DIE DER ANKUNFT ANDEREN - www.null41.ch November 2018 SFr. 9.
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Fre i t ag 11: 0 0– 18: 0 0 Sam st ag 10:0 0 –16: 00 Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Graphic Design, Patrick Bähler, 2018
EDITORIAL PLATZ FINDEN aus der Fremde kamen und ihre ganz persönlichen Anknüpfungs- punkte zum hiesigen Kulturleben IM KULTURLEBEN gefunden haben. Nina Laky begeg- nete Parwiz, der als junger Mann aus Afghanistan geflüchtet ist und nun den Vorkurs an der Hochschu- Die Begegnung mit dem Fremden ist prägend le Luzern – Design & Kunst besucht. Thomas für unsere Zeit: selbst gewählt beim Reisen – Bolli besuchte das Künstlerpaar von Chalet5, die Schweizer und Schweizerinnen gehören Karin Wälchli und Guido Reichlin, in Gö- zu den reisefreudigsten Personen in Europa – schenen. Die beiden zogen vom umtriebigen oder in der Auseinandersetzung Kreis 4 in Zürich ins Urnerland – eine Flucht Sophie Grossmann mit den Menschen, die nach in die selbst gewählte Isolation? In unserer Redaktionsleiterin mehrjährigen Fluchtodysseen in Politkolumne «Poliamourös» denkt Marlène Westeuropa ankommen. Auf der Schnieper darüber nach, wie die politische Suche nach Perspektiven, mit Hoffnungen, Haltung des Nichtwissenwollens in die poli- Sorgen und Wünschen. tische Isolation läuft, und Delia Mayer, Luzer- ner Tatort-Kommissarin, berichtet bei «Über- In der Novemberausgabe von «041 – Das dacht» über die Gründe ihres politischen En- Kulturmagazin» schauen wir durch die Kul- gagements für geflüchtete Menschen. turlupe auf das Thema «Flucht». Ein schein- bar ewig präsentes Thema, das, mit Schlag- Ein Heft voller Denkanstösse, Engage- wörtern besetzt, in zahlreichen medialen und ment und Inspiration – so viel Gutes soll sein! persönlichen Diskussionen Eingang findet. Doch in welcher Form können und wollen fluchtbetroffene Menschen am Kulturleben in der Zentralschweiz teilnehmen? Die kom- menden Seiten widmen sich Menschen, die November 2018 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 3
INHALTSVERZEICHNIS Stellt in Meggen aus: Camillo Paravicini > Seite 28 Sorgen für grosse Augen: Motorpsycho > Seite 30 «WENN MAN MICH FRAGT, WAS Editorial > Seite 3 FÜR MICH KUNST BEDEUTET, Guten Tag > Seite 5 SAGE ICH MEINEN VORNAMEN.» Poliamourös Marlène Schnieper über das Nichtwissenwollen > Seite 6 Parwiz macht den Vorkurs > Seite 10 Kosmopolitour Lukas Niklaus animiert Aladdin in Vancouver > Seite 7 OFFENE TÜRE Stadt – Land Blick durch die Linse aus Luzern und Dallenwil > Seite 8/9 Überdacht UND DOCH Wozu Kulturintegration? Joanna Menet und Delia Mayer plädieren für politisches Engagement > Seite 24 Nachschlag KEIN ZUTRITT? Kulturelle Teilhabe ist nicht nur eine Geldfrage > Seite 14 Hip, Hype, Hurra! Food aus der Ferne liegt im Trend > Seite 26 Ausgefragt Die monatlichen drei Fragen an Kulturschaffende im Hintergrund > Seite 35 Käptn Steffis Rätsel > Seite 66 Gezeichnet > Seite 67 GÖSCHENEN KULTURKALENDER EINFACH Das Künstlerduo Chalet5 flüchtet von Zürich aufs Land – warum? > Seite 20 NOVEMBER 2018 Kunst > Seite 28 Bühne > Seite 30 Musik > Seite 32 Film > Seite 34 Literatur > Seite 36 Veranstaltungen > Seite 39 Ausstellungen > Seite 57 Adressen A-Z > Seite 62 Ausschreibungen > Seite 64 4 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz November 2018
GUTEN TAG GUTEN TAG, VBL GUTEN TAG, LUCERNE FESTIVAL Welcher Teufel hat Euch geritten, liebe Das diesjährige Piano-Festival ist hin- Verkehrsbetriebe? Wie konnte es nur dazu sichtlich Eurer Corporate-Konsequenz ein kommen? «vbl verbendet üs, drom reised ehr Trauermarsch in dreifachem Forte. «Alles aus- met üsne Büs», heisst es in einem wackligen ser Alltag» heisst es in Eurem Jahresprogramm. Song, den Ihr kürzlich auf Youtube geladen Alltag heisst: 51 Prozent Frauen, 49 Prozent und nach unseren humorvollen Reaktionen Männer. Am Tastenspektakel spielen aber bereits wieder gelöscht habt. (Achtung: «ver- heuer – aufgepasst – zwei Frauen. Varvara, ver- binden», nicht «verblenden»!) Es geht in dieser bannt auf den Tastentag um 16 Uhr, und Schag- filmischen Maturaarbeit um eine jugendliche hajegh Nosrati, die einen Debüt-Slot um 12.15 Romanze im Bus. Aber alles ist so dermassen Uhr in der Lukaskirche bekommt. Und die ihr trostlos, dass man nicht weiss, ob man weinen Debüt eigentlich schon dieses Jahr zu Ostern oder lachen soll. Was wollt Ihr uns damit gespielt hat – mit ihrem Mentor Sir Schiff. sagen? Im 8er-Bus lässt sich gut küssen? Agie- Andreas Haefliger (der kleine Bruder von In- ren Buschauffeure als heimliche Verkuppler? tendant Michael, aber pssst) hingegen leitet «Wir wollen damit keinen Youtube-Hit lan- einen Meisterkurs und spielt mit der Zürcher den», hat Sprecher, Regisseur und Sänger Tonhalle gleich zwei Klavierkonzerte. Ausser- Christian Bertschi aufgeklärt. Doch das haben dem zu bestaunen: (junge) Altmeister wie Igor schon andere behauptet. Remember «the Levit, Schiff himself oder Grigory Sokolov. Die ünique barock style» Hotel Monopol? Und können alle Klavier spielen, klar. Aber: Erst wisst Ihr, was uns am meisten Sorgen macht? 2016 habt Ihr ein starkes Zeichen gesetzt und Ab 2019 arbeitet Bertschi als Kommunika- den Sommer unter das Motto «Prima Donna» tionschef der Luzerner Polizei. Gott behüte! gestellt. Doch ebenso schnell, wie all die Diri- gentinnen und Solistinnen aufs Parkett kata- Verblendet und verbunden, 041 – Das Kulturmaga- pultiert wurden, scheinen sie nun wieder in der zin Versenkung verschwunden zu sein. Gen- der-Mänteli ausziehen, zurück ins Archiv der «vanity projects» damit. Mottokugeln nicht vergessen! Doch wo bleibt die Nachhaltigkeit? Booking, booking, buh-king, 041 – Das Kulturmaga- zin GUTEN TAG, FEIERABEND Flucht ist auch: mal abschalten von all dem Flüchtlinge-Trump-Facebook-Nazis-News- Gedöns! Aber Du, Feierabend, schönste aller Fluchten, warst mal besser. Man will entspan- nen, schaltet am Dienstag um 19 Uhr Radio 3fach ein und wird mit der harten Realität von humorresistentem Geblabber in der Satire-Sendung «Latz» konfrontiert. Und man schaltet wieder ab. Laptop auf, Vice ein: «Unbe- quemer Journalismus und Dokus zu allem, was wichtig ist.» Munchies-Special, Luzern- Version: Volltätowierte Hipsterriege lässt sich volllaufen, frisst sich durch Haute Cuisine, sticht sich im Vollrausch neue Tattoos und rülpst im Interview die Hohe Küche inklusive Hipsterfloskeln wieder raus. Finden es geil, meinen es ernst. Chapeau, Vice: Sehr unbeque- mer Journalismus. Lieber Netflix bingen, 041 – Das Kulturmagazin November 2018 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 5
POLIAMOURÖS bendig. Deshalb stellt der EDA-Chef in der «Luzerner Zeitung» die rhetori- sche Frage: «Ist die UNRWA Teil der Lösung oder Teil des Problems»? Cassis gibt sich dabei so geschichts- vergessen wie der Twitterer aus Übersee. Als Graf Folke Bernadotte, der erste Nahostvermittler in Uno-Diens- ten, kurz nach der israelischen Staats- gründung im Mai 1948 anreiste, waren bereits 350 000 palästinensi- sche Frauen, Männer und Kinder auf der Flucht. Rapid verdoppelte sich die Nichtwissenwollen Zahl. Vehement forderte der schwedi- sche Diplomat, die Staatengemein- schaft solle diese Menschen zurück- führen, wiedereingliedern und deren führt in die Isolation Eigentumsrechte durchsetzen. Israels Gründervater David Ben Gurion stell- te sich taub. Vier Monate später war Bernadotte tot, ermordet von der Bundesrat Ignazio Cassis vermutet, das Stern-Bande des späteren israelischen Uno-Hilfswerk für palästinensische Premiers Yitzhak Shamir. 1949 unter- zeichnete Israel bilaterale Waffenstill- Flüchtlinge sei heute Teil des Nahostpro- Land und aus der Luft kontrol- standsabkommen mit den arabischen blems, weil es die trügerische Hoffnung liert. Wenn nun, was durchaus Nachbarstaaten. Zu einem umfassen- auf eine Rückkehr nach Palästina nähre. möglich wäre, die örtliche Ver- den Friedensvertrag oder auch nur zu waltung in Ramallah und in einem Kompromiss in Sachen Flücht- Allmählich wird klar, wie US-Präsi- Gaza-City kollabierte und die interna- lingen kam es nie. So mag die dent Donald Trump den Nahen Osten tionalen Akteure ihr segensreiches UNRWA, die ebenfalls 1949 entstand, befrieden will. Den Israelis schickt er Wirken wegen Geldmangels aufge- heute wie ein Dinosaurier wirken. Mit Kampfjets. Der UNRWA, dem ben müssten, so läge es gemäss huma- ihren Schulen, Spielfeldern und Uno-Hilfswerk für die palästinensi- nitärem Völkerrecht hauptsächlich an Schutzräumen bietet sie freilich auch schen Flüchtlinge, und den Spitälern Israel, die Zivilbevölkerung im be- den Kindeskindern der 48er-Flücht- Text: Marlène Schnieper in Ostjerusalem ent- setzten und blockierten Gebiet zu linge noch immer den breiten Rücken, Illustration: Stefanie Sager zieht er die finanziellen hegen und zu pflegen. Nichts von all den diese brauchen, um von Bewe- Mittel. Sind Palästinen- dem erwähnt Cassis, Gott bewahre! gungsfreiheit wenigstens zu träumen. serinnen und Palästinenser erst Schliesslich steht dem EDA seit einem Da Bundesrat Cassis eben noch einmal ausgehungert, so das Kalkül, Jahr ein strammer Rechter vor, und an der Seite von UNRWA-Direktor werden sie willfährig sein, wenn vom der stösst letztlich ins gleiche Horn Pierre Krähenbühl durch palästinen- Tisch des Schwiegersohns Jared Kush- wie Trump. sische Flüchtlingslager schritt, muss ner der Brosamen eines Bantustans Kaum von seiner ersten Reise er von solchen Zusammenhängen statt eines lebensfähigen palästinen- nach Nahost zurück, weiss Cassis, gehört haben. Wollte er also gar nicht sischen Staates fällt. «Ohne Deal kein woran es dort hapert. Bei der hinzulernen? Das wäre bedauerlich, Geld», beschied der US-Präsident UNRWA, das sah er in Jordanien, sind denn Nichtwissenwollen in Fragen jüngst. heute viele als Flüchtlinge registriert, von Flucht und Migration führt in die Das ist politische Erpressung. die den Namen «gar nicht mehr ver- politische Isolation. Und was tut Ignazio Cassis, der neue dienen». So kommt es, dass aus den Schweizer Aussenminister? Als Ver- 700 000 Menschen, die 1948 aus dem treter des Depositärstaates der Genfer Gebiet des heutigen Israels vertrieben Die Luzernerin Marlène Schnieper war Konventionen hätte er daran erinnern wurden, mehr als fünf Millionen ge- Nahostkorrespondentin des «Tages-An- können, dass Israel das Westjordan- worden sind. Unter all diesen Leuten zeigers». 2012 erschien im Zürcher Rotpunktverlag ihr Buch «Nakba – die land nach wie vor besetzt hält und hält das Uno-Hilfswerk den Traum offene Wunde. Die Vertreibung der auch den Gazastreifen zu Wasser, zu einer Rückkehr in die alte Heimat le- Palästinenser 1948 und die Folgen». 6 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz November 2018
KOSMOPOLITOUR Neue Stadt, der Wand stehen in grossen Buchstaben die berühmten Worte: Tinder an! «A long time ago in a galaxy far, far away....» Um uns täglich daran zu erinnern, dass wir hier jeden Tag ein bisschen Filmge- Hollywood ist seit immer schöner Schein und ziemlich schichte schreiben. Ein grosses Ziel auf hartes Sein. Diese Erfahrung macht auch die Armada meiner Wunschliste, das nun abgehakt werden kann. an Effektspezialisten, die quer über den Globus verteilt Hollywood-Blockbuster fabrizieren. Die grösste Lektion, die mir die stete Ungewissheit meiner Arbeitssituation immer wieder eintrichtert: Verände- rung ist selten schlecht. Sie gibt uns die Möglichkeit, unsere Lebensentschei- dungen zu hinterfragen, ab und zu mal Die Partner der Artists haben wieder den Arsch vom Sofa zu heben sogar ihre eigene Facebook- und das Leben in die eigene Hand zu Gruppe, um sich zu organi- nehmen. sieren, wenn wir die ganze Nacht im Büro sind. Und das habe ich definitiv vor, wenn ich hier fertig bin: zuerst nach Austra- Früher fand ich’s geil! Neue lien zu Kates Familie. Nach zwei Jahren Stadt, Tinder an! Heute wäre mit durchschnittlich 70 bis 80 Arbeits- mir ein Häuschen in einem stunden pro Woche ist’s an der Zeit, ein friedlichen Örtchen mit Time-out zu nehmen. Ein Monat ohne Frauchen und Hündchen um Internet in Nord Queensland, wo es einiges lieber. Doch versteht gemäss den Einheimischen «nothing mich nicht falsch: Filmcha- but crocs and sugarcane» gibt. rakteren Leben einzuhau- chen, ist ein Traumjob! Keine Nächte im dunklen Büro, vor dem Computer, nur am Leben gehalten Und wenn man im Büro am dank Kaffee und Snickers. Stattdessen Kein normaler Job. Bild: Lukas Niklaus Zmittagkochen ist und Sir mal um Mitternacht mit Kates Vater Peter Jackson (Regisseur der Oktopusfischen gehen. Oder einfach Herr-der-Ringe-Trilogie und am Nachmittag drei Stunden pfusen. «Wow! Du hast an zwei Oscar-Filmen 17-facher Oscargewinner, Anm. d. Red.) Batterien aufladen und neue Inspirati- gearbeitet? Cool!» ganz nonchalant an einem vorbeispa- on finden. Heisst’s zu Hause. ziert und freundlich grüsst, dann weiss man, dass man keinen «normalen» Job Danach geht’s wieder nach Neuseeland. «Sorry, wir haben nicht genug Arbeit, hat. Das realisiere ich gerade jetzt Vielleicht packe ich ein paar eigene um deinen Vertrag zu verlängern.» wieder. Projekte an … Und vielleicht darf ich Heisst’s im Büro. Mitte 2019 auch noch Hand anlegen Meine Verlobte, Kate, ist in Neuseeland bei der «Avatar»-Fortsetzung. Wäre Eine Realität, mit der ich wieder geblieben. Sie ist Kostümmacherin für doch geil … oder nicht? kämpfe, seitdem ich vor zwei Monaten die «Avatar»-Fortsetzungen, während «zwangsweise» nach Vancouver gezo- ich, weil es nicht genügend Arbeit gab gen bin. in Neuseeland, in Kanada bin. In Vancouver, wo ich an der Neuverfil- Es ist eine junge Branche für junge mung von «Aladdin» arbeite. In DER Leute. Firma, gegründet von George Lucas. Lukas Niklaus *1985, in Uffikon (LU) aufgewachsen, «Beziehungskiller» wurde meine letzte Die hat damals die Effekte für «Star seit 2011 unterwegs. Arbeitsstelle genannt. Wars» und «Jurassic Park» gemacht. An www.vimeo.com/lukasniklaus November 2018 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 7
STADT 11. OKTOBER, STUDIO VOM DACH, INDUSTRIESTRASSE LUZERN «Was wir Kulturgut nennen, entsteht meist in einem kreativen Prozess hinter verschlossenen Türen. Im besten Fall geht daraus ein Produkt hervor, welches die helle Bühne der Öffentlichkeit betritt.» Bild & Wort: Silvio Zeder 8 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz November 2018
LAND 11. OKTOBER, THEATER DALLENWIL «D’Sackuir. Die letzten Theaterproben laufen auf Hochtouren.» Bild & Wort: Sibylle Kathriner November 2018 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschwei 9
FOKUS: FLUCHT Im Vorkurs der Hochschule Luzern – Design & Kunst studieren seit diesem Sommer vier Personen, die flüchten mussten. So wie Parwiz aus Afghanistan. Er lebt seit drei Jahren in der Schweiz. HELLO, einer von drei Klassen lernen sie und weite- re 97 Studierende abformen, modellieren, zeichnen, malen, mit Tiefdruck zu arbeiten, digitale Bilder zu erstellen oder 3-D-Objek- te zu erschaffen. «Die Ziele sind für sie WELCOME! gleich wie für alle anderen auch: Orientie- rung und möglichst viel Praxiserfahrung. Aber sie können dabei auch noch besser Deutsch lernen und Kontakte knüpfen.» Ganz so einfach wie für andere ist das Absolvieren des Vorkurses für die vier aller- Im Frühlingssemester 2017 haben drei Männer aus Afg- dings nicht: Die Studiengebühren (rund 5000 Franken hanistan, ein Eritreer und zwei Eritreerinnen in den Ate- über zwei Jahre, wenn die Person im Kanton Luzern liers der Hochschule Luzern – Design & Kunst gearbeitet. wohnt, für Ausserkantonale sogar bis zu 20 000 Franken) Sie absolvierten ein spezielles sechswö- bezahlen sie selbst. «Weil das Angebot so kurzfristig um- Text: Nina Laky chiges Praktikum, in dem sie selbststän- gesetzt wurde, sind uns bei Fragen um die Mit-Finanzie- Bild: Mo Henzmann dig, aber in enger Begleitung, eine Aus- rung noch die Hände gebunden. Ein Studiengeld für stellung gestalteten. Sounddesign-Dozent Christof diese Personen ist nicht Steinmann und seine Kolleginnen und Kollegen aus dem budgetiert.» Steinmann Departement Kunst und Vermittlung haben dieses An- hofft jedoch, dass nächs- «Über 90 Prozent der gebot initiiert und durchgeführt. «Nach einem internen ten Frühling wieder Studierenden haben Diversity-Workshop habe ich die Herkunft unserer Stu- dierenden genauer angeschaut. Über 90 Prozent haben Praktika ausgeschrie- ben werden und dass die keinen Migrationshin- keinen Migrationshintergrund aus der letzten oder vor- HSLU künftig finan- tergrund» letzten Generation. Für mich war klar, dass Handlungs- zielle Hilfe leisten kann. bedarf besteht, das Studium für Menschen mit Flucht- «Ebenfalls finde ich es unabdingbar, dass die zuständigen oder Migrationshintergrund zu öffnen», sagt Christof Personen bei den Kantonen einsehen, dass auch Asylsu- Steinmann. chende und vorläufig aufgenommene Ausländerinnen und Ausländer eine Ausbildung benötigen.» So dringend, dass das Departement bereits ein halbes Jahr später Praktikumsplätze ausschrieb. «Wir wollten ein niederschwelliges, unbürokratisches Ange- bot und sofort handeln, denn die sprachliche Hürde an der Kunsthochschule ist nicht so gross wie anderswo.» Zusammen mit dem Eritreischen Medienbund Schweiz und dem «HelloWelcome»-Treffpunkt in Luzern haben die Dozentinnen und Dozenten via Facebook-Video ver- sucht, die eritreische und afghanische Diaspora zu errei- chen. «Das Video war ein Erfolg und hatte innert kürzes- An der HSLU findet im Herbstsemester eine interdiszip- linäre Ringvorlesung zum Thema «Migration – Film, ter Zeit 70 000 Klicks. So haben wir die Leute viel schnel- Kunst und Design im Kontext von Flucht und Fremd- ler erreicht als über gängige Integrationsstellen», sagt heitserfahrung» statt. Die Vorlesung ist offen für Interessierte. Verbleibende Daten: Christof Steinmann. Die HSLU hat das Angebot aber auch in der Zeitung Ringvorlesung «Migration» MI 7., MI 14., MI 21., MI 28. November, MI 5., MI 12. publiziert, so kam beispielsweise Parwiz zu diesem Prak- Dezember, jeweils 17 bis 19.45 Uhr tikum. Parwiz und drei weitere haben daraufhin die re- Viscose, Emmenbrücke, Raum 250 Dozierende: Silvia Henke, Marie-Louise Nigg, Wolfgang Brückle guläre Aufnahmeprüfung des Vorkurses bestanden. In und Gäste November 2018 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 11
FOKUS: FLUCHT «ES WAR MIR NICHT KLAR, Zuerst wollte ich direkt mit einem Bache- lorstudium anfangen, WAS ES ALLES HEISSEN KANN, aber die Dozenten und Dozentinnen haben mir IN DER SCHWEIZ KUNST ZU empfohlen, den Vorkurs zu machen, weil ich MACHEN.» keine Dokumente habe und keine künstlerische Vorbildung. Es ist alles noch neu und sehr schwierig: einerseits wegen der Spra- che, anderseits wegen der kulturellen Unterschiede. Ich mag die Schweizer Kultur sehr, aber die Unterschiede sind so gross, dass ich sie gar nicht alle benennen kann. Immer wieder lerne ich viele neue Leute kennen, die ganz anders sind. Das alles zu verarbeiten braucht Zeit. Ich möchte so schnell wie möglich mit den Unterschie- den umgehen können. Grundsätzlich gefällt mir der Vorkurs bis jetzt aber sehr. Dass die Lehrerinnen und Lehrer mich beim Malen korrigieren, ist gut, und auch, dass ich immer fragen kann. Spezialisiert habe ich mich noch nicht, ich mag alle Techniken und bin offen. Das Zeichnen und Abbilden von Natur reizt mich am meisten. Mir gefallen die Arbei- ten von Leonardo da Vinci, weil er auch viele Maschinen erfunden hat. Ich mag grundsätzlich alles, was Künstle- Mein Name ist Parwiz, ich bin 21 Jahre alt und lebe mo- rinnen und Künstler machen, schon nur, weil sie die Frei- mentan im Kanton Luzern in einer 10er-WG der Caritas. heit dazu haben. Wenn man mich fragt, was für mich Seit zwei Monaten besuche ich den gestalterischen Vor- Kunst bedeutet, sage ich meinen Vornamen. In Persisch kurs. In meiner Freizeit spiele ich am liebsten Volleyball heisst Parwiz Frieden und Zufriedenheit. An das musste und am Wochenende arbeite ich in einer Bar. Einmal in ich oft denken, als ich angefangen habe, gestalterisch zu der Woche habe ich Deutschunterricht. arbeiten. Es bedeutet für mich genau das: Es macht glück- lich. Mich und andere im besten Falle auch. In der Schweiz bin ich seit drei Jahren, ich bin vor- Wenn man etwas erreichen will, gibt es immer läufig aufgenommen und komme aus Afghanistan. Dort schwierige Situationen. Bei mir sind viele Fragen finan- habe ich mit 13 angefangen, als Sanitärinstallateur zu ar- zieller Natur: Ich muss arbeiten, alles selbst bezahlen und beiten. Als Kind habe ich nicht viel gemalt oder gebastelt. wohne weit weg von der Stadt. Ein Schweizer hat mir Es gibt in Afghanistan zwar Kunstschulen und Künstle- privat das erste Semester nun vorgeschossen, aber ich rinnen und Künstler, vor allem aus dem Iran, aber das zahle ihm das ab. Darum kann ich auch schlecht sagen, kann man nicht vergleichen. was konkret meine Pläne für die Zukunft sind. Klar ist, dass ich diesen Weg mit dem Vorkurs, den ich jetzt einge- An der HSLU habe ich vor dem Vorkurs ein sechs- schlagen habe, gehen möchte. Ob mit oder ohne finan- wöchiges Praktikum gemacht. In der Zeitung habe ich zielle Unterstützung. Letzteres würde mir einfach vieles gelesen, dass sie Praktikumsplätze für Personen wie erleichtern. mich anbieten. Letztes Jahr im Sommer habe ich im Aufzeichnung: Nina Laky Kunstsilo in Emmenbrücke eine Ausstellung gemacht, Übersetzung: Reza Hosseini das hat mich zu einer Bewerbung motiviert. Es war ein gutes Projekt, weil wir selber wünschen konnten, was wir wie umsetzen. Ich habe gemalt und Skulpturen ge- staltet und dabei erfahren, was es alles heissen kann, in der Schweiz Kunst zu machen. Bevor ich aber an ein nächstes Projekt oder eine nächste Ausstellung denke, möchte ich noch viel mehr lernen. 12 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz November 2018
KULTURLEGI ascot-elite.ch Info-Tage Musik MI 28. November bis DI 4. Dezember 2018 Informiere dich über das PreCollege(Klassik, Jazz, Volksmusik) PreCollege sowie die Bachelor- Bachelor of Arts in Music (Klassik, Jazz) und Master-Studiengänge, Bachelor of Arts/Kirchenmusik besuche den Unterricht und Bachelor of Arts/Musik und Bewegung unterhalte dich mit Studieren- Bachelor of Arts/Blasmusikdirektion den und Dozierenden. Master of Arts in Music Kurz, lerne uns kennen! Master of Arts in Musikpädagogik ơ&+5,(* * Ƣ ƨ5(* (*,6 ,66( 6(85 Unter www.hslu.ch/m-info-tage findest du ab Mitte November das Detailprogramm. IG KULTUR IMPULS Übergabefeier der Werk- und Produktionsbeiträge ar d be s in den Sparten O Musik O Theater/Tanz O Freie Kunst O Angewandte Kunst Freitag, 30. November 2018, 17 Uhr, Kleintheater Luzern rstan it in Kulturi FEIER ÜBER ns titutio o GABE V ne n Mittwoch, 14. November 2018, 18.30 Uhr Universität Luzern, Frohburgstrasse 3 3. Stock, Zimmer 3.B55 O Ausstellung nominierte Referentin: Valentina Baviera, www.bavieraberatung.ch Arbeiten für die 2. Juryrunde in den Sparten «Freie Kunst» und «Angewandte Kunst»: In Kulturinstitutionen, die als Vereine organisiert sind, ist der Vorstand für 18. November – 2. Dezember, Die Veranstaltungen Führung und Betrieb verantwortlich. Wie kann diese Verantwortung wahrge- akku Kunstplattform, Emmenbrücke, Verein zur sind kostenlos. nommen werden? Der IG KULTUR IMPULS gibt Antworten. Förderung Do–Sa 14–17 Uhr, So 10–17 Uhr der freien Kulturszene Informationen: kultur.lu.ch O Vernissage Samstag, Luzern FFK Mitglieder: 5.– Nicht-Mitglieder: 15.– 17. November 2018, 17 Uhr Kulturförderung kultur.lu. ch Anmeldung bis Montag, 12. November 2018 unter info@kulturluzern.ch November 2018 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 13
FOKUS: FLUCHT Mit der KulturLegi günstiger Kultur konsumieren. Zum Beispiel im Kleintheater Luzern. 14 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz November 2018
FOKUS: FLUCHT GUTE KARTE NICHT GUT GENUG Die KulturLegi macht Konzert, Theater und Museum günstiger – aber dennoch nicht für alle nutzbar. Neue Angebote versuchen da anzusetzen, wo billig allein als Argument für mehr Kultur nicht ausreicht. Text: Anna Chudozilov Bilder: Mart Meyer November 2018 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 15
FOKUS: FLUCHT Kultur ist ein Luxus, den der Mensch braucht. Das soll Bertolt Brecht gesagt haben, und verschiedene Wissen- Die KulturLegi wird am häufigsten für schaftlerinnen geben ihm Recht: Wer am kulturellen Eintritte in Konzerte, ins Kino und Theater, Leben nicht teilhaben kann, wird einsam. Einsamkeit ins Museum und in den Zoo verwendet. macht krank, und Kranksein schneller tot. Almaz (Name geändert) aber lebt. Seit sie 16 Jahre alt ist, lebt sie in der Schweiz, überlebt hat sie eine Flucht aus Eritrea, über die sie nie spricht. Seit sie volljährig ist, muss die junge Frau für sich selber sorgen. Almaz kommt mit knapp 400 Kopf und ein voller Kühlschrank nicht ausreichen, um einen Men- Franken im Monat über die Runden. Manche geben an schen am Leben zu halten. «Existenzsicherung im Sinne der Sozial- einem einzigen Abend mehr für Apéro, Theaterkarten, hilfe meint immer auch Teilhabe und Teilnahme am wirtschaftli- Abendessen und Babysitter aus. chen, sozialen, kulturellen und politischen Leben», steht deshalb in Armut isoliert und allein stirbt man schneller. Die den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe – den Kausalitäten sind komplexer, klar, im Prinzip sind wir oft zitierten SKOS-Richtlinien. Detailreich wird da geregelt, wer wie uns als Gesellschaft aber einig, dass ein Dach über dem wenig Geld bekommt, unter welchen Umständen Kindern vom Staat ein Hobby zu finanzieren ist und wel- chen Anteil des Grundbedarfs der Gesetz- geber für Getränke ausser Haus angemes- sen findet (1,6 Prozent). Almaz ist noch in Ausbildung, sie lebt seit ihrem 18. Geburtstag von Sozialhilfe. Als «vorläufig Aufgenommene ohne Flüchtlingseigenschaften» gehört sie zu jenen Menschen, die mit den tiefsten Bei- trägen auskommen müssen – für Apéros und Kaffee stehen der 19-Jährigen knapp sieben Franken pro Monat zur Verfügung. Dass sie dennoch ganz gut durchkommt, liegt nicht zuletzt an der KulturLegi. Kaum zufällig erinnert das Design der Karte mit weissem Stern auf rotem Grund ein biss- chen an den Schweizer Pass. Denn auch diese Karte öffnet viele Türen – oder macht es für Menschen am Existenzminimum (siehe Box) zumindest deutlich einfacher, diese aufzustossen. In der Zentralschweiz gewähren über 370 Institutionen Menschen mit KulturLe- gi vielfältige Rabatte. Die Vergünstigung muss mindestens 30 Prozent betragen. Doch manche Anbieter, wie etwa das Res- taurant Quai 4, verzichten sogar auf 75 Pro- zent des üblichen Preises. Viele Museen verlangen nur das halbe Eintrittsgeld. «Roméo et Juliette» kann man auf den bil- ligsten Plätzen im Luzerner Theater für 17 Franken 50 statt 35 Franken bis in den Tod verfolgen: 50 Prozent Rabatt auf alle Ti- ckets – das ist ein klares Angebot. Wer den vom Bosporus angereisten Klarinettisten Cüneyt Sepetci im Südpol sehen will, muss 20 Franken hinblättern, für Leute mit Kul- turLegi gibt es 30 Prozent Rabatt. Der glei- che Nachlass gilt für alle anderen Eigenver- anstaltungen des Südpols. In der Schüür 16 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz November 2018
FOKUS: FLUCHT gilt die KulturLegi als 50/50-Pass, man zahlt also bei aus- Datenpaket. Regelmässig spart sie mit Blick auf grössere gewählten Konzerten nur die Hälfte – unter der Voraus- Ausgaben: ein knallrotes Sofa zum Beispiel oder ein setzung, dass man gleich zwei Tickets erwirbt. iPhone 6. Kultur ist in ihrem Budget nicht vorgesehen. Das Konzept der KulturLegi funktioniert grund- Almaz war dennoch schon im Natur- und auch im sätzlich. Diesen Schluss zieht die Caritas, das Hilfswerk Historischen Museum von Luzern, im Tierpark Goldau hinter der Karte. 2015 hat die Organisation eine Studie in und sogar im Zoo Basel. Doch all diese Unternehmungen Auftrag gegeben, um die Wirkung des Projekts zu waren von Einheimischen angerissen: von den Sozialpä- messen. Die Ziele der Karte sind aus Sicht der Caritas dagogen im Heim für unbegleitete minderjährige Flücht- vielfältig: Die schweizweit rund 55 000 Nutzerinnen und linge, von einer Schweizer Familie, die sie im Rahmen Nutzer sollen ihr Wissen erweitern, ihr Budget entlasten, einer Patenschaft regelmässig trifft, von ihren Lehrerin- soziale Netzwerke und Selbstbewusstsein stärken und nen und Lehrern. Almaz absolviert ein Brückenangebot, nicht zuletzt ihre Gesundheit verbessern. Die KulturLe- das sie auf eine Berufslehre vorbereiten soll. Zwei Tage in gi wird am häufigsten für Eintritte in Konzerte, ins Kino der Woche arbeitet sie in einem Betrieb, drei Tage geht sie und Theater, ins Museum und den Zoo verwendet sowie in die Schule. Ihre Wochenenden verbringt sie meistens fürs Schwimmbad, die Eishalle oder das Fitnesscenter. mit anderen Eritreern und Eritreerinnen, ein grosser Teil Gerade für Familien lohnt es sich, die Karte zu nutzen. Auch Weiterbildun- gen und Kurse sind beliebt, neben Sprachlehrgängen liegt alles rund um Bewegung und Gesundheit im Trend. Gut drei Viertel der Nutzen- den haben gemäss der Studie keiner- lei Hemmungen, die KulturLegi auf den Tisch zu legen – im Gegensatz zu 14 Prozent, die Mühe haben und 9 Prozent, denen es gar nicht leicht fällt, sich als arm zu outen. Almaz hat keine Mühe, die Karte an der Kasse zu zücken, sie macht das regelmässig. Allerdings immer am gleichen Ort: im Cari- tas-Laden, wo sie ihren Wochenein- kauf erledigt. Sie schleppt von da sackweise Lebensmittel nach Hause: Wienerli ohne Schweinefleisch, Tief- dieser Zeit ist durch Aktivitäten rund um die Kirchge- «Roméo et Juliette» kann man meinde strukturiert. In ihrer Heimat ging sie selten in die auf den billigsten Plätzen für Kirche, in der Schweiz ist die eritreisch-orthodoxe Kirche ein Stück Zuhause, eine Instanz, die Orientierung gibt. 17 Franken 50 in den Tod verfolgen. Um aktiver am Luzerner Kulturleben teilzunehmen, mangelt es ihr nicht nur an Geld. Es fehlt auch das Wissen um Angebote, Menschen, die mitkommen, Anknüp- fungspunkte an ihren Alltag. In ihrem Bericht zur Wirkungsmessung schreibt kühlpizza ohne echten Käse und grosse Mengen an auch die Caritas, dass rund 20 Prozent der Personen, die Zucker, Margarine und Mehl. Brot macht sie selbst, in einen Fragebogen hätten ausfüllen können, sprachlich ihrem Kühlschrank lebt ein Sauerteig – nicht, weil sie das gar nicht dazu in der Lage sind. Eine der sechs Empfeh- hip findet, sondern weil’s billiger ist als vom Bäcker. Für lungen, die den publizierten Kurzbericht abschliessen, Lebensmittel gibt sie einen Bruchteil der 350 Franken lautet, dass die Verständlichkeit der KulturLegi allge- aus, die der «Dachverband Budgetberatung Schweiz» im mein zu verbessern sei und die Bedürfnisse von Perso- Musterbudget mit dem tiefsten Einkommen (2250 Fran- nen mit Migrationshintergrund besser zu berücksichti- ken im Monat) vorsieht. Sie verzichtet oft auf frisches gen sind. Tatsächlich versteht Almaz zwar das Konzept Obst und Gemüse, denn sie braucht ja auch Kleider, von 30 Prozent Rabatt, ich schaffe es aber nicht, ihr zu er- Schuhe und wie alle anderen Teenager ein Handyabo mit klären, was der Unterschied zwischen eigenen und nicht November 2018 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 17
Die IG Kultur Luzern als Herausgeberin von «041 – Das Kulturmagazin» sucht per 1. Dezember 2018 Redaktionelle/r Mitarbeiter/in (50%) Aufgaben: • Redaktionelle Mitarbeit «041» (recherchieren, redigieren) • Mitarbeit bei Planung / Organisation / Produktion des Magazins • Betreuung Online-Auftritt (Website null41.ch / Social Media) • Redaktionelle Betreuung Kulturblog «Kulturteil» • Administrative Arbeiten Anforderungen: • Sehr gute Kenntnisse und Vernetzung in der Luzerner und Zentral- schweizer Kulturszene • Journalistische Erfahrung / sattelfest und gewandt in der deutschen Sprache • Interesse und Erfahrung in Online-Redaktion • Teamfähigkeit und Organisationstalent Wir bieten eine journalistisch attraktive Stelle im Kulturbereich mit viel Gestaltungsfreiraum in einem engagierten und motivierten Team und in Zusammenarbeit mit vielen externen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Arbeitsplatz in der Stadt Luzern an zentraler Lage. Ihre aussagekräftige Bewerbung samt Arbeitsproben schicken Sie bitte an Philipp Seiler, Verlagsleiter «041», Bruchstrasse 53, Postfach 7463, 6000 Luzern 7, seiler@kulturmagazin.ch Weitere Auskünfte: Philipp Seiler, Verlagsleiter «041», Telefon 041 410 31 07, seiler@kulturmagazin.ch Sophie Grossmann, Redaktionsleiterin «041», Telefon 041 410 31 07, grossmann@kulturmagazin.ch 10 JAHRE 2.2 T 01 8 2 .1 0.1 1.– SISTAD 3 VISC O ER IN D Öffnungszeiten Freitag, 30. November 18 14–20 Uhr Samstag, 1. Dezember 18 10–18 Uhr Sonntag, 2. Dezember 18 10–17 Uhr Partner Veranstalter 18 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz November 2018
FOKUS: FLUCHT eigenen Veranstaltungen im Südpol ist. Auch das mit dem 50/50-Abo der Schüür ist nicht ganz trivial, wenn man nicht schon von Kindsbeinen an mit Dingen wie dem Halbtaxabo vertraut ist. Merk- würdig findet sie, dass Menschen für die gleiche Vorstellung von «Roméo et Juliet- te» unglaubliche 120 Franken ausgeben, obwohl es doch Tickets für 35 Franken gibt. Für sie selbst sind allerdings auch die 17 Franken 50 viel Geld. Hier setzt die Stiftung M&M (Mig- ranten und Musik) an – also bei Men- schen, für die sich selbst kleine Beträge wie unerschwinglicher Luxus anfühlen. 2017 gegründet, hat es sich die Stiftung zum Ziel gesetzt, klassische Musik und andere Künste explizit für Migranten und Migrantinnen sowie für weitere finanzi- ell benachteiligte Personen zugänglich zu schen Erkrankung vermittelt und den Verein Kirchliche Um kulturelle Institutionen für alle Gassenarbeit Luzern. So muss niemand an der Kasse die rote Karte zücken, die belegt, dass man zu den gut Menschen nutzbar zu machen, 500 000 Armen der Schweiz gehört. Seit dem Startschuss reicht es indes nicht aus, am Preis im August wurden am Luzerner Theater mehr als 70 Ti- ckets über die Aktion gekauft, gut zwei Dutzend Men- zu schrauben. schen waren schon mit einem «Eins mehr»-Ticket im Theater. Und irgendwie profitieren wir alle davon. Wenn man die Kausalitäten verkettet, dann wird schnell klar: Kultur macht gesellig und wer nicht einsam ist, lebt machen. Die Stiftung offeriert zum Beispiel Freikarten länger. Ganz sicher macht das bisschen Luxus, das wir für Konzerte des Luzerner Sinfonieorchesters und der alle brauchen, glücklicher. Reihe M-Classic im KKL Luzern. Ob nun die Fünfte von Schostakowitsch oder die fünf Violinkonzerte von Mozart – hier müssen keine finanziellen Hürden über- Die KulturLegi ist für Menschen wunden werden. gedacht, die Sozialhilfe, Ergän- Um kulturelle Institutionen für alle Menschen zungsleistungen zur AHV/IV oder Stipendien beziehen sowie für nutzbar zu machen, reicht es indes nicht aus, am Preis zu jene, deren Lohn gepfändet wird. schrauben. Es braucht auch Menschen, die Migrantinnen Wer über ein geringes Einkommen verfügt, kann ebenfalls eine und Migranten dabei unterstützen und begleiten, an KulturLegi beziehen. Konkret Schweizer Kultur teilzuhaben, die Menschen am soge- bedeutet das ein Einkommen von maximal 36 500 Franken für nannten Rand der Gesellschaft Türen öffnen zu kulturel- Einzelpersonen, 52 000 Franken len Institutionen, die zuweilen für elitär gehalten für Paare und 74 000 Franken für werden, vielleicht nicht immer zu unrecht. Erkannt hat eine Familie mit zwei Kindern. Die KulturLegi kann persönlich bei dies das Luzerner Theater und reagiert mit der Aktion der Caritas Luzern beantragt «Eins mehr». Für 15 Franken kann man zusätzlich zur ei- werden sowie per Post oder im Web. genen Eintrittskarte eine mehr erwerben, die über eine Partnerinstitution an Menschen vermittelt wird, die sich Mehr unter www.kulturlegi.ch. auch einen vergünstigten Theaterbesuch nicht leisten Auch das «041 – Das Kultur- können. Im Migrationsbereich gehört beispielsweise magazin»-Abo gibts vergünstigt mit der KulturLegi. «HelloWelcome» zu den Partnern, ein Treffpunkt für Flüchtlinge, Asylsuchende, Migrantinnen und Migran- ten und Einheimische. Tickets werden aber auch über das Tageszentrum traversa für Menschen mit einer psychi- November 2018 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 19
FOKUS: FLUCHT Wurzel oder Vogel? Die raumfüllende Arbeit von Chalet5 im Haus für Kunst Uri 20 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz November 2018
FOKUS: FLUCHT «NACH GÖSCHENEN ZIEHEN IST FAST WIE AUSWANDERN» Das Künstlerduo Chalet5 zeigt in Altdorf im Haus für Kunst Uri eine grandiose schwarze Wurzel. Seit Kurzem wohnen Karin Wälchli undGuido Reichlin in Göschenen im Urner Reusstal. Weil der Ort sie inspiriert. Text: Thomas Bolli Bilder: Chalet5 November 2018 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 21
FOKUS: FLUCHT Beim Gang durch die Ausstellung «Zuhause ist auswärts nie.» Malerei, sagen sie, sei heute zum Herzstück ihres und auswärts ist zuhause» reden beide über ihre Werke, künstlerischen Schaffens geworden. Obwohl Göschenen einander ergänzend, nahtlos in den Übergängen, gradli- heute für sie inspirierender ist als Zürich, brauchen sie die nig. Seit 1995 arbeiten Karin Wälchli und Guido Reichlin Stadt weiterhin – wegen der Kontakte und auch wegen zusammen. Sie markieren nicht, wer was malt oder fer- der Galerie, die Chalet5 vertritt. «Dass wir nach Gösche- tigt. Chalet5 ist der Absender. «Malerei feiert den einzel- nen gezogen sind, ist ein Statement für unsere künstleri- nen Autor, wir sind zu zweit und Chalet5 ist etwas Drit- sche Arbeit.» tes», sagen sie. Ihre Lust aufs Entdecken von Ornamenten und Eine rostige Tür betrachten Formen sowie aufs Spiel mit kunsthistorischen Frag- Bereits 2016 hatten Karin Wälchli und Guido menten und kruden Alltagsobjekten scheint unerschöpf- Reichlin im Rahmen der Gruppenausstellung «Dall’altra lich. Sei es in Kairo oder Indien, wo sich die beiden Kunst- parte» im Haus für Kunst Uri einige ihrer Werke gezeigt. schaffenden länger aufgehalten haben, oder eben jetzt in In der aktuellen Schau in Altdorf sind ältere Arbeiten, wie Göschenen und Altdorf. Nein, sie sind nicht geflohen aus beispielsweise verblüffende Collagen, die durch Versatz- der grossen Stadt, sondern die Neugier auf die andere stücke aus wissenschaftlichen Zeitschriften eine neue Umgebung liess sie in die Urner Bergwelt ziehen. Und Wirklichkeit entstehen lassen, und neuere Werke zu das nach 14 Jahren in einem Loft im Kreis 4. Nun wohnen sehen. Eigens für Uri geschaffen wurde die Arbeit im sie im Dachstock des Schulhauses, das Atelier unweit Aussenraum. Da stehen Trennwände für den helveti- davon ist fast fertig. schen Gartensitzplatz aus dem Jumbo-Markt, gefertigt Erstmals haben sie die Kraft des Orts 2016 bei aus polnischem Kiefernholz und original beschriftet mit einem Atelieraufenthalt im «Kunstdepot Göschenen» Namen wie Marseille, Venezia, Bilbao – Trennwände als erlebt. Diese Stiftung des Zugers Christoph Hürlimann emotionale Vermittler zwischen Heimat und Ferne, zwi- lädt regelmässig internationale Kunstschaffende ins ehe- schen innen und aussen, Trennwände als Generator für malige Zeughaus in Göschenen ein. «Wir haben in fremdheimatliche Gefühle? Eine irritierende Arbeit. Göschenen gefunden, was wir in Zürich nicht hatten. Dem Duo sind die Wände während der Vorbeifahrt beim Hier können wir uns auf die Malerei einlassen wie noch Jumbo-Markt in Schattdorf aufgefallen. Sie wurden dort Guido Reichlin und Karin Wälchli: «Wir sind zu zweit.» 22 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz November 2018
FOKUS: FLUCHT abgebaut und jetzt 1:1 vor dem Haus für Kunst hinge- stellt. Die Arbeit trägt den Titel «Das schrumpfende Kö- nigreich». Dass das unscheinbare Alltägliche zum ästheti- schen Objekt wird, sobald es Chalet5 aus seiner Umge- bung herausholt und im leeren Raum in Szene setzt, zeigt sich auch an einem anderen Objekt: Eine massive Me- talltüre, von Rost zerfressen und entsprechenden Fliess- spuren gezeichnet, hängt quer an einer Wand. Es ist die Türe zum sogenannten Richtstollen, den der Gotthard- tunnelerbauer Louis Favre in den Fels getrieben hatte. Sie stand in Göschenen herum, Karin Wälchli und Guido Reichlin haben sie entdeckt, sich bei Einheimischen er- kundigt und die Tür schliesslich nach Altdorf gebracht. Chalet5 hat also gesehen, was viele andere auch sehen, aber die beiden stellen eine neue Wirklichkeit her, indem Hunters Find / Encourage Unruly Behaviour / Rigi, 2018 sie das Objekt aus seiner Umgebung herausholen und den ihm eigenen Wert zeigen – ein eindrücklicher künst- lerischer Eingriff. «Wir haben in Göschenen gefunden, was wir in Zürich nicht hatten. Kein Mikroskop schafft das Und dann das grosse schwarze Wurzelstück im Hier können wir uns auf die Malerei Haus. Raumfüllend, bedrohlich, gleichzeitig Unter- einlassen wie noch nie.» schlupf gewährend. Eine kraftvolle Arbeit, die eine un- glaubliche Präsenz entwickelt. Was tut es zur Sache, dass Chalet5 das Wurzeloriginal im Wald bei Göschenen ge- funden hat? Nichts. Aber es zeigt, was die Urner Natur Kairo und Indien und eben auch aus Uri ist im 2. Stock zu mit den beiden Kunstschaffenden gemacht hat: Sie sehen – auf einem steht Karin Wälchli auf dem Bahnhof- wurden aufmerksam auf einen Baumrest, der – in zwan- gelände von Erstfeld. zigfacher Vergrösserung – die natürliche Struktur, die In ihrer Malerei beschäftigen sich Karin Wälchli tierähnlichen Formen und die natürliche Schönheit des und Guido Reichlin vor allem mit dem Verhältnis von Holzes so deutlich zur Geltung bringt wie kein Mikro- Tierischem und Pflanzlichem, den fliessenden Übergän- skop auf dieser Welt. gen der hybriden Formen, von Figürlichem und Abstrak- Chalet5 setzt sich im Haus für Kunst auch mit tem. Sie zitieren auch immer wieder aus der Kunstge- einem Bild des Urner Malers Heinrich Danioth (1896– schichte. Dank weisser Flächen scheinen die Bilder dabei 1953) auseinander. «Das Mädchen im Garten – Rigi» ist oft auf die Wand auszufliessen. Dieses Prinzip durch- ein fast pointillistisches, anschmiegsam liebliches Bild. bricht Chalet5 auf subtile Art und Weise. Statt an einer Es hängt links und auf die Wand gegenüber haben Karin weissen Wand hängen in einem Raum die Bilder vor li- Wälchli und Guido Reichlin Streifen aufgemalt – senk- lagrauem Hintergrund: Das Lilagrau wiederum nimmt recht und leicht schräg, ein buntes Spiel, das die floralen die Farbe des Bahnhofs von Göschenen auf. Strukturen und Farben in Danioths Bild aufnimmt und Nach Göschenen ziehen sei fast wie auswandern, in den Überschneidungen leicht variiert. Eine spannen- sagen die beiden Kunstschaffenden. Sie sind gut aufge- de temporäre Freske im Dialog mit einem kunsthisto- nommen worden und fühlen sich keineswegs isoliert. risch bemerkenswerten Bild. Mittlerweile werden sie von vielen im Dorf erkannt und entsprechend gegrüsst. 30 Göschenerinnen und Gösche- In Erstfeld sich hinstellen ner kamen zur Vernissage ins Haus für Kunst nach Alt- Mit dem Langzeitprojekt «Karin steht dazu» stellt dorf. Chalet5 hat sich gefreut über den Austausch mit den Chalet5 ebenfalls einen direkten Bezug zu Uri her. Die Leuten. «Mit der grossen Wurzel haben wir auch gezeigt, Fotoarbeit zeigt, wie Karin Wälchli neben Alltagsarchi- was uns hier in Göschenen umtreibt und künstlerisch be- tektur steht, die überraschende Farben und Muster zeigt, schäftigt.» sobald man richtig hinschaut. Genau diesen neuen Blick wollen die Fotos wecken – nicht Selfie-Personenkult, son- ZUHAUSE IST AUSWÄRTS UND AUSWÄRTS IST ZUHAUSE Noch bis SO 25. November dern geschärfte Aufmerksamkeit auf die Schönheit des Haus für Kunst Uri, Altdorf scheinbar Unschönen, auf die Besonderheit des schein- bar Gewöhnlichen. Eine Abfolge von 500 Bildern aus November 2018 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 23
ÜBERDACHT Wozu Kulturinte- gleichen Geschlechts, verschiedens- ten Alters, verschiedenster Herkunft, Sprache, Religion auf engstem Raum zusammenleben. Zwölf Quadratme- gration? ter, genug Platz für ein gemeinsames Bett, Schrank, TV. Auf die Gemein- schaftstoilette geht N. dreissig Meter durch den offenen Hof. und zog die Eltern mit. Berlin war gut und nahm sie auf. Sie träumte von N. soll in ihre Heimat ausge- Natur und Ruhe. Also reisten sie in die schafft werden. Was dort auf sie Schweiz, kauften ein Anwesen und wartet, kann und will sie sich nicht pendelten fortan. Der Erste Weltkrieg vorstellen. Lieber jetzt auf der Stelle bahnte sich an. Man blieb. Legal. sterben, sagt sie. Vor fünf Jahren wurde ihr Asylantrag abgelehnt. Seit- Meine Urgrosseltern mütterli- her lebt N. im Container. Seither weiss cherseits kamen aus Polen. Und Russ- N. nicht, wo sie am nächsten Tag sein land. Blutige Auseinandersetzungen wird. Seither ist N. ein Provisorium. auf den Strassen, politische Instabili- Abgewiesen und doch da. Illegal. Darf tät. Man hörte, in der Schweiz sei es nicht anpacken, sich nicht einbringen. besser. Dort wurden sie empfangen. Nicht genug Platz. Vielleicht nicht so gern gesehen. Die Frauen konnten weder lesen noch N. darf die Notunterkunft ver- schreiben. Anpacken, sich einbringen. lassen, muss sich aber zweimal täglich Platz genug. Ich bin stolz auf die Ge- melden, um die 8 Franken 50 Notgeld schichte meiner Familie. Kraft, Mut, zu bekommen. Ihre Tochter hat Pioniergeist haben ihre Biografien ge- Deutsch gelernt, darf zur Schule prägt. Wachstum, politische Instabili- gehen. Bewegt sich zwischen der täten, Neuanfänge? Normalität auf einem dörflichen Schulplatz und einer Welt, die es nicht N. ruft mich an. Sie gibt. N. weint ganz selten. In letzter Mensch = Migrant hat Angst. War über Nacht im Gefängnis. Wurde wieder freigelassen. Mit Zeit öfters, wenn ich sie besuche. Ihr Kopftuch, das ihr Haupt immer or- dentlich bedeckte, rutscht in letzter einem Brief, den sie nicht Zeit auf ihre Schultern. Sie vergisst, es Mein Ururgrossvater Friedrich war lesen kann. Mit einer vierstelligen wieder herzurichten. Gott verzeiht staatenlos. In Köln geboren. Er reiste Geldstrafe, die sie nicht bezahlen ihr. N. hat zum jetzigen Zeitpunkt per Schiff nach New York, um sein kann. Weil sie illegal ist. Kein Mensch keine Perspektiven. N. will nur ein Glück zu versuchen. New York war ist illegal, denke ich. N. durfte in ihrer normales Leben. Manchmal schäme gut und nahm ihn auf. Das Heimat nicht zur Schule gehen, wurde ich mich vor N. Delia Mayer Leben drängte weiter. verheiratet. N. war eine von sechs Musikerin und Schauspielerin, Chile. Meine Ururgross- Frauen, wurde geschlagen. In ihrer N. steht steht für Nadeen, engagiert sich für abgewiese- ne Asylbewerberinnen und mutter Euphrasie wurde Heimat herrscht Krieg. Nun ist N. Nicole, Naima, Nathalie, Nabalungi, -bewerber im Kanton Zürich. in Paris geboren. Mutter hier. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt, Nele. Diesen Monat dreht Mayer Französin, Vater Katalane. weil ihr Fall nicht als lebensbedrohend N. steht für Nummer. Notunter- ihren letzten Luzerner Tatort. Sie wollte Ärztin werden. gilt. Jetzt ist sie straffällig. Weil sie kunft. Oder Nächstenliebe. Unmöglich als Frau im da- hier ist. Meine Vorfahren waren legal. maligen Paris. Sie bestieg mit 19 kur- N. hat kein Leben, so wie wir es für zerhand ein Schiff und reiste nach selbstverständlich erachten. Chile. Ihr Vater sei in den Gefängnis- sen von Paris verschollen. N. wohnt mit ihrer Tochter in einer Notunterkunft, einem der Für beide war Chile gut. Dann vielen provisorischen Containerkom- kam ein Kind. Als das Kind gross war, plexen, in denen Familien, Frauen mit wollte es weiter. Er reiste nach Berlin Kindern, alleinstehende Menschen 24 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz November 2018
ÜBERDACHT über die kulturelle Teilhabe hinaus: Wer hat das Recht, seine Geschichte zu erzählen und in welcher Form? Nicht zuletzt geht es darum, wer poli- tische Mitsprache einfordern kann. Zahlreiche künstlerische Projekte, in denen Migration, Flucht oder Stigma- tisierung thematisiert werden, zeigen auf, wie weniger etablierte Personen die Definitionshoheit über ihre Erfah- rungen wahrnehmen. Migration oder Flucht können also Ressource sein für kulturelles Schaffen, und dabei spezifi- sche Erfahrungen oder diskriminie- rende Mechanismen thematisieren. Kultur und Kunst Trotzdem scheint es mir wich- tig, zu hinterfragen, inwiefern die Ka- braucht keine Grenzen tegorisierung in «Migrantin» oder «Flüchtling» überhaupt von Bedeu- tung ist. Oft werden Kulturschaffen- de auf stereotype Vorstellungen redu- Warum sollten sich Kulturschaffende Die zeitgenössische Interpreta- ziert und dann zu Vertretern und Ver- für die kulturelle Teilhabe von Mig- tion von Melodien, welche osteuropä- treterinnen ihrer «Herkunftskultur» ranten und Migrantinnen und von ische Ausgewanderte zu Anfang des ernannt. Beispielsweise denke ich hier Flüchtlingen engagieren? Stellen 20. Jahrhunderts zunächst in New an einen Schweizer Filmschaffenden, denn Kulturschaffende und York und später in der ganzen Welt be- dessen Eltern aus Indien in die Joanna Menet Migranten und Migrantin- kannt machten, aber auch zahlreiche Schweiz kamen und der sich ständig studierte Sozialanthropolo- nen zwei unterschiedliche weitere Beispiele aus Musik, Tanz, dem Erwartungsdruck ausgesetzt gie in Zürich und doktoriert Gruppen dar? Entscheiden Literatur oder Film führen uns vor sieht, Bollywood-inspirierte Filme zu zu transnationalen Künstler- und Künstlerinnenkarrieren denn nationalstaatliche Augen, dass Kultur und Kunst seit machen. Er ist es leid und möchte eher an der Universität Neuen- Grenzen über kulturelle jeher verschiedene Grenzen über- für seine Geschichte über ein Liebes- burg. Sie hat an verschiede- Identität von Menschen? schreiten. Oft entsteht dadurch paar mit grossem Altersunterschied nen Studien zu Migration mitgewirkt und arbeitet zur Kürzlich war ich an einem Neues, und an die Stelle von Differenz anerkannt werden. Ähnlich ergeht es Zeit in einem Forschungspro- Klezmerkonzert in einem tritt das Verbindende. In einer Welt, in professionellen Salsatänzerinnen, die jekt über Nachkommen von kleinen Theatersaal in der der täglich neue Mauern hochgezogen lieber mit zeitgenössischer Perfor- Migranten und Migrantinnen in der Schweiz. Westschweiz. Die vier Zür- und Menschen aufgrund ihrer Her- mance als mit sexy Latino-Klischees cher Musikerinnen und kunft ausgegrenzt werden, ist dies identifiziert werden möchten. Ich Musiker vermochten mit Tempera- nicht banal. sehe Kulturschaffende daher als wich- ment und einem Augenzwinkern den tige Akteurinnen und Akteure in ge- Röstigraben zu überwinden und das Kultur hat also das Potenzial, samtgesellschaftlichen Prozessen Publikum in ihren Bann zu Räume zu öffnen, und kann damit als von Ein- und Ausschluss. Sie können Illustration: Till Lauer ziehen: In ihren Stühlen sit- ein gesellschaftlicher Bereich angese- dazu beitragen, Räume zu schaffen zend, wippten die Zuhöre- hen werden, der die Teilhabe von ver- und aufrechtzuerhalten, in denen sich rinnen und Zuhörer mit den Füssen, schiedenen benachteiligten Gruppen Grenzziehungen erübrigen. lachten lauthals, und als die Musik ru- ermöglicht. Dafür müssen jedoch die higer wurde, glitzerten in einigen notwendigen Ressourcen verfügbar Augen Tränen. Obwohl die Gruppe sein. In einer demokratischen Gesell- ausschliesslich Lieder in jiddischer schaft sollten wir uns daher mit fol- Sprache sang, die nur wenige verstan- genden Fragen befassen: Wer hat in den, durchlebte das Publikum wäh- der aktuellen Kulturlandschaft die «Überdacht», das sind zwei rend des Konzerts das gesamte Spekt- Möglichkeit, teilzuhaben? Welche Antworten auf eine Frage: Profis aus Theorie und Praxis rum menschlicher Emotionen. Sicht- «Kultur» wird anerkannt (nicht zu- äussern sich monatlich und lich bewegt verliessen die Konzertbe- letzt durch Förderung) und welche aktuell zu Kultur und ihren sucherinnen und -besucher das Lokal. nicht? Natürlich weisen diese Fragen Wirkungsbereichen. November 2018 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 25
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