DIE DER ANKUNFT ANDEREN - www.null41.ch November 2018 SFr. 9.

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  November 2018
     SFr. 9.–

  DIE
ANKUNFT
  DER
ANDEREN
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Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Graphic Design, Patrick Bähler, 2018
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EDITORIAL

PLATZ FINDEN
                                                                                               aus der Fremde kamen und ihre
                                                                                               ganz persönlichen Anknüpfungs-
                                                                                               punkte zum hiesigen Kulturleben

IM KULTURLEBEN
                                                                                               gefunden haben. Nina Laky begeg-
                                                                                               nete Parwiz, der als junger Mann
                                                                                               aus Afghanistan geflüchtet ist und
                                                                                               nun den Vorkurs an der Hochschu-
                       Die Begegnung mit dem Fremden ist prägend                    le Luzern – Design & Kunst besucht. Thomas
                       für unsere Zeit: selbst gewählt beim Reisen –                Bolli besuchte das Künstlerpaar von Chalet5,
                       die Schweizer und Schweizerinnen gehören                     Karin Wälchli und Guido Reichlin, in Gö-
                       zu den reisefreudigsten Personen in Europa –                 schenen. Die beiden zogen vom umtriebigen
                                   oder in der Auseinandersetzung                   Kreis 4 in Zürich ins Urnerland – eine Flucht
            Sophie Grossmann       mit den Menschen, die nach                       in die selbst gewählte Isolation? In unserer
            Redaktionsleiterin
                                   mehrjährigen Fluchtodysseen in                   Politkolumne «Poliamourös» denkt Marlène
                                   Westeuropa ankommen. Auf der                     Schnieper darüber nach, wie die politische
                       Suche nach Perspektiven, mit Hoffnungen,                     Haltung des Nichtwissenwollens in die poli-
                       Sorgen und Wünschen.                                         tische Isolation läuft, und Delia Mayer, Luzer-
                                                                                    ner Tatort-Kommissarin, berichtet bei «Über-
                          In der Novemberausgabe von «041 – Das                     dacht» über die Gründe ihres politischen En-
                     Kulturmagazin» schauen wir durch die Kul-                      gagements für geflüchtete Menschen.
                     turlupe auf das Thema «Flucht». Ein schein-
                     bar ewig präsentes Thema, das, mit Schlag-                        Ein Heft voller Denkanstösse, Engage-
                     wörtern besetzt, in zahlreichen medialen und                   ment und Inspiration – so viel Gutes soll sein!
                     persönlichen Diskussionen Eingang findet.
                     Doch in welcher Form können und wollen
                     fluchtbetroffene Menschen am Kulturleben
                     in der Zentralschweiz teilnehmen? Die kom-
                     menden Seiten widmen sich Menschen, die

November 2018                         041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz                               3
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INHALTSVERZEICHNIS

            Stellt in Meggen aus: Camillo Paravicini > Seite 28                                Sorgen für grosse Augen: Motorpsycho > Seite 30

«WENN MAN MICH FRAGT, WAS                                                        Editorial > Seite 3
FÜR MICH KUNST BEDEUTET,                                                         Guten Tag > Seite 5
SAGE ICH MEINEN VORNAMEN.»                                                       Poliamourös
                                                                                 Marlène Schnieper über das Nichtwissenwollen > Seite 6
Parwiz macht den Vorkurs > Seite 10
                                                                                 Kosmopolitour
                                                                                 Lukas Niklaus animiert Aladdin in Vancouver > Seite 7

OFFENE TÜRE
                                                                                 Stadt – Land
                                                                                 Blick durch die Linse aus Luzern und Dallenwil > Seite 8/9

                                                                                 Überdacht

UND DOCH                                                                         Wozu Kulturintegration? Joanna Menet und Delia Mayer
                                                                                 plädieren für politisches Engagement > Seite 24

                                                                                 Nachschlag
KEIN ZUTRITT?
Kulturelle Teilhabe ist nicht nur eine Geldfrage > Seite 14
                                                                                 Hip, Hype, Hurra! Food aus der Ferne liegt im Trend > Seite 26

                                                                                 Ausgefragt
                                                                                 Die monatlichen drei Fragen an Kulturschaffende im Hintergrund > Seite 35

                                                                                 Käptn Steffis Rätsel > Seite 66
                                                                                 Gezeichnet > Seite 67

GÖSCHENEN                                                                         KULTURKALENDER
EINFACH
Das Künstlerduo Chalet5 flüchtet von Zürich aufs Land – warum? >
Seite 20
                                                                                  NOVEMBER 2018
                                                                                 Kunst > Seite 28
                                                                                 Bühne > Seite 30
                                                                                 Musik > Seite 32
                                                                                 Film > Seite 34
                                                                                 Literatur > Seite 36
                                                                                 Veranstaltungen > Seite 39
                                                                                 Ausstellungen > Seite 57
                                                                                 Adressen A-Z > Seite 62
                                                                                 Ausschreibungen > Seite 64

4                                                041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz                                November 2018
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GUTEN TAG

                GUTEN TAG, VBL                                                 GUTEN TAG, LUCERNE FESTIVAL
               Welcher Teufel hat Euch geritten, liebe                       Das diesjährige Piano-Festival ist hin-
          Verkehrsbetriebe? Wie konnte es nur dazu                      sichtlich Eurer Corporate-Konsequenz ein
          kommen? «vbl verbendet üs, drom reised ehr                    Trauermarsch in dreifachem Forte. «Alles aus-
          met üsne Büs», heisst es in einem wackligen                   ser Alltag» heisst es in Eurem Jahresprogramm.
          Song, den Ihr kürzlich auf Youtube geladen                    Alltag heisst: 51 Prozent Frauen, 49 Prozent
          und nach unseren humorvollen Reaktionen                       Männer. Am Tastenspektakel spielen aber
          bereits wieder gelöscht habt. (Achtung: «ver-                 heuer – aufgepasst – zwei Frauen. Varvara, ver-
          binden», nicht «verblenden»!) Es geht in dieser               bannt auf den Tastentag um 16 Uhr, und Schag-
          filmischen Maturaarbeit um eine jugendliche                   hajegh Nosrati, die einen Debüt-Slot um 12.15
          Romanze im Bus. Aber alles ist so dermassen                   Uhr in der Lukaskirche bekommt. Und die ihr
          trostlos, dass man nicht weiss, ob man weinen                 Debüt eigentlich schon dieses Jahr zu Ostern
          oder lachen soll. Was wollt Ihr uns damit                     gespielt hat – mit ihrem Mentor Sir Schiff.
          sagen? Im 8er-Bus lässt sich gut küssen? Agie-                Andreas Haefliger (der kleine Bruder von In-
          ren Buschauffeure als heimliche Verkuppler?                   tendant Michael, aber pssst) hingegen leitet
          «Wir wollen damit keinen Youtube-Hit lan-                     einen Meisterkurs und spielt mit der Zürcher
          den», hat Sprecher, Regisseur und Sänger                      Tonhalle gleich zwei Klavierkonzerte. Ausser-
          Christian Bertschi aufgeklärt. Doch das haben                 dem zu bestaunen: (junge) Altmeister wie Igor
          schon andere behauptet. Remember «the                         Levit, Schiff himself oder Grigory Sokolov. Die
          ünique barock style» Hotel Monopol? Und                       können alle Klavier spielen, klar. Aber: Erst
          wisst Ihr, was uns am meisten Sorgen macht?                   2016 habt Ihr ein starkes Zeichen gesetzt und
          Ab 2019 arbeitet Bertschi als Kommunika-                      den Sommer unter das Motto «Prima Donna»
          tionschef der Luzerner Polizei. Gott behüte!                  gestellt. Doch ebenso schnell, wie all die Diri-
                                                                        gentinnen und Solistinnen aufs Parkett kata-
          Verblendet und verbunden, 041 – Das Kulturmaga-               pultiert wurden, scheinen sie nun wieder in der
          zin                                                           Versenkung verschwunden zu sein. Gen-
                                                                        der-Mänteli ausziehen, zurück ins Archiv der
                                                                        «vanity projects» damit. Mottokugeln nicht
                                                                        vergessen! Doch wo bleibt die Nachhaltigkeit?

                                                                        Booking, booking, buh-king, 041 – Das Kulturmaga-
                                                                        zin
                GUTEN TAG, FEIERABEND
               Flucht ist auch: mal abschalten von all dem
          Flüchtlinge-Trump-Facebook-Nazis-News-
          Gedöns! Aber Du, Feierabend, schönste aller
          Fluchten, warst mal besser. Man will entspan-
          nen, schaltet am Dienstag um 19 Uhr Radio
          3fach ein und wird mit der harten Realität von
          humorresistentem Geblabber in der
          Satire-Sendung «Latz» konfrontiert. Und man
          schaltet wieder ab. Laptop auf, Vice ein: «Unbe-
          quemer Journalismus und Dokus zu allem,
          was wichtig ist.» Munchies-Special, Luzern-
          Version: Volltätowierte Hipsterriege lässt sich
          volllaufen, frisst sich durch Haute Cuisine,
          sticht sich im Vollrausch neue Tattoos und
          rülpst im Interview die Hohe Küche inklusive
          Hipsterfloskeln wieder raus. Finden es geil,
          meinen es ernst. Chapeau, Vice: Sehr unbeque-
          mer Journalismus.

          Lieber Netflix bingen, 041 – Das Kulturmagazin

November 2018                           041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz                       5
DIE DER ANKUNFT ANDEREN - www.null41.ch November 2018 SFr. 9.
POLIAMOURÖS

                                                                                                            bendig. Deshalb stellt der EDA-Chef
                                                                                                            in der «Luzerner Zeitung» die rhetori-
                                                                                                            sche Frage: «Ist die UNRWA Teil der
                                                                                                            Lösung oder Teil des Problems»?
                                                                                                            Cassis gibt sich dabei so geschichts-
                                                                                                            vergessen wie der Twitterer aus
                                                                                                            Übersee.
                                                                                                                  Als Graf Folke Bernadotte, der
                                                                                                            erste Nahostvermittler in Uno-Diens-
                                                                                                            ten, kurz nach der israelischen Staats-
                                                                                                            gründung im Mai 1948 anreiste,
                                                                                                            waren bereits 350 000 palästinensi-
                                                                                                            sche Frauen, Männer und Kinder auf
                                                                                                            der Flucht. Rapid verdoppelte sich die

Nichtwissenwollen
                                                                                                            Zahl. Vehement forderte der schwedi-
                                                                                                            sche Diplomat, die Staatengemein-
                                                                                                            schaft solle diese Menschen zurück-
                                                                                                            führen, wiedereingliedern und deren

führt in die Isolation
                                                                                                            Eigentumsrechte durchsetzen. Israels
                                                                                                            Gründervater David Ben Gurion stell-
                                                                                                            te sich taub. Vier Monate später war
                                                                                                            Bernadotte tot, ermordet von der
Bundesrat Ignazio Cassis vermutet, das                                                                      Stern-Bande des späteren israelischen
Uno-Hilfswerk für palästinensische                                                                          Premiers Yitzhak Shamir. 1949 unter-
                                                                                                            zeichnete Israel bilaterale Waffenstill-
Flüchtlinge sei heute Teil des Nahostpro-
                                                                       Land und aus der Luft kontrol-       standsabkommen mit den arabischen
blems, weil es die trügerische Hoffnung                                liert. Wenn nun, was durchaus        Nachbarstaaten. Zu einem umfassen-
auf eine Rückkehr nach Palästina nähre.                                möglich wäre, die örtliche Ver-      den Friedensvertrag oder auch nur zu
                                                                       waltung in Ramallah und in           einem Kompromiss in Sachen Flücht-
                   Allmählich wird klar, wie US-Präsi-         Gaza-City kollabierte und die interna-       lingen kam es nie. So mag die
                   dent Donald Trump den Nahen Osten           tionalen Akteure ihr segensreiches           UNRWA, die ebenfalls 1949 entstand,
                   befrieden will. Den Israelis schickt er     Wirken wegen Geldmangels aufge-              heute wie ein Dinosaurier wirken. Mit
                   Kampfjets. Der UNRWA, dem                   ben müssten, so läge es gemäss huma-         ihren Schulen, Spielfeldern und
                   Uno-Hilfswerk für die palästinensi-         nitärem Völkerrecht hauptsächlich an         Schutzräumen bietet sie freilich auch
                   schen Flüchtlinge, und den Spitälern        Israel, die Zivilbevölkerung im be-          den Kindeskindern der 48er-Flücht-
Text: Marlène Schnieper          in Ostjerusalem ent-          setzten und blockierten Gebiet zu            linge noch immer den breiten Rücken,
Illustration: Stefanie Sager zieht er die finanziellen         hegen und zu pflegen. Nichts von all         den diese brauchen, um von Bewe-
                                 Mittel. Sind Palästinen-      dem erwähnt Cassis, Gott bewahre!            gungsfreiheit wenigstens zu träumen.
                   serinnen und Palästinenser erst             Schliesslich steht dem EDA seit einem              Da Bundesrat Cassis eben noch
                   einmal ausgehungert, so das Kalkül,         Jahr ein strammer Rechter vor, und           an der Seite von UNRWA-Direktor
                   werden sie willfährig sein, wenn vom        der stösst letztlich ins gleiche Horn        Pierre Krähenbühl durch palästinen-
                   Tisch des Schwiegersohns Jared Kush-        wie Trump.                                   sische Flüchtlingslager schritt, muss
                   ner der Brosamen eines Bantustans                 Kaum von seiner ersten Reise           er von solchen Zusammenhängen
                   statt eines lebensfähigen palästinen-       nach Nahost zurück, weiss Cassis,            gehört haben. Wollte er also gar nicht
                   sischen Staates fällt. «Ohne Deal kein      woran es dort hapert. Bei der                hinzulernen? Das wäre bedauerlich,
                   Geld», beschied der US-Präsident            UNRWA, das sah er in Jordanien, sind         denn Nichtwissenwollen in Fragen
                   jüngst.                                     heute viele als Flüchtlinge registriert,     von Flucht und Migration führt in die
                         Das ist politische Erpressung.        die den Namen «gar nicht mehr ver-           politische Isolation.
                   Und was tut Ignazio Cassis, der neue        dienen». So kommt es, dass aus den
                   Schweizer Aussenminister? Als Ver-          700 000 Menschen, die 1948 aus dem
                   treter des Depositärstaates der Genfer      Gebiet des heutigen Israels vertrieben       Die Luzernerin Marlène Schnieper war
                   Konventionen hätte er daran erinnern        wurden, mehr als fünf Millionen ge-          Nahostkorrespondentin des «Tages-An-
                   können, dass Israel das Westjordan-         worden sind. Unter all diesen Leuten         zeigers». 2012 erschien im Zürcher
                                                                                                            Rotpunktverlag ihr Buch «Nakba – die
                   land nach wie vor besetzt hält und          hält das Uno-Hilfswerk den Traum             offene Wunde. Die Vertreibung der
                   auch den Gazastreifen zu Wasser, zu         einer Rückkehr in die alte Heimat le-        Palästinenser 1948 und die Folgen».

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DIE DER ANKUNFT ANDEREN - www.null41.ch November 2018 SFr. 9.
KOSMOPOLITOUR

Neue Stadt,                                                                                                 der Wand stehen in grossen Buchstaben
                                                                                                            die berühmten Worte:

Tinder an!
                                                                                                            «A long time ago in a galaxy far, far
                                                                                                            away....»

                                                                                                            Um uns täglich daran zu erinnern, dass
                                                                                                            wir hier jeden Tag ein bisschen Filmge-
Hollywood ist seit immer schöner Schein und ziemlich                                                        schichte schreiben. Ein grosses Ziel auf
hartes Sein. Diese Erfahrung macht auch die Armada                                                          meiner Wunschliste, das nun abgehakt
                                                                                                            werden kann.
an Effektspezialisten, die quer über den Globus verteilt
Hollywood-Blockbuster fabrizieren.                                                                 Die grösste Lektion, die mir die stete
                                                                                                   Ungewissheit meiner Arbeitssituation
                                                                                                   immer wieder eintrichtert: Verände-
                                                                                                   rung ist selten schlecht. Sie gibt uns die
                                                                                                   Möglichkeit, unsere Lebensentschei-
                                                                                                   dungen zu hinterfragen, ab und zu mal
                                                                     Die Partner der Artists haben wieder den Arsch vom Sofa zu heben
                                                                     sogar ihre eigene Facebook- und das Leben in die eigene Hand zu
                                                                     Gruppe, um sich zu organi- nehmen.
                                                                     sieren, wenn wir die ganze
                                                                     Nacht im Büro sind.           Und das habe ich definitiv vor, wenn
                                                                                                   ich hier fertig bin: zuerst nach Austra-
                                                                     Früher fand ich’s geil! Neue lien zu Kates Familie. Nach zwei Jahren
                                                                     Stadt, Tinder an! Heute wäre mit durchschnittlich 70 bis 80 Arbeits-
                                                                     mir ein Häuschen in einem stunden pro Woche ist’s an der Zeit, ein
                                                                     friedlichen Örtchen mit Time-out zu nehmen. Ein Monat ohne
                                                                     Frauchen und Hündchen um Internet in Nord Queensland, wo es
                                                                     einiges lieber. Doch versteht gemäss den Einheimischen «nothing
                                                                     mich nicht falsch: Filmcha- but crocs and sugarcane» gibt.
                                                                     rakteren Leben einzuhau-
                                                                     chen, ist ein Traumjob!       Keine Nächte im dunklen Büro, vor
                                                                                                   dem Computer, nur am Leben gehalten
                                                                     Und wenn man im Büro am dank Kaffee und Snickers. Stattdessen
                Kein normaler Job. Bild: Lukas Niklaus               Zmittagkochen ist und Sir mal um Mitternacht mit Kates Vater
                                                                     Peter Jackson (Regisseur der Oktopusfischen gehen. Oder einfach
                                                                     Herr-der-Ringe-Trilogie und am Nachmittag drei Stunden pfusen.
                    «Wow! Du hast an zwei Oscar-Filmen 17-facher Oscargewinner, Anm. d. Red.) Batterien aufladen und neue Inspirati-
                    gearbeitet? Cool!»                    ganz nonchalant an einem vorbeispa- on finden.
                    Heisst’s zu Hause.                    ziert und freundlich grüsst, dann weiss
                                                          man, dass man keinen «normalen» Job Danach geht’s wieder nach Neuseeland.
                    «Sorry, wir haben nicht genug Arbeit, hat. Das realisiere ich gerade jetzt Vielleicht packe ich ein paar eigene
                    um deinen Vertrag zu verlängern.»     wieder.                                  Projekte an … Und vielleicht darf ich
                    Heisst’s im Büro.                                                              Mitte 2019 auch noch Hand anlegen
                                                          Meine Verlobte, Kate, ist in Neuseeland bei der «Avatar»-Fortsetzung. Wäre
                    Eine Realität, mit der ich wieder geblieben. Sie ist Kostümmacherin für doch geil … oder nicht?
                    kämpfe, seitdem ich vor zwei Monaten die «Avatar»-Fortsetzungen, während
                    «zwangsweise» nach Vancouver gezo- ich, weil es nicht genügend Arbeit gab
                    gen bin.                              in Neuseeland, in Kanada bin. In
                                                          Vancouver, wo ich an der Neuverfil-
                    Es ist eine junge Branche für junge mung von «Aladdin» arbeite. In DER
                    Leute.                                Firma, gegründet von George Lucas. Lukas Niklaus
                                                                                                   *1985, in Uffikon (LU) aufgewachsen,
                    «Beziehungskiller» wurde meine letzte Die hat damals die Effekte für «Star seit 2011 unterwegs.
                    Arbeitsstelle genannt.                Wars» und «Jurassic Park» gemacht. An www.vimeo.com/lukasniklaus

November 2018                               041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz                                         7
DIE DER ANKUNFT ANDEREN - www.null41.ch November 2018 SFr. 9.
STADT
                   11. OKTOBER, STUDIO VOM DACH, INDUSTRIESTRASSE LUZERN

«Was wir Kulturgut nennen, entsteht meist in einem kreativen Prozess
hinter verschlossenen Türen. Im besten Fall geht daraus ein Produkt hervor,
welches die helle Bühne der Öffentlichkeit betritt.»

Bild & Wort: Silvio Zeder

8                         041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz   November 2018
DIE DER ANKUNFT ANDEREN - www.null41.ch November 2018 SFr. 9.
LAND
                     11. OKTOBER, THEATER DALLENWIL

                           «D’Sackuir. Die letzten
                         Theaterproben laufen auf
                                    Hochtouren.»
                                                                Bild & Wort: Sibylle Kathriner

November 2018   041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschwei                 9
DIE DER ANKUNFT ANDEREN - www.null41.ch November 2018 SFr. 9.
FOKUS: FLUCHT

10   041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz   November 2018
FOKUS: FLUCHT

Im Vorkurs der Hochschule Luzern – Design & Kunst
studieren seit diesem Sommer vier Personen,
die flüchten mussten. So wie Parwiz aus Afghanistan.
Er lebt seit drei Jahren in der Schweiz.

 HELLO,
                                                                                             einer von drei Klassen lernen sie und weite-
                                                                                             re 97 Studierende abformen, modellieren,
                                                                                             zeichnen, malen, mit Tiefdruck zu arbeiten,
                                                                                             digitale Bilder zu erstellen oder 3-D-Objek-
                                                                                             te zu erschaffen. «Die Ziele sind für sie

 WELCOME!
                                                                                             gleich wie für alle anderen auch: Orientie-
                                                                                             rung und möglichst viel Praxiserfahrung.
                                                                                             Aber sie können dabei auch noch besser
                                                                                             Deutsch lernen und Kontakte knüpfen.»

                                                                                                   Ganz so einfach wie für andere ist das
                                                                                             Absolvieren des Vorkurses für die vier aller-
           Im Frühlingssemester 2017 haben drei Männer aus Afg-               dings nicht: Die Studiengebühren (rund 5000 Franken
           hanistan, ein Eritreer und zwei Eritreerinnen in den Ate-          über zwei Jahre, wenn die Person im Kanton Luzern
           liers der Hochschule Luzern – Design & Kunst gearbeitet.           wohnt, für Ausserkantonale sogar bis zu 20 000 Franken)
                            Sie absolvierten ein spezielles sechswö-          bezahlen sie selbst. «Weil das Angebot so kurzfristig um-
Text: Nina Laky
                            chiges Praktikum, in dem sie selbststän-          gesetzt wurde, sind uns bei Fragen um die Mit-Finanzie-
Bild: Mo Henzmann
                            dig, aber in enger Begleitung, eine Aus-          rung noch die Hände gebunden. Ein Studiengeld für
           stellung gestalteten. Sounddesign-Dozent Christof                  diese Personen ist nicht
           Steinmann und seine Kolleginnen und Kollegen aus dem               budgetiert.» Steinmann
           Departement Kunst und Vermittlung haben dieses An-                 hofft jedoch, dass nächs-
                                                                                                                 «Über 90 Prozent der
           gebot initiiert und durchgeführt. «Nach einem internen             ten Frühling wieder                Studierenden haben
           Diversity-Workshop habe ich die Herkunft unserer Stu-
           dierenden genauer angeschaut. Über 90 Prozent haben
                                                                              Praktika ausgeschrie-
                                                                              ben werden und dass die
                                                                                                                keinen Migrationshin-
           keinen Migrationshintergrund aus der letzten oder vor-             HSLU künftig finan-                          tergrund»
           letzten Generation. Für mich war klar, dass Handlungs-             zielle Hilfe leisten kann.
           bedarf besteht, das Studium für Menschen mit Flucht-               «Ebenfalls finde ich es unabdingbar, dass die zuständigen
           oder Migrationshintergrund zu öffnen», sagt Christof               Personen bei den Kantonen einsehen, dass auch Asylsu-
           Steinmann.                                                         chende und vorläufig aufgenommene Ausländerinnen
                                                                              und Ausländer eine Ausbildung benötigen.»
                  So dringend, dass das Departement bereits ein
            halbes Jahr später Praktikumsplätze ausschrieb. «Wir
            wollten ein niederschwelliges, unbürokratisches Ange-
            bot und sofort handeln, denn die sprachliche Hürde an
            der Kunsthochschule ist nicht so gross wie anderswo.»
            Zusammen mit dem Eritreischen Medienbund Schweiz
            und dem «HelloWelcome»-Treffpunkt in Luzern haben
            die Dozentinnen und Dozenten via Facebook-Video ver-
            sucht, die eritreische und afghanische Diaspora zu errei-
            chen. «Das Video war ein Erfolg und hatte innert kürzes-                 An der HSLU findet im Herbstsemester eine interdiszip-
                                                                                     linäre Ringvorlesung zum Thema «Migration – Film,
            ter Zeit 70 000 Klicks. So haben wir die Leute viel schnel-              Kunst und Design im Kontext von Flucht und Fremd-
            ler erreicht als über gängige Integrationsstellen», sagt                 heitserfahrung» statt. Die Vorlesung ist offen für
                                                                                     Interessierte. Verbleibende Daten:
            Christof Steinmann.
                  Die HSLU hat das Angebot aber auch in der Zeitung                  Ringvorlesung «Migration»
                                                                                     MI 7., MI 14., MI 21., MI 28. November, MI 5., MI 12.
            publiziert, so kam beispielsweise Parwiz zu diesem Prak-                 Dezember, jeweils 17 bis 19.45 Uhr
            tikum. Parwiz und drei weitere haben daraufhin die re-                   Viscose, Emmenbrücke, Raum 250
                                                                                     Dozierende: Silvia Henke, Marie-Louise Nigg, Wolfgang Brückle
            guläre Aufnahmeprüfung des Vorkurses bestanden. In                       und Gäste

November 2018                                 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz                                          11
FOKUS: FLUCHT

«ES WAR MIR NICHT KLAR,
                                                                                                                Zuerst wollte ich
                                                                                                         direkt mit einem Bache-
                                                                                                         lorstudium anfangen,

WAS ES ALLES HEISSEN KANN,                                                                               aber die Dozenten und
                                                                                                         Dozentinnen haben mir

IN DER SCHWEIZ KUNST ZU                                                                                  empfohlen, den Vorkurs
                                                                                                         zu machen, weil ich

MACHEN.»                                                                                                 keine Dokumente habe
                                                                                                         und keine künstlerische
                                                                                                         Vorbildung. Es ist alles
                                                                       noch neu und sehr schwierig: einerseits wegen der Spra-
                                                                       che, anderseits wegen der kulturellen Unterschiede. Ich
                                                                       mag die Schweizer Kultur sehr, aber die Unterschiede
                                                                       sind so gross, dass ich sie gar nicht alle benennen kann.
                                                                       Immer wieder lerne ich viele neue Leute kennen, die
                                                                       ganz anders sind. Das alles zu verarbeiten braucht Zeit.
                                                                       Ich möchte so schnell wie möglich mit den Unterschie-
                                                                       den umgehen können.

                                                                              Grundsätzlich gefällt mir der Vorkurs bis jetzt aber
                                                                       sehr. Dass die Lehrerinnen und Lehrer mich beim Malen
                                                                       korrigieren, ist gut, und auch, dass ich immer fragen
                                                                       kann. Spezialisiert habe ich mich noch nicht, ich mag alle
                                                                       Techniken und bin offen. Das Zeichnen und Abbilden
                                                                       von Natur reizt mich am meisten. Mir gefallen die Arbei-
                                                                       ten von Leonardo da Vinci, weil er auch viele Maschinen
                                                                       erfunden hat. Ich mag grundsätzlich alles, was Künstle-
     Mein Name ist Parwiz, ich bin 21 Jahre alt und lebe mo-           rinnen und Künstler machen, schon nur, weil sie die Frei-
     mentan im Kanton Luzern in einer 10er-WG der Caritas.             heit dazu haben. Wenn man mich fragt, was für mich
     Seit zwei Monaten besuche ich den gestalterischen Vor-            Kunst bedeutet, sage ich meinen Vornamen. In Persisch
     kurs. In meiner Freizeit spiele ich am liebsten Volleyball        heisst Parwiz Frieden und Zufriedenheit. An das musste
     und am Wochenende arbeite ich in einer Bar. Einmal in             ich oft denken, als ich angefangen habe, gestalterisch zu
     der Woche habe ich Deutschunterricht.                             arbeiten. Es bedeutet für mich genau das: Es macht glück-
                                                                       lich. Mich und andere im besten Falle auch.
           In der Schweiz bin ich seit drei Jahren, ich bin vor-              Wenn man etwas erreichen will, gibt es immer
     läufig aufgenommen und komme aus Afghanistan. Dort                schwierige Situationen. Bei mir sind viele Fragen finan-
     habe ich mit 13 angefangen, als Sanitärinstallateur zu ar-        zieller Natur: Ich muss arbeiten, alles selbst bezahlen und
     beiten. Als Kind habe ich nicht viel gemalt oder gebastelt.       wohne weit weg von der Stadt. Ein Schweizer hat mir
     Es gibt in Afghanistan zwar Kunstschulen und Künstle-             privat das erste Semester nun vorgeschossen, aber ich
     rinnen und Künstler, vor allem aus dem Iran, aber das             zahle ihm das ab. Darum kann ich auch schlecht sagen,
     kann man nicht vergleichen.                                       was konkret meine Pläne für die Zukunft sind. Klar ist,
                                                                       dass ich diesen Weg mit dem Vorkurs, den ich jetzt einge-
           An der HSLU habe ich vor dem Vorkurs ein sechs-             schlagen habe, gehen möchte. Ob mit oder ohne finan-
     wöchiges Praktikum gemacht. In der Zeitung habe ich               zielle Unterstützung. Letzteres würde mir einfach vieles
     gelesen, dass sie Praktikumsplätze für Personen wie               erleichtern.
     mich anbieten. Letztes Jahr im Sommer habe ich im                 Aufzeichnung: Nina Laky
     Kunstsilo in Emmenbrücke eine Ausstellung gemacht,                Übersetzung: Reza Hosseini
     das hat mich zu einer Bewerbung motiviert. Es war ein
     gutes Projekt, weil wir selber wünschen konnten, was
     wir wie umsetzen. Ich habe gemalt und Skulpturen ge-
     staltet und dabei erfahren, was es alles heissen kann, in
     der Schweiz Kunst zu machen. Bevor ich aber an ein
     nächstes Projekt oder eine nächste Ausstellung denke,
     möchte ich noch viel mehr lernen.

12                                     041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz                             November 2018
KULTURLEGI
                                                                                                             
                                                                                                                
                                                                                                                                                       
                                                                                                                                                        
                                                                                                                                                             

                                                                                     ascot-elite.ch
                    Info-Tage Musik
                  MI 28. November bis DI 4. Dezember 2018

  Informiere dich über das             PreCollege(Klassik, Jazz, Volksmusik)
  PreCollege sowie die Bachelor-       Bachelor of Arts in Music (Klassik, Jazz)
                                                                                                                                      
                                                                                                        
  und Master-Studiengänge,             Bachelor of Arts/Kirchenmusik
  besuche den Unterricht und           Bachelor of Arts/Musik und Bewegung
  unterhalte dich mit Studieren-       Bachelor of Arts/Blasmusikdirektion
  den und Dozierenden.                 Master of Arts in Music
  Kurz, lerne uns kennen!              Master of Arts in Musikpädagogik
                                                                                                           
                                                                                                                 ơ&+5,(*
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                        Unter www.hslu.ch/m-info-tage
              findest du ab Mitte November das Detailprogramm.
                                                                                                          

 IG KULTUR IMPULS
                                                                                                                                                Übergabefeier der
                                                                                                                                Werk- und Produktionsbeiträge

                  ar
                d be
                 s
                                                                                                                             in den Sparten O Musik O Theater/Tanz
                                                                                                                                  O Freie Kunst O Angewandte Kunst
                                                                                                                                         Freitag, 30. November 2018,
                                                                                                                                           17 Uhr, Kleintheater Luzern
    rstan

                                        it

                                              in     Kulturi
                                                                                                                  FEIER
                                                                                                                  ÜBER
                                                                    ns
                                                                      titutio
   o

                                                                                                                 GABE
  V

                                                                 ne
                                                             n

 Mittwoch, 14. November 2018, 18.30 Uhr
 Universität Luzern, Frohburgstrasse 3
 3. Stock, Zimmer 3.B55                                                                  O Ausstellung nominierte
 Referentin: Valentina Baviera, www.bavieraberatung.ch                                   Arbeiten für die 2. Juryrunde
                                                                                         in den Sparten «Freie Kunst»
                                                                                         und «Angewandte Kunst»:
 In Kulturinstitutionen, die als Vereine organisiert sind, ist der Vorstand für
                                                                                         18. November – 2. Dezember,                                Die Veranstaltungen
 Führung und Betrieb verantwortlich. Wie kann diese Verantwortung wahrge-
                                                                                         akku Kunstplattform, Emmenbrücke,   Verein zur                   sind kostenlos.
 nommen werden? Der IG KULTUR IMPULS gibt Antworten.                                                                         Förderung
                                                                                         Do–Sa 14–17 Uhr, So 10–17 Uhr        der freien
                                                                                                                             Kulturszene      Informationen: kultur.lu.ch
                                                                                         O Vernissage Samstag,               Luzern FFK
 Mitglieder: 5.– Nicht-Mitglieder: 15.–                                                  17. November 2018, 17 Uhr                         Kulturförderung   kultur.lu. ch
 Anmeldung bis Montag, 12. November 2018 unter info@kulturluzern.ch

November 2018                                        041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz                                                       13
FOKUS: FLUCHT

     Mit der KulturLegi günstiger Kultur konsumieren. Zum Beispiel im Kleintheater Luzern.

14                  041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz            November 2018
FOKUS: FLUCHT

                   GUTE KARTE
                NICHT GUT GENUG
                  Die KulturLegi macht Konzert, Theater und
                   Museum günstiger – aber dennoch nicht
                für alle nutzbar. Neue Angebote versuchen da
                 anzusetzen, wo billig allein als Argument für
                          mehr Kultur nicht ausreicht.

                                          Text: Anna Chudozilov
                                            Bilder: Mart Meyer

November 2018              041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz   15
FOKUS: FLUCHT

Kultur ist ein Luxus, den der Mensch braucht. Das soll
Bertolt Brecht gesagt haben, und verschiedene Wissen-
                                                                            Die KulturLegi wird am häufigsten für
schaftlerinnen geben ihm Recht: Wer am kulturellen                     Eintritte in Konzerte, ins Kino und Theater,
Leben nicht teilhaben kann, wird einsam. Einsamkeit                       ins Museum und in den Zoo verwendet.
macht krank, und Kranksein schneller tot. Almaz (Name
geändert) aber lebt. Seit sie 16 Jahre alt ist, lebt sie in der
Schweiz, überlebt hat sie eine Flucht aus Eritrea, über die
sie nie spricht. Seit sie volljährig ist, muss die junge Frau
für sich selber sorgen. Almaz kommt mit knapp 400                 Kopf und ein voller Kühlschrank nicht ausreichen, um einen Men-
Franken im Monat über die Runden. Manche geben an                 schen am Leben zu halten. «Existenzsicherung im Sinne der Sozial-
einem einzigen Abend mehr für Apéro, Theaterkarten,               hilfe meint immer auch Teilhabe und Teilnahme am wirtschaftli-
Abendessen und Babysitter aus.                                    chen, sozialen, kulturellen und politischen Leben», steht deshalb in
      Armut isoliert und allein stirbt man schneller. Die         den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe – den
Kausalitäten sind komplexer, klar, im Prinzip sind wir            oft zitierten SKOS-Richtlinien. Detailreich wird da geregelt, wer wie
uns als Gesellschaft aber einig, dass ein Dach über dem           wenig Geld bekommt, unter welchen Umständen Kindern vom
                                                                                            Staat ein Hobby zu finanzieren ist und wel-
                                                                                            chen Anteil des Grundbedarfs der Gesetz-
                                                                                            geber für Getränke ausser Haus angemes-
                                                                                            sen findet (1,6 Prozent).
                                                                                                   Almaz ist noch in Ausbildung, sie lebt
                                                                                            seit ihrem 18. Geburtstag von Sozialhilfe.
                                                                                            Als «vorläufig Aufgenommene ohne
                                                                                            Flüchtlingseigenschaften» gehört sie zu
                                                                                            jenen Menschen, die mit den tiefsten Bei-
                                                                                            trägen auskommen müssen – für Apéros
                                                                                            und Kaffee stehen der 19-Jährigen knapp
                                                                                            sieben Franken pro Monat zur Verfügung.
                                                                                            Dass sie dennoch ganz gut durchkommt,
                                                                                            liegt nicht zuletzt an der KulturLegi. Kaum
                                                                                            zufällig erinnert das Design der Karte mit
                                                                                            weissem Stern auf rotem Grund ein biss-
                                                                                            chen an den Schweizer Pass. Denn auch
                                                                                            diese Karte öffnet viele Türen – oder macht
                                                                                            es für Menschen am Existenzminimum
                                                                                            (siehe Box) zumindest deutlich einfacher,
                                                                                            diese aufzustossen.
                                                                                                   In der Zentralschweiz gewähren über
                                                                                            370 Institutionen Menschen mit KulturLe-
                                                                                            gi vielfältige Rabatte. Die Vergünstigung
                                                                                            muss mindestens 30 Prozent betragen.
                                                                                            Doch manche Anbieter, wie etwa das Res-
                                                                                            taurant Quai 4, verzichten sogar auf 75 Pro-
                                                                                            zent des üblichen Preises. Viele Museen
                                                                                            verlangen nur das halbe Eintrittsgeld.
                                                                                            «Roméo et Juliette» kann man auf den bil-
                                                                                            ligsten Plätzen im Luzerner Theater für 17
                                                                                            Franken 50 statt 35 Franken bis in den Tod
                                                                                            verfolgen: 50 Prozent Rabatt auf alle Ti-
                                                                                            ckets – das ist ein klares Angebot. Wer den
                                                                                            vom Bosporus angereisten Klarinettisten
                                                                                            Cüneyt Sepetci im Südpol sehen will, muss
                                                                                            20 Franken hinblättern, für Leute mit Kul-
                                                                                            turLegi gibt es 30 Prozent Rabatt. Der glei-
                                                                                            che Nachlass gilt für alle anderen Eigenver-
                                                                                            anstaltungen des Südpols. In der Schüür

16                                               041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz                          November 2018
FOKUS: FLUCHT

            gilt die KulturLegi als 50/50-Pass, man zahlt also bei aus-       Datenpaket. Regelmässig spart sie mit Blick auf grössere
            gewählten Konzerten nur die Hälfte – unter der Voraus-            Ausgaben: ein knallrotes Sofa zum Beispiel oder ein
            setzung, dass man gleich zwei Tickets erwirbt.                    iPhone 6. Kultur ist in ihrem Budget nicht vorgesehen.
                    Das Konzept der KulturLegi funktioniert grund-                  Almaz war dennoch schon im Natur- und auch im
            sätzlich. Diesen Schluss zieht die Caritas, das Hilfswerk         Historischen Museum von Luzern, im Tierpark Goldau
            hinter der Karte. 2015 hat die Organisation eine Studie in        und sogar im Zoo Basel. Doch all diese Unternehmungen
            Auftrag gegeben, um die Wirkung des Projekts zu                   waren von Einheimischen angerissen: von den Sozialpä-
            messen. Die Ziele der Karte sind aus Sicht der Caritas            dagogen im Heim für unbegleitete minderjährige Flücht-
            vielfältig: Die schweizweit rund 55 000 Nutzerinnen und           linge, von einer Schweizer Familie, die sie im Rahmen
            Nutzer sollen ihr Wissen erweitern, ihr Budget entlasten,         einer Patenschaft regelmässig trifft, von ihren Lehrerin-
            soziale Netzwerke und Selbstbewusstsein stärken und               nen und Lehrern. Almaz absolviert ein Brückenangebot,
            nicht zuletzt ihre Gesundheit verbessern. Die KulturLe-           das sie auf eine Berufslehre vorbereiten soll. Zwei Tage in
            gi wird am häufigsten für Eintritte in Konzerte, ins Kino         der Woche arbeitet sie in einem Betrieb, drei Tage geht sie
            und Theater, ins Museum und den Zoo verwendet sowie               in die Schule. Ihre Wochenenden verbringt sie meistens
            fürs Schwimmbad, die Eishalle oder das Fitnesscenter.             mit anderen Eritreern und Eritreerinnen, ein grosser Teil
            Gerade für Familien lohnt es sich, die
            Karte zu nutzen. Auch Weiterbildun-
            gen und Kurse sind beliebt, neben
            Sprachlehrgängen liegt alles rund um
            Bewegung und Gesundheit im
            Trend. Gut drei Viertel der Nutzen-
            den haben gemäss der Studie keiner-
            lei Hemmungen, die KulturLegi auf
            den Tisch zu legen – im Gegensatz zu
            14 Prozent, die Mühe haben und 9
            Prozent, denen es gar nicht leicht
            fällt, sich als arm zu outen.
                    Almaz hat keine Mühe, die
            Karte an der Kasse zu zücken, sie
            macht das regelmässig. Allerdings
            immer am gleichen Ort: im Cari-
            tas-Laden, wo sie ihren Wochenein-
            kauf erledigt. Sie schleppt von da
            sackweise Lebensmittel nach Hause:
            Wienerli ohne Schweinefleisch, Tief-

                                                                              dieser Zeit ist durch Aktivitäten rund um die Kirchge-
«Roméo et Juliette» kann man                                                  meinde strukturiert. In ihrer Heimat ging sie selten in die
auf den billigsten Plätzen für                                                Kirche, in der Schweiz ist die eritreisch-orthodoxe Kirche
                                                                              ein Stück Zuhause, eine Instanz, die Orientierung gibt.
17 Franken 50 in den Tod verfolgen.                                           Um aktiver am Luzerner Kulturleben teilzunehmen,
                                                                              mangelt es ihr nicht nur an Geld. Es fehlt auch das Wissen
                                                                              um Angebote, Menschen, die mitkommen, Anknüp-
                                                                              fungspunkte an ihren Alltag.
                                                                                    In ihrem Bericht zur Wirkungsmessung schreibt
            kühlpizza ohne echten Käse und grosse Mengen an                   auch die Caritas, dass rund 20 Prozent der Personen, die
            Zucker, Margarine und Mehl. Brot macht sie selbst, in             einen Fragebogen hätten ausfüllen können, sprachlich
            ihrem Kühlschrank lebt ein Sauerteig – nicht, weil sie das        gar nicht dazu in der Lage sind. Eine der sechs Empfeh-
            hip findet, sondern weil’s billiger ist als vom Bäcker. Für       lungen, die den publizierten Kurzbericht abschliessen,
            Lebensmittel gibt sie einen Bruchteil der 350 Franken             lautet, dass die Verständlichkeit der KulturLegi allge-
            aus, die der «Dachverband Budgetberatung Schweiz» im              mein zu verbessern sei und die Bedürfnisse von Perso-
            Musterbudget mit dem tiefsten Einkommen (2250 Fran-               nen mit Migrationshintergrund besser zu berücksichti-
            ken im Monat) vorsieht. Sie verzichtet oft auf frisches           gen sind. Tatsächlich versteht Almaz zwar das Konzept
            Obst und Gemüse, denn sie braucht ja auch Kleider,                von 30 Prozent Rabatt, ich schaffe es aber nicht, ihr zu er-
            Schuhe und wie alle anderen Teenager ein Handyabo mit             klären, was der Unterschied zwischen eigenen und nicht

November 2018                                 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz                                  17
Die IG Kultur Luzern als Herausgeberin von «041 – Das Kulturmagazin»
     sucht per 1. Dezember 2018

     Redaktionelle/r Mitarbeiter/in (50%)
     Aufgaben:
     • Redaktionelle Mitarbeit «041» (recherchieren, redigieren)
     • Mitarbeit bei Planung / Organisation / Produktion des Magazins
     • Betreuung Online-Auftritt (Website null41.ch / Social Media)
     • Redaktionelle Betreuung Kulturblog «Kulturteil»
     • Administrative Arbeiten

     Anforderungen:
     • Sehr gute Kenntnisse und Vernetzung in der Luzerner und Zentral-
       schweizer Kulturszene
     • Journalistische Erfahrung / sattelfest und gewandt in der deutschen
       Sprache
     • Interesse und Erfahrung in Online-Redaktion
     • Teamfähigkeit und Organisationstalent

     Wir bieten eine journalistisch attraktive Stelle im Kulturbereich mit viel
     Gestaltungsfreiraum in einem engagierten und motivierten Team und in
     Zusammenarbeit mit vielen externen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
     Arbeitsplatz in der Stadt Luzern an zentraler Lage.

     Ihre aussagekräftige Bewerbung samt Arbeitsproben schicken Sie bitte an
     Philipp Seiler, Verlagsleiter «041», Bruchstrasse 53, Postfach 7463,
     6000 Luzern 7, seiler@kulturmagazin.ch

     Weitere Auskünfte: Philipp Seiler, Verlagsleiter «041», Telefon 041 410 31 07,
     seiler@kulturmagazin.ch
     Sophie Grossmann, Redaktionsleiterin «041», Telefon 041 410 31 07,
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                              2.2 T                            01 8
                         2 .1
                  0.1 1.–      SISTAD
                 3      VISC
                             O
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                                                                                                                      Samstag, 1. Dezember 18     10–18 Uhr
                                                                                                                      Sonntag, 2. Dezember 18     10–17 Uhr

       Partner                                                                                                                  Veranstalter

18                                                    041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz                              November 2018
FOKUS: FLUCHT

            eigenen Veranstaltungen im Südpol ist.
            Auch das mit dem 50/50-Abo der Schüür
            ist nicht ganz trivial, wenn man nicht
            schon von Kindsbeinen an mit Dingen
            wie dem Halbtaxabo vertraut ist. Merk-
            würdig findet sie, dass Menschen für die
            gleiche Vorstellung von «Roméo et Juliet-
            te» unglaubliche 120 Franken ausgeben,
            obwohl es doch Tickets für 35 Franken
            gibt. Für sie selbst sind allerdings auch die
            17 Franken 50 viel Geld.
                   Hier setzt die Stiftung M&M (Mig-
            ranten und Musik) an – also bei Men-
            schen, für die sich selbst kleine Beträge
            wie unerschwinglicher Luxus anfühlen.
            2017 gegründet, hat es sich die Stiftung
            zum Ziel gesetzt, klassische Musik und
            andere Künste explizit für Migranten und
            Migrantinnen sowie für weitere finanzi-
            ell benachteiligte Personen zugänglich zu

                                                                               schen Erkrankung vermittelt und den Verein Kirchliche
Um kulturelle Institutionen für alle                                           Gassenarbeit Luzern. So muss niemand an der Kasse die
                                                                               rote Karte zücken, die belegt, dass man zu den gut
Menschen nutzbar zu machen,                                                    500 000 Armen der Schweiz gehört. Seit dem Startschuss
reicht es indes nicht aus, am Preis                                            im August wurden am Luzerner Theater mehr als 70 Ti-
                                                                               ckets über die Aktion gekauft, gut zwei Dutzend Men-
zu schrauben.                                                                  schen waren schon mit einem «Eins mehr»-Ticket im
                                                                               Theater. Und irgendwie profitieren wir alle davon. Wenn
                                                                               man die Kausalitäten verkettet, dann wird schnell klar:
                                                                               Kultur macht gesellig und wer nicht einsam ist, lebt
            machen. Die Stiftung offeriert zum Beispiel Freikarten             länger. Ganz sicher macht das bisschen Luxus, das wir
            für Konzerte des Luzerner Sinfonieorchesters und der               alle brauchen, glücklicher.
            Reihe M-Classic im KKL Luzern. Ob nun die Fünfte von
            Schostakowitsch oder die fünf Violinkonzerte von
            Mozart – hier müssen keine finanziellen Hürden über-
                                                                                                               Die KulturLegi ist für Menschen
            wunden werden.                                                                                     gedacht, die Sozialhilfe, Ergän-
                  Um kulturelle Institutionen für alle Menschen                                                zungsleistungen zur AHV/IV oder
                                                                                                               Stipendien beziehen sowie für
            nutzbar zu machen, reicht es indes nicht aus, am Preis zu                                          jene, deren Lohn gepfändet wird.
            schrauben. Es braucht auch Menschen, die Migrantinnen                                              Wer über ein geringes Einkommen
                                                                                                               verfügt, kann ebenfalls eine
            und Migranten dabei unterstützen und begleiten, an                                                 KulturLegi beziehen. Konkret
            Schweizer Kultur teilzuhaben, die Menschen am soge-                                                bedeutet das ein Einkommen von
                                                                                                               maximal 36 500 Franken für
            nannten Rand der Gesellschaft Türen öffnen zu kulturel-                                            Einzelpersonen, 52 000 Franken
            len Institutionen, die zuweilen für elitär gehalten                                                für Paare und 74 000 Franken für
            werden, vielleicht nicht immer zu unrecht. Erkannt hat                                             eine Familie mit zwei Kindern. Die
                                                                                                               KulturLegi kann persönlich bei
            dies das Luzerner Theater und reagiert mit der Aktion                                              der Caritas Luzern beantragt
            «Eins mehr». Für 15 Franken kann man zusätzlich zur ei-                                            werden sowie per Post oder im
                                                                                                               Web.
            genen Eintrittskarte eine mehr erwerben, die über eine
            Partnerinstitution an Menschen vermittelt wird, die sich                                           Mehr unter www.kulturlegi.ch.
            auch einen vergünstigten Theaterbesuch nicht leisten                                               Auch das «041 – Das Kultur-
            können. Im Migrationsbereich gehört beispielsweise                                                 magazin»-Abo gibts vergünstigt
                                                                                                               mit der KulturLegi.
            «HelloWelcome» zu den Partnern, ein Treffpunkt für
            Flüchtlinge, Asylsuchende, Migrantinnen und Migran-
            ten und Einheimische. Tickets werden aber auch über das
            Tageszentrum traversa für Menschen mit einer psychi-

November 2018                                  041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz                                        19
FOKUS: FLUCHT

     Wurzel oder Vogel? Die raumfüllende Arbeit von Chalet5 im Haus für Kunst Uri

20             041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz        November 2018
FOKUS: FLUCHT

                      «NACH
                   GÖSCHENEN
                     ZIEHEN
                   IST FAST WIE
                  AUSWANDERN»
                Das Künstlerduo Chalet5 zeigt in Altdorf
                 im Haus für Kunst Uri eine grandiose
                schwarze Wurzel. Seit Kurzem wohnen
                  Karin Wälchli undGuido Reichlin in
                Göschenen im Urner Reusstal. Weil der
                           Ort sie inspiriert.

                                         Text: Thomas Bolli
                                           Bilder: Chalet5

November 2018          041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz   21
FOKUS: FLUCHT

     Beim Gang durch die Ausstellung «Zuhause ist auswärts             nie.» Malerei, sagen sie, sei heute zum Herzstück ihres
     und auswärts ist zuhause» reden beide über ihre Werke,            künstlerischen Schaffens geworden. Obwohl Göschenen
     einander ergänzend, nahtlos in den Übergängen, gradli-            heute für sie inspirierender ist als Zürich, brauchen sie die
     nig. Seit 1995 arbeiten Karin Wälchli und Guido Reichlin          Stadt weiterhin – wegen der Kontakte und auch wegen
     zusammen. Sie markieren nicht, wer was malt oder fer-             der Galerie, die Chalet5 vertritt. «Dass wir nach Gösche-
     tigt. Chalet5 ist der Absender. «Malerei feiert den einzel-       nen gezogen sind, ist ein Statement für unsere künstleri-
     nen Autor, wir sind zu zweit und Chalet5 ist etwas Drit-          sche Arbeit.»
     tes», sagen sie.
            Ihre Lust aufs Entdecken von Ornamenten und                       Eine rostige Tür betrachten
     Formen sowie aufs Spiel mit kunsthistorischen Frag-                     Bereits 2016 hatten Karin Wälchli und Guido
     menten und kruden Alltagsobjekten scheint unerschöpf-             Reichlin im Rahmen der Gruppenausstellung «Dall’altra
     lich. Sei es in Kairo oder Indien, wo sich die beiden Kunst-      parte» im Haus für Kunst Uri einige ihrer Werke gezeigt.
     schaffenden länger aufgehalten haben, oder eben jetzt in          In der aktuellen Schau in Altdorf sind ältere Arbeiten, wie
     Göschenen und Altdorf. Nein, sie sind nicht geflohen aus          beispielsweise verblüffende Collagen, die durch Versatz-
     der grossen Stadt, sondern die Neugier auf die andere             stücke aus wissenschaftlichen Zeitschriften eine neue
     Umgebung liess sie in die Urner Bergwelt ziehen. Und              Wirklichkeit entstehen lassen, und neuere Werke zu
     das nach 14 Jahren in einem Loft im Kreis 4. Nun wohnen           sehen. Eigens für Uri geschaffen wurde die Arbeit im
     sie im Dachstock des Schulhauses, das Atelier unweit              Aussenraum. Da stehen Trennwände für den helveti-
     davon ist fast fertig.                                            schen Gartensitzplatz aus dem Jumbo-Markt, gefertigt
            Erstmals haben sie die Kraft des Orts 2016 bei             aus polnischem Kiefernholz und original beschriftet mit
     einem Atelieraufenthalt im «Kunstdepot Göschenen»                 Namen wie Marseille, Venezia, Bilbao – Trennwände als
     erlebt. Diese Stiftung des Zugers Christoph Hürlimann             emotionale Vermittler zwischen Heimat und Ferne, zwi-
     lädt regelmässig internationale Kunstschaffende ins ehe-          schen innen und aussen, Trennwände als Generator für
     malige Zeughaus in Göschenen ein. «Wir haben in                   fremdheimatliche Gefühle? Eine irritierende Arbeit.
     Göschenen gefunden, was wir in Zürich nicht hatten.               Dem Duo sind die Wände während der Vorbeifahrt beim
     Hier können wir uns auf die Malerei einlassen wie noch            Jumbo-Markt in Schattdorf aufgefallen. Sie wurden dort

                                   Guido Reichlin und Karin Wälchli: «Wir sind zu zweit.»

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FOKUS: FLUCHT

            abgebaut und jetzt 1:1 vor dem Haus für Kunst hinge-
            stellt. Die Arbeit trägt den Titel «Das schrumpfende Kö-
            nigreich».
                   Dass das unscheinbare Alltägliche zum ästheti-
            schen Objekt wird, sobald es Chalet5 aus seiner Umge-
            bung herausholt und im leeren Raum in Szene setzt, zeigt
            sich auch an einem anderen Objekt: Eine massive Me-
            talltüre, von Rost zerfressen und entsprechenden Fliess-
            spuren gezeichnet, hängt quer an einer Wand. Es ist die
            Türe zum sogenannten Richtstollen, den der Gotthard-
            tunnelerbauer Louis Favre in den Fels getrieben hatte.
            Sie stand in Göschenen herum, Karin Wälchli und Guido
            Reichlin haben sie entdeckt, sich bei Einheimischen er-
            kundigt und die Tür schliesslich nach Altdorf gebracht.
            Chalet5 hat also gesehen, was viele andere auch sehen,
            aber die beiden stellen eine neue Wirklichkeit her, indem                   Hunters Find / Encourage Unruly Behaviour / Rigi, 2018
            sie das Objekt aus seiner Umgebung herausholen und
            den ihm eigenen Wert zeigen – ein eindrücklicher künst-
            lerischer Eingriff.                                                   «Wir haben in Göschenen gefunden,
                                                                                        was wir in Zürich nicht hatten.
                 Kein Mikroskop schafft das
                  Und dann das grosse schwarze Wurzelstück im
                                                                                   Hier können wir uns auf die Malerei
            Haus. Raumfüllend, bedrohlich, gleichzeitig Unter-                               einlassen wie noch nie.»
            schlupf gewährend. Eine kraftvolle Arbeit, die eine un-
            glaubliche Präsenz entwickelt. Was tut es zur Sache, dass
            Chalet5 das Wurzeloriginal im Wald bei Göschenen ge-
            funden hat? Nichts. Aber es zeigt, was die Urner Natur            Kairo und Indien und eben auch aus Uri ist im 2. Stock zu
            mit den beiden Kunstschaffenden gemacht hat: Sie                  sehen – auf einem steht Karin Wälchli auf dem Bahnhof-
            wurden aufmerksam auf einen Baumrest, der – in zwan-              gelände von Erstfeld.
            zigfacher Vergrösserung – die natürliche Struktur, die                  In ihrer Malerei beschäftigen sich Karin Wälchli
            tierähnlichen Formen und die natürliche Schönheit des             und Guido Reichlin vor allem mit dem Verhältnis von
            Holzes so deutlich zur Geltung bringt wie kein Mikro-             Tierischem und Pflanzlichem, den fliessenden Übergän-
            skop auf dieser Welt.                                             gen der hybriden Formen, von Figürlichem und Abstrak-
                  Chalet5 setzt sich im Haus für Kunst auch mit               tem. Sie zitieren auch immer wieder aus der Kunstge-
            einem Bild des Urner Malers Heinrich Danioth (1896–               schichte. Dank weisser Flächen scheinen die Bilder dabei
            1953) auseinander. «Das Mädchen im Garten – Rigi» ist             oft auf die Wand auszufliessen. Dieses Prinzip durch-
            ein fast pointillistisches, anschmiegsam liebliches Bild.         bricht Chalet5 auf subtile Art und Weise. Statt an einer
            Es hängt links und auf die Wand gegenüber haben Karin             weissen Wand hängen in einem Raum die Bilder vor li-
            Wälchli und Guido Reichlin Streifen aufgemalt – senk-             lagrauem Hintergrund: Das Lilagrau wiederum nimmt
            recht und leicht schräg, ein buntes Spiel, das die floralen       die Farbe des Bahnhofs von Göschenen auf.
            Strukturen und Farben in Danioths Bild aufnimmt und                     Nach Göschenen ziehen sei fast wie auswandern,
            in den Überschneidungen leicht variiert. Eine spannen-            sagen die beiden Kunstschaffenden. Sie sind gut aufge-
            de temporäre Freske im Dialog mit einem kunsthisto-               nommen worden und fühlen sich keineswegs isoliert.
            risch bemerkenswerten Bild.                                       Mittlerweile werden sie von vielen im Dorf erkannt und
                                                                              entsprechend gegrüsst. 30 Göschenerinnen und Gösche-
                 In Erstfeld sich hinstellen                                  ner kamen zur Vernissage ins Haus für Kunst nach Alt-
                 Mit dem Langzeitprojekt «Karin steht dazu» stellt            dorf. Chalet5 hat sich gefreut über den Austausch mit den
            Chalet5 ebenfalls einen direkten Bezug zu Uri her. Die            Leuten. «Mit der grossen Wurzel haben wir auch gezeigt,
            Fotoarbeit zeigt, wie Karin Wälchli neben Alltagsarchi-           was uns hier in Göschenen umtreibt und künstlerisch be-
            tektur steht, die überraschende Farben und Muster zeigt,          schäftigt.»
            sobald man richtig hinschaut. Genau diesen neuen Blick
            wollen die Fotos wecken – nicht Selfie-Personenkult, son-                ZUHAUSE IST AUSWÄRTS UND AUSWÄRTS IST ZUHAUSE
                                                                                     Noch bis SO 25. November
            dern geschärfte Aufmerksamkeit auf die Schönheit des                     Haus für Kunst Uri, Altdorf
            scheinbar Unschönen, auf die Besonderheit des schein-
            bar Gewöhnlichen. Eine Abfolge von 500 Bildern aus

November 2018                                 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz                                      23
ÜBERDACHT

Wozu Kulturinte-
                                                                                                             gleichen Geschlechts, verschiedens-
                                                                                                             ten Alters, verschiedenster Herkunft,
                                                                                                             Sprache, Religion auf engstem Raum
                                                                                                             zusammenleben. Zwölf Quadratme-

gration?
                                                                                                             ter, genug Platz für ein gemeinsames
                                                                                                             Bett, Schrank, TV. Auf die Gemein-
                                                                                                             schaftstoilette geht N. dreissig Meter
                                                                                                             durch den offenen Hof.
                                                                und zog die Eltern mit. Berlin war gut
                                                                und nahm sie auf. Sie träumte von                  N. soll in ihre Heimat ausge-
                                                                Natur und Ruhe. Also reisten sie in die      schafft werden. Was dort auf sie
                                                                Schweiz, kauften ein Anwesen und             wartet, kann und will sie sich nicht
                                                                pendelten fortan. Der Erste Weltkrieg        vorstellen. Lieber jetzt auf der Stelle
                                                                bahnte sich an. Man blieb. Legal.            sterben, sagt sie. Vor fünf Jahren
                                                                                                             wurde ihr Asylantrag abgelehnt. Seit-
                                                                      Meine Urgrosseltern mütterli-          her lebt N. im Container. Seither weiss
                                                                cherseits kamen aus Polen. Und Russ-         N. nicht, wo sie am nächsten Tag sein
                                                                land. Blutige Auseinandersetzungen           wird. Seither ist N. ein Provisorium.
                                                                auf den Strassen, politische Instabili-      Abgewiesen und doch da. Illegal. Darf
                                                                tät. Man hörte, in der Schweiz sei es        nicht anpacken, sich nicht einbringen.
                                                                besser. Dort wurden sie empfangen.           Nicht genug Platz.
                                                                Vielleicht nicht so gern gesehen. Die
                                                                Frauen konnten weder lesen noch                    N. darf die Notunterkunft ver-
                                                                schreiben. Anpacken, sich einbringen.        lassen, muss sich aber zweimal täglich
                                                                Platz genug. Ich bin stolz auf die Ge-       melden, um die 8 Franken 50 Notgeld
                                                                schichte meiner Familie. Kraft, Mut,         zu bekommen. Ihre Tochter hat
                                                                Pioniergeist haben ihre Biografien ge-       Deutsch gelernt, darf zur Schule
                                                                prägt. Wachstum, politische Instabili-       gehen. Bewegt sich zwischen der
                                                                täten, Neuanfänge?                           Normalität auf einem dörflichen
                                                                                                             Schulplatz und einer Welt, die es nicht
                                                                                    N. ruft mich an. Sie     gibt. N. weint ganz selten. In letzter

Mensch = Migrant                                                              hat Angst. War über Nacht
                                                                              im Gefängnis. Wurde
                                                                              wieder freigelassen. Mit
                                                                                                             Zeit öfters, wenn ich sie besuche. Ihr
                                                                                                             Kopftuch, das ihr Haupt immer or-
                                                                                                             dentlich bedeckte, rutscht in letzter
                                                                              einem Brief, den sie nicht     Zeit auf ihre Schultern. Sie vergisst, es
                      Mein Ururgrossvater Friedrich war         lesen kann. Mit einer vierstelligen          wieder herzurichten. Gott verzeiht
                      staatenlos. In Köln geboren. Er reiste    Geldstrafe, die sie nicht bezahlen           ihr. N. hat zum jetzigen Zeitpunkt
                      per Schiff nach New York, um sein         kann. Weil sie illegal ist. Kein Mensch      keine Perspektiven. N. will nur ein
                      Glück zu versuchen. New York war          ist illegal, denke ich. N. durfte in ihrer   normales Leben. Manchmal schäme
                                  gut und nahm ihn auf. Das     Heimat nicht zur Schule gehen, wurde         ich mich vor N.
Delia Mayer                       Leben drängte weiter.         verheiratet. N. war eine von sechs
Musikerin und Schauspielerin,     Chile. Meine Ururgross-       Frauen, wurde geschlagen. In ihrer                 N. steht steht für Nadeen,
engagiert sich für abgewiese-
ne Asylbewerberinnen und          mutter Euphrasie wurde        Heimat herrscht Krieg. Nun ist N.            Nicole, Naima, Nathalie, Nabalungi,
-bewerber im Kanton Zürich.       in Paris geboren. Mutter      hier. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt,        Nele.
Diesen Monat dreht Mayer
                                  Französin, Vater Katalane.    weil ihr Fall nicht als lebensbedrohend            N. steht für Nummer. Notunter-
ihren letzten Luzerner Tatort.
                                  Sie wollte Ärztin werden.     gilt. Jetzt ist sie straffällig. Weil sie    kunft. Oder Nächstenliebe.
                                  Unmöglich als Frau im da-     hier ist. Meine Vorfahren waren legal.
                      maligen Paris. Sie bestieg mit 19 kur-    N. hat kein Leben, so wie wir es für
                      zerhand ein Schiff und reiste nach        selbstverständlich erachten.
                      Chile. Ihr Vater sei in den Gefängnis-
                      sen von Paris verschollen.                      N. wohnt mit ihrer Tochter in
                                                                einer Notunterkunft, einem der
                         Für beide war Chile gut. Dann          vielen provisorischen Containerkom-
                    kam ein Kind. Als das Kind gross war,       plexen, in denen Familien, Frauen mit
                    wollte es weiter. Er reiste nach Berlin     Kindern, alleinstehende Menschen

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ÜBERDACHT

                                                                                                              über die kulturelle Teilhabe hinaus:
                                                                                                              Wer hat das Recht, seine Geschichte
                                                                                                              zu erzählen und in welcher Form?
                                                                                                              Nicht zuletzt geht es darum, wer poli-
                                                                                                              tische Mitsprache einfordern kann.
                                                                                                              Zahlreiche künstlerische Projekte, in
                                                                                                              denen Migration, Flucht oder Stigma-
                                                                                                              tisierung thematisiert werden, zeigen
                                                                                                              auf, wie weniger etablierte Personen
                                                                                                              die Definitionshoheit über ihre Erfah-
                                                                                                              rungen wahrnehmen. Migration oder
                                                                                                              Flucht können also Ressource sein für
                                                                                                              kulturelles Schaffen, und dabei spezifi-
                                                                                                              sche Erfahrungen oder diskriminie-
                                                                                                              rende Mechanismen thematisieren.

Kultur und Kunst                                                                                                     Trotzdem scheint es mir wich-
                                                                                                              tig, zu hinterfragen, inwiefern die Ka-

braucht keine Grenzen
                                                                                                              tegorisierung in «Migrantin» oder
                                                                                                              «Flüchtling» überhaupt von Bedeu-
                                                                                                              tung ist. Oft werden Kulturschaffen-
                                                                                                              de auf stereotype Vorstellungen redu-
                      Warum sollten sich Kulturschaffende               Die zeitgenössische Interpreta-       ziert und dann zu Vertretern und Ver-
                      für die kulturelle Teilhabe von Mig-       tion von Melodien, welche osteuropä-         treterinnen ihrer «Herkunftskultur»
                      ranten und Migrantinnen und von            ische Ausgewanderte zu Anfang des            ernannt. Beispielsweise denke ich hier
                      Flüchtlingen engagieren? Stellen           20. Jahrhunderts zunächst in New             an einen Schweizer Filmschaffenden,
                                denn Kulturschaffende und        York und später in der ganzen Welt be-       dessen Eltern aus Indien in die
Joanna Menet                    Migranten und Migrantin-         kannt machten, aber auch zahlreiche          Schweiz kamen und der sich ständig
studierte Sozialanthropolo-     nen zwei unterschiedliche        weitere Beispiele aus Musik, Tanz,           dem Erwartungsdruck ausgesetzt
gie in Zürich und doktoriert    Gruppen dar? Entscheiden         Literatur oder Film führen uns vor           sieht, Bollywood-inspirierte Filme zu
zu transnationalen Künstler-
und Künstlerinnenkarrieren      denn nationalstaatliche          Augen, dass Kultur und Kunst seit            machen. Er ist es leid und möchte eher
an der Universität Neuen-       Grenzen über kulturelle          jeher verschiedene Grenzen über-             für seine Geschichte über ein Liebes-
burg. Sie hat an verschiede-    Identität von Menschen?          schreiten. Oft entsteht dadurch              paar mit grossem Altersunterschied
nen Studien zu Migration
mitgewirkt und arbeitet zur     Kürzlich war ich an einem        Neues, und an die Stelle von Differenz       anerkannt werden. Ähnlich ergeht es
Zeit in einem Forschungspro- Klezmerkonzert in einem             tritt das Verbindende. In einer Welt, in     professionellen Salsatänzerinnen, die
jekt über Nachkommen von
                                kleinen Theatersaal in der       der täglich neue Mauern hochgezogen          lieber mit zeitgenössischer Perfor-
Migranten und Migrantinnen
in der Schweiz.                 Westschweiz. Die vier Zür-       und Menschen aufgrund ihrer Her-             mance als mit sexy Latino-Klischees
                                cher Musikerinnen und            kunft ausgegrenzt werden, ist dies           identifiziert werden möchten. Ich
                      Musiker vermochten mit Tempera-            nicht banal.                                 sehe Kulturschaffende daher als wich-
                      ment und einem Augenzwinkern den                                                        tige Akteurinnen und Akteure in ge-
                      Röstigraben zu überwinden und das                 Kultur hat also das Potenzial,        samtgesellschaftlichen Prozessen
                                Publikum in ihren Bann zu        Räume zu öffnen, und kann damit als          von Ein- und Ausschluss. Sie können
Illustration: Till Lauer        ziehen: In ihren Stühlen sit-    ein gesellschaftlicher Bereich angese-       dazu beitragen, Räume zu schaffen
                                zend, wippten die Zuhöre-        hen werden, der die Teilhabe von ver-        und aufrechtzuerhalten, in denen sich
                      rinnen und Zuhörer mit den Füssen,         schiedenen benachteiligten Gruppen           Grenzziehungen erübrigen.
                      lachten lauthals, und als die Musik ru-    ermöglicht. Dafür müssen jedoch die
                      higer wurde, glitzerten in einigen         notwendigen Ressourcen verfügbar
                      Augen Tränen. Obwohl die Gruppe            sein. In einer demokratischen Gesell-
                      ausschliesslich Lieder in jiddischer       schaft sollten wir uns daher mit fol-
                      Sprache sang, die nur wenige verstan-      genden Fragen befassen: Wer hat in
                      den, durchlebte das Publikum wäh-          der aktuellen Kulturlandschaft die                     «Überdacht», das sind zwei
                      rend des Konzerts das gesamte Spekt-       Möglichkeit, teilzuhaben? Welche                       Antworten auf eine Frage:
                                                                                                                        Profis aus Theorie und Praxis
                      rum menschlicher Emotionen. Sicht-         «Kultur» wird anerkannt (nicht zu-                     äussern sich monatlich und
                      lich bewegt verliessen die Konzertbe-      letzt durch Förderung) und welche                      aktuell zu Kultur und ihren
                      sucherinnen und -besucher das Lokal.       nicht? Natürlich weisen diese Fragen                   Wirkungsbereichen.

November 2018                                 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz                                        25
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