EIN DEMOKRATISCHES GESUNDHEITSSYSTEM FÜR ALLE - Hans-Böckler-Stiftung

 
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EIN DEMOKRATISCHES GESUNDHEITSSYSTEM FÜR ALLE - Hans-Böckler-Stiftung
DOSSIER
Nr. 10, Juli 2021

EIN DEMOKRATISCHES
GESUNDHEITSSYSTEM FÜR ALLE
Investorinnen und Investoren diktieren zusehends, wie das Gesundheits­
systems funktionieren soll. Sie nutzen jede Lücke unzureichender Gesetze, um
ihre Macht auszubauen. In der Corona-Krise wurden die Ressourcen knapp.
Das System ist ausgeblutet, die Beschäftigten sind zusehends entsetzt.
Hilmar Höhn

VOM UMGANG MIT EINEM GRUNDRECHT                        Zwischen den Jahren 1999 und 2005, in denen der
                                                       Inhalt von Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz von einem
                                                       reinen Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates zu
„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche         einem Grundrecht auf Gesundheit entwickelt wurde,
Unversehrtheit.“ Artikel 2 Absatz 2 des Grundge-       machte sich die Politik in Deutschland daran, aus
setzes war 1949 keineswegs als „Grundrecht auf         dem Gesundheitswesen einen Markt zu machen.
Gesundheit“ verfasst worden. Im Gegenteil: Er          Krankenhäuser gingen an Investoren und Investorin-
diente der Abwehr von Ein- und Angriffen auf Leib      nen. Sie nutzten diese unter anderem als Vehikel,
und Leben, wie im Nationalsozialismus geschehen.       um Arztpraxen und Versorgungszentren zu kaufen.
In sieben Jahrzehnten seit seinem Beschluss hat        Über Standorte von Augenkliniken entscheidet in
das Grundgesetz manche Änderung erfahren. Eini-        der Konsequenz nicht mehr die Kassenärztliche Ver-
ges wurde gestrichen, anderes hinzugefügt und ei-      einigung, sondern die Stiftung der in die Schweiz
nige Passagen wurden neu interpretiert. 1981 „dis-     ausgewanderten Kaffeeröster-Familie Jacobs.
tanzierte sich das Bundesverfassungsgericht von           Dass die Verhältnisse sich so entwickelt haben,
einem zu engen Verständnis“ des Artikels 2 und         auch dass ein Drittel der Männer aus armen Ver-
schloss, so der Staatsrechtler Christian Pestalozza,   hältnissen vor Erreichen ihres 65. Geburtstages
„psychische, seelische Unversehrtheit und das ‚so-     versterben, im Mittel keine 57 gesunden Jahre vor
ziale Wohlbefinden‘ ein“. 1999 ging das Gericht ei-    sich haben, während ihre vermögenden Altersge-
nen Schritt weiter, so der Rechtwissenschaftler.       nossen Jahrzehnte länger ihr Leben (gesund) genie-
Und zwar indem sie einem Kläger den Zugang zu          ßen können, ist in der Öffentlichkeit nicht präsent.
einer Therapie ermöglichten, wenn mit ihrer Hilfe         Mit den Zahlen und Fakten zu diesen beiden
das Leben verlängert, „mindestens aber nicht un-       Themen und den Fragen, wie ins Lot gebracht wer-
wesentliche Minderung des Leidens verbunden            den kann, was dem Markt überlassen wurde und
ist“. In einer nächsten Entscheidung von 2005 habe     wie mehr gesundheitliche Gleichheit möglich ist,
sich das Gericht noch weiter vorgewagt und Tod-        beschäftigt sich dieses Dossier. Und es geht der
kranken den Zugang zu „von ihm selbst gewählten,       Frage nach, was aus der Corona-Krise für die Zu-
ärztlich angewandten Behandlungsmethoden“ ge-          kunft eines demokratischen Gesundheitswesens zu
währt (Pestalozza, 2007).                              lernen ist.
EIN DEMOKRATISCHES GESUNDHEITSSYSTEM FÜR ALLE - Hans-Böckler-Stiftung
INHALT

                        Vom Umgang mit einem Grundrecht                1    Kapitel 2                                   44
                                                                            Armut macht krank – Krankheit macht Armut   44
                        Kapitel 1                                       3   Einkommen entscheidet über
                        Das kranke System der Gesundheit                3   Lebenserwartung                             44
                        Warteschleifen bis zur Operation                3   Gespaltene Städte                           46
                        Treibt die Alterung der Gesellschaft                Neun Gründe für ein zu kurzes Leben         48
                        den Preis für Gesundheit?                       5   „Gesundheitliche Ungleichheit“ wird
                        Das Gesundheitssystem: 370 Milliarden               gemacht                                     50
                        Kosten oder 678 Milliarden Umsatz? –                Vorzeitige Sterblichkeit ist erblich        51
                        Zwei Sichtweisen                                7     Bernhard Winter, VdÄÄ:
                             Finanzierungsströme im Gesundheitswesen   8    „Frohlockt haben wir damals nicht“          52
                        Investorinnen und Investoren steckten
                        zuerst im Osten der Republik ihre Claims ab    10   Kapitel 3                                   58
                          Knut Lambertin, AOK: „Es ist alles noch           Fazit – Die Lehre aus der Corona-Pandemie
                        viel verzwickter“                              12   oder Pflaster reichen nicht mehr            58
                        Eine gescheiterte Finanzpolitik öffnet
                        Investorinnen und Investoren den Markt
                                                                            Bibliographie                               64
                        in den Westen der Republik                     17
                                                                            Autor                                       68
                        Auf dem Weg in eine inhumane Medizin           18
                             Renditenjäger im Krankenhaus              25
                        Warum Kliniken bei Zahnarzt-Investorinnen und
                        -Investoren so beliebt sind                   26
                             Von Dänemark lernen?                      30
                        Auswege aus der Misere                         32
                          Sylvia Bühler, ver.di: „Immer mehr
                        erkennen, dass sie mit noch so großem
                        persönlichem Einsatz die Fehler im System
                        nicht ausgleichen können“                      37

Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 2
EIN DEMOKRATISCHES GESUNDHEITSSYSTEM FÜR ALLE - Hans-Böckler-Stiftung
Kapitel 1
DAS KRANKE SYSTEM DER GESUNDHEIT
Geht es um Gesundheit, geht es um Millionen Schicksale. Und um Milliarden Euro. Arbeit­
nehmerinnen, Arbeitnehmer und Arbeitgeber zahlen Beiträge an Krankenversicherungen,
Patientinnen und Patienten bezahlen einzelne medizinische eistungen selbst, zahlen in der
Apotheke zu. Auch ein Teil der Steuereinnahmen landet als Zuschüsse im Gesundheitssys­
tem. 2019 kursierten 372 Milliarden Euro im System. 7,5 Millionen Menschen verdienen
sich mit ihrer Arbeit an der Gesundheit ihr Leben. Jeder sechste Arbeitsplatz hängt in
Deutschland mittlerweile an unserer Gesundheit, hier wird jeder achte Euro des Bruttoin­
landsprodukts verdient (BMWi, 2020).
Akteure schier ohne Zahl sind an dem System beteiligt, die sich engagieren, wenn die See­
le einen Knacks hat, die Menschheit der Schnupfen plagt, die Herzen von Millionen nicht
mehr so wollen, wie sie sollen oder nach dem Ski-Urlaub das Bein gebrochen ist. Von der
Bekämpfung der Corona-Pandemie ganz zu schweigen.

Warteschleifen bis zur Operation                     der in die Mühlen eines schlecht organisierten Sys-
                                                     tems gerät:
Das Gesundheitswesen, dem die Deutschen ihr Le-         Der Patient hatte alles richtig gemacht, er war
ben anvertrauen, ist jedoch selbst krank. Auch       wegen Unterleibsschmerzen zunächst beim Haus-
ohne den Corona-Stresstest 2020/21 war es schon      arzt vorstellig geworden. Der schickte ihn zum
malad. Fast jedes zweite Krankenhaus erwirtschaf-    Facharzt und dieser drückte ihm eine Überweisung
tet Verluste (Bundesrechnungshof, 2020), in einer    für das Klinikum in die Hand. Diagnose: akute
ökonomisierten Welt fast ein Todesurteil. Und nie-   Blinddarmentzündung. Muss dringend operiert
mand weiß wirklich um den Nutzen von Zahnspan-       werden.
gen (ContactComittee, 2019), Ärztinnen und Ärzte        In der Notaufnahme angekommen geriet der
arbeiten aneinander vorbei. Und ganz nebenbei        Mann trotz akuter Schmerzen in eine bizarre War-
verdienen Konzerne zweistellige Umsatzrenditen.      teschleife: Ein Arzt in der Ambulanz untersuchte
Wie so vieles andere auch steht das Gesundheits-     ihn erneut, so ein Facharzt könne ja viel aufschrei-
system an einem Kipppunkt: Gewinnt in den kom-       ben, ließ der Weißkittel seinen Kranken wissen. Er
menden Jahren der Markt und damit das Geschäft       betastete ihn, verabreichte ihm ein Klistier, schließ-
mit der Krankheit? Und so kann es einem ergehen,     lich hätte es ja sein können, dass der Patient ledig-

                                                                                                    Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 3
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lich unter Verstopfung leide. Fehlanzeige, es war
                                                                               wirklich der Blinddarm.
                                                                                  Dann verschwand der Arzt. Der Patient blieb al-
                                                                               lein mit seinen Schmerzen in der Ambulanz zurück.
                                                                               Bis der nächste Heilkünstler erschien. „Ich wurde
                                                                               wieder untersucht, man erklärte mir, es habe leider
                                                                               keine Übergabe gegeben.“ Wieder musste Ver-
                                                                               stopfung ausgeschlossen werden. Wieder blieb er
                                                                               allein zurück. Wartezeit mit entzündetem Blind-
                                                                               darm: „Insgesamt viereinhalb Stunden“. Dann
                                                                               habe er einen zufällig vorbeikommenden Arzt an-
                                                                               gesprochen. „Der stellte sich dann als Oberarzt he-
                                                                               raus. Er meinte, alles täte ihm schrecklich leid, er
                                                                               habe aber von seinen beiden Kollegen keine Unter-
                                                                               lagen bekommen.“ Es folgte die dritte Untersu-
                                                                               chung im Krankenhaus. „Dann hieß es: Das ist ja
                                                                               akut, eine halbe später war der OP-Termin.“
                                                                                  Der Mann, der hier in ein System organisierter
                                                                               Verantwortungslosigkeit geraten war, heißt Knut
                                    DAS KLINIKUM ERNST VON                     Lambertin. Der Vorgang liegt lange zurück. Inzwi-
                                    BERGMANN, GESCHICHTE                       schen ist Lambertin alternierender Vorsitzender
                                                                               des Aufsichtsrates des Bundesverbandes der All-
                                    EINES SKANDALS                             gemeinen Ortskrankenkassen. Zwar treibt ihn nach
                                                                               wie vor die Frage um, wer solche auch heute gar
                         Das Klinikum Ernst von Bergmann ist eng ge-           nicht so seltenen Fälle wie den seinen bezahlt und
                         fasst ein Klinikum mit 1.100 Betten, das in 29 Kli-   ob es gerecht zugeht im Gesundheitswesen. Aber
                         niken und Fachbereichen „ein umfassendes me-          im Grundsatz ist er von „unserem Gesundheitssys-
                         dizinische Leistungsspektrum“ anbietet. Eigent-       tem“ überzeugt. „Man kann ohne Portemonnaie
                         lich handelt es sich beim „EvB“ genannten             zum Arzt gehen.“ Die Fehler seien nicht strukturel-
                         Klinikum jedoch um eine ganze Firmengruppe.           ler Art, hätten schon gar nichts mit dem solidari-
                         Dazu gehören kleine Kliniken in der brandenbur-       schen Prinzip der Sozialversicherungen zu tun. An
                         gischen Provinz, Medizinische Versorgungszent-        den engagierten Beschäftigten jedenfalls liege es
                         ren, Polikliniken und Ambulatorien sowie medizi-      nicht. „Es sind Folgen einer falschen Politik.“
                         nische Betreuung für Obdachlose und Jugendhil-           Von der Politik im Gesundheitswesen und ihren
                         fe, kurzum, es handelt es um einen kleinen            Folgen wird in diesem Kapitel die Rede sein. Im Fo-
                         medizinischen Mischkonzern.                           kus: die Krankenhäuser in Deutschland. Laut Sta-
                            Der für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet        tistischem Bundesamt gab es 2020 noch fast 2.000
                         ist. Etwa von der Zeitschrift Focus als „Top nati-    Kliniken, in denen 19,4 Millionen Menschen behan-
                         onales Krankenhaus 2021“, von der Wirtschafts-        delt wurden. Fast 110 Milliarden Euro setzen die
                         woche als „wertvoller Arbeitgeber für das Ge-         Kliniken um. Das ist fast ein Drittel der Ausgaben
                         meinwohl“ oder als eine von Deutschlands bes-         im Gesundheitssystem.
                         ten Kliniken, wie das Handelsblatt 2019 urteilte.        Knapp 38 Prozent derjenigen, die als Patientin-
                            Doch als das Corona-Virus sich auch in dem         nen und Patienten ein Krankenhaus von innen zu
                         nach dem Chirurgen Ernst von Bergmann (1836 -         sehen bekommen, werden dort operiert. Geschnip-
                         1907) ausbreitete, kam heraus, dass der Glanz         pelt wird vor allem am Darm. Es folgen Eingriffe an
                         der Auszeichnungen und des großen Namens-             den Gallengängen und das Einsetzen von Hüftpro-
                         gebers dem Stresstest nicht standhielt. Der Aus-      thesen (Statistisches Bundesamt, 2020 (1)). An ers-
                         bruch geriet schnell außer Kontrolle. Die Stadt       ter Stelle in der Behandlungsliste stehen Krankhei-
                         Potsdam setzte daraufhin eine Expertenkommis-         ten des Kreislaufsystems gefolgt von der Heilung
                         sion ein. Ihr Auftrag: Herauszufinden, warum es       von Verletzungen, Vergiftungen und „Folgen äuße-
                         diesen Ausbruch geben konnte und welche               rer Ursachen“ wie Knochenbrüchen, so die Sach-
                         Schlussfolgerungen daraus zu ziehen seien.            verständigen zur Begutachtung der Entwicklung
                            Das Fazit der Kommission in einem Satz:            im Gesundheitswesen in ihrem 2018 veröffentlich-
                         „Eine langfristige strategische Zielplanung           ten Gutachten (Sachverständigenrat zur Begutach-
                         ist nicht erkennbar. In der Konzernstrategie          tung der Entwicklung im Gesundheitswesen,
                         ist eine sichere Patientenversorgung als Leit-        2018).
                         motiv nicht verankert.“                                  Wer als Notfall in eine Klinik eingeliefert wird,
                            Das Gutachten der Expertenkommission wird          hat allen Anlass zur Besorgnis. Die Herausgeber
                         in diesem Dossier in Kästen auszugsweise abge-        des Qualitätsmonitors 2020 für das Gesundheits-
                         bildet.                                               wesen bilanzieren nach Vorlage ihres Berichtes:

Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 4
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„Die Notfallversorgung ist in Deutschland stark         notwendige Ausstattung und Expertise zu verfü-
durch eine sektorale Trennung gekennzeichnet, an        gen“. Leistungen würden möglicherweise „unter-
der insbesondere ambulant tätige Ärzte, der Ret-        halb einer empirisch ableitbaren kritischen Menge
tungsdienst und die Krankenhäuser teilnehmen.“          erbracht“ (Sachverständigenrat zur Begutachtung
Gemeint ist, dass die verschiedenen Ebenen nicht        der Entwicklung im Gesundheitswesen, 2018).
so zusammenarbeiten, wie sie sollten. Es herrsche       Kurzum: Wer Pech hat und mit seinen Beschwer-
Mangel, so die Herausgeber in ihrem Vorwort, „an        den im falschen Krankenhaus landet, bekommt
der zeitgemäßen Nutzung digitaler Technologien          nicht die Behandlung, die sie oder er eigentlich
zur Prozessverbesserung“. Es gebe kaum Transpa-         braucht.
renz über die Prozesse, Patientinnen und Patienten         Wie sieht die Zukunft des heute mit vielen sei-
würden „suboptimal“ durchs System gesteuert,            ner Aufgaben überforderte, zugleich in Teilen un-
Notfälle würden teilweise „in Kliniken mit inad-        terfinanzierte Gesundheitssystems aus? Eine der
äquaten Behandlungsstrukturen versorgt werden“          Kernfragen lautet: Treibt die Alterung der Gesell-
(Dormann et al., 2020).                                 schaft den Preis für Gesundheit?
   Wer nicht als Notfall, sondern geplant und mit
Überweisung in stationäre Behandlung gerät, hat
ebenfalls Grund zur Sorge. Der Bundesrechnungs-         1.2 Treibt die Alterung der Gesellschaft den
hof kommt 2020 in einem Bericht an den Haus-            Preis für Gesundheit?
haltsausschuss des Bundestages zu dem Ergebnis:
„Die Folge ist eine Krankenhausstruktur, die nicht      Einen Hinweis auf die Zukunft von Kliniken im Be-
nur chronisch unterfinanziert, sondern seit Jahren      sonderen und das Gesundheitssystem im Allgemei-
in weiten Teilen ineffizient ist: Es bestehen Doppel-   nen gibt die fortschreitende Alterung der Gesell-
strukturen und es gibt zu wenig Spezialisierung.        schaft und deren Folgen für das Gesundheitswe-
Krankenhäuser der Grund- und Regelversorgung            sen.
nehmen komplexe Eingriffe vor, die spezialisierten         Es erscheint einleuchtend: Je mehr ältere Men-
Kliniken vorbehalten sein sollten. Das Potenzial für    schen in einem Land leben, um so höher werden
ambulante Behandlungen wird nicht ausgeschöpft.         auch die Ausgaben für Gesundheit steigen –
Zudem bleiben offene Stellen für ärztliches und         schließlich werden alte Frauen und Männer häufi-
pflegerisches Personal häufig unbesetzt“ (Bundes-       ger und schwerer krank als ihre Zeitgenossinnen
rechnungshof, 2020).                                    und Zeitgenossen im Kindheits- oder Erwerbsalter.
   Und die Gesundheitssachverständigen urteilten           In ihrem Gutachten von 2018 haben die Sach-
in ihrem Bericht von 2018: „Die deutsche Kranken-       verständigen im Gesundheitswesen durchbuch-
hauslandschaft ist durch eine überproportional          stabiert, wie Alterung und Gesundheitsausgaben
hohe Anzahl von kleinen und mittleren Kranken-          miteinander verbunden sind. Im Jahr 2016 hätten
häusern gekennzeichnet“. Das führe dazu, dass           die gesetzlichen Kassen für eine 25 Jahre junge
viele Kliniken „hochkomplexe Leistungen erbrin-         Frau 4,29 Euro täglich zu kalkulieren gehabt, für
gen, ohne über die für eine angemessene Qualität        Männer gleichen Alters waren es sogar nur 2,61

                                                                                                    Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 5
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Euro. Im Alter von 60 kalkulierten die Sozialen Ge-   Einzelne Bundesländer wie Schleswig-Holstein
                          sundheitsversicherungen mit einem Tagessatz von       oder Sachsen-Anhalt, aus denen derzeit die Jugend
                          8,39 Euro je Frau und 9,53 Euro je Mann. Der Peak     auf der Suche nach besseren beruflichen Perspekti-
                          der Ausgaben ist bei den 85-Jährigen mit fast 19      ven fortzieht, werden von der Entwicklung beson-
                          Euro für Frauen und mehr als 21 Euro für ihre männ-   ders betroffen sein.
                          lichen Altersgenossen erreicht.                          Im hohen Norden könnte das Verhältnis zwi-
                             Eine alternde Gesellschaft hat theoretisch viele   schen Hochbetagten und Erwerbstätigen in 15
                          Möglichkeiten, mit dieser Entwicklung umzugehen.      Jahren bei 9,4, in Sachsen-Anhalt bei fast 11
                          Die erste Variante scheidet im demokratischen und     Prozent angekommen sein.
                          sozialen Rechtsstaat aus: Sie senkt die Standards        Freilich altert eine neue Generation der Alten
                          im Gesundheitswesen vorrangig für ältere Men-         heraus, die sich zu einem großen Teil bewusster
                          schen. Vorschläge etwa zur Rationierung von           ernähren, die mehr Sport machen und sich da-
                          „Hüftgelenken für 85-Jährige auf Kosten der Soli-     bei von allerlei Gesundheits-Apps noch in den
                          dargemeinschaft“ belebten auch in Deutschland         Wellness-Urlaub verfolgen lassen. Mit allerlei
                          vor mehr als zwei Jahrzehnten die politische Debat-   Pülverchen und Tinkturen behandeln sie zwar
                          te. Doch aus ihnen folgte – zum Glück – nichts.       nicht die unweigerlichen Gebrechen des Alters,
                             Die zweite Variante besteht darin, die Effizienz   beruhigen aber die besorgte Psyche älter Wer-
                          und Qualität im Gesundheitssystem zu erhöhen.         dender.
                          Und drittens können die Beiträge angehoben wer-          Jenseits der 370 Milliarden Euro, die als Bei-
                          den.                                                  träge und Steuergelder für Gesundheit ausgege-
                             Die Sachverständigen haben nun ihrer Kalkulati-    ben werden, gibt es noch einen höchst dynami-
                          on verschiedene Szenarien aus der Bevölkerungs-       schen grauen Markt gegen Gebrechen. Mit einer
                          vorausberechnung des Statistischen Bundesamtes        jahresdurchschnittlichen Wachstumsrate von
                          zu Grunde gelegt. Ergebnis: „Im Jahr 2035 werden      6,8 Prozent zwischen 2000 und 2019 sei dies ge-
                          im Vergleich zum Jahr 2015 fast doppelt so viele      radezu ein „Wachstumstreiber“ der Gesund-
                          Hochbetagte den Personen im Erwerbsalter gegen-       heitswirtschaft gewesen, schreiben die Sach-
                          überstehen“ (Sachverständigenrat zur Begutach-        verständigen.
                          tung der Entwicklung im Gesundheitswesen, 2018).         Freilich werden mehr Alte mehr krank sein
                          Nach dieser Rechnung lag das Verhältnis von Hoch-     und damit werden steigende Kosten einherge-
                          betagten zu Erwerbstätigen zum Zeitpunkt der Ab-      hen. Ob es jedoch legitim ist, einfach die wach-
                          fassung des Berichtes bei 4,5 Prozent, bis 2035       sende Zahl alter Menschen mit den heute gel-
                          werde es auf acht Prozent oder sogar mehr gestie-     tenden Altersfaktoren zu multiplizieren, darüber
                          gen sein.                                             streiten die Expertinnen und Experten.

Abb. 1 Altersausgabeprofile der Leistungsausgaben ohne Krankengeld pro Versichertentag der GKV für das Jahr 2018

Angaben in Euro je Versicherungstag

25

20

15

10

 5

 0
     0       5       10      15       20   25   30   35   40   45    50    55    60   65    70    75    80     85   90   95   >99

           Männer
           Frauen

Quelle: svr-Gesundheit, Gutachten 2018

Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 6
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Beschäftigt haben sich mit dieser Frage die Ge-
sundheitsökonomen David Bowles und Wolfgang                       GESCHICHTE EINES
Greiner von der Universität Bielefeld. In einem 2012
                                                                  SKANDALS (1)
veröffentlichten Aufsatz skizzieren sie zwei sich wi-
dersprechende Thesen. Die Hypothese von der             Der Auftrag an die Geschäftsführung ist
Kompression der Morbidität besagt, dass „die kom-       durch wirtschaftliche Interessen dominiert.
menden Generationen an älteren Menschen im                 Im Beschluss der SVV werden konkrete Um-
Durchschnitt gesünder sind als die vorangegange-        satzrenditen gefordert (8%). Einsparungen im
nen“. Das würde bedeuten, dass die Alten von mor-       Personal- und Sachkostenbereich in Millionen-
gen das Gesundheitssystem weniger und kürzer            schritten sollen bei gleichzeitiger Leistungser-
beanspruchen.                                           weiterung erreicht werden.
   Demgegenüber stehe die Hypothese von der                Zudem fordert die Stadt Gewinnabführungen
Expansion der Morbidität. Sie geht davon aus,           für soziale und gesundheitliche Aufgaben der
dass die „Menschen mehr Lebenszeit im Zustand           Stadt. Der Gesellschafter erwartet von der Ge-
gesundheitlicher Beeinträchtigung verbringen“, da       schäftsführung, Umsätze zu generieren, Gewin-
Krankheiten zeitlich unverändert auftreten, im Al-      ne zu erzielen und diese wenn möglich an den
ter oft nicht mehr richtig kuriert, sondern chro-       Gesellschafter abzuführen.
nisch würden.                                              Die Geschäftsführung wird also vorrangig an
   Der Versuch, die eine oder andere Hypothese zu       der wirtschaftlichen Performance gemessen.
verifizieren, führte, so die beiden Autoren, zu         Ein Blick auf die Unterlagen und die Auswertung
nichts. Für beide Annahmen gibt es Erkenntnisse         der Gespräche zeigen, dass die Qualität einer si-
aus der Forschung, die sie stützen bzw. widerspre-      cheren Patientenversorgung zunehmend aus
chen (Bowles/Greiner, 2012).                            dem Blick geraten ist (vgl. dazu auch 3.1.2 bis
   Auch spätere Studien ergaben kein eindeutiges        3.1.7).
Bild. Die Wissenschaftlerinnen Janina Frank und            Eine langfristige strategische Zielplanung ist
Birgit Babitsch werteten eine bundesweit reprä-         nicht erkennbar. In der Konzernstrategie ist eine
sentative Stichprobe aus Versicherten im Renten-        sichere Patientenversorgung als Leitmotiv nicht
alter der Jahre 2007 sowie 2014 aus, um im Ver-         verankert.
gleich der beiden Jahre Klarheit in das strittige          Der Konzernausbau erfolgte, soweit erkenn-
Thema zu bringen. Doch auch sie kamen nach              bar, ohne vorherigen Businessplan oder einer
Auswertung von mehr als 1,7 Millionen (2007) bzw.       langfristigen Ziel- und Strategieplanung. Offen-
3,2 Millionen (2014) Patientendaten zu keinem ein-      bar wurde der Expansionskurs als einzig mögli-
deutigen Ergebnis: Zum einen sei der Anteil der         che Option zur Rentabilitätssteigerung gesehen.
Menschen mit mehreren Erkrankungen gegenüber               Auffällig ist, das mit der Wachstumsstrategie
chronisch Kranken und anderen Versicherten ge-          verbundene Risiken für die Versorgungsqualität
stiegen. Eine Analyse nach Untergruppen habe            in der Auseinandersetzung kaum eine Rolle spie-
aber zugleich gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit      len (z. B. die Risiken von Informationsverlusten
zu erkranken rückläufig sei. „Anhand der vorlie-        durch neu geschaffene Schnittstellen zu der
genden Ergebnisse kann die Frage nach dem Zu-           ausgegliederten Servicegesellschaft).
treffen der Morbiditätsexpansion bzw. -kompressi-          Die Qualität der Kernprozesse für die Patien-
on in der ambulanten Versorgung nicht eindeutig         tenversorgung liegt eher im blinden Fleck. Ein
festgestellt werden“ (Frank/Babitsch, 2018).            diesbezügliches Zielbild für den Daseinszweck
   So gerne Politik, Gesundheitskassen und die am       des kommunalen Hauses und damit verbundene
Gesundheitssystem beteiligte Zivilgesellschaft in       Werte werden vom Gesellschafter weder vorge-
die kommenden Jahrzehnte planen würde, die              geben noch gemeinschaftlich mit der Geschäfts-
Auskunft aus der Wissenschaft ist: Es geht nicht.       führung entwickelt.
Man muss sich für ein Modell entscheiden, dem je-
doch eine Alternative gegenübersteht.
   Das ist anders als bei der Rentenversicherung,       Pflege und Gesundheitstechnik und ihre Wirkun-
bei der die Parameter recht klar auf dem Tisch lie-     gen auf die Gesundheit der Bevölkerung seien
gen (abgesehen von der Entwicklung von Produkti-        gleichfalls zu berücksichtigen – und nicht wirklich
vität und Einkommen als Einnahmebasis). Ausge-          kalkulierbar.
rechnet im Milliardenmarkt Gesundheitswesen ge-
lingt bestenfalls ein Fahren auf Sicht.
   Die Forscher Bowles und Greiner warnen gene-         1.3 Das Gesundheitssystem: 370 Milliarden
rell vor einer Verengung der Debatte über Gesund-       Kosten oder 678 Milliarden Umsatz? –
heitsausgaben auf die Alterung und die damit ver-       Zwei Sichtweisen
bundenen Effekte: Sie sei nur „einer von vielen
Faktoren“. Die Entwicklung von Bildung, Einkom-         An Prognosen im politischen Raum hat es dennoch
men, Innovationen im Bereich von Behandlung,            keinen Mangel. Unter anderem fordert die Europäi-

                                                                                                     Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 7
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FINANZIERUNGSSTRÖME IM GESUNDHEITSWESEN
                         Das Robert Koch Institut ist in der Corona-Krise zu                      derem eine Übersicht über die Finanzierungsströ-
                         einiger Berühmtheit erlangt. Die wenigsten Bun-                          me im Gesundheitswesen auf Basis der Zahlen von
                         desbürgerinnen und Bundesbürger wussten vor                              2013.
                         Ausbruch der Pandemie um die Existenz dieses In-                            Die Abbildung 2 zeigt, dass die Haushalte noch
                         stituts im Geschäftsbereich des Bundesgesund-                            nur mit ihren Beiträgen in die verschiedenen Sozi-
                         heitsministeriums. Zu seinen „Kernaufgaben“ ge-                          alversicherungen das finanzielle Rückgrat des Ge-
                         hören „die Erkennung, Verhütung und Bekämp-                              sundheitswesens sind. In vielen Fällen müssen sie
                         fung von Krankheiten, insbesondere der                                   bei Behandlungen und Rezepten zuzahlen. Oder sie
                         Infektionskrankheiten“ (RKI, 2021).                                      investieren freiwillig in ihre Gesundheit.
                            Das – wenn man so will – Gesundheitsamt des                              Über die öffentlichen Haushalte, die mit Zu-
                         Bundes ist neben seinem operativen Teil auch für                         schüssen etwa für versicherungsfremde Leistun-
                         die Gesundheitsberichterstattung des Bundes zu-                          gen an der Finanzierung der Sozialversicherungen
                         ständig. In seinem Report über „Gesundheit in                            beteiligt sind, übernehmen die privaten Haushalte
                         Deutschland 2015“ erstellte das Institut unter an-                       als Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zusätzlich

                          Abbildung 2 Finanzierungsströme im Gesundheitswesen in MRD. Euro

                                                                                  Öffentliche und                 Private Haushalte und private Organisationen
                                          Öffentliche Haushalte 68,6
                                                                             private Arbeitgeber 165,5                     ohne Erwerbszweck 198,4

                                    1,4            36,1           31,1        13,5         47,7            94,4                    153,0                45,3

                                                                            Finanzierung der Versicherungsleistungen                          278,6
                                                                            Gesundheitsausgaben/erweiterter Leistungsbereich
                                                                            Gesetzliche Krankenversicherung                                   192,6
                                                                            Soziale Pflegeversicherung                                        22,5
                                                                            Gesetzliche Rentenversicherung                                    22,5
                                                                            Gesetzliche Unfallversicherung                                    8,6
                                                                            Private Krankenversicherung                                       30,4

                                                                                           33,1                         245,5

                                                                             Laufende Gesundheitsausgaben                                      308,5
                                                                             Prävention/Gesundheitsschutz                                      10,9
                                                                             Ärztliche Leistungen                                              87,9
                                                                             Pflegerische/therapeutsche Leistungen                             79,5
                                                                             Unterkunft/Verpflegung                                            25,6
                                                                             Waren                                                             83,5
                                                                             Transporte                                                        5,9
                                                                             Verwaltungsleistungen                                             15,3
                                                                             Erweiterter Leistungsbereich                                      31,9
                                           Einkommens-
                                          leistungen 82,2                    Ausbildung                                                        1,7
                                                                             Forschung                                                         4,0
                                                                             Ausgleich krankheitsbedingter Folgen                              19,8
                                                                             Investitionen                                                     6,5

                                                                                      Private Haushalte 422,5

                          Quelle: Statistisches Bundesamt 2015, eigene Berechnungen

Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 8
EIN DEMOKRATISCHES GESUNDHEITSSYSTEM FÜR ALLE - Hans-Böckler-Stiftung
sche Union solche Voraussagen ein. Dabei erfüllt
                                                                              sie ihre „Wächterrolle“ aus der Zeit, in der ihr mark-
                                                                              tradikales Grundgerüst geschmiedet wurde. So
die Verantwortung dafür, dass Krankenhäuser be-                               misst die Europäische Union, wie „großzügig“
trieben werden können, Ärztinnen und Ärzte eine                               etwa öffentliche Haushalte und Kassen, kurzum
wirtschaftliche Existenzgrundlage haben oder ge-                              alle Daseinsvorsorgen, seien. Eines dieses aus der
heilten Schwerkranken mit Hilfe von Förderpro-                                Vergangenheit des Marktradikalismus überlebten
grammen ein Weg zurück in die Arbeitswelt geeb-                               Reliktes, sind Stabilitätsprogramme. Regierungen
net wird. 2013 flossen mehr als 82 Milliarden Euro                            müssen „nach Brüssel“ berichten, wie sich Ausga-
in Einkommen, die in der Branche verdient wurden,                             ben und Einnahmen aus Steuern, Beiträgen, Ge-
245 Milliarden Euro deckten laufende Gesund-                                  bühren und Krediten Jahr um Jahr entwickelt ha-
heitsausgaben wie die Aufwände für Behandlun-                                 ben.
gen, Pflege oder Investitionen der Branche (RKI,                                  Es sind die Finanzministerien der Mitgliedsstaa-
2015).                                                                        ten, die für diese Berichterstattung zuständig sind.
    Abbildung 3 gibt Auskunft über die Krankenhäu-                            In Deutschland ist es das Bundesfinanzministeri-
ser als der mit Abstand teuerste Bereich im Ge-                               um.
sundheitswesen. Ein Viertel aller Ausgaben fließt                                 Und das beauftragte 2016 ausgerechnet das
den Kliniken zu. Arztpraxen und Apotheken rangie-                             marktradikale Kieler Institut für Weltwirtschaft
ren fast gleichauf mit etwa einem Sechstel am                                 (IfW) mit der Zuarbeit für den noch aktuellen „Trag-
Umsatz auf Platz zwei. Pflege und Zahnärzte teilen                            fähigkeitsbericht“ über das Gesundheitswesen ge-
sich mit ungefähr acht Prozent ein immer noch be-                             genüber der EU.
achtliches Stück am milliardenschweren Kuchen.                                    Bis 2060, so die 2016 angestellte Modellrech-
                                                                              nung, erwarte man ein Anstieg der Ausgaben um
                                                                              0,3 bis 0,8 Prozentpunkte des Bruttoinlandspro-
                                                                              duktes (BIP). Schon jetzt, so der Befund, sei das
                                                                              System unterfinanziert und durch „Fehl-, Unter-
Abb. 3 Gesundheitsausgaben als Anteil der Gesamt­                             und Überversorgung“ der Versicherten geprägt.
ausgaben für Gesundheit: Einrichtungen                                        Dagegen helfe nur „verstärkter Wettbewerb“, so
                                                                              die Kieler. „Um Effizienz- und Effektivitätsgewinne
                                                                              bei hoher Qualität der medizinischen Versorgung
                                       1,8
                               0,5        0,6                                 zu realisieren wird u. a. empfohlen, den Wettbe-
                             3,2
                                                                              werb zwischen den Akteuren im Gesundheitssek-
               1,3    5,3                                                     tor durch mehr Vertragsfreiheit zu intensivieren“
                                                      14,9
                                                                              (Bundesfinanzministerium, 2017).
                                                                                  Schon der Begriff der „Tragfähigkeit“ signali-
             8,7
                                                                              siert den ideologischen Hintergrund der Methode:
                                                                              Wolfgang Schäuble, unter dessen Regie das Gut-
       2,7                                                      7,4
                                                                              achten zum Bericht in Auftrag gegeben wurde, ist
                                                                              schon seit Jahrzehnten davon überzeugt, dass der
                                                                    3,7       Sozialstaat ausufernd sei und eine umfassende so-
                                                                              ziale Sicherung schlecht für Bürgerinnen und Bür-
                                                                              ger sei.
                                                             13,3                 In seinem, Mitte der 1990er Jahre erschienen
             25,9
                                                                              Buch „Und der Zukunft zugewandt“, schrieb er, er
                                                                              sei fest davon überzeugt, „dass eine Vielzahl unse-
                                                5,9                           rer Sozialleistungen auch eine demotivierende und
                                     5,1
                                                                              damit zukunftsfeindliche Wirkung habe“ (Schäub-
                                                                              le, 1994). Demotivierend, weil Bezieher von Sozial-
                                                                              leistungen sich als Kostgänger des Staates be-
   Gesundheitsschutz                                                          quem einrichten könnten. Und zukunftsfeindlich,
                                           Vorsorge-/Rehabilitations­
   Arztpraxen                                                                 weil die Sozialausgaben Gesellschaft, Sozialversi-
                                           einrichtungen
   Zahnarztpraxen                                                             cherungen und Staat wirtschaftlich überforderten.
                                           Stationäre/teilstationäre Pflege
   Praxen sonstiger medizinischer                                                 Die These, der Sozialstaat sei eine zu große Last
                                           Rettungsdienste
   Berufe
                                           Verwaltung                         für die Wirtschaft und produziere Abhängigkeit,
   Apotheken
                                           Sonstige Einrichtungen und         statt Menschen zur Arbeit zu zwingen, gehört zum
   Gesundheitshandwerk/-einzel-
                                           private Haushalte
   handel                                                                     festen Kanon der von Marktradikalen und Konser-
                                           Ausland
   Ambulenta Pflege                                                           vativen vorgetragenen Kritik.
                                           Investitionen
   Krankenhäuser                                                                  Dies sei allerdings ganz falsch, wie das an sich
                                                                              dem Markt zugewandte Bundeswirtschafts­
Quelle: Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2018
                                                                              ministerium in seiner Berichterstattung über die

                                                                                                                             Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 9
EIN DEMOKRATISCHES GESUNDHEITSSYSTEM FÜR ALLE - Hans-Böckler-Stiftung
Abrechnung einer Physiotherapeutin oder eines
                                     GESCHICHTE EINES                         Physiotherapeuten. Die mehr als sieben Millionen
                                                                              Beschäftigten im Gesundheitswesen zahlen ihrer-
                                     SKANDALS (2)                             seits direkte und indirekte Steuern und Sozialabga-
                                                                              ben, erwerben langlebige Wirtschaftsgüter und
                         Systematische Ausgrenzung von Wider-                 konsumieren. Es winken hoch attraktive Geschäf-
                         spruch und wichtiger Fachexpertise                   te. Kein Wunder, dass die ab den 1980er Jahren
                            Die beschriebene strategische Ausrichtung         auftretenden aggressiven Investorinnen und Inves-
                         und die formellen Organisations- und Manage-         toren Wege fanden, sich einen immer größeren
                         mentstrukturen prägen auch die informellen           Teil vom Kuchen zu sichern.
                         Verhaltensmuster, also die Unternehmenskultur.
                         Die Machtkonzentration an der Spitze, die Ab-
                         hängigkeit von informellen Entscheidungswe-          1.4 Investorinnen und Investoren steckten zu-
                         gen und die schwache Mitbestimmung entmu-            erst im Osten der Republik ihre Claims ab
                         tigt eine Kultur der informierten Entscheidung
                         (ein „Speaking up“) und begünstigt einseitige        Die dreistelligen Milliardenbeträge, die durch das
                         Entscheidungen.                                      Gesundheitssystem geschleust werden, haben
                            In den Gesprächen mit Mitarbeitenden wir die      schon früh private Financiers auf den Plan gerufen.
                         Geschäftsführung einerseits als visionär, zu-        Wobei ein Teil des Gesundheitswesens traditionell
                         kunftsgerichtet und mitreißend beschrieben,          privatwirtschaftlich organisiert war. Niedergelasse-
                         aber auch als arrogant, dominant, keinen echten      ne Fachärztinnen und Fachärzte gehörten in West-
                         Widerstand erlaubend und zum Micromanage-            deutschland seit 1949 dem Kreis der Freiberuflerin-
                         ment neigend. Die medizinischen Leitungsfunk-        nen und Freiberufler an, die ihren Arbeitsmarkt zu-
                         tionen werden als schwach erlegt, wenn es um         sätzlich zu den hohen fachlichen Anforderungen an
                         hausweite Fragen geht. Formell wir dies geför-       die Berufsausübung durch Kammern, Verbände
                         dert durch personelle Engpässe und der Beset-        und andere Zusammenschlüsse stramm organisier-
                         zung von Stellen mit Persönlichkeiten, von de-       ten haben. Weil der Zugang beschränkt ist und Nie-
                         nen wenig Opposition zu erwarten ist. Führungs-      derlassungssitze an den Ort der Berufsausübung
                         kräfte mit einer anderen, starken Meinung            gebunden sind, ließ sich rechtfertigen, dass sich je-
                         verlassen nach und nach das Haus und so              ner Teil des öffentlichen Gesundheitsauftrages
                         kommt es langfristig zu einem Abfluss notwen-        auch privatwirtschaftlich organisieren ließ. Wenn
                         diger Fachexpertise. Dieses generelle Muster         in Hannover kein Sitz frei war oder wurde, mussten
                         zeigt sich in den im Nachgang beschriebenen          Ärztinnen und Ärzte auch das flache Land bedienen
                         geringen Stellenwert der Hygiene, des klini-         - wollten sie selbstständig sein.
                         schen Risikomanagements, des Arbeitsschutzes            Ganz anders war die ärztliche Versorgung in der
                         und auch des Umgangs mit der Pflege.                 Deutschen Demokratischen Republik aufgebaut.
                                                                              Der Auftrag der Gesundheitsversorgung der Bevöl-
                        Branche der „Gesundheitswirtschaft“ notiert hat.      kerung war weitgehend öffentlicher Dienst. Ärztin-
                        In dem Bericht für das Jahr 2019 wird nicht nur da-   nen und Ärzte waren mit weiteren Mitgliedern von
                        rauf verwiesen, dass mittlerweile „jeder 8. Euro      Heilberufen und einer Apotheke in Polikliniken an-
                        Bruttowertschöpfung“ in derselben generiert wird,     gestellt. Die waren Anlaufstelle für Kranke in Städ-
                        außerdem entstehen „mit jedem produzierten Euro       ten und organisierten über kleinere Ambulatorien
                        in der Gesundheitswirtschaft 0,82 Euro zusätzliche    die Gesundheitsversorgung des ländlichen Rau-
                        Wertschöpfung. So hinterlassen 372 Milliarden         mes. Den Polikliniken waren alle anderen fachme-
                        Euro, die ins Gesundheitssystem fließen, „einen       dizinischen Einrichtungen der Region unterstellt.
                        ökonomischen Fußabdruck von 678 Milliarden            „Den Polikliniken war also ein fester Bereich zuge-
                        Euro“. Das ist mehr als ein Sechstel des Bruttoin-    teilt, den sie betreuen sollten“, resümierte 2009 die
                        landsprodukts.                                        Ärztezeitung die „Prinzipien, Finanzierung und Or-
                           Seit 2010 stieg der Umsatz in der Kernbranche      ganisation des Gesundheitswesens“. Dabei ging es
                        um knapp 114 auf 372 Milliarden Euro – ein Plus       nicht nur um die Koordination in der Fläche. Die
                        von mehr als vier Prozent per anno. Damit lag die     Ärztinnen und Ärzte der Polikliniken sollten ihre Pa-
                        Dynamik der Gesundheitsbranche über der Wachs-        tientinnen und Patienten auch während der Kran-
                        tumsrate des Bruttoinlandsprodukts. Zwölf Pro-        kenhausaufenthalte betreuen. Ein interessanter
                        zent betrug der Anteil an der Wertschöpfung 2019.     Gedanke. Doch der Aufwand war zu groß, das Sys-
                        Am Beginn des Jahrzehnts waren es nur 11,2 Pro-       tem war unterfinanziert und litt unter Personal-
                        zent gewesen.                                         mangel – viele Ärztinnen und Ärzte nutzten jede
                           Ausgaben im Gesundheitswesen zahlen eben           Möglichkeit zur Flucht nach Westdeutschland. Die
                        auch direkt in die Volkswirtschaft wieder ein. Ob     Kommunikation zwischen Poliklinik und Kranken-
                        als Fallpauschale für eine Behandlung im Kranken-     haus sei „auf lange Sicht organisatorisch nicht
                        haus, eine Orthese aus dem Sanitätshaus oder die      möglich gewesen“ (Ärztezeitung, 2009).

Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 10
Tabelle 1: Klinikketten Umsatz/Rendite

Klinikbetreiber                                                       Umsatz/EBIT (Mio. €)

                                        2015                  2016                 2017             2018             2019
Helios                            5.578/640               5.843/682          8.668/1.052     8.993 /1.052      9.234/1.015
Rhön                                1.108/93               1.176/97            1.211/39         1.233/65          1.304/57
Asklepios                         3.082/249               3.211/264           3.262/257        3.408/244         3.537/241
Sana                                   2.323              2.404/136           2.573/140        2.703/147         2.841/105

Quelle: Geschäftsberichte der aufgeführten Unternehmen.

Dem Gesundheitssystem DDR kommt für die wei-                           Dienst der Gesundheit. „Als die DDR vom Westen
tere Entwicklung der gesamtdeutschen Ordnung                           übernommen wurde, wurden dort viele Kliniken zu
und die medizinische Versorgung nach 1990 eine                         Sanierungsfällen, die Kommunen hatten nicht die
besondere Bedeutung zu, wie überhaupt im Zuge                          Kraft, sie zu erhalten“, erinnert er sich in einem Ge-
der eiligen Vereinigung der beiden deutschen Staa-                     spräch für dieses Dossier.
ten sich für Investorinnen und Inverstoren allerlei                       Ein Blick in Untersuchungen über die Kliniken in
Okkasionen darboten, wie etwa der Ausverkauf                           der Wendezeit zeigt: Viele Kommunen wollten ein-
kommunaler Wohnungen.                                                  fach keine Kliniken mehr betreiben.
   Der Mediziner Rainer Erices und die Medizinerin                        Die 36 Kommunen, die „insgesamt 59 ambulan-
Antje Gumz erinnerten in einem Beitrag zum 25.                         te Einrichtungen weiterführen wollen, konzentrie-
Jahrestag der Vereinigung an die Lage des                              ren sich vor allem auf die Länder Brandenburg und
DDR-Gesundheitssystems in seiner Endphase. Un-                         Sachsen“, so der Sozialwissenschaftler Klaus Ho-
ter Berufung auf Lageberichte des Ministeriums                         femann. In Thüringen und Sachsen-Anhalt wollte
für Staatssicherheit schreiben die beiden, die „ma-                    nur eine kleine Minderheit am System der Ambula-
teriell-technische wie personelle Versorgung sei                       torien festhalten. Den meisten Kommunen konnte
als unzureichend wahrgenommen worden, die                              es mit der Schließung nicht schnell genug gehen,
Pharmaindustrie galt bis in Staatskreise als veral-                    die fünfährige Bestandsgarantie erwies sich als
tet“, Produkte Made in GDR galten als „‚kaum ein-                      trügerisch. Fast 70 Prozent der Kommunen gaben
setzbar‘, ‚wir sind teilweise völlig abhängig vom                      an, „ihre Einrichtungen noch im Jahr 1991 zu
NSW (Nicht sozialistisches Wirtschaftsgebiet‘.“                        schließen“, so Hofemann in einer Auswertung ei-
Ärztinnen und Ärzte stellten zu Hunderten Ausrei-                      ner Befragung. „In ca. 20 Prozent der Fälle werden
seanträge, allein im Bezirk Erfurt habe es 315                         die Ambulatorien bzw. Polikliniken zu privaten
„Übersiedlungsersuchende in den Einrichtungen                          Ärztehäusern umfunktioniert.“ In den verbliebenen
des Gesundheitswesens“ gegeben. Es herrschte                           Einrichtungen blieben oft nur die älteren Kollegin-
nicht nur Ärztemangel, auch Pflegekräfte wurden                        nen und Kollegen zurück, für die die Niederlassung
rar, die Rede vom Pflegenotstand habe die Runde                        als Selbstständige nicht mehr lohnte. Es waren, so
gemacht (Erices/Gumz, 2014). Die Ressourcen wa-                        Hofemann, vom Gesundheitssystem nach Mona-
ren so knapp, dass im Gesundheitssystem der DDR                        ten „nur Fragmente übriggeblieben“. Am 1. April
1989 300 Millionen Mark hätten eingespart wer-                         1992 waren 89 Prozent der Ärztinnen und Ärzte in
den müssen. Wenn da die DDR nicht ohnehin in                           den fünf noch neuen Bundesländern „in eigener
die Knie gegangen wäre.                                                Praxis niedergelassen“ (Hofemann, 1993).
   Als die beiden deutschen Staaten im Herbst                             VdÄÄ-Vorsitzender Winter: „Dann wurden die
1990 vereinigt wurden, war das Gesundheitssys-                         Schleusen geöffnet und private Investoren wurden
tem des Ostens pleite, personell ausgeblutet und                       eingeladen, das große Geschäft zu machen.“
wissenschaftlich nicht auf dem Stand der Zeit aus-                        Den Krankenhäusern ging es kaum besser. In ei-
gebildet. Die 626 Polikliniken, 1.020 Ambulatorien                     nem 2009 erschienen Beitrag blickte der damalige
und 1635 staatliche Arztpraxen hatten in der Welt                      Bereichsleiter Gesundheit, soziale Dienste, Wohl-
der D-Mark keine Zukunft.                                              fahrt und Kirchen der vereinten Dienstleistungsge-
   Polikliniken und Ambulatorien erhielten jedoch                      werkschaft, Niko Stumpfögger auf die Zeit der Ver-
eine fünfjährige Bestandsgarantie, schreibt Philipp                    einigung zurück: „Vor dem Hintergrund der Staats-
Manow-Borgwardt in einer Rückschau auf die Ver-                        wirtschaft in der DDR waren Kommunal-
einigung der Gesundheitssysteme (Manow-Borg-                           politikerinnen und -politiker in Ostdeutschland ih-
wardt, 1993).                                                          ren Kommunalunternehmen oft weniger verbun-
   Bernhard Winter ist einer der fünf Vorsitzenden                     den als im Westen.“ In den 1990er-Jahren wurde
des Verbandes demokratischer Ärztinnen und Ärz-                        in den ostdeutschen Bundesländern privatisiert,
te (VdÄÄ), und seit mehr als vier Jahrzehnten im                       was das Zeug hielt. Private Investoren griffen gie-

                                                                                                                     Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 11
„ES IST ALLES NOCH VIEL VERZWICKTER“

                         Die Leiden des Gesundheitssystems sind Jahre, oft Jahrzehnte alt. In der Sprache der Medizin
                         könnte man sagen, sie sind chronisch. Und sie sind politisch gemacht. Es fehlt allerdings der
                         Mut, offen einzugestehen, was falsch läuft, weil eine echte Reformen Milliarden kosten würde.
                         Beispiel: Investitionen in Kliniken. Eigentlich sind dafür die Bundesländer zuständig. „Jede und
                         jeder, der mit dem deutschen Krankenhauswesen vertraut ist, weiß, dass die Länder ihrer Ver-
                         pflichtung, die Investitionskosten der Krankenhäuser auskömmlich zu finanzieren, nicht nach-
                         kommen“, sagt Knut Lambertin, alternierender Vorsitzender des Aufsichtsrates des AOK-Bun-
                         desverbandes“ und Experte für Gesundheitspolitik beim DGB-Bundesvorstand. Seine Bilanz über
                         ein nach seinen Worten großartiges System: „Da bleibt dir nur Sarkasmus.“

                         Hilmar Höhn: Wenn man die Stellungnahmen                Qualität in der stationären Behandlung und Versor-
                         einiger Verbänden und Kammern liest, beginnt            gung von Patientinnen und Patienten. Über die
                         das Übel im Gesundheitswesen vor 20 Jahren.             Qualität der Arbeit der niedergelassenen Ärztinnen
                         Du überblickst das Themenfeld Gesundheit nun            und Ärzte wissen wir fast gar nichts. Es gibt zwar
                         schon viele Jahre. Würdest Du sagen, dass da-           auch über deren Arbeit Studien. Aber aus Fachma-
                         mals die Welt noch in Ordnung war?                      gazinen wissen wir, dass die Leitlinien angemesse-
                                                                                 ner Versorgung im Bereich der niedergelassenen
                         Knut Lambertin: Nein, das war sie natürlich nicht.      Ärzte oft keine Anwendung finden.
                         Die Mängel im System sind eigentlich viel älter. Um
                         ein Beispiel zu nennen: Der Sachverständigenrat         Dossier: Wie kann das sein?
                         Gesundheitswesen schreibt in jedem seiner großen
                         Gutachten sehr detailliert auf, dass die Schnittstel-   Lambertin: Dafür gibt es mannigfaltige Gründe.
                         len zwischen ambulanter und stationärer Versor-         Ein Beispiel: Wenn man pro Quartal und Patient be-
                         gung nicht funktionieren, dass folglich die Grenzen     zahlt wird, ist es für den Arzt als Unternehmer un-
                         zwischen den beiden Welten aufgehoben werden            günstig, wenn er zu viel Zeit pro Patient einsetzt.
                         müssten. Obwohl also alle, die sich ernsthaft mit       Das schmälert seinen Gewinn. Aufbessern kann sie
                         den notwendigen Reformen rund um Ärzte, Pflege,         oder er das Einkommen, in dem Leistungen ver-
                         Kliniken und Reha beschäftigen, wissen, was schie-      schrieben werden, welche die Kassen nicht bezah-
                         fläuft, ändert sich dort nichts Wesentliches.           len. Viele Ärztinnen und Ärzte lügen ihre Patienten
                          Eine der Ursachen: Wir wissen relativ viel über die    an und reden ihnen ein, dass die Kassen bestimmte

Dossier Nr. 10,
            5, 01.2020
                07.2021· ·Seite
                           Seite1212
„NACH DER SARS-COV-1-PANDEMIE LAGEN DIE
                                  NOTFALLPLÄNE AUF DEM TISCH. “

notwendige Leistungen nicht mehr bezahlen. Da-       scheint schon groß, die Ungleichheit über das Wis-
her müsse diese oder jene Behandlung privat getra-   sen von der Gesundheit zu nutzen, um mehr Geld
gen werden. Wie soll der Patient und medizinische    zu machen. Patientinnen und Patienten müssen
Laie da widersprechen? Viele Leute fallen darauf     einfach ihrem Arzt vertrauen. Aber es gibt ja Be-
herein. Woher sollen sie auch wissen, dass der Ge-   wertungsportale im Internet über die Arbeit von
meinsame Bundesausschuss definiert, dass medi-       Ärztinnen und Ärzte. Da kann sich jeder und jede
zinisch notwendige Leistungen auch von den soli-     informieren.
darischen Krankenkassen bezahlt werden.
                                                     Dossier: Lass uns über Krankenhäuser und Kli-
Dossier: Sind Ärzte, die sich Zeit nehmen für        nikkonzerne, über Private Equity Fonds und Me-
ihre Patientinnen und Patienten, die Ausnah-         dizinische Versorgungszentren sprechen. Ge-
me?                                                  gen diesen Milliardenmarkt sind die niederge-
                                                     lassenen Ärzte doch kleine Fische. Das
Lambertin: Kann ich nicht sagen. Ich kann es kon-    Gesundheitssystem hat mit der Corona-Pande-
kret für das Centrum für Gesundheit der AOK Nor-     mie einen Stresstest erlebt. Welche Konsequen-
dost sagen. Das ist ein Medizinisches Versorgungs-   zen sind mitten in der zweiten Welle klar er-
zentrum mit angestellten Ärzten. Die drehen die      kennbar?
Ärzte den Leuten keine IGeL-Leistungen an. Punkt.
Die verkaufen ihre Leute nicht für dumm.             Lambertin: Ich fange mal da an, wo keiner daran
Die zweite Lüge, die sicher die meisten Patientin-   denkt. Wir haben alle die Bilder von Intensivstatio-
nen und Patienten schon zu hören bekommen ha-        nen vor Augen, wo Menschen liegen und beatmet
ben, ist die vom erschöpften Budget am Ende des      werden. Ich setze beim öffentlichen Gesundheits-
Quartals. Dann kriegt man einfach keinen Termin      dienst an, der über die Jahre kaputtgespart wurde.
mehr.                                                Die Gesundheitsämter waren ja in der Krise über-
                                                     haupt nur handlungsfähig, weil in der Spitze bis zu
Dossier: Es gibt diese Budgets doch seit Jahren      800 Beschäftigte aus den medizinischen Diensten
nicht mehr …                                         der Krankenkassen dorthin entsandt worden sind.
                                                     Wie kann das eigentlich sein, dass im 21. Jahrhun-
Lambertin: Genau. Das heißt, der Arzt, der dich      dert die Haushalte von Bund und Ländern im Plus
abwimmelt, bekommt nicht kein Geld für eine Be-      waren und die Gesundheitsämter Schwindsucht
handlung, sondern weniger. Aber er wird bezahlt.     hatten?
Und sie haben alle ein gutes Auskommen. Nur
wenn sie clever rechnen, dann wissen sie, wann sie   Dossier: Dann kommt die Krise und der Schre-
den Break-Even-Point je Quartal erreicht haben –     cken ist groß.
und danach werden die Menschen gerne so abge-
speist.                                              Lambertin: Und dann muss auch noch die Bundes-
                                                     wehr helfen. Es sind ja nicht nur die Gesundheits-
Dossier: Wenn ich mir einen Fernseher kaufe          ämter. Es sind die Schulen, die Straßen, die Polizei,
und der stellt sich ein Vierteljahr später als       der Katastrophenschutz. Alle öffentlichen Bereiche
Schrott heraus, kann ich ihn zurückbringen. Au-      sind total unterfinanziert. Die Belastungsgrenze der
ßerdem könnte ich mich vor dem Kauf bei der          Beschäftigten im öffentlichen Dienst ist längst
Stiftung Warentest über Fernseher informieren.       überschritten und die all der Menschen, die von der
So können Verbraucher, ohne Experten zu sein,        Arbeit dieser Dienste abhängig sind, im Grunde
am Markt selbstbewusst auftreten. Eine ärztli-       auch.
che Leistung kann ich nicht zurückgeben, die         Dabei lagen nach der Sars-Cov1- und der Vogel-
bekannten Ärztevergleichsportale haben mit           grippe-Pandemie, die 2003 glimpflich verlief, die
sorgfältigen Studien nichts gemein. Kann man         Notfallpläne auf dem Tisch. Aus denen ging hervor,
Gesundheit als Gut überhaupt dem Markt über-         wie wichtig ein funktionierender Gesundheitsdienst
lassen?                                              ist. Aber die schwarze Null war wichtiger. Das ist
                                                     aus meiner Sicht einfach nur unverantwortlich.
Lambertin: Niemand will behaupten, dass in einer     Selbst als 2020 klar wurde, wie gefährlich Covid-19
Situation von Angebot und Nachfrage ethisches        für den Menschen ist, wurden die Pläne nicht aus
Handeln nicht möglich wäre. Aber die Verführung      der Schublade geholt.

                                                                                                   Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 13
Dossier: Und was könnte man darin lesen?                das Geld für Großgeräte, Um- und Anbauten ausge-
                                                                                geben wird, ist es nicht für Ärztinnen, Ärzte und
                        Lambertin: Dass ein Katastrophenfall nicht vorher-      Pflegekräfte da.
                        sehbar ist, aber eingeplant werden muss. Dass be-       Das Dumme ist: Diejenigen, die es wissen, wie zum
                        stimmte Aufgaben durch Bund, Länder und Kom-            Beispiel ich, können nicht vor Gericht klagen. Dieje-
                        munen erfüllt werden müssen. Dass die dafür not-        nigen, die klagen könnten, trauen sich nicht. Tat-
                        wendigen Infrastrukturen zur Verfügung stehen           sächlich geht der Investitionsstau in die zig Milliar-
                        und Maßnahmen eingeleitet werden müssen. Die            den – und jedes Jahr kommen etwa drei Milliarden
                        Erkenntnis ist nicht neu. Aber die Schlussfolgerun-     hinzu!
                        gen passen weder ins Bild von ausgeglichenen
                        Staatshaushalten noch von einem auf ökonomi-            Dossier: Also führt die Verzwergung des Ge-
                        sche Effizienz getrimmten Gesundheitssystems. Es        sundheitswesens zu einem Markt in Verbin-
                        müssen nämlich Kapazitäten vorgehalten werden,          dung mit dem Wahn der „schwarzen Null“ un-
                        auch wenn sie nicht genutzt werden. Eigentlich          ter dem Strich dazu, dass Kranke nicht die Be-
                        müsste das eine verbreitete Einsicht sein. Schließ-     handlung bekommen, für die sie ihre Beiträge
                        lich halten Krankenhäuser OP-Säle bereit, auch          bezahlen. Sie bezahlen den Konzernen Gewin-
                        wenn die nicht dauernd „in Betrieb“ sind.               ne, sie bezahlen Steuern für Investitionen in
                                                                                Krankenhäuser, doch die Länder sparen sich die
                        Dossier: Und nun waren die nicht in ausreichen-         Investitionen. Und dann merken Patientinnen
                        der Zahl vorhanden.                                     und Patienten auf der Station, dass die Pflege-
                                                                                kräfte arbeiten bis zum Umfallen.
                        Lambertin: Es ist alles noch etwas verzwickter, es
                        wurden dann ja Kapazitäten geschaffen, Kliniken         Lambertin: Und dann wird auch noch behauptet,
                        bekamen Prämien dafür, dass sie Betten bereithiel-      die Kranken seien Kunden. Mit Kunden macht man
                        ten. Manche Kliniken waren überbelegt, rasselten        Geschäfte. Aus meiner Sicht aber sind in einer Sozi-
                        ins Minus. Andere standen leer und machten dank         alversicherung Versicherte keine Kunden, sondern
                        der Prämien Gewinn. Augenscheinlich waren wir           Mitglieder einer Solidargemeinschaft. Als solche
                        nicht gut vorbereitet.                                  haben sie etwas Besseres verdient, als die Behand-
                                                                                lung, die sie derzeit vielfach bekommen.
                        Dossier: Was steht denn eigentlich nun in den
                        Krankenhausplanungen drin, welche die Länder            Dossier: Die Zeitschrift STERN hat nun schon
                        machen müssen?                                          zum zweiten Mal den Dauer-Skandal in den Kli-
                                                                                niken zum Thema gemacht. Wer den Verlag des
                        Lambertin: Ja, die gibt es. Doch viele wurden seit      STERN kennt, weiß: Wenn die ein Thema in kur-
                        Jahrzehnten nicht mehr verändert. In manchen            zer Zeit zum zweiten Mal spielen, muss es beim
                        Länderministerien ist dafür noch eine Stelle in Teil-   ersten Mal richtig gut gelaufen sein. Der Aufruf
                        zeit zuständig – und das in Bundesländern mit meh-      der Ärzte enthält den Vorwurf der „Enthumani-
                        reren hundert Krankenhäusern. In vielen Ländern         sierung der Medizin“. Starker Tobak. Wie kann
                        gibt es da facto keine aktualisierte Krankenhauspla-    die Re-Humanisierung der Medizin gelingen?
                        nung mehr. Weggespart. Ausgespart. Das ist ver-
                        antwortungslos.                                         Lambertin: Mit kleinen Pflastern kann man keine
                                                                                klaffenden Wunden versorgen. Ich bin davon über-
                        Dossier: Die Krankenhauspläne sind aber doch            zeugt, dass das Gesundheitswesen kein Ort ist, an
                        auch die Grundlage für die Investitionen, mit           dem Investoren gefragt sind. Es braucht eine neue
                        denen die Länder die Krankenhäuser auf dem              Gemeinwohlorientierung und der Non-Profit-Ge-
                        neuesten Stand halten sollen.                           danke muss die Leitlinie für eine Reform auf der
                                                                                Höhe des 21. Jahrhunderts sein.
                        Lambertin: Hilmar, da bleibt dir nur Sarkasmus.
                        Jede und jeder, der mit dem deutschen Kranken-          Dossier: Wenn du da eine Umfrage auf der Stra-
                        hauswesen vertraut ist, weiß, dass die Länder ihrer     ße machst, wirst du sehr viel Zustimmung er-
                        Verpflichtung, die Investitionskosten der Kranken-      fahren. Aber wie soll das praktisch gelingen?
                        häuser auskömmlich zu finanzieren, nicht nach-
                        kommen. In Wahrheit werden die Investitionen teil-      Lambertin: Man muss die Eigentumsfrage im Ge-
                        weise aus den Pauschalen abgezweigt, die Kran-          sundheitswesen wie bei vielen anderen Bereichen
                        kenhäuser von den Krankenkassen für die                 der öffentlichen Daseinsvorsorge auch neu stellen.
                        Behandlung ihrer Mitglieder und Familienversicher-      War es gut, großen und kleinen Investoren Teile da-
                        ten erhalten. Es werden Beiträge der Versicherten-      von zu überlassen? Nein. Wenn ich nach Dänemark
                        gemeinschaft systematisch zweckentfremdet. Dies         schaue, braucht es auch keine privaten Investoren,
                        ist dann auch eine Erklärung, warum die Arbeit in       um medizinische Dienstleistungen auf höchstem
                        den Kliniken immer weiter verdichtet wird. Wenn         Niveau zu erbringen.

Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 14
Dossier: Und wenn sich nun eine Stadt ent-              der Lebenserwartung, der Versorgung mit me-
schieden hat, das Krankenhaus von einem Kon-            dizinischen Angeboten. Es ist doch so: Ein Arzt
zern betreiben zu lassen …                              lässt sich in Berlin eher im Grunewald nieder als
                                                        in Neukölln oder Moabit, im Elbe-Elster-Kreis
Lambertin: … dann wird man Hilfestellung geben          im Süden Brandenburgs sucht man Ärzte mit
müssen, um es dort wieder herauszulösen. Zumin-         der Lupe, in Berlin-Wilmersdorf hängt vor je-
dest muss man ihnen Hilfestellung leisten, die          dem fünften Hauseingang ein Praxisschild.
Krankenhäuser überhaupt steuern zu können. Das          Brauche ich einen Termin beim Hautarzt, brau-
ist vielerorts nicht der Fall. Gemeinderäte sind Di-    che ich entweder viel Zeit, eine Privatversiche-
rektoren der Kliniken in vielen Fällen ausgeliefert.    rung oder ein gut gefülltes Bankkonto.
Wieder so eine gefährliche Informations- und
Machtasymmetrie.                                        Lambertin: Ein Anfang wäre damit getan, wenn
                                                        man das, was geschieht, transparent machen wür-
Dossier: Ich muss an das Ernst-von-Berg-                de. Aber ich sage dir etwas: Von Seiten von Bund
mann-Klinikum in Potsdam denken. Vielfach               und Ländern, die letzten Endes in der Verantwor-
ausgezeichnet, guter Ruf, als gGmbH in städti-          tung stehen, gibt es kein großes Interesse, denn
scher Trägerschaft. Und dann kommt die Coro-            aus einem seriösen Lagebild würde ja Handlungs-
na-Pandemie und mit einem Mal wird offen-               druck entstehen.
sichtlich, dass in der Klinik Misswirtschaft            Ich nehme wahr, dass Gesundheitspolitik immer
herrschte und der Aufsichtsrat nichts davon             weniger als Gerechtigkeitsfrage diskutiert wird und
mitbekommen hatte.                                      wenn, dann ist die Diskussion in Branchendiensten
                                                        und Fachmedien entglitten.

  „VON SEITEN VON BUND UND LÄNDERN, DIE LETZTEN ENDES
    IN DER VERANTWORTUNG STEHEN, GIBT ES KEIN GROSSES
   INTERESSE, DENN AUS EINEM SERIÖSEN LAGEBILD WÜRDE
                      JA HANDLUNGSDRUCK ENTSTEHEN. “

Lambertin: Ein sehr typisches, bezeichnendes Bei-       Mit betriebswirtschaftlicher Logik im Markt des
spiel.                                                  Gesundheitswesens ist es ein bisschen wie im Pa-
                                                        tient-Arzt-Verhältnis: Es zählt nicht das Interesse
Dossier: Ja, aber das heißt ja gerade doch, dass        der Vielen, sondern wer sich am stärksten durch-
die Frage guter oder schlechter Behandlung              setzen kann. Und das sind die niedergelassenen
nicht entlang der Eigentümerstruktur entschie-          Ärztinnen und Ärzte. An die traut sich keiner ran.
den werden kann.                                        Berlin gibt ein gutes Beispiel für diese Fehlentwick-
                                                        lung: Früher wurde die Frage, wo eine Ärztin, ein
Lambertin: Das habe ich auch gar nicht gesagt. Es       Arzt sich niederlassen darf, kleinräumig entschie-
geht doch letzten Endes darum, ob es eine demo-         den: auf Bezirksebene. Und die waren viel kleiner
kratische Steuerungsmöglichkeit gibt, die bei-          als heute.
spielsweise dazu führt, dass Krankenhäuser Men-         Nun gibt es eine Gesamt-Berliner-Ärzteplanung.
schen nach Möglichkeit gesund machen und des-           Das Ergebnis kann man sich denken: Die Ärzte ge-
wegen keine Gewinne erwirtschaften sollen, weil         hen aus den armen Quartieren in jene Viertel, in
das ja den Patientinnen und Patienten vorenthalte-      denen viele Gutverdiener und Reiche zu Hause
ne Behandlung oder Pflege ist. Wenn das Gemein-         sind.
wohl die Leitlinie ist, geht es um Daseinsvorsorge      Wenn es aber keinen Arzt in der Nähe gibt, dann
für alle. Alles andere ist Wirtschaftsförderungspoli-   verschleppen die Menschen ihre akuten Leiden,
tik. Und da gehört das Gesundheitswesen einfach         diese werden chronisch und die Folgen sind für ihr
nicht hin.                                              Leben verheerend. Und für unsere Solidarkassen
                                                        teurer.
Dossier: Knut, lass uns über die Verteilungsfra-
ge im Gesundheitsbereich sprechen. Wir haben            Dossier: Aber noch einmal: Wie soll es besser
zwischen Stadt und Land, zwischen armen und             werden? Der Staat wird die alltäglichen Versor-
reichen Stadtvierteln zum Teil erhebliche Unter-        gungsprobleme neben den Krankenhäusern
schiede hinsichtlich der gesunden Lebensjahre,          nicht auch noch geregelt bekommen.

                                                                                                     Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 15
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