EIN DEMOKRATISCHES GESUNDHEITSSYSTEM FÜR ALLE - Hans-Böckler-Stiftung
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DOSSIER Nr. 10, Juli 2021 EIN DEMOKRATISCHES GESUNDHEITSSYSTEM FÜR ALLE Investorinnen und Investoren diktieren zusehends, wie das Gesundheits systems funktionieren soll. Sie nutzen jede Lücke unzureichender Gesetze, um ihre Macht auszubauen. In der Corona-Krise wurden die Ressourcen knapp. Das System ist ausgeblutet, die Beschäftigten sind zusehends entsetzt. Hilmar Höhn VOM UMGANG MIT EINEM GRUNDRECHT Zwischen den Jahren 1999 und 2005, in denen der Inhalt von Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz von einem reinen Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates zu „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche einem Grundrecht auf Gesundheit entwickelt wurde, Unversehrtheit.“ Artikel 2 Absatz 2 des Grundge- machte sich die Politik in Deutschland daran, aus setzes war 1949 keineswegs als „Grundrecht auf dem Gesundheitswesen einen Markt zu machen. Gesundheit“ verfasst worden. Im Gegenteil: Er Krankenhäuser gingen an Investoren und Investorin- diente der Abwehr von Ein- und Angriffen auf Leib nen. Sie nutzten diese unter anderem als Vehikel, und Leben, wie im Nationalsozialismus geschehen. um Arztpraxen und Versorgungszentren zu kaufen. In sieben Jahrzehnten seit seinem Beschluss hat Über Standorte von Augenkliniken entscheidet in das Grundgesetz manche Änderung erfahren. Eini- der Konsequenz nicht mehr die Kassenärztliche Ver- ges wurde gestrichen, anderes hinzugefügt und ei- einigung, sondern die Stiftung der in die Schweiz nige Passagen wurden neu interpretiert. 1981 „dis- ausgewanderten Kaffeeröster-Familie Jacobs. tanzierte sich das Bundesverfassungsgericht von Dass die Verhältnisse sich so entwickelt haben, einem zu engen Verständnis“ des Artikels 2 und auch dass ein Drittel der Männer aus armen Ver- schloss, so der Staatsrechtler Christian Pestalozza, hältnissen vor Erreichen ihres 65. Geburtstages „psychische, seelische Unversehrtheit und das ‚so- versterben, im Mittel keine 57 gesunden Jahre vor ziale Wohlbefinden‘ ein“. 1999 ging das Gericht ei- sich haben, während ihre vermögenden Altersge- nen Schritt weiter, so der Rechtwissenschaftler. nossen Jahrzehnte länger ihr Leben (gesund) genie- Und zwar indem sie einem Kläger den Zugang zu ßen können, ist in der Öffentlichkeit nicht präsent. einer Therapie ermöglichten, wenn mit ihrer Hilfe Mit den Zahlen und Fakten zu diesen beiden das Leben verlängert, „mindestens aber nicht un- Themen und den Fragen, wie ins Lot gebracht wer- wesentliche Minderung des Leidens verbunden den kann, was dem Markt überlassen wurde und ist“. In einer nächsten Entscheidung von 2005 habe wie mehr gesundheitliche Gleichheit möglich ist, sich das Gericht noch weiter vorgewagt und Tod- beschäftigt sich dieses Dossier. Und es geht der kranken den Zugang zu „von ihm selbst gewählten, Frage nach, was aus der Corona-Krise für die Zu- ärztlich angewandten Behandlungsmethoden“ ge- kunft eines demokratischen Gesundheitswesens zu währt (Pestalozza, 2007). lernen ist.
INHALT Vom Umgang mit einem Grundrecht 1 Kapitel 2 44 Armut macht krank – Krankheit macht Armut 44 Kapitel 1 3 Einkommen entscheidet über Das kranke System der Gesundheit 3 Lebenserwartung 44 Warteschleifen bis zur Operation 3 Gespaltene Städte 46 Treibt die Alterung der Gesellschaft Neun Gründe für ein zu kurzes Leben 48 den Preis für Gesundheit? 5 „Gesundheitliche Ungleichheit“ wird Das Gesundheitssystem: 370 Milliarden gemacht 50 Kosten oder 678 Milliarden Umsatz? – Vorzeitige Sterblichkeit ist erblich 51 Zwei Sichtweisen 7 Bernhard Winter, VdÄÄ: Finanzierungsströme im Gesundheitswesen 8 „Frohlockt haben wir damals nicht“ 52 Investorinnen und Investoren steckten zuerst im Osten der Republik ihre Claims ab 10 Kapitel 3 58 Knut Lambertin, AOK: „Es ist alles noch Fazit – Die Lehre aus der Corona-Pandemie viel verzwickter“ 12 oder Pflaster reichen nicht mehr 58 Eine gescheiterte Finanzpolitik öffnet Investorinnen und Investoren den Markt Bibliographie 64 in den Westen der Republik 17 Autor 68 Auf dem Weg in eine inhumane Medizin 18 Renditenjäger im Krankenhaus 25 Warum Kliniken bei Zahnarzt-Investorinnen und -Investoren so beliebt sind 26 Von Dänemark lernen? 30 Auswege aus der Misere 32 Sylvia Bühler, ver.di: „Immer mehr erkennen, dass sie mit noch so großem persönlichem Einsatz die Fehler im System nicht ausgleichen können“ 37 Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 2
Kapitel 1 DAS KRANKE SYSTEM DER GESUNDHEIT Geht es um Gesundheit, geht es um Millionen Schicksale. Und um Milliarden Euro. Arbeit nehmerinnen, Arbeitnehmer und Arbeitgeber zahlen Beiträge an Krankenversicherungen, Patientinnen und Patienten bezahlen einzelne medizinische eistungen selbst, zahlen in der Apotheke zu. Auch ein Teil der Steuereinnahmen landet als Zuschüsse im Gesundheitssys tem. 2019 kursierten 372 Milliarden Euro im System. 7,5 Millionen Menschen verdienen sich mit ihrer Arbeit an der Gesundheit ihr Leben. Jeder sechste Arbeitsplatz hängt in Deutschland mittlerweile an unserer Gesundheit, hier wird jeder achte Euro des Bruttoin landsprodukts verdient (BMWi, 2020). Akteure schier ohne Zahl sind an dem System beteiligt, die sich engagieren, wenn die See le einen Knacks hat, die Menschheit der Schnupfen plagt, die Herzen von Millionen nicht mehr so wollen, wie sie sollen oder nach dem Ski-Urlaub das Bein gebrochen ist. Von der Bekämpfung der Corona-Pandemie ganz zu schweigen. Warteschleifen bis zur Operation der in die Mühlen eines schlecht organisierten Sys- tems gerät: Das Gesundheitswesen, dem die Deutschen ihr Le- Der Patient hatte alles richtig gemacht, er war ben anvertrauen, ist jedoch selbst krank. Auch wegen Unterleibsschmerzen zunächst beim Haus- ohne den Corona-Stresstest 2020/21 war es schon arzt vorstellig geworden. Der schickte ihn zum malad. Fast jedes zweite Krankenhaus erwirtschaf- Facharzt und dieser drückte ihm eine Überweisung tet Verluste (Bundesrechnungshof, 2020), in einer für das Klinikum in die Hand. Diagnose: akute ökonomisierten Welt fast ein Todesurteil. Und nie- Blinddarmentzündung. Muss dringend operiert mand weiß wirklich um den Nutzen von Zahnspan- werden. gen (ContactComittee, 2019), Ärztinnen und Ärzte In der Notaufnahme angekommen geriet der arbeiten aneinander vorbei. Und ganz nebenbei Mann trotz akuter Schmerzen in eine bizarre War- verdienen Konzerne zweistellige Umsatzrenditen. teschleife: Ein Arzt in der Ambulanz untersuchte Wie so vieles andere auch steht das Gesundheits- ihn erneut, so ein Facharzt könne ja viel aufschrei- system an einem Kipppunkt: Gewinnt in den kom- ben, ließ der Weißkittel seinen Kranken wissen. Er menden Jahren der Markt und damit das Geschäft betastete ihn, verabreichte ihm ein Klistier, schließ- mit der Krankheit? Und so kann es einem ergehen, lich hätte es ja sein können, dass der Patient ledig- Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 3
lich unter Verstopfung leide. Fehlanzeige, es war wirklich der Blinddarm. Dann verschwand der Arzt. Der Patient blieb al- lein mit seinen Schmerzen in der Ambulanz zurück. Bis der nächste Heilkünstler erschien. „Ich wurde wieder untersucht, man erklärte mir, es habe leider keine Übergabe gegeben.“ Wieder musste Ver- stopfung ausgeschlossen werden. Wieder blieb er allein zurück. Wartezeit mit entzündetem Blind- darm: „Insgesamt viereinhalb Stunden“. Dann habe er einen zufällig vorbeikommenden Arzt an- gesprochen. „Der stellte sich dann als Oberarzt he- raus. Er meinte, alles täte ihm schrecklich leid, er habe aber von seinen beiden Kollegen keine Unter- lagen bekommen.“ Es folgte die dritte Untersu- chung im Krankenhaus. „Dann hieß es: Das ist ja akut, eine halbe später war der OP-Termin.“ Der Mann, der hier in ein System organisierter Verantwortungslosigkeit geraten war, heißt Knut DAS KLINIKUM ERNST VON Lambertin. Der Vorgang liegt lange zurück. Inzwi- BERGMANN, GESCHICHTE schen ist Lambertin alternierender Vorsitzender des Aufsichtsrates des Bundesverbandes der All- EINES SKANDALS gemeinen Ortskrankenkassen. Zwar treibt ihn nach wie vor die Frage um, wer solche auch heute gar Das Klinikum Ernst von Bergmann ist eng ge- nicht so seltenen Fälle wie den seinen bezahlt und fasst ein Klinikum mit 1.100 Betten, das in 29 Kli- ob es gerecht zugeht im Gesundheitswesen. Aber niken und Fachbereichen „ein umfassendes me- im Grundsatz ist er von „unserem Gesundheitssys- dizinische Leistungsspektrum“ anbietet. Eigent- tem“ überzeugt. „Man kann ohne Portemonnaie lich handelt es sich beim „EvB“ genannten zum Arzt gehen.“ Die Fehler seien nicht strukturel- Klinikum jedoch um eine ganze Firmengruppe. ler Art, hätten schon gar nichts mit dem solidari- Dazu gehören kleine Kliniken in der brandenbur- schen Prinzip der Sozialversicherungen zu tun. An gischen Provinz, Medizinische Versorgungszent- den engagierten Beschäftigten jedenfalls liege es ren, Polikliniken und Ambulatorien sowie medizi- nicht. „Es sind Folgen einer falschen Politik.“ nische Betreuung für Obdachlose und Jugendhil- Von der Politik im Gesundheitswesen und ihren fe, kurzum, es handelt es um einen kleinen Folgen wird in diesem Kapitel die Rede sein. Im Fo- medizinischen Mischkonzern. kus: die Krankenhäuser in Deutschland. Laut Sta- Der für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet tistischem Bundesamt gab es 2020 noch fast 2.000 ist. Etwa von der Zeitschrift Focus als „Top nati- Kliniken, in denen 19,4 Millionen Menschen behan- onales Krankenhaus 2021“, von der Wirtschafts- delt wurden. Fast 110 Milliarden Euro setzen die woche als „wertvoller Arbeitgeber für das Ge- Kliniken um. Das ist fast ein Drittel der Ausgaben meinwohl“ oder als eine von Deutschlands bes- im Gesundheitssystem. ten Kliniken, wie das Handelsblatt 2019 urteilte. Knapp 38 Prozent derjenigen, die als Patientin- Doch als das Corona-Virus sich auch in dem nen und Patienten ein Krankenhaus von innen zu nach dem Chirurgen Ernst von Bergmann (1836 - sehen bekommen, werden dort operiert. Geschnip- 1907) ausbreitete, kam heraus, dass der Glanz pelt wird vor allem am Darm. Es folgen Eingriffe an der Auszeichnungen und des großen Namens- den Gallengängen und das Einsetzen von Hüftpro- gebers dem Stresstest nicht standhielt. Der Aus- thesen (Statistisches Bundesamt, 2020 (1)). An ers- bruch geriet schnell außer Kontrolle. Die Stadt ter Stelle in der Behandlungsliste stehen Krankhei- Potsdam setzte daraufhin eine Expertenkommis- ten des Kreislaufsystems gefolgt von der Heilung sion ein. Ihr Auftrag: Herauszufinden, warum es von Verletzungen, Vergiftungen und „Folgen äuße- diesen Ausbruch geben konnte und welche rer Ursachen“ wie Knochenbrüchen, so die Sach- Schlussfolgerungen daraus zu ziehen seien. verständigen zur Begutachtung der Entwicklung Das Fazit der Kommission in einem Satz: im Gesundheitswesen in ihrem 2018 veröffentlich- „Eine langfristige strategische Zielplanung ten Gutachten (Sachverständigenrat zur Begutach- ist nicht erkennbar. In der Konzernstrategie tung der Entwicklung im Gesundheitswesen, ist eine sichere Patientenversorgung als Leit- 2018). motiv nicht verankert.“ Wer als Notfall in eine Klinik eingeliefert wird, Das Gutachten der Expertenkommission wird hat allen Anlass zur Besorgnis. Die Herausgeber in diesem Dossier in Kästen auszugsweise abge- des Qualitätsmonitors 2020 für das Gesundheits- bildet. wesen bilanzieren nach Vorlage ihres Berichtes: Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 4
„Die Notfallversorgung ist in Deutschland stark notwendige Ausstattung und Expertise zu verfü- durch eine sektorale Trennung gekennzeichnet, an gen“. Leistungen würden möglicherweise „unter- der insbesondere ambulant tätige Ärzte, der Ret- halb einer empirisch ableitbaren kritischen Menge tungsdienst und die Krankenhäuser teilnehmen.“ erbracht“ (Sachverständigenrat zur Begutachtung Gemeint ist, dass die verschiedenen Ebenen nicht der Entwicklung im Gesundheitswesen, 2018). so zusammenarbeiten, wie sie sollten. Es herrsche Kurzum: Wer Pech hat und mit seinen Beschwer- Mangel, so die Herausgeber in ihrem Vorwort, „an den im falschen Krankenhaus landet, bekommt der zeitgemäßen Nutzung digitaler Technologien nicht die Behandlung, die sie oder er eigentlich zur Prozessverbesserung“. Es gebe kaum Transpa- braucht. renz über die Prozesse, Patientinnen und Patienten Wie sieht die Zukunft des heute mit vielen sei- würden „suboptimal“ durchs System gesteuert, ner Aufgaben überforderte, zugleich in Teilen un- Notfälle würden teilweise „in Kliniken mit inad- terfinanzierte Gesundheitssystems aus? Eine der äquaten Behandlungsstrukturen versorgt werden“ Kernfragen lautet: Treibt die Alterung der Gesell- (Dormann et al., 2020). schaft den Preis für Gesundheit? Wer nicht als Notfall, sondern geplant und mit Überweisung in stationäre Behandlung gerät, hat ebenfalls Grund zur Sorge. Der Bundesrechnungs- 1.2 Treibt die Alterung der Gesellschaft den hof kommt 2020 in einem Bericht an den Haus- Preis für Gesundheit? haltsausschuss des Bundestages zu dem Ergebnis: „Die Folge ist eine Krankenhausstruktur, die nicht Einen Hinweis auf die Zukunft von Kliniken im Be- nur chronisch unterfinanziert, sondern seit Jahren sonderen und das Gesundheitssystem im Allgemei- in weiten Teilen ineffizient ist: Es bestehen Doppel- nen gibt die fortschreitende Alterung der Gesell- strukturen und es gibt zu wenig Spezialisierung. schaft und deren Folgen für das Gesundheitswe- Krankenhäuser der Grund- und Regelversorgung sen. nehmen komplexe Eingriffe vor, die spezialisierten Es erscheint einleuchtend: Je mehr ältere Men- Kliniken vorbehalten sein sollten. Das Potenzial für schen in einem Land leben, um so höher werden ambulante Behandlungen wird nicht ausgeschöpft. auch die Ausgaben für Gesundheit steigen – Zudem bleiben offene Stellen für ärztliches und schließlich werden alte Frauen und Männer häufi- pflegerisches Personal häufig unbesetzt“ (Bundes- ger und schwerer krank als ihre Zeitgenossinnen rechnungshof, 2020). und Zeitgenossen im Kindheits- oder Erwerbsalter. Und die Gesundheitssachverständigen urteilten In ihrem Gutachten von 2018 haben die Sach- in ihrem Bericht von 2018: „Die deutsche Kranken- verständigen im Gesundheitswesen durchbuch- hauslandschaft ist durch eine überproportional stabiert, wie Alterung und Gesundheitsausgaben hohe Anzahl von kleinen und mittleren Kranken- miteinander verbunden sind. Im Jahr 2016 hätten häusern gekennzeichnet“. Das führe dazu, dass die gesetzlichen Kassen für eine 25 Jahre junge viele Kliniken „hochkomplexe Leistungen erbrin- Frau 4,29 Euro täglich zu kalkulieren gehabt, für gen, ohne über die für eine angemessene Qualität Männer gleichen Alters waren es sogar nur 2,61 Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 5
Euro. Im Alter von 60 kalkulierten die Sozialen Ge- Einzelne Bundesländer wie Schleswig-Holstein sundheitsversicherungen mit einem Tagessatz von oder Sachsen-Anhalt, aus denen derzeit die Jugend 8,39 Euro je Frau und 9,53 Euro je Mann. Der Peak auf der Suche nach besseren beruflichen Perspekti- der Ausgaben ist bei den 85-Jährigen mit fast 19 ven fortzieht, werden von der Entwicklung beson- Euro für Frauen und mehr als 21 Euro für ihre männ- ders betroffen sein. lichen Altersgenossen erreicht. Im hohen Norden könnte das Verhältnis zwi- Eine alternde Gesellschaft hat theoretisch viele schen Hochbetagten und Erwerbstätigen in 15 Möglichkeiten, mit dieser Entwicklung umzugehen. Jahren bei 9,4, in Sachsen-Anhalt bei fast 11 Die erste Variante scheidet im demokratischen und Prozent angekommen sein. sozialen Rechtsstaat aus: Sie senkt die Standards Freilich altert eine neue Generation der Alten im Gesundheitswesen vorrangig für ältere Men- heraus, die sich zu einem großen Teil bewusster schen. Vorschläge etwa zur Rationierung von ernähren, die mehr Sport machen und sich da- „Hüftgelenken für 85-Jährige auf Kosten der Soli- bei von allerlei Gesundheits-Apps noch in den dargemeinschaft“ belebten auch in Deutschland Wellness-Urlaub verfolgen lassen. Mit allerlei vor mehr als zwei Jahrzehnten die politische Debat- Pülverchen und Tinkturen behandeln sie zwar te. Doch aus ihnen folgte – zum Glück – nichts. nicht die unweigerlichen Gebrechen des Alters, Die zweite Variante besteht darin, die Effizienz beruhigen aber die besorgte Psyche älter Wer- und Qualität im Gesundheitssystem zu erhöhen. dender. Und drittens können die Beiträge angehoben wer- Jenseits der 370 Milliarden Euro, die als Bei- den. träge und Steuergelder für Gesundheit ausgege- Die Sachverständigen haben nun ihrer Kalkulati- ben werden, gibt es noch einen höchst dynami- on verschiedene Szenarien aus der Bevölkerungs- schen grauen Markt gegen Gebrechen. Mit einer vorausberechnung des Statistischen Bundesamtes jahresdurchschnittlichen Wachstumsrate von zu Grunde gelegt. Ergebnis: „Im Jahr 2035 werden 6,8 Prozent zwischen 2000 und 2019 sei dies ge- im Vergleich zum Jahr 2015 fast doppelt so viele radezu ein „Wachstumstreiber“ der Gesund- Hochbetagte den Personen im Erwerbsalter gegen- heitswirtschaft gewesen, schreiben die Sach- überstehen“ (Sachverständigenrat zur Begutach- verständigen. tung der Entwicklung im Gesundheitswesen, 2018). Freilich werden mehr Alte mehr krank sein Nach dieser Rechnung lag das Verhältnis von Hoch- und damit werden steigende Kosten einherge- betagten zu Erwerbstätigen zum Zeitpunkt der Ab- hen. Ob es jedoch legitim ist, einfach die wach- fassung des Berichtes bei 4,5 Prozent, bis 2035 sende Zahl alter Menschen mit den heute gel- werde es auf acht Prozent oder sogar mehr gestie- tenden Altersfaktoren zu multiplizieren, darüber gen sein. streiten die Expertinnen und Experten. Abb. 1 Altersausgabeprofile der Leistungsausgaben ohne Krankengeld pro Versichertentag der GKV für das Jahr 2018 Angaben in Euro je Versicherungstag 25 20 15 10 5 0 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 >99 Männer Frauen Quelle: svr-Gesundheit, Gutachten 2018 Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 6
Beschäftigt haben sich mit dieser Frage die Ge- sundheitsökonomen David Bowles und Wolfgang GESCHICHTE EINES Greiner von der Universität Bielefeld. In einem 2012 SKANDALS (1) veröffentlichten Aufsatz skizzieren sie zwei sich wi- dersprechende Thesen. Die Hypothese von der Der Auftrag an die Geschäftsführung ist Kompression der Morbidität besagt, dass „die kom- durch wirtschaftliche Interessen dominiert. menden Generationen an älteren Menschen im Im Beschluss der SVV werden konkrete Um- Durchschnitt gesünder sind als die vorangegange- satzrenditen gefordert (8%). Einsparungen im nen“. Das würde bedeuten, dass die Alten von mor- Personal- und Sachkostenbereich in Millionen- gen das Gesundheitssystem weniger und kürzer schritten sollen bei gleichzeitiger Leistungser- beanspruchen. weiterung erreicht werden. Demgegenüber stehe die Hypothese von der Zudem fordert die Stadt Gewinnabführungen Expansion der Morbidität. Sie geht davon aus, für soziale und gesundheitliche Aufgaben der dass die „Menschen mehr Lebenszeit im Zustand Stadt. Der Gesellschafter erwartet von der Ge- gesundheitlicher Beeinträchtigung verbringen“, da schäftsführung, Umsätze zu generieren, Gewin- Krankheiten zeitlich unverändert auftreten, im Al- ne zu erzielen und diese wenn möglich an den ter oft nicht mehr richtig kuriert, sondern chro- Gesellschafter abzuführen. nisch würden. Die Geschäftsführung wird also vorrangig an Der Versuch, die eine oder andere Hypothese zu der wirtschaftlichen Performance gemessen. verifizieren, führte, so die beiden Autoren, zu Ein Blick auf die Unterlagen und die Auswertung nichts. Für beide Annahmen gibt es Erkenntnisse der Gespräche zeigen, dass die Qualität einer si- aus der Forschung, die sie stützen bzw. widerspre- cheren Patientenversorgung zunehmend aus chen (Bowles/Greiner, 2012). dem Blick geraten ist (vgl. dazu auch 3.1.2 bis Auch spätere Studien ergaben kein eindeutiges 3.1.7). Bild. Die Wissenschaftlerinnen Janina Frank und Eine langfristige strategische Zielplanung ist Birgit Babitsch werteten eine bundesweit reprä- nicht erkennbar. In der Konzernstrategie ist eine sentative Stichprobe aus Versicherten im Renten- sichere Patientenversorgung als Leitmotiv nicht alter der Jahre 2007 sowie 2014 aus, um im Ver- verankert. gleich der beiden Jahre Klarheit in das strittige Der Konzernausbau erfolgte, soweit erkenn- Thema zu bringen. Doch auch sie kamen nach bar, ohne vorherigen Businessplan oder einer Auswertung von mehr als 1,7 Millionen (2007) bzw. langfristigen Ziel- und Strategieplanung. Offen- 3,2 Millionen (2014) Patientendaten zu keinem ein- bar wurde der Expansionskurs als einzig mögli- deutigen Ergebnis: Zum einen sei der Anteil der che Option zur Rentabilitätssteigerung gesehen. Menschen mit mehreren Erkrankungen gegenüber Auffällig ist, das mit der Wachstumsstrategie chronisch Kranken und anderen Versicherten ge- verbundene Risiken für die Versorgungsqualität stiegen. Eine Analyse nach Untergruppen habe in der Auseinandersetzung kaum eine Rolle spie- aber zugleich gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit len (z. B. die Risiken von Informationsverlusten zu erkranken rückläufig sei. „Anhand der vorlie- durch neu geschaffene Schnittstellen zu der genden Ergebnisse kann die Frage nach dem Zu- ausgegliederten Servicegesellschaft). treffen der Morbiditätsexpansion bzw. -kompressi- Die Qualität der Kernprozesse für die Patien- on in der ambulanten Versorgung nicht eindeutig tenversorgung liegt eher im blinden Fleck. Ein festgestellt werden“ (Frank/Babitsch, 2018). diesbezügliches Zielbild für den Daseinszweck So gerne Politik, Gesundheitskassen und die am des kommunalen Hauses und damit verbundene Gesundheitssystem beteiligte Zivilgesellschaft in Werte werden vom Gesellschafter weder vorge- die kommenden Jahrzehnte planen würde, die geben noch gemeinschaftlich mit der Geschäfts- Auskunft aus der Wissenschaft ist: Es geht nicht. führung entwickelt. Man muss sich für ein Modell entscheiden, dem je- doch eine Alternative gegenübersteht. Das ist anders als bei der Rentenversicherung, Pflege und Gesundheitstechnik und ihre Wirkun- bei der die Parameter recht klar auf dem Tisch lie- gen auf die Gesundheit der Bevölkerung seien gen (abgesehen von der Entwicklung von Produkti- gleichfalls zu berücksichtigen – und nicht wirklich vität und Einkommen als Einnahmebasis). Ausge- kalkulierbar. rechnet im Milliardenmarkt Gesundheitswesen ge- lingt bestenfalls ein Fahren auf Sicht. Die Forscher Bowles und Greiner warnen gene- 1.3 Das Gesundheitssystem: 370 Milliarden rell vor einer Verengung der Debatte über Gesund- Kosten oder 678 Milliarden Umsatz? – heitsausgaben auf die Alterung und die damit ver- Zwei Sichtweisen bundenen Effekte: Sie sei nur „einer von vielen Faktoren“. Die Entwicklung von Bildung, Einkom- An Prognosen im politischen Raum hat es dennoch men, Innovationen im Bereich von Behandlung, keinen Mangel. Unter anderem fordert die Europäi- Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 7
FINANZIERUNGSSTRÖME IM GESUNDHEITSWESEN Das Robert Koch Institut ist in der Corona-Krise zu derem eine Übersicht über die Finanzierungsströ- einiger Berühmtheit erlangt. Die wenigsten Bun- me im Gesundheitswesen auf Basis der Zahlen von desbürgerinnen und Bundesbürger wussten vor 2013. Ausbruch der Pandemie um die Existenz dieses In- Die Abbildung 2 zeigt, dass die Haushalte noch stituts im Geschäftsbereich des Bundesgesund- nur mit ihren Beiträgen in die verschiedenen Sozi- heitsministeriums. Zu seinen „Kernaufgaben“ ge- alversicherungen das finanzielle Rückgrat des Ge- hören „die Erkennung, Verhütung und Bekämp- sundheitswesens sind. In vielen Fällen müssen sie fung von Krankheiten, insbesondere der bei Behandlungen und Rezepten zuzahlen. Oder sie Infektionskrankheiten“ (RKI, 2021). investieren freiwillig in ihre Gesundheit. Das – wenn man so will – Gesundheitsamt des Über die öffentlichen Haushalte, die mit Zu- Bundes ist neben seinem operativen Teil auch für schüssen etwa für versicherungsfremde Leistun- die Gesundheitsberichterstattung des Bundes zu- gen an der Finanzierung der Sozialversicherungen ständig. In seinem Report über „Gesundheit in beteiligt sind, übernehmen die privaten Haushalte Deutschland 2015“ erstellte das Institut unter an- als Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zusätzlich Abbildung 2 Finanzierungsströme im Gesundheitswesen in MRD. Euro Öffentliche und Private Haushalte und private Organisationen Öffentliche Haushalte 68,6 private Arbeitgeber 165,5 ohne Erwerbszweck 198,4 1,4 36,1 31,1 13,5 47,7 94,4 153,0 45,3 Finanzierung der Versicherungsleistungen 278,6 Gesundheitsausgaben/erweiterter Leistungsbereich Gesetzliche Krankenversicherung 192,6 Soziale Pflegeversicherung 22,5 Gesetzliche Rentenversicherung 22,5 Gesetzliche Unfallversicherung 8,6 Private Krankenversicherung 30,4 33,1 245,5 Laufende Gesundheitsausgaben 308,5 Prävention/Gesundheitsschutz 10,9 Ärztliche Leistungen 87,9 Pflegerische/therapeutsche Leistungen 79,5 Unterkunft/Verpflegung 25,6 Waren 83,5 Transporte 5,9 Verwaltungsleistungen 15,3 Erweiterter Leistungsbereich 31,9 Einkommens- leistungen 82,2 Ausbildung 1,7 Forschung 4,0 Ausgleich krankheitsbedingter Folgen 19,8 Investitionen 6,5 Private Haushalte 422,5 Quelle: Statistisches Bundesamt 2015, eigene Berechnungen Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 8
sche Union solche Voraussagen ein. Dabei erfüllt sie ihre „Wächterrolle“ aus der Zeit, in der ihr mark- tradikales Grundgerüst geschmiedet wurde. So die Verantwortung dafür, dass Krankenhäuser be- misst die Europäische Union, wie „großzügig“ trieben werden können, Ärztinnen und Ärzte eine etwa öffentliche Haushalte und Kassen, kurzum wirtschaftliche Existenzgrundlage haben oder ge- alle Daseinsvorsorgen, seien. Eines dieses aus der heilten Schwerkranken mit Hilfe von Förderpro- Vergangenheit des Marktradikalismus überlebten grammen ein Weg zurück in die Arbeitswelt geeb- Reliktes, sind Stabilitätsprogramme. Regierungen net wird. 2013 flossen mehr als 82 Milliarden Euro müssen „nach Brüssel“ berichten, wie sich Ausga- in Einkommen, die in der Branche verdient wurden, ben und Einnahmen aus Steuern, Beiträgen, Ge- 245 Milliarden Euro deckten laufende Gesund- bühren und Krediten Jahr um Jahr entwickelt ha- heitsausgaben wie die Aufwände für Behandlun- ben. gen, Pflege oder Investitionen der Branche (RKI, Es sind die Finanzministerien der Mitgliedsstaa- 2015). ten, die für diese Berichterstattung zuständig sind. Abbildung 3 gibt Auskunft über die Krankenhäu- In Deutschland ist es das Bundesfinanzministeri- ser als der mit Abstand teuerste Bereich im Ge- um. sundheitswesen. Ein Viertel aller Ausgaben fließt Und das beauftragte 2016 ausgerechnet das den Kliniken zu. Arztpraxen und Apotheken rangie- marktradikale Kieler Institut für Weltwirtschaft ren fast gleichauf mit etwa einem Sechstel am (IfW) mit der Zuarbeit für den noch aktuellen „Trag- Umsatz auf Platz zwei. Pflege und Zahnärzte teilen fähigkeitsbericht“ über das Gesundheitswesen ge- sich mit ungefähr acht Prozent ein immer noch be- genüber der EU. achtliches Stück am milliardenschweren Kuchen. Bis 2060, so die 2016 angestellte Modellrech- nung, erwarte man ein Anstieg der Ausgaben um 0,3 bis 0,8 Prozentpunkte des Bruttoinlandspro- duktes (BIP). Schon jetzt, so der Befund, sei das System unterfinanziert und durch „Fehl-, Unter- Abb. 3 Gesundheitsausgaben als Anteil der Gesamt und Überversorgung“ der Versicherten geprägt. ausgaben für Gesundheit: Einrichtungen Dagegen helfe nur „verstärkter Wettbewerb“, so die Kieler. „Um Effizienz- und Effektivitätsgewinne bei hoher Qualität der medizinischen Versorgung 1,8 0,5 0,6 zu realisieren wird u. a. empfohlen, den Wettbe- 3,2 werb zwischen den Akteuren im Gesundheitssek- 1,3 5,3 tor durch mehr Vertragsfreiheit zu intensivieren“ 14,9 (Bundesfinanzministerium, 2017). Schon der Begriff der „Tragfähigkeit“ signali- 8,7 siert den ideologischen Hintergrund der Methode: Wolfgang Schäuble, unter dessen Regie das Gut- 2,7 7,4 achten zum Bericht in Auftrag gegeben wurde, ist schon seit Jahrzehnten davon überzeugt, dass der 3,7 Sozialstaat ausufernd sei und eine umfassende so- ziale Sicherung schlecht für Bürgerinnen und Bür- ger sei. 13,3 In seinem, Mitte der 1990er Jahre erschienen 25,9 Buch „Und der Zukunft zugewandt“, schrieb er, er sei fest davon überzeugt, „dass eine Vielzahl unse- 5,9 rer Sozialleistungen auch eine demotivierende und 5,1 damit zukunftsfeindliche Wirkung habe“ (Schäub- le, 1994). Demotivierend, weil Bezieher von Sozial- leistungen sich als Kostgänger des Staates be- Gesundheitsschutz quem einrichten könnten. Und zukunftsfeindlich, Vorsorge-/Rehabilitations Arztpraxen weil die Sozialausgaben Gesellschaft, Sozialversi- einrichtungen Zahnarztpraxen cherungen und Staat wirtschaftlich überforderten. Stationäre/teilstationäre Pflege Praxen sonstiger medizinischer Die These, der Sozialstaat sei eine zu große Last Rettungsdienste Berufe Verwaltung für die Wirtschaft und produziere Abhängigkeit, Apotheken Sonstige Einrichtungen und statt Menschen zur Arbeit zu zwingen, gehört zum Gesundheitshandwerk/-einzel- private Haushalte handel festen Kanon der von Marktradikalen und Konser- Ausland Ambulenta Pflege vativen vorgetragenen Kritik. Investitionen Krankenhäuser Dies sei allerdings ganz falsch, wie das an sich dem Markt zugewandte Bundeswirtschafts Quelle: Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2018 ministerium in seiner Berichterstattung über die Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 9
Abrechnung einer Physiotherapeutin oder eines GESCHICHTE EINES Physiotherapeuten. Die mehr als sieben Millionen Beschäftigten im Gesundheitswesen zahlen ihrer- SKANDALS (2) seits direkte und indirekte Steuern und Sozialabga- ben, erwerben langlebige Wirtschaftsgüter und Systematische Ausgrenzung von Wider- konsumieren. Es winken hoch attraktive Geschäf- spruch und wichtiger Fachexpertise te. Kein Wunder, dass die ab den 1980er Jahren Die beschriebene strategische Ausrichtung auftretenden aggressiven Investorinnen und Inves- und die formellen Organisations- und Manage- toren Wege fanden, sich einen immer größeren mentstrukturen prägen auch die informellen Teil vom Kuchen zu sichern. Verhaltensmuster, also die Unternehmenskultur. Die Machtkonzentration an der Spitze, die Ab- hängigkeit von informellen Entscheidungswe- 1.4 Investorinnen und Investoren steckten zu- gen und die schwache Mitbestimmung entmu- erst im Osten der Republik ihre Claims ab tigt eine Kultur der informierten Entscheidung (ein „Speaking up“) und begünstigt einseitige Die dreistelligen Milliardenbeträge, die durch das Entscheidungen. Gesundheitssystem geschleust werden, haben In den Gesprächen mit Mitarbeitenden wir die schon früh private Financiers auf den Plan gerufen. Geschäftsführung einerseits als visionär, zu- Wobei ein Teil des Gesundheitswesens traditionell kunftsgerichtet und mitreißend beschrieben, privatwirtschaftlich organisiert war. Niedergelasse- aber auch als arrogant, dominant, keinen echten ne Fachärztinnen und Fachärzte gehörten in West- Widerstand erlaubend und zum Micromanage- deutschland seit 1949 dem Kreis der Freiberuflerin- ment neigend. Die medizinischen Leitungsfunk- nen und Freiberufler an, die ihren Arbeitsmarkt zu- tionen werden als schwach erlegt, wenn es um sätzlich zu den hohen fachlichen Anforderungen an hausweite Fragen geht. Formell wir dies geför- die Berufsausübung durch Kammern, Verbände dert durch personelle Engpässe und der Beset- und andere Zusammenschlüsse stramm organisier- zung von Stellen mit Persönlichkeiten, von de- ten haben. Weil der Zugang beschränkt ist und Nie- nen wenig Opposition zu erwarten ist. Führungs- derlassungssitze an den Ort der Berufsausübung kräfte mit einer anderen, starken Meinung gebunden sind, ließ sich rechtfertigen, dass sich je- verlassen nach und nach das Haus und so ner Teil des öffentlichen Gesundheitsauftrages kommt es langfristig zu einem Abfluss notwen- auch privatwirtschaftlich organisieren ließ. Wenn diger Fachexpertise. Dieses generelle Muster in Hannover kein Sitz frei war oder wurde, mussten zeigt sich in den im Nachgang beschriebenen Ärztinnen und Ärzte auch das flache Land bedienen geringen Stellenwert der Hygiene, des klini- - wollten sie selbstständig sein. schen Risikomanagements, des Arbeitsschutzes Ganz anders war die ärztliche Versorgung in der und auch des Umgangs mit der Pflege. Deutschen Demokratischen Republik aufgebaut. Der Auftrag der Gesundheitsversorgung der Bevöl- Branche der „Gesundheitswirtschaft“ notiert hat. kerung war weitgehend öffentlicher Dienst. Ärztin- In dem Bericht für das Jahr 2019 wird nicht nur da- nen und Ärzte waren mit weiteren Mitgliedern von rauf verwiesen, dass mittlerweile „jeder 8. Euro Heilberufen und einer Apotheke in Polikliniken an- Bruttowertschöpfung“ in derselben generiert wird, gestellt. Die waren Anlaufstelle für Kranke in Städ- außerdem entstehen „mit jedem produzierten Euro ten und organisierten über kleinere Ambulatorien in der Gesundheitswirtschaft 0,82 Euro zusätzliche die Gesundheitsversorgung des ländlichen Rau- Wertschöpfung. So hinterlassen 372 Milliarden mes. Den Polikliniken waren alle anderen fachme- Euro, die ins Gesundheitssystem fließen, „einen dizinischen Einrichtungen der Region unterstellt. ökonomischen Fußabdruck von 678 Milliarden „Den Polikliniken war also ein fester Bereich zuge- Euro“. Das ist mehr als ein Sechstel des Bruttoin- teilt, den sie betreuen sollten“, resümierte 2009 die landsprodukts. Ärztezeitung die „Prinzipien, Finanzierung und Or- Seit 2010 stieg der Umsatz in der Kernbranche ganisation des Gesundheitswesens“. Dabei ging es um knapp 114 auf 372 Milliarden Euro – ein Plus nicht nur um die Koordination in der Fläche. Die von mehr als vier Prozent per anno. Damit lag die Ärztinnen und Ärzte der Polikliniken sollten ihre Pa- Dynamik der Gesundheitsbranche über der Wachs- tientinnen und Patienten auch während der Kran- tumsrate des Bruttoinlandsprodukts. Zwölf Pro- kenhausaufenthalte betreuen. Ein interessanter zent betrug der Anteil an der Wertschöpfung 2019. Gedanke. Doch der Aufwand war zu groß, das Sys- Am Beginn des Jahrzehnts waren es nur 11,2 Pro- tem war unterfinanziert und litt unter Personal- zent gewesen. mangel – viele Ärztinnen und Ärzte nutzten jede Ausgaben im Gesundheitswesen zahlen eben Möglichkeit zur Flucht nach Westdeutschland. Die auch direkt in die Volkswirtschaft wieder ein. Ob Kommunikation zwischen Poliklinik und Kranken- als Fallpauschale für eine Behandlung im Kranken- haus sei „auf lange Sicht organisatorisch nicht haus, eine Orthese aus dem Sanitätshaus oder die möglich gewesen“ (Ärztezeitung, 2009). Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 10
Tabelle 1: Klinikketten Umsatz/Rendite Klinikbetreiber Umsatz/EBIT (Mio. €) 2015 2016 2017 2018 2019 Helios 5.578/640 5.843/682 8.668/1.052 8.993 /1.052 9.234/1.015 Rhön 1.108/93 1.176/97 1.211/39 1.233/65 1.304/57 Asklepios 3.082/249 3.211/264 3.262/257 3.408/244 3.537/241 Sana 2.323 2.404/136 2.573/140 2.703/147 2.841/105 Quelle: Geschäftsberichte der aufgeführten Unternehmen. Dem Gesundheitssystem DDR kommt für die wei- Dienst der Gesundheit. „Als die DDR vom Westen tere Entwicklung der gesamtdeutschen Ordnung übernommen wurde, wurden dort viele Kliniken zu und die medizinische Versorgung nach 1990 eine Sanierungsfällen, die Kommunen hatten nicht die besondere Bedeutung zu, wie überhaupt im Zuge Kraft, sie zu erhalten“, erinnert er sich in einem Ge- der eiligen Vereinigung der beiden deutschen Staa- spräch für dieses Dossier. ten sich für Investorinnen und Inverstoren allerlei Ein Blick in Untersuchungen über die Kliniken in Okkasionen darboten, wie etwa der Ausverkauf der Wendezeit zeigt: Viele Kommunen wollten ein- kommunaler Wohnungen. fach keine Kliniken mehr betreiben. Der Mediziner Rainer Erices und die Medizinerin Die 36 Kommunen, die „insgesamt 59 ambulan- Antje Gumz erinnerten in einem Beitrag zum 25. te Einrichtungen weiterführen wollen, konzentrie- Jahrestag der Vereinigung an die Lage des ren sich vor allem auf die Länder Brandenburg und DDR-Gesundheitssystems in seiner Endphase. Un- Sachsen“, so der Sozialwissenschaftler Klaus Ho- ter Berufung auf Lageberichte des Ministeriums femann. In Thüringen und Sachsen-Anhalt wollte für Staatssicherheit schreiben die beiden, die „ma- nur eine kleine Minderheit am System der Ambula- teriell-technische wie personelle Versorgung sei torien festhalten. Den meisten Kommunen konnte als unzureichend wahrgenommen worden, die es mit der Schließung nicht schnell genug gehen, Pharmaindustrie galt bis in Staatskreise als veral- die fünfährige Bestandsgarantie erwies sich als tet“, Produkte Made in GDR galten als „‚kaum ein- trügerisch. Fast 70 Prozent der Kommunen gaben setzbar‘, ‚wir sind teilweise völlig abhängig vom an, „ihre Einrichtungen noch im Jahr 1991 zu NSW (Nicht sozialistisches Wirtschaftsgebiet‘.“ schließen“, so Hofemann in einer Auswertung ei- Ärztinnen und Ärzte stellten zu Hunderten Ausrei- ner Befragung. „In ca. 20 Prozent der Fälle werden seanträge, allein im Bezirk Erfurt habe es 315 die Ambulatorien bzw. Polikliniken zu privaten „Übersiedlungsersuchende in den Einrichtungen Ärztehäusern umfunktioniert.“ In den verbliebenen des Gesundheitswesens“ gegeben. Es herrschte Einrichtungen blieben oft nur die älteren Kollegin- nicht nur Ärztemangel, auch Pflegekräfte wurden nen und Kollegen zurück, für die die Niederlassung rar, die Rede vom Pflegenotstand habe die Runde als Selbstständige nicht mehr lohnte. Es waren, so gemacht (Erices/Gumz, 2014). Die Ressourcen wa- Hofemann, vom Gesundheitssystem nach Mona- ren so knapp, dass im Gesundheitssystem der DDR ten „nur Fragmente übriggeblieben“. Am 1. April 1989 300 Millionen Mark hätten eingespart wer- 1992 waren 89 Prozent der Ärztinnen und Ärzte in den müssen. Wenn da die DDR nicht ohnehin in den fünf noch neuen Bundesländern „in eigener die Knie gegangen wäre. Praxis niedergelassen“ (Hofemann, 1993). Als die beiden deutschen Staaten im Herbst VdÄÄ-Vorsitzender Winter: „Dann wurden die 1990 vereinigt wurden, war das Gesundheitssys- Schleusen geöffnet und private Investoren wurden tem des Ostens pleite, personell ausgeblutet und eingeladen, das große Geschäft zu machen.“ wissenschaftlich nicht auf dem Stand der Zeit aus- Den Krankenhäusern ging es kaum besser. In ei- gebildet. Die 626 Polikliniken, 1.020 Ambulatorien nem 2009 erschienen Beitrag blickte der damalige und 1635 staatliche Arztpraxen hatten in der Welt Bereichsleiter Gesundheit, soziale Dienste, Wohl- der D-Mark keine Zukunft. fahrt und Kirchen der vereinten Dienstleistungsge- Polikliniken und Ambulatorien erhielten jedoch werkschaft, Niko Stumpfögger auf die Zeit der Ver- eine fünfjährige Bestandsgarantie, schreibt Philipp einigung zurück: „Vor dem Hintergrund der Staats- Manow-Borgwardt in einer Rückschau auf die Ver- wirtschaft in der DDR waren Kommunal- einigung der Gesundheitssysteme (Manow-Borg- politikerinnen und -politiker in Ostdeutschland ih- wardt, 1993). ren Kommunalunternehmen oft weniger verbun- Bernhard Winter ist einer der fünf Vorsitzenden den als im Westen.“ In den 1990er-Jahren wurde des Verbandes demokratischer Ärztinnen und Ärz- in den ostdeutschen Bundesländern privatisiert, te (VdÄÄ), und seit mehr als vier Jahrzehnten im was das Zeug hielt. Private Investoren griffen gie- Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 11
„ES IST ALLES NOCH VIEL VERZWICKTER“ Die Leiden des Gesundheitssystems sind Jahre, oft Jahrzehnte alt. In der Sprache der Medizin könnte man sagen, sie sind chronisch. Und sie sind politisch gemacht. Es fehlt allerdings der Mut, offen einzugestehen, was falsch läuft, weil eine echte Reformen Milliarden kosten würde. Beispiel: Investitionen in Kliniken. Eigentlich sind dafür die Bundesländer zuständig. „Jede und jeder, der mit dem deutschen Krankenhauswesen vertraut ist, weiß, dass die Länder ihrer Ver- pflichtung, die Investitionskosten der Krankenhäuser auskömmlich zu finanzieren, nicht nach- kommen“, sagt Knut Lambertin, alternierender Vorsitzender des Aufsichtsrates des AOK-Bun- desverbandes“ und Experte für Gesundheitspolitik beim DGB-Bundesvorstand. Seine Bilanz über ein nach seinen Worten großartiges System: „Da bleibt dir nur Sarkasmus.“ Hilmar Höhn: Wenn man die Stellungnahmen Qualität in der stationären Behandlung und Versor- einiger Verbänden und Kammern liest, beginnt gung von Patientinnen und Patienten. Über die das Übel im Gesundheitswesen vor 20 Jahren. Qualität der Arbeit der niedergelassenen Ärztinnen Du überblickst das Themenfeld Gesundheit nun und Ärzte wissen wir fast gar nichts. Es gibt zwar schon viele Jahre. Würdest Du sagen, dass da- auch über deren Arbeit Studien. Aber aus Fachma- mals die Welt noch in Ordnung war? gazinen wissen wir, dass die Leitlinien angemesse- ner Versorgung im Bereich der niedergelassenen Knut Lambertin: Nein, das war sie natürlich nicht. Ärzte oft keine Anwendung finden. Die Mängel im System sind eigentlich viel älter. Um ein Beispiel zu nennen: Der Sachverständigenrat Dossier: Wie kann das sein? Gesundheitswesen schreibt in jedem seiner großen Gutachten sehr detailliert auf, dass die Schnittstel- Lambertin: Dafür gibt es mannigfaltige Gründe. len zwischen ambulanter und stationärer Versor- Ein Beispiel: Wenn man pro Quartal und Patient be- gung nicht funktionieren, dass folglich die Grenzen zahlt wird, ist es für den Arzt als Unternehmer un- zwischen den beiden Welten aufgehoben werden günstig, wenn er zu viel Zeit pro Patient einsetzt. müssten. Obwohl also alle, die sich ernsthaft mit Das schmälert seinen Gewinn. Aufbessern kann sie den notwendigen Reformen rund um Ärzte, Pflege, oder er das Einkommen, in dem Leistungen ver- Kliniken und Reha beschäftigen, wissen, was schie- schrieben werden, welche die Kassen nicht bezah- fläuft, ändert sich dort nichts Wesentliches. len. Viele Ärztinnen und Ärzte lügen ihre Patienten Eine der Ursachen: Wir wissen relativ viel über die an und reden ihnen ein, dass die Kassen bestimmte Dossier Nr. 10, 5, 01.2020 07.2021· ·Seite Seite1212
„NACH DER SARS-COV-1-PANDEMIE LAGEN DIE NOTFALLPLÄNE AUF DEM TISCH. “ notwendige Leistungen nicht mehr bezahlen. Da- scheint schon groß, die Ungleichheit über das Wis- her müsse diese oder jene Behandlung privat getra- sen von der Gesundheit zu nutzen, um mehr Geld gen werden. Wie soll der Patient und medizinische zu machen. Patientinnen und Patienten müssen Laie da widersprechen? Viele Leute fallen darauf einfach ihrem Arzt vertrauen. Aber es gibt ja Be- herein. Woher sollen sie auch wissen, dass der Ge- wertungsportale im Internet über die Arbeit von meinsame Bundesausschuss definiert, dass medi- Ärztinnen und Ärzte. Da kann sich jeder und jede zinisch notwendige Leistungen auch von den soli- informieren. darischen Krankenkassen bezahlt werden. Dossier: Lass uns über Krankenhäuser und Kli- Dossier: Sind Ärzte, die sich Zeit nehmen für nikkonzerne, über Private Equity Fonds und Me- ihre Patientinnen und Patienten, die Ausnah- dizinische Versorgungszentren sprechen. Ge- me? gen diesen Milliardenmarkt sind die niederge- lassenen Ärzte doch kleine Fische. Das Lambertin: Kann ich nicht sagen. Ich kann es kon- Gesundheitssystem hat mit der Corona-Pande- kret für das Centrum für Gesundheit der AOK Nor- mie einen Stresstest erlebt. Welche Konsequen- dost sagen. Das ist ein Medizinisches Versorgungs- zen sind mitten in der zweiten Welle klar er- zentrum mit angestellten Ärzten. Die drehen die kennbar? Ärzte den Leuten keine IGeL-Leistungen an. Punkt. Die verkaufen ihre Leute nicht für dumm. Lambertin: Ich fange mal da an, wo keiner daran Die zweite Lüge, die sicher die meisten Patientin- denkt. Wir haben alle die Bilder von Intensivstatio- nen und Patienten schon zu hören bekommen ha- nen vor Augen, wo Menschen liegen und beatmet ben, ist die vom erschöpften Budget am Ende des werden. Ich setze beim öffentlichen Gesundheits- Quartals. Dann kriegt man einfach keinen Termin dienst an, der über die Jahre kaputtgespart wurde. mehr. Die Gesundheitsämter waren ja in der Krise über- haupt nur handlungsfähig, weil in der Spitze bis zu Dossier: Es gibt diese Budgets doch seit Jahren 800 Beschäftigte aus den medizinischen Diensten nicht mehr … der Krankenkassen dorthin entsandt worden sind. Wie kann das eigentlich sein, dass im 21. Jahrhun- Lambertin: Genau. Das heißt, der Arzt, der dich dert die Haushalte von Bund und Ländern im Plus abwimmelt, bekommt nicht kein Geld für eine Be- waren und die Gesundheitsämter Schwindsucht handlung, sondern weniger. Aber er wird bezahlt. hatten? Und sie haben alle ein gutes Auskommen. Nur wenn sie clever rechnen, dann wissen sie, wann sie Dossier: Dann kommt die Krise und der Schre- den Break-Even-Point je Quartal erreicht haben – cken ist groß. und danach werden die Menschen gerne so abge- speist. Lambertin: Und dann muss auch noch die Bundes- wehr helfen. Es sind ja nicht nur die Gesundheits- Dossier: Wenn ich mir einen Fernseher kaufe ämter. Es sind die Schulen, die Straßen, die Polizei, und der stellt sich ein Vierteljahr später als der Katastrophenschutz. Alle öffentlichen Bereiche Schrott heraus, kann ich ihn zurückbringen. Au- sind total unterfinanziert. Die Belastungsgrenze der ßerdem könnte ich mich vor dem Kauf bei der Beschäftigten im öffentlichen Dienst ist längst Stiftung Warentest über Fernseher informieren. überschritten und die all der Menschen, die von der So können Verbraucher, ohne Experten zu sein, Arbeit dieser Dienste abhängig sind, im Grunde am Markt selbstbewusst auftreten. Eine ärztli- auch. che Leistung kann ich nicht zurückgeben, die Dabei lagen nach der Sars-Cov1- und der Vogel- bekannten Ärztevergleichsportale haben mit grippe-Pandemie, die 2003 glimpflich verlief, die sorgfältigen Studien nichts gemein. Kann man Notfallpläne auf dem Tisch. Aus denen ging hervor, Gesundheit als Gut überhaupt dem Markt über- wie wichtig ein funktionierender Gesundheitsdienst lassen? ist. Aber die schwarze Null war wichtiger. Das ist aus meiner Sicht einfach nur unverantwortlich. Lambertin: Niemand will behaupten, dass in einer Selbst als 2020 klar wurde, wie gefährlich Covid-19 Situation von Angebot und Nachfrage ethisches für den Menschen ist, wurden die Pläne nicht aus Handeln nicht möglich wäre. Aber die Verführung der Schublade geholt. Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 13
Dossier: Und was könnte man darin lesen? das Geld für Großgeräte, Um- und Anbauten ausge- geben wird, ist es nicht für Ärztinnen, Ärzte und Lambertin: Dass ein Katastrophenfall nicht vorher- Pflegekräfte da. sehbar ist, aber eingeplant werden muss. Dass be- Das Dumme ist: Diejenigen, die es wissen, wie zum stimmte Aufgaben durch Bund, Länder und Kom- Beispiel ich, können nicht vor Gericht klagen. Dieje- munen erfüllt werden müssen. Dass die dafür not- nigen, die klagen könnten, trauen sich nicht. Tat- wendigen Infrastrukturen zur Verfügung stehen sächlich geht der Investitionsstau in die zig Milliar- und Maßnahmen eingeleitet werden müssen. Die den – und jedes Jahr kommen etwa drei Milliarden Erkenntnis ist nicht neu. Aber die Schlussfolgerun- hinzu! gen passen weder ins Bild von ausgeglichenen Staatshaushalten noch von einem auf ökonomi- Dossier: Also führt die Verzwergung des Ge- sche Effizienz getrimmten Gesundheitssystems. Es sundheitswesens zu einem Markt in Verbin- müssen nämlich Kapazitäten vorgehalten werden, dung mit dem Wahn der „schwarzen Null“ un- auch wenn sie nicht genutzt werden. Eigentlich ter dem Strich dazu, dass Kranke nicht die Be- müsste das eine verbreitete Einsicht sein. Schließ- handlung bekommen, für die sie ihre Beiträge lich halten Krankenhäuser OP-Säle bereit, auch bezahlen. Sie bezahlen den Konzernen Gewin- wenn die nicht dauernd „in Betrieb“ sind. ne, sie bezahlen Steuern für Investitionen in Krankenhäuser, doch die Länder sparen sich die Dossier: Und nun waren die nicht in ausreichen- Investitionen. Und dann merken Patientinnen der Zahl vorhanden. und Patienten auf der Station, dass die Pflege- kräfte arbeiten bis zum Umfallen. Lambertin: Es ist alles noch etwas verzwickter, es wurden dann ja Kapazitäten geschaffen, Kliniken Lambertin: Und dann wird auch noch behauptet, bekamen Prämien dafür, dass sie Betten bereithiel- die Kranken seien Kunden. Mit Kunden macht man ten. Manche Kliniken waren überbelegt, rasselten Geschäfte. Aus meiner Sicht aber sind in einer Sozi- ins Minus. Andere standen leer und machten dank alversicherung Versicherte keine Kunden, sondern der Prämien Gewinn. Augenscheinlich waren wir Mitglieder einer Solidargemeinschaft. Als solche nicht gut vorbereitet. haben sie etwas Besseres verdient, als die Behand- lung, die sie derzeit vielfach bekommen. Dossier: Was steht denn eigentlich nun in den Krankenhausplanungen drin, welche die Länder Dossier: Die Zeitschrift STERN hat nun schon machen müssen? zum zweiten Mal den Dauer-Skandal in den Kli- niken zum Thema gemacht. Wer den Verlag des Lambertin: Ja, die gibt es. Doch viele wurden seit STERN kennt, weiß: Wenn die ein Thema in kur- Jahrzehnten nicht mehr verändert. In manchen zer Zeit zum zweiten Mal spielen, muss es beim Länderministerien ist dafür noch eine Stelle in Teil- ersten Mal richtig gut gelaufen sein. Der Aufruf zeit zuständig – und das in Bundesländern mit meh- der Ärzte enthält den Vorwurf der „Enthumani- reren hundert Krankenhäusern. In vielen Ländern sierung der Medizin“. Starker Tobak. Wie kann gibt es da facto keine aktualisierte Krankenhauspla- die Re-Humanisierung der Medizin gelingen? nung mehr. Weggespart. Ausgespart. Das ist ver- antwortungslos. Lambertin: Mit kleinen Pflastern kann man keine klaffenden Wunden versorgen. Ich bin davon über- Dossier: Die Krankenhauspläne sind aber doch zeugt, dass das Gesundheitswesen kein Ort ist, an auch die Grundlage für die Investitionen, mit dem Investoren gefragt sind. Es braucht eine neue denen die Länder die Krankenhäuser auf dem Gemeinwohlorientierung und der Non-Profit-Ge- neuesten Stand halten sollen. danke muss die Leitlinie für eine Reform auf der Höhe des 21. Jahrhunderts sein. Lambertin: Hilmar, da bleibt dir nur Sarkasmus. Jede und jeder, der mit dem deutschen Kranken- Dossier: Wenn du da eine Umfrage auf der Stra- hauswesen vertraut ist, weiß, dass die Länder ihrer ße machst, wirst du sehr viel Zustimmung er- Verpflichtung, die Investitionskosten der Kranken- fahren. Aber wie soll das praktisch gelingen? häuser auskömmlich zu finanzieren, nicht nach- kommen. In Wahrheit werden die Investitionen teil- Lambertin: Man muss die Eigentumsfrage im Ge- weise aus den Pauschalen abgezweigt, die Kran- sundheitswesen wie bei vielen anderen Bereichen kenhäuser von den Krankenkassen für die der öffentlichen Daseinsvorsorge auch neu stellen. Behandlung ihrer Mitglieder und Familienversicher- War es gut, großen und kleinen Investoren Teile da- ten erhalten. Es werden Beiträge der Versicherten- von zu überlassen? Nein. Wenn ich nach Dänemark gemeinschaft systematisch zweckentfremdet. Dies schaue, braucht es auch keine privaten Investoren, ist dann auch eine Erklärung, warum die Arbeit in um medizinische Dienstleistungen auf höchstem den Kliniken immer weiter verdichtet wird. Wenn Niveau zu erbringen. Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 14
Dossier: Und wenn sich nun eine Stadt ent- der Lebenserwartung, der Versorgung mit me- schieden hat, das Krankenhaus von einem Kon- dizinischen Angeboten. Es ist doch so: Ein Arzt zern betreiben zu lassen … lässt sich in Berlin eher im Grunewald nieder als in Neukölln oder Moabit, im Elbe-Elster-Kreis Lambertin: … dann wird man Hilfestellung geben im Süden Brandenburgs sucht man Ärzte mit müssen, um es dort wieder herauszulösen. Zumin- der Lupe, in Berlin-Wilmersdorf hängt vor je- dest muss man ihnen Hilfestellung leisten, die dem fünften Hauseingang ein Praxisschild. Krankenhäuser überhaupt steuern zu können. Das Brauche ich einen Termin beim Hautarzt, brau- ist vielerorts nicht der Fall. Gemeinderäte sind Di- che ich entweder viel Zeit, eine Privatversiche- rektoren der Kliniken in vielen Fällen ausgeliefert. rung oder ein gut gefülltes Bankkonto. Wieder so eine gefährliche Informations- und Machtasymmetrie. Lambertin: Ein Anfang wäre damit getan, wenn man das, was geschieht, transparent machen wür- Dossier: Ich muss an das Ernst-von-Berg- de. Aber ich sage dir etwas: Von Seiten von Bund mann-Klinikum in Potsdam denken. Vielfach und Ländern, die letzten Endes in der Verantwor- ausgezeichnet, guter Ruf, als gGmbH in städti- tung stehen, gibt es kein großes Interesse, denn scher Trägerschaft. Und dann kommt die Coro- aus einem seriösen Lagebild würde ja Handlungs- na-Pandemie und mit einem Mal wird offen- druck entstehen. sichtlich, dass in der Klinik Misswirtschaft Ich nehme wahr, dass Gesundheitspolitik immer herrschte und der Aufsichtsrat nichts davon weniger als Gerechtigkeitsfrage diskutiert wird und mitbekommen hatte. wenn, dann ist die Diskussion in Branchendiensten und Fachmedien entglitten. „VON SEITEN VON BUND UND LÄNDERN, DIE LETZTEN ENDES IN DER VERANTWORTUNG STEHEN, GIBT ES KEIN GROSSES INTERESSE, DENN AUS EINEM SERIÖSEN LAGEBILD WÜRDE JA HANDLUNGSDRUCK ENTSTEHEN. “ Lambertin: Ein sehr typisches, bezeichnendes Bei- Mit betriebswirtschaftlicher Logik im Markt des spiel. Gesundheitswesens ist es ein bisschen wie im Pa- tient-Arzt-Verhältnis: Es zählt nicht das Interesse Dossier: Ja, aber das heißt ja gerade doch, dass der Vielen, sondern wer sich am stärksten durch- die Frage guter oder schlechter Behandlung setzen kann. Und das sind die niedergelassenen nicht entlang der Eigentümerstruktur entschie- Ärztinnen und Ärzte. An die traut sich keiner ran. den werden kann. Berlin gibt ein gutes Beispiel für diese Fehlentwick- lung: Früher wurde die Frage, wo eine Ärztin, ein Lambertin: Das habe ich auch gar nicht gesagt. Es Arzt sich niederlassen darf, kleinräumig entschie- geht doch letzten Endes darum, ob es eine demo- den: auf Bezirksebene. Und die waren viel kleiner kratische Steuerungsmöglichkeit gibt, die bei- als heute. spielsweise dazu führt, dass Krankenhäuser Men- Nun gibt es eine Gesamt-Berliner-Ärzteplanung. schen nach Möglichkeit gesund machen und des- Das Ergebnis kann man sich denken: Die Ärzte ge- wegen keine Gewinne erwirtschaften sollen, weil hen aus den armen Quartieren in jene Viertel, in das ja den Patientinnen und Patienten vorenthalte- denen viele Gutverdiener und Reiche zu Hause ne Behandlung oder Pflege ist. Wenn das Gemein- sind. wohl die Leitlinie ist, geht es um Daseinsvorsorge Wenn es aber keinen Arzt in der Nähe gibt, dann für alle. Alles andere ist Wirtschaftsförderungspoli- verschleppen die Menschen ihre akuten Leiden, tik. Und da gehört das Gesundheitswesen einfach diese werden chronisch und die Folgen sind für ihr nicht hin. Leben verheerend. Und für unsere Solidarkassen teurer. Dossier: Knut, lass uns über die Verteilungsfra- ge im Gesundheitsbereich sprechen. Wir haben Dossier: Aber noch einmal: Wie soll es besser zwischen Stadt und Land, zwischen armen und werden? Der Staat wird die alltäglichen Versor- reichen Stadtvierteln zum Teil erhebliche Unter- gungsprobleme neben den Krankenhäusern schiede hinsichtlich der gesunden Lebensjahre, nicht auch noch geregelt bekommen. Dossier Nr. 10, 07.2021 · Seite 15
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