowie militärisch Lehrbuch über das Versagen von Institutionen in gedrillte Polizeibataillone unmittelbar an vielen Ver- der Weimarer Republik und dem nationalsozialisti- brechen des Nationalsozialismus beteiligt. „Bei der schen Unrechtsregime. In beiden Systemen spielte Durchführung des Holocaust spielte die Ordnungs- das Militär eine herausragende Rolle. In der Wei- polizei eine ebenso wesentliche Rolle wie die Ein- marer Republik, die nur eine bescheidene Armee satzgruppen der SS. Zur Ordnungspolizei gehörte unterhalten durfte, prägten ehemalige Offiziere die die Schutzpolizei samt den Polizeibataillonen und staatlichen Institutionen, in die sie übernommen die Gendarmerie“, schreibt der Historiker Daniel wurden. Polizisten waren zum großen Teil ehemali- Jonah Goldhagen in seinem Buch über die Deut- ge Offiziere aus der Kaiserzeit, wie der ehemalige schen als „Hitlers willige Vollstrecker“ (Goldhagen, Vorsitzende der GdP, Kurt Gintzel, in seinem Resü- 1996). mee der Entwicklung der Polizei in Deutschland In der neuen Bundesrepublik sollte eine strikte nach 1919 schreibt (Gintzel, 2013). Trennung herrschen zwischen Polizei und Armee, Die Republik war nicht unbedingt die von vielen die überhaupt erst 1955 gegründet wurde. dieser Beamten gewünschte Regierungsform. Schon die „Auftraggeber“ von Bundeswehr und Auch die Reichswehr sowie von ihr zunächst ab- Polizei unterscheiden sich. Die Gesetzgebungskom- gelöste, dann wieder integrierte Freikorps und man- petenz in Sachen äußerer Sicherheit liegt aus- che Bündnisse ehemaliger Frontsoldaten (Stahl- schließlich beim Bund – vom BKA und einigen Bun- helm und Sturmabteilung) stellten eine Gefahr für desämtern bspw. für Verfassungsschutz oder für Si- die junge Republik dar. Sie waren an der Nieder- cherheit in der Informationstechnik abgesehen. schlagung der linken Münchener Räterepublik be- Polizei ist in der Bundesrepublik Deutschland vor al- teiligt und sie waren treibende Kräfte des soge- lem Sache der Länder. nannten Kapp-Putsches. Politische Morde wie die Nur in Ausnahmefällen kann die Bundeswehr im an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, Matthias Inland zum Einsatz kommen. Und dann sind die Erzberger und Walther Rathenau gingen auf ihr Hürden auch außerordentlich hoch. Der Politikwis- Konto. Zwischen 1918 und 1922 seien 354 Men- senschaftler Wilhelm Knelangen schreibt dazu: schen durch Angehörige der Freikorps ermordet „Unter bestimmten Voraussetzungen kann die Bun- worden, heißt es in dem entsprechenden Eintrag in deswehr anderen Behörden Amtshilfe leisten und Wikipedia (Wikipedia, o. J.). die Polizei bei regionalen sowie überregionalen Na- Dossier Nr. 7, 06.2020 · Seite 6
turkatastrophen und Unglücksfällen unterstützen In einem Aufsatz schreibt Wilhelm Knelangen für (Art. 35 GG). Im Fall des Notstands, bei dem der Be- die Bundeszentrale für politische Bildung: Auf der stand oder die freiheitliche demokratische Ordnung „Ebene der Bedrohungen und Gefahren“ ver- des Bundes oder eines Landes in Gefahr ist, kann schwimme tatsächlich die Unterscheidung zwi- nach Art. 87a Abs. 4 GG die Bundeswehr als letztes schen äußerer und innerer Sicherheit. Das ist ein Mittel zur Unterstützung der Polizeikräfte eingesetzt Ergebnis der immer tieferen Integration der Bun- werden. Ausschließlich im Verteidigungsfall darf die desrepublik Deutschland in die Globalisierung. An Bundeswehr originäre polizeiliche Aufgaben wie den der Kompetenzverteilung im Inneren habe sich in Schutz ziviler Objekte oder die Verkehrsregelung Folge des 11. September 2001 wenig geändert. übernehmen (Art. 87a Abs. 3 GG).“ Wirklich wenig? Knelangen führt selbst einige In den 1990er Jahren habe, so Knelangen, eine der in den zurückliegenden 20 Jahren gegründeten Diskussion darüber begonnen, die Bundeswehr „Zentren“ auf, in denen Polizeien und Geheimdiens- auch im Inland stärker heranzuziehen. Ihren Aus- te, darunter die Bundeswehr, miteinander kooperie- gangspunkt verortet der Wissenschaftler in den ren (Knelangen, 2014). Auslandseinsätzen von Bundeswehr und Polizei in „fragilen Nachkriegsgesellschaften […] auf dem Bal- kan und später in Afghanistan“. In Afghanistan sei dann aus zwei nur zeitlich und räumlich verschränk- ten Einsätzen ein Konzept entstanden. Am Hindu- kusch „wurde die Verflechtung äußerer und innerer Sicherheit schließlich zum expliziten Programm- punkt, der Ansatz der ‚vernetzten Sicherheit‘ sieht eine enge Zusammenarbeit von Streitkräften, Poli- zei, Entwicklungspolitik und wirtschaftlicher Auf- bauhilfe vor“. Umgekehrt sei in Deutschland so argumentiert worden, dass neue Formen der Gewalt von außen – also aus regionalen Konflikten oder Bürgerkriegen ir- gendwo in der Welt – nach Deutschland hineingetra- gen werden, ohne dass „die Polizei darauf einwirken könnte“. Was die Innenpolitikerinnen und Innenpolitiker von CDU und CSU zu Bundeswehreinsätzen im In- land aufschrieben, fand keine Zustimmung bei ande- ren Parteien – die hätte es aber zu einer Zweidrittel- mehrheit gebraucht, um das Grundgesetz entspre- chend zu ändern. Auch Bundeswehrverband und Gewerkschaften lehnten den Vorstoß ebenfalls ab. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 brachten CDU und CSU erneut ihre Überlegungen vor – und scheiterten erneut. In einem Punkt folgte die rot-grüne Bundesregierung dieser Überlegung. „Die rot-grüne Bundestagsmehrheit setzte im Sep- tember 2004 eine Änderung des Luftsicherheitsge- setzes durch, das der Luftwaffe ermöglichen sollte, ein von Terroristen zur Waffe umfunktioniertes Flug- zeug abzuschießen, wenn die einzige Möglichkeit zur Abwehr der Gefahr darstellt, dass das Flugzeug ‚gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll‘.“ Das Bundesverfassungsgericht kassierte das Ge- setz Anfang 2006. Es könne keine Abwägung des Lebens der Flugzeuginsassinnen und -insassen mit dem Leben möglicher Opfer am Boden geben. Zu- dem erlaube Art. 35 GG keinen Einsatz „spezifisch militärischer Waffen“. Das Gericht rückte in einer Entscheidung sechs Jahre später vorsichtig, aber doch von dieser Linie etwas ab. Dossier Nr. 7, 06.2020 · Seite 7
Privatsphäre von Bürgerinnen und Bürgern zu schaf- schaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages zu fen. dem Stichwort Grundrecht auf Sicherheit. Der Sozialwissenschaftler Frevel weist darauf hin, Die Benutzung von Schlüsselbegriffen aus radi- dass dieser politische Begriff „in keinem Gesetz kalen Diskussionen durch demokratische Politike- rechtsverbindlich geregelt ist“. Schon gar nicht ist rinnen und Politiker kann verschiedene Funktionen „innere Sicherheit ein ausdrücklich formulierter haben: Der Akt soll Aufmerksamkeit provozieren, Staatsauftrag“. Unmut kanalisieren und mit einer eigenen Erzäh- So würden es manche jedoch gerne sehen. Im lung aufgefangen werden. Oder aber eine entspre- Bayernkurier, der früheren Parteizeitung der CSU, chend formulierte Forderung ist ernst gemeint. schrieb deren Innenpolitiker Joachim Hermann: Si- Es war der frühere Bundesinnenminister Otto cherheit sei ein „Grundrecht jedes Menschen“. Schily, der den wuchtigen Begriff des „Grundrech- Was zunächst wie eine Selbstverständlichkeit tes auf Sicherheit“ ins Zentrum der politischen De- klingt, ist eine solche und ist zugleich keine solche. batte trug. Er begründete damit kurz nach den Ter- Natürlich ist der „Schutz der Bevölkerung [...] ele- roranschlägen auf das World Trade Center sowie mentare Aufgabe des Staates“, so der Innenpolitiker auf das Pentagon eine Vielzahl von Gesetzen, die Herrmann weiter. Polizei und Verfassungsschutz mehr Möglichkeiten Was ist jedoch, wenn diese nirgends klar defi- eröffneten, den Schutzmantel von Freiheitsrechten niert ist? ein weiteres Mal zu durchbrechen. Schon vor den Anschlägen in den USA am 11. September 2001 hatte der sozialdemokratische In- nenminister einer rot-grünen Koalition immer wie- der auf schärfere Gesetze gedrängt. Sie müssen fertig in den Schubladen gelegen haben, so schnell lagen die ersten Gesetzespakete zur Beratung auf den Schreibtischen der Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Doch dazu später. An dieser Stelle geht es noch um Grundsätzli- ches. Etwa um die Frage, welche politische Dimen- sion die Formel vom „Grundrecht auf Sicherheit“ hat. Die Suche nach einer Antwort auf diese Frage führt in die einstige Bundeshauptstadt Bonn. An der dortigen Universität lehrte damals noch der konservative Staatsrechtler Josef Isensee, der bis heute „als schärfster Kritiker des Verfassungsge- richtes“ (Munzinger online, o. J.) gilt. Liberalismus und sozialstaatliche Entwicklung der Bundesrepu- blik waren ihm ein Dorn im Auge. Und so bekämpf- te und bekämpft er jede moderne Weiterentwick- lung des Rechts. Etwa, als der Bundestag 1999 die doppelte Staatsbürgerschaft ermöglichte. Da warnte der Bonner Jurist in einem Interview mit der Zeitung „Die Welt“: „Die Problematik besteht darin, dass geplant wird, durch einfachen Gesetzesbeschluss des Parlaments das deutsche Volk umzudefinieren und auf einen Schlag drei Millionen Personen als Deutsche zu bestimmen, obwohl diese sich nicht zur Gemeinschaft des deutschen Volkes, sondern zu der eines anderen, im Wesentlichen des türki- schen bekennen. Eine solche obrigkeitliche Umde- finition durch das Parlament liegt außerhalb seiner verfassungsrechtlichen Befugnisse“ (Isensee, 1999). Diese Aussage berührt nur insofern das Verhält- Das Grundgesetz schweige zu dem Thema, aber nis von Freiheit und Sicherheit, als es den Autor „aus dem Gesamtsinn der Verfassung, insbesondere und seinen Blick auf die Veränderung der Gesell- aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem Recht auf Le- schaft charakterisiert. Mit Formulierungen wie den ben und körperliche Unversehrtheit ergäbe sich eine hier gebrauchten, ist Isensee einer der intellektuel- Pflicht des Staates, für die Sicherheit seiner Bürger len Stichwortgeber der neuen extremen Rechten. zu sorgen“, heißt es in einem Aufsatz der Wissen- Im Jahre 1982 hielt der nationalkonservative Ju- Dossier Nr. 7, 06.2020 · Seite 8
rist eine Rede vor der Berliner Juristischen Gesell- schaft, in deren Verlauf er für sich in Anspruch nahm das „Grundrecht auf Sicherheit“ wiederent- deckt zu haben, heißt es in dem Bericht der Wis- senschaftlichen Dienste des Bundestages über sei- nen Vortrag. Wiederentdeckt, weil im liberalen Staatsverständnis die Bürgerinnen und Bürger vor dem Staat geschützt werden. Das verhindere je- den Versuch des Staates, Sicherheit herzustellen. Und das wiederum, so Isensee weiter, pervertiere die Grundrechte, stelle die wahre Bedrohung der Otto Schilly: Freiheit dar und könne also nicht „Grundlage staat- Politik mit licher Ordnung“ sein (Wissenschaftliche Dienste rechtem des Deutschen Bundestages, 2008). Vokabular Der in seinen Kreisen hoch angesehene Staats- rechtler hat auch nach seinem Wechsel in den Ru- 2004 blickte Blair auf seine ersten Regierungsjahre hestand die Diskussion über das Thema Sicherheit zurück. Nachdem seine Regierung junge Leute in immer weiter vorangetrieben. Dabei ging er so- die Polizei gebracht, Polizistinnen und Polizisten weit, die Legitimation demokratischer Politikerin- mit Computern und Drogentests ausgestattet und nen und Politiker infrage zu stellen. Im Zusammen- überhaupt die Gesetze gestärkt hätte, „sind wir die hang mit der großen Einwanderungswelle Mitte erste Regierung seit dem (Zweiten Welt-)Krieg, die des gerade zu Ende gegangenen Jahrzehnts sagte eine niedrigere Kriminalitätsrate präsentiert als zu er im Interview mit der Zeitschrift „Focus“: „Die Beginn der Amtszeit“ (BlairBBC, 2004). Seine Quint- Zustimmung zu dem übergreifenden Kartell der essenz: Gesetze härten, Abläufe effizienter ma- politischen Parteien und den etablierten Medien chen, Verfahren verkürzen und die Durchsetzung schrumpft generell“ (Isensee, 2016). des Rechts durch Polizei und Gerichte verbessern. Die Formulierung „Grundrecht auf Sicherheit“ Mit dieser Engführung des Sicherheitsbegriffs ist also für konservative oder inzwischen offen re- auf die Strafverfolgung nach begangenen Verbre- aktionäre Kreise viel mehr als ein Begriff in der chen leistete Blair keinen eigenen Versuch, das Si- Auseinandersetzung unter Demokratinnen und De- cherheitsthema auf progressiv-demokratische mokraten. Jene, denen eine liberale und fortschritt- Weise zu interpretieren. Er übernahm einfach das liche demokratische und soziale Entwicklung der konservative Modell der „inneren Sicherheit“. Dass Republik widerstrebt, haben aus den Formulierun- der Kampf gegen Kriminalität nicht zwingend mit gen Kampfbegriffe für die Rückkehr zu einer autori- Aufrüstung von Polizei und mit immer schärferen tären Staatsordnung geformt, die Deutschland hin- Strafen verbunden sein muss, dazu später mehr. ter die Zeit vor 1919 zurückwerfen würde. Deswegen ist es nicht unproblematisch, wenn Otto Schily, Joachim Herrmann oder andere demo- Sicherheit in den Zeiten von Corona kratische Politikerinnen oder Politiker Begriffe wie das „Grundrecht auf Sicherheit“ in die Diskussion Der Ausbruch der Corona-Pandemie hat die Dis- einstreuen oder ständig im Namen der „inneren Si- kussion über Sicherheit mit einem Schlag verscho- cherheit“ eine Waffengleichheit mit Verbrechern ben. Nicht mehr Polizei und Verfassungsschutz ste- und Verbrecherinnen und Terroristen und Terroris- hen im Frühjahr 2020 im Fokus der Sicherheitsdis- tinnen einfordern, die es nie geben kann. kussion. Es sind Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger oder Verkäuferinnen und Verkäufer in Denjenigen, die Demokratie als einen Prozess Supermärkten, die zu Heldinnen und Helden des verstehen, in dem die zunehmende Selbstbestim- Alltags geworden sind. Die Zeit der Kontaktverbote mung der Bürgerinnen und Bürger auf der Grundla- und des „Lockdown“ ist für eine Generation, die ge von Gleichheit und Solidarität gelingt, haben es weder Krieg noch Hungerjahre durchlebt hat, eine in einer seit Jahrzehnten emotional und politisch vollkommen neue existenzielle Erfahrung. aufgeladenen Debatte über das rechte Maß an „in- Dass vor allem Krankenhäuser einen solchen nerer Sicherheit“ schwer. Eine progressive Alter- Bedeutungsschub erfahren, hat festgefahrene Po- native, die nicht das Interesse des Staates vor die sitionen in Bewegung gebracht. seiner Bürgerinnen und Bürger stellt, wird es Über Jahrzehnte drehte sich die Debatte über schwer haben, sich durchzusetzen. Davon wird in die Zukunft des Gesundheitssystems um die Frage, Kapitel IV noch die Rede sein. welches Krankenhaus als nächstes geschlossen, Man kann natürlich – wie Tony Blair das in sei- wo Betten und Ärztinnen und Ärzte möglichst zu ner Regierungszeit getan hat – das konservative konzentrieren sind. Dahinter steckte die fixe Idee, Konzept der „inneren Sicherheit“ sozialdemokra- dass das System gemessen an seinen Leistungen tisch interpretieren. möglicherweise zu teuer sei. Dossier Nr. 7, 06.2020 · Seite 9
Im Auftrag der Europäischen Union untersuchten plizierter, schleichender bzw. heimlicher Rationie- die Rechnungsprüfungsämter der Mitgliedsstaaten rung“ bergen. Weiter heißt es in dem Gutachten: im vergangenen Jahrzehnt, wie zielführend die in- „Heimlich sind derartige Rationierungen, weil ab- nerhalb der EU sehr verschieden aufgestellten Ge- gesehen von spektakulären Sachverhalten die we- sundheitssysteme arbeiten. nigsten Patienten eine realistische Chance haben, Eine relevante Frage. Schließlich flossen 2017 mit zutreffendem Ergebnis kritisch zu prüfen, wel- mehr als elf Prozent des deutschen Bruttoinland- che Behandlungen [...] in ihrem Fall geboten sind.“ sproduktes ins Gesundheitssystem. Damit rangiert Die Autoren der Ärztekammer-Studie stellten sich Deutschland gemeinsam mit Frankreich an der die Frage, „ob ein Patient, dem notwendige Leis- Spitze der Gesundheitsausgaben (Bundesrech- tungen gänzlich vorenthalten werden, oder bei nungshof, 2019). dem eine Alternative mit geringeren Kosten ange- Allerdings bewegt sich Deutschland nur nah am wendet werden, obwohl das teurere Verfahren mit statistischen Mittel, wenn beispielsweise die „Rate vernünftiger Wahrscheinlichkeit einen zusätzlichen vermeidbarer Todesfälle“ für die EU ermittelt wird. Gesundheitsgewinn gebracht hätte, darüber auf- Danach hätten rund zwei von drei Menschen unter geklärt werden muss. Und wenn ja, in welcher 75 Jahren nicht sterben müssen, wenn das Ge- Weise.“ Er könnte dann wenigstens für die „aus sundheitssystem – Prävention eingeschlossen – privaten Mitteln finanzierte“ Alternative optieren optimal arbeiten könnte. In Frankreich immerhin (Bundesärztekammer, 2007). lag die Rate mit 60 Prozent immer noch hoch, aber Durch die Corona-Pandemie geraten die ent- doch deutlich besser als das östliche Nachbarland standen Missstände im deutschen Gesundheits- (Eurostat, 2019). system in den Fokus der Politik. Nicht, dass sich Die Antwort der Politik ist gemessen an dieser ein Land auf eine Krise in diesem Ausmaß je ir- Erkenntnis zweifelhaft: Krankenhäuser und Pflege- gendwie vorbereiten könnte. einrichtungen werden verkauft, geschlossen oder Die Corona-Pandemie legt jedoch schonungslos am Bedürfnis der lokalen Bevölkerung vorbei spe- die Schwächen des Systems offen. Wie könnten zialisiert. So informierte der Wissenschaftliche diese besser beschrieben sein, als durch die Kran- Dienst des Bundestages 2018 die Abgeordneten, kenhausgesellschaft selbst? In Überschriften von dass die Zahl der Krankenhäuser stetig zurückge- Pressemitteilungen, die der Verband zwischen fahren wurde. September 2019 und April 2020 veröffentlichte, Von den 2.411 Einrichtungen, die im Jahr 1991 steigt „die Zahl der unbesetzten Pflegestellen dra- betrieben wurden, waren 2016 noch 1951 übrig. matisch“, ein „Investitionsstau in deutschen Kran- Entsprechend sank auch die Zahl der verfügbaren kenhäusern“ müsse dringend von Bund und Län- Betten im gleichen Zeitraum von 666.000 auf dern angegangen werden und der Verband weist 499.000 (Wissenschaftliche Dienste des Deut- die „Einschätzung des Vorstandsvorsitzenden der schen Bundestages, 2018). Gleichzeitig fehlten Barmer (Ersatzkasse) zur Schließung von Kranken- 2018 in den Kliniken 25.000 Pflegefachkräfte und häusern“ zurück (Deutsche Krankenhausgesell- weitere 10.000 Hilfskräfte (Ärzte-Zeitung, 2018). schaft o. J.). Vielerorts wurden und werden Krankenhäuser Ähnlich wie mit dem Gesundheitssystem verhält oft an private Betreiber oder Private-Equity-Gesell- es sich mit anderen Bereichen des Katastrophen- schaften verkauft. Das Geschäft mit der Krankheit schutzes. Als 2019 in Brandenburg nach monate- verspricht stabile Umsätze. Die Gewerkschaft ver. langer Trockenheit große Waldflächen in Brand ge- di hat nachgezählt: In den Jahren 2015 bis 2017 raten waren, stellte sich die Frage, warum die Feu- wurden sechs Krankenhäuser von Investoren ge- erwehren noch immer nicht auf Löschhubschrauber kauft, zudem 26 medizinische Versorgungszent- zurückgreifen konnten. Darüber war schon länger ren, neun Rehabilitationseinrichtungen, 43 Pfle- aus Anlass vergleichbar schlimmer Waldbrände geunternehmen sowie drei Unternehmen, die kran- diskutiert worden. Aber eben nicht mehr. ke Menschen zu Hause betreuen. Gegenüber dem Zweiten Deutschen Fernsehen Wer sich erst einmal ein Krankenhaus unter den (ZDF) klagte Hartmut Ziebs, damals Vorsitzender Nagel reißen konnte, dem eröffnet sich zudem der des Deutschen Feuerwehrverbandes: „Wir setzen lukrative Markt zur Gründung medizinischer Ver- schon seit Jahrzehnten auf Löschhubschrauber, sorgungszentren (ver.di, o. J.). Aus dem öffentli- aber da haben wir Defizite. Es gibt zu wenige – zu chen Dienst Gesundheit wurde über die Jahre wenige tragfähige Hubschrauber, die nur die Bun- mehr und mehr ein Markt. deswehr vorhält“ (ZDF, 2019). 2007, als die Welle der Privatisierung ihren An- 2019 war das Jahr, in dem die öffentlichen Haus- fang genommen hatte, veröffentlichte die Bun- halte im sechsten Jahr mit einem Rekordüber- desärztekammer die Studie einer Arbeitsgruppe, schuss abschlossen und in Brandenburg rückte die sich mit den Folgen der Ökonomisierung des das Feuer gefährlich nah an Siedlungen heran. Da Medizinerberufes auseinandersetzte. „Politisch fiel auch den Verantwortlichen auf, dass die Si- oder ökonomisch gesetzte Grenzen“ für die Ausga- cherheit vielleicht nicht gut genug geordnet sein ben im Gesundheitswesen würden die Gefahr „im- könnte. Die Landesregierung handelte spät, dann Dossier Nr. 7, 06.2020 · Seite 10
aber zügig. Statt der ersehnten Löschhubschrau- ar 2020 – die Corona-Pandemie war gerade in Chi- ber versprach man eine bessere Koordination der na ausgebrochen – hatte der Innenausschuss des Arbeiten. Deutschen Bundestages Expertinnen und Exper- Bis dahin waren die Landesbranddirektoren und ten aus dem Bereich zu einer Anhörung eingela- ihre Stellvertreterinnen und Stellvertreter im Eh- den. Auf der Tagesordnung: Der „Bericht der Bun- renamt tätig, fortan sollen sie diese Aufgabe nicht desregierung zur Risikoanalyse im Bevölkerungs- neben anderen erledigen. Das „Maßnahmenpaket schutz 2017“. Ohne zu ahnen, wie knapp der Landesregierung“ sicherte die Anschaffung Deutschland bald schon an einer solchen Katastro- weiterer Fahrzeuge und entsprechender Gebäude phe vorbei schrammen werde, sagte Albrecht zu. Auch das Ehrenamt sei zu stärken. Gerade in Broemme, ehemaliger Präsident des Technischen dünn besiedelten Flächenstaaten ruht die Brandsi- Hilfswerkes, die Abwehr einer möglichen Pande- cherheit auf den Schultern engagierter Bürgerin- mie, einer „eskalierenden“ Erkrankungswelle, sei nen und Bürger. Die aber ziehen sich immer mehr eine der Schwachstellen des Zivilschutzes. zurück. In dem „Maßnahmenpaket“ wird deutlich, Sein Nachfolger erklärte, es fehlten leistungsfä- wie dramatisch dieser Rückzug aus dem Ehrenamt hige Aggregate zur Notstrom- und Trinkwasserver- ist: „So sank die Zahl der Angehörigen der Freiwil- sorgung. „Angesichts der mit dem Klimawandel ligen Feuerwehren in Brandenburg von 45.600 im zunehmenden Gefahr langanhaltender Dürreperio- Jahr 2010 auf etwa 38.400 im Jahr 2016.“ Bei an- den seien auch die Kapazitäten auf dem Feld der deren Organisationen des Katastrophenschutzes, Trinkwasserbeschaffung und -aufbereitung zu er- teilte die Landesregierung mit, sehe es kaum bes- weitern“, steht in dem Bericht auf der Seite des on- ser aus. Die Folge: „Die freiwilligen Feuerwehren, line-Dienstes des Deutschen Bundestages über die insbesondere im ländlichen Raum“ können „die Ta- Veranstaltung. geseinsatzbereitschaft mit ehrenamtlichen Ein- Und Christoph Unger, Präsident des Bundesam- satzkräften nicht verlässlich absichern“ (Landesre- tes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, gierung Brandenburg, 2018). beklagte politische Entscheidungen, „die den Er- Es ist auch nicht allein der Brandschutz in ge- fordernissen des Zivilschutzes zuwiderliefen“, fährdeten Bundesländern wie Brandenburg, die heißt es im gleichen Bericht. Was er meinte, wurde nicht angemessen ausgestattet sind. Am 13. Janu- kurze Zeit später brandaktuell: Es gebe, sagte Un- Dossier Nr. 7, 06.2020 · Seite 11
ger laut Bericht, „eine Tendenz, Krankenhauskapa- xis seinen Niederschlag findet, lohnt sich ein Blick zitäten abzubauen“. Und Frank Jörres, Katastro- zurück auf die Kontroverse, um neue Sicherheitsge- phenschutzbeauftragter des Deutschen Roten setze in den Monaten nach den Terroranschlägen Kreuzes mahnte: „Wir müssen die Krise ständig vom 9. September 2001. mitdenken“ (bundestag.de, 2020). Zur Erinnerung: Das von Innenminister Otto Schily geführte Ministerium hatte nur wenige Wo- chen gebraucht, um Kabinett und Bundestag ganze Das bestimmte und unbestimmte „Pakete“ von Gesetzen auf den Tisch zu packen. Ihr Verhältnis von Freiheit und Sicherheit Ziel: tiefe Eingriffe in Freiheitsrechte. Beispiele: – Neu eingeführt wurde die Mitgliedschaft in aus- Das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit ist kein ländischen terroristischen Vereinigungen. triviales. Der Staatsrechtler Erhard Denninger for- – Der Verfassungsschutz darf offen ermitteln, muliert es so: „Man wird kaum auf Widerspruch etwa bei Banken, Fluglinien oder Telekommuni- stoßen, wenn man behauptet, die Gewährleistung kationsunternehmen persönliche Daten abfra- von Sicherheit sei eine Voraussetzung der Freiheit. gen. Die umgekehrte Behauptung, also Freiheitsverwirk- – Die Ermittlungsrechte des Bundeskriminalamtes lichung als Voraussetzung der Sicherheitsgewähr- werden auf das Vorfeld von Straftaten ausge- leistung, klingt weit weniger selbstverständlich“. dehnt. Das Grundgesetz, so Denninger weiter, kenne Es folgten 2005 noch die Aufnahme biometrischer keine ausdrückliche Bestimmung über das Verhält- Daten in den Reisepass, das ein Jahr später vom nis von Freiheit und Sicherheit. Der Satz „Die Wür- Bundesverfassungsgericht kassierte Luftsicherheits- de des Menschen ist unantastbar“ und die Garanti- gesetz, 2006 folgte die Verpflichtung von Telekom- en der Grundrechte machten deutlich, dass die munikationsdienstleistern zur „Vorratsdatenspei- Verfassung nicht vom Staat her gedacht sei, son- cherung“. dern „von der Freiheit und dem ‚Eigenwert‘ der Ausweitung der Befugnisse der Geheimdienste, einzelnen Person ausgeht“. Der zweite Satz des Ar- Ausdehnung der Ermittlungsmöglichkeiten der Poli- tikels 1 GG definiert die Rolle des Staates: Er soll zeien, Einschränkung des Post- und Fernmeldege- diese Würde „achten“ und „schützen“. Dem Staat heimnisses – immer weitere Bereiche des Alltags sind gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern rückten in den Fokus der Fahnder und Fahnderin- durch eine klare Verteilung der Rollen klare Gren- nen. zen gesetzt: Er ist für sie da. Und nicht umgekehrt. Jutta Limbach, von 1994 bis 2002 Präsidentin Und damit hat er beispielsweise für „Schutzmaß- des Bundesverfassungsgerichts, bezieht sich in ei- nahmen gegen Angriffe durch Dritte (Kriminelle, ner von der Wochenzeitung „Die Zeit“ dokumentier- Terroristische Vereinigungen zu sorgen. ten Rede vor dem Deutschen Anwaltverein auf die So geraten Freiheit und Sicherheit in eine Balan- damalige Debatte: „Der brutale Anschlag hat eine ce. Die ist freilich nicht unveränderlich, ganz unter- weltweite Suche nach Strategien ausgelöst, die schiedliche Kräfte und Kräfteverhältnisse bestim- Akte fanatisierten Terrors künftig verhindern helfen. men sie – und Balance muss nicht heißen, dass es Das durch diese Attacken ausgelöste Entsetzen hat sich um eine ausgeglichene Balance handeln für die Tendenz empfänglich gemacht, den Stan- muss. Nach den Terroranschlägen gegen New dard des Grundrechtsschutzes im Umgang mit je- York, Nizza, Paris und Berlin habe, so Denninger, nen herabzusetzen, die man mit dem Terrorismus das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber verbunden meint“ (Limbach, 2007). die Möglichkeit zugesprochen, die „traditionellen Das war nicht leichtfertig daher gesagt. Denn der rechtsstaatlichen Bindungen des Polizeirechts je- damalige bayerische Ministerpräsident Edmund weils nach den Erkenntnissen neuartiger Gefähr- Stoiber hatte seine Zustimmung zu dem Sicherheit- dungs- und Bedrohungssituationen fortzuentwi- spaket erst für den Fall in Aussicht gestellt, dass ckeln“. Aber nicht radikal. Die Balance dürfe nur Flüchtlinge auch dann aus Deutschland ausgewie- „neu justiert, die Gewichte dürfen jedoch von ihm sen werden könnten, wenn gegen sie nur der Ver- nicht grundlegend verschoben werden“. dacht auf Mitgliedschaft in einer extremistischen Denninger: „Ähnlich wie die ‚Freiheit‘ oder ‚so- Organisation bestehe. ziale Gerechtigkeit‘ benennt ‚Sicherheit‘ ein ele- Für die Grünen, damals Regierungspartei im mentares Grundbedürfnis des Menschen, bildet Bund, konterte deren rechtspolitischer Sprecher aber keinen klar definierten [...] Begriff.“ Sicherheit Volker Beck: „Der Grund muss schon erwiesen sein, sei in sich „maß- und grenzenlos“. Der aktuelle weshalb man jemanden aus dem Lande verweist.“ US-amerikanische Präsident zeige, wie dehnbar Ein Urteil müsse allerdings nicht vorliegen, so Beck. der Sicherheitsbegriff sei, etwa als er die Einreise Doch er bestand darauf: „Es müssen Tatsachen vor- aus sieben muslimischen Staaten in die USA ver- liegen und kein Verdacht.“ Gegen diese Feststellun- bot (Denninger, 2017). gen müsse sich ein Betroffener auch wehren und Um zu verstehen, was der Verfassungsrechtler vor Gericht „nachweisen können, dass es nicht der Erhard Denninger theoretisch ausführt, in der Pra- Fall ist, was man über ihn glaubt“ (Beck, 2001). Dossier Nr. 7, 06.2020 · Seite 12
Limbach äußerte vehemente Zweifel an den da- Datenschutzmaßnahmen die Sicherheitsbehörden mals aufgelegten „Sicherheitspaketen“: „Es gibt al- gelähmt [...]. Die Folge ist mangelnde Sicherheit für lemal Grauzonen und schleichende Übergänge zum rechtschaffene Bürger und Datenschutz für Täter.“ Polizeistaat, die zu steter Wachsamkeit herausfor- Die Abwägung zwischen dem Staatsziel der Si- dern.“ Eine demokratische Kultur lebe von der Mei- cherheit und den Grundrechten wird also nicht al- nungsfreude und Furchtlosigkeit. „Diese dürfte all- lein entlang von realen Bedrohungslagen entschie- mählich verloren gehen, wenn der Staat seine Bür- den, wie Jutta Limbach in ihrem Vortrag vor dem ger biometrisch vermisst, datenmäßig durchrastert Anwaltverein deutlich machte. Sie ist mittlerweile und seine Lebensregungen elektronisch verfolgt.“ durch eine neue politische Kraft am rechten Rand Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 viel stärker eine Frage politischer Mehrheiten. und einige Krisen später haben Regierungen auch innerhalb der EU ihre Länder in die von Limbach beschriebene Grauzone zwischen Demokratie und Wer Sicherheit „macht“ autoritärem Staat und Rechtsstaat gedrängt – oder sogar überschritten. In Ungarn etwa hat Minister- Als der Philosoph John Locke seine Antwort auf die präsident Victor Orbán den Ausbruch der Coro- Frage entwickelte, was einen Staat ausmacht, was na-Pandemie genutzt, um sich von der Parlaments- ihn in seinem Innersten verbindet und was Herr- mehrheit unbefristet mit weitgehenden, parlamen- schaft rechtfertigt, entwickelte er nicht nur seine ei- tarisch unbegleiteten Sondervollmachten gene Lehre des Übergangs vom Naturzustand zu ausstatten zu lassen. Und in Polen hat das Parla- einem durch Gesellschaftsvertrag verbundenen ment auf Wunsch der Regierung ein Gesetz auf Menschen. Sein Hauptwerk handelt von „Two trea- den Weg gebracht, das geeignet ist, die Unabhän- ties of Government“. Seine erste Abhandlung gilt gigkeit der Justiz zu untergraben. Richterinnen und der Kritik einer Begründung (männlicher) Herr- Richter müssten mit Strafen bis hin zur Entlassung schaft aus einer Interpretation der Bibel. Ihr Für- rechnen, sollten sie die Entscheidungskompetenz sprecher, ein heute vergessener Sir Robert Filmer, oder Legalität eines anderen Richters oder einer „geht von einer immer schon bestehenden Herr- anderen Richterin, eines Gerichts oder einer Kam- schaftsgewalt aus“, schreibt der Politikwissen- mer infrage stellen (ARD, 2019). schaftler Henning Ottmann in seiner „Geschichte Eine Entwicklung, die auch in der politischen des politischen Denkens“. Filmer habe das Recht Landschaft in Deutschland zu finden ist. Anhänger zu herrschen vierfach begründet: „Durch Schöp- autoritärer und illiberaler Strömungen konnten als fung und Schenkung, als Herrschaft Adams über Wählerinnen und Wähler oder Mitglieder in allen Eva und als Herrschaft des Vaters über seine Kin- Parteien, insbesondere in den Volksparteien, 70 der.“ Die entscheidende Gewalt, so Ottmann, sei Jahre zusehends soziale und liberale Verfassungs- die väterliche. „Sie soll durch Erbschaft von Adam wirklichkeit überstehen. an die Monarchen gelangt sein.“ Daraus folge, Als die Partei „Alternative für Deutschland“ dass der Mensch „von Natur aus nicht frei ist“, (AfD) sich von der national-liberalen Anti-Euro-Par- fasst Ottmann Filmers Theorie zusammen. tei zur teils offen rechtsextremen Partei verwandel- Locke machte sich über die Naivität Filmers lus- te, sammelte ihre Kader dieses Spektrum ein – zum tig. Wie etwa sollte bewiesen sein, dass die Könige Teil waren diese Leute vorher ins Milieu der Nicht- von Adam abstammen und andere Männer nicht? wählerinnen und Nichtwähler abgewandert. Wieso konnten dann Frauen Königinnen sein? Und Die AfD ist mit mehr als zwölf Prozent der abge- wenn sich Herrschaft aus väterlicher Gewalt ablei- gebenen Stimmen 2017 in den 19. Deutschen Bun- tet, so müsse beachtet werden, dass Kinder ir- destag gewählt. Sie gibt sich als Partei des „star- gendwann erwachsen werden und ein eigenes Le- ken Staates“, die ihren Wählerinnen und Wählern ben führen. einen „sicherheitspolitischen Befreiungsschlag“ Dieser Ausflug zu einem bedeutungslos gewor- verspricht. denen Stück Herrschaftsbegründung ist wichtig, Von der Hierarchie, die die Verfassung vorgibt, um zu verstehen, aus welchen ideologischen Fes- hält die Partei nichts. Sie will nicht die Würde des seln die Menschen sich lösen mussten, ehe sie mit Menschen sondern „den Schutz der Bürger an ers- den Revolutionen in den USA sowie in Frankreich te Stelle zu setzen. Andere Belange“, heißt es im für die Menschheit das Reich der Freiheit schufen. Grundsatzprogramm, „haben sich dem unterzu- Locke war einer dieser Befreier, in dem er in Ab- ordnen“. (Mehr zu den Positionen der politischen grenzung zu dem Philosophen Thomas Hobbes be- Parteien siehe Kapitel II). Genau aus jenem Grund fand, dass der Mensch im Naturzustand sich gera- ist der AfD beispielsweise der Datenschutz ein de nicht im „Krieg alle gegen alle“ befindet. Dorn im Auge. Getreu der Volksweise, dass jene, Für Locke „steht die Freiheit unter dem Naturge- die sich nichts zu Schulden kommen lassen, auch setz, das für alle Menschen verbindlich ist“, so Ott- nichts zu verbergen brauchen, fordert die keines- mann. Der Staat und damit Herrschaft komme in wegs alternative Partei: „In der Vergangenheit hat der Theorie Lockes durch Zustimmung seiner Mit- ein ideologisch motiviertes übertriebenes Maß an glieder zustande (Ottmann, 2006). Dossier Nr. 7, 06.2020 · Seite 13
Locke gilt auch als einer der Begründer der Ge- schutz hat keinen Zugang zu den von der Polizei waltenteilung, wenn auch nicht in der heute für De- gewonnenen Erkenntnissen. In der Verfassung mokratien kennzeichnenden Form, so trennte er selbst ist das – entgegen verbreiteter Meinung – so (unter anderem) doch schon zwischen gesetzge- explizit nicht geregelt. „Das Bundesverfassungsge- bender und ausführender Gewalt. Er stellt die Ge- richt leitet ein Trennungsgebot aus dem Rechts- walten gegeneinander, um absolutistische oder to- staatsprinzip, dem Bundesstaatsprinzip und dem talitäre Herrschaftsausübung zu verhindern. Schutz der Grundrechte an“. Historisch betrachtet Herrschaft dient der Produktion von Sicherheit. gehe das Prinzip auf den sogenannten „Polizeibrief In einer Demokratie geht die Macht vom Volk der Alliierten“ aus dem Jahr 1949 zurück. „Darin aus. Herrschaft wird nur auf Zeit verliehen. In der hielten diese fest, dass die Bundesregierung eine „Arbeitsteilung“ zwischen Regierung, Parlament ‚Stelle zur Sammlung und Verbreitung von Aus- und Gerichten sowie die Kontrolle durch die Medi- künften über umstürzlerische, gegen die Bundesre- en kann kaum absolute Herrschaft gelingen. Das gierung gerichtete Tätigkeiten‘ einrichten darf“ (Le- verhindert auch die föderale Ordnung der Bundes- gal Tribune Online, 2019). Wörtlich heißt es in dem republik. Viele Gesetze bedürfen der Zustimmung Schreiben: „Diese Stelle soll keine Polizeibefugnis der Länder. Unterhalb der staatlichen Ebene exis- haben“ (verfassungen.de, o. J.). tieren weitere Rechtssysteme, etwa die Weiterent- Der Sozialwissenschaftler Frevel listet in seinem wicklung der Arbeitswelt durch Tarifparteien, Be- Buch „Innere Sicherheit“ auf, dass die Grenzen der triebsräte und Arbeitsgerichte. Was für die demo- Zusammenarbeit mithilfe einer ganzen Reihe „ge- kratische Organisation von Herrschaft von Vorteil meinsamer Zentren“ überbrückt werden. Aus- ist, führt mit Blick auf Strafverfolgung zu einer un- gangspunkt für Ihre Gründung „waren es [...] die übersichtlichen Landkarte der Verantwortlichkei- späteren Ermittlungserkenntnisse über in Deutsch- ten. Während Einbrecherinnen und Einbrecher oder land gelebt und studiert habende Attentäter der Terroristen und Terroristinnen sich nicht um Lan- Terroranschläge vom 11. September 2001 in New des- und Staatsgrenzen kümmern, sind Polizistin- York“, schreibt Frevel weiter. So wurde 2004 das nen und Polizisten aus Hessen bei einem Demonst- „Gemeinsame Terrorismusabwehr Zentrum“ rationseinsatz in Hamburg oder Niedersachsen ein- (GTAZ) gegründet, in dem Vertreterinnen und Ver- gesetzt, dort gilt unter Umständen ein anderes treter von Polizeien der Länder und des Bundes, Versammlungsrecht. Hinzu kommen 16 Landesäm- des Zollkriminalamtes, des Bundesamtes für Migra- ter für den Verfassungsschutz, der Auslandsge- tion und Flüchtlinge sowie der Generalbundesan- heimdienst (BND) oder der Militärische Abschirm- waltschaft zusammenarbeiten. Ebenfalls mit dem dienst (MAD). Ziel, Gefahren durch islamistische Terroristinnen Um die Verwirrung komplett zu machen: Die Po- und Terroristen abzuwehren, wurde 2007 das „Ge- lizeien sind verschieden organisiert. Mal werden sie meinsame Internet-Zentrum“ (GIZ) ins Leben geru- aus dem Innenministerium eines Bundeslandes di- fen, 2011 wurde mit dem Ziel, die innere Sicherheit rekt geführt, mal existiert eine eigenständige Lan- in der digitalen Welt zu erhöhen, ein „Nationales despolizeidirektion. Es gibt Länder, in denen Polizis- Cyber-Abwehrzentrum“ (NCAC) gegründet, 2012 tinnen und Polizisten mindestens ein Bachelor-Stu- folgt das „Gemeinsame Extremismus- und Terroris- dium an einer Hochschule absolvieren müssen. In musabwehrzentrum“ (GETZ), dessen Beschäftigte anderen Bundesländern besteht eine zweieinhalb- sich besonders mit der Gefahr auseinandersetzen jährige Berufsausbildung für Polizisten und Polizis- sollen, die von Terroristinnen und Terroristen aus tinnen im mittleren Dienst fort. dem Inland ausgeht. Daneben existieren seit 2006 Für Polizistinnen und Polizisten ist diese „hetero- das „Gemeinsame Analyse- und Strategiezentrum gene Polizeilandschaft“, wie der Sozialwissen- illegale Migration“ (GASIM) sowie das 2003 direkt schaftler Bernhard Frevel von der Fachhochschule unter dem Eindruck der Terroranschläge auf New für öffentliche Verwaltung des Landes Nord- York gegründete „Nationale Lage- und Führungs- rhein-Westfalen sie beschreibt, häufig ein Ärgernis. zentrum Sicherheit im Luftraum“ (NLFZ). Denn die Unordnung schränkt sie beispielsweise in der Wahl ihres Wohnortes ein. Die Bürgerinnen und Bürger bekommen dage- Sicherheit: eine dynamische Branche gen davon nur wenig mit. Sie haben es in der Regel gar nicht mit der Polizei zu tun, sie kennen die Frau- Sicherheit zu produzieren ist schon seit einigen en und Männer in ihren Uniformen. Die Kriminalpo- Jahren nicht mehr Sache der Regierungen und den lizei ist nahezu unbekannt – beim Publikum beliebte von ihnen beauftragten Institutionen. Zum einen, Fernsehserien und Kriminalliteratur beschreiben weil die privaten Sicherheitsbedürfnisse der Wohl- ein Zerrbild dieses Bereichs der Polizeiarbeit. habenden gewachsen sind, zum anderen, weil Poli- Eine Besonderheit der Bundesrepublik Deutsch- zei von Aufgaben abgezogen wurde, um die öffent- land ist organisatorische Trennung zwischen Poli- lichen Haushalte zu sanieren, entwickelte sich das zeien und Verfassungsschutzbehörden. Beide dür- Sicherheitsgewerbe in den vergangenen Jahrzehn- fen nicht zusammenarbeiten und der Verfassungs- ten dynamisch. Dossier Nr. 7, 06.2020 · Seite 14
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