Die Zukunft der Landwirtschaft - LANDWIRTSCHAFT IN ÖSTERREICH 2050+ Eine Trendstudie des Zukunftsinstituts im Auftrag der Österreichischen ...
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Die Zukunft der Landwirtschaft LANDWIRTSCHAFT IN ÖSTERREICH 2050+ Eine Trendstudie des Zukunftsinstituts im Auftrag der Österreichischen Hagelversicherung
IMPRESSUM Auftraggeber Österreichische Hagelversicherung Lerchengasse 3–5 1080 Wien Redaktion Zukunftsinstitut GmbH Internationale Gesellschaft für Zukunfts- und Trendberatung Kaiserstr. 53 60329 Frankfurt am Main Telefon: +49 69 2648489-15 info@zukunftsinstitut.de zukunftsinstitut.de Projektleitung Nina Pfuderer Autor Dr. Jakob Kibala Lektorat Franz Mayer Gestaltung Theresa Duck Illustrationen Freepik, Theresa Duck © Österreichische Hagelversicherung, 2022. Alle Rechte vorbehalten.
INHALTSVERZEICHNIS 1 EXECUTIVE SUMMARY 4 2 LANDWIRTSCHAFT IN ÖSTERREICH 2050+ MIT DEM MEGATHEMA VERSORGUNGSSICHERHEIT 6 3 MEGATRENDS: ZUKUNFTSTREIBER AUF DEM LAND 10 Megatrend Neo-Ökologie 12 Megatrend Gesundheit 14 Megatrend Urbanisierung 16 Megatrend Konnektivität 18 Megatrend Globalisierung 20 Megatrend Sicherheit 22 Exkurs: „Neue Gentechnik“ – Chance oder Gefahr? 24 4 VIER SZENARIEN EINER LANDWIRTSCHAFT 2050 26 Szenario 1: Post-Landwirtschaft 2050 30 Szenario 2: Stadt-Landwirtschaft 2050 34 Szenario 3: Biologische Landwirtschaft 2050 38 Szenario 4: Robuste, smarte Landwirtschaft 2050 42 5 PERSPEKTIVE 2050: HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN 48 Verständnis für Landwirtschaft und Landleben fördern 50 Faire Einkommen und Work-Life-Balance garantieren 52 Bodenschutz priorisieren 53 Nachhaltigkeit intensivieren 56 Literaturverzeichnis60
KAPITEL 1 Executive Summary LANDWIRTSCHAFT IN ÖSTERREICH 2050+ MEGATRENDS VERÄNDERN DIE MIT DEM MEGATHEMA LANDWIRTSCHAFT VERSORGUNGSSICHERHEIT Österreich wird allerdings nicht nur durch Krisen ge- Die Erzeugnisse aus österreichischer Landwirtschaft formt. Eine Reihe gesellschaftlicher Megatrends be- sind höchstwertig: transparent gekennzeichnet, nach- einflusst schon heute, in welche Richtung das Land haltig produziert (auch in der konventionellen Landwirt- sich zukünftig entwickelt. Ein umfassendes Verständ- schaft), unter Tierwohlgesichtspunkten international nis dieser Megatrends hilft gesellschaftlichen Ent- vorbildlich. Um die Versorgung der österreichischen scheidungsträgern, für den Agrarsektor günstige Ten- Bevölkerung mit diesen hochwertigen Erzeugnissen denzen durch gezieltes Handeln zu verstärken, un- langfristig zu sichern, muss die Republik den großen erwünschten wiederum rechtzeitig entgegenzuwirken. Herausforderungen der kommenden drei Jahrzehnte → Neo-Ökologie: Nachhaltigkeit wird für Wirtschaft frühzeitig begegnen. Diese Herausforderungen heißen: und Gesellschaft zum Leitwert. Individuelles Han- → Erderwärmung: Trotz widriger Bedingungen deln orientiert sich immer stärker am Kriterium (neues Klima, neue Krankheiten, neue Schädlinge) Nachhaltigkeit. Für immer mehr Menschen sind müssen landwirtschaftliche Erträge steigen. Bioprodukte kein Luxusgut, sondern Standard. → Krieg: Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat → Gesundheit: Persönliches Wohlbefinden erhält unmittelbare Auswirkungen auf die weltweite Ver- höchste Priorität und wird ganzheitlich gedacht. sorgung mit Agrarprodukten. Österreich muss Ab- Ein gesunder Körper braucht eine gesunde Seele hängigkeiten von Agrar- und Energieimporten so und lebt in einer gesunden Umwelt. schnell wie möglich minimieren. → Urbanisierung: Das Land wird städtischer, länd- → Bodenverbrauch: Massiver Bodenverlust durch liche Lebensweisen gewinnen an Beliebtheit in Verbauung verschärft die Versorgungsrisiken der urbanen Milieus – die Grenze zwischen Stadt und Zukunft. Ohne fruchtbare Äcker und Wiesen fehlt Land löst sich auf. Flächenversiegelung auf dem der Agrarwirtschaft, aber auch dem wichtigen Land bedroht bäuerliche Betriebe, während in der Tourismussektor, die Existenzgrundlage. Stadt mit dem Vertical Farming eine neue Nische entsteht. 4
Die Um- setzung der im Vertrag von Paris vereinbarten Klimaschutzmaßnahmen muss konsequent Im Vergleich zeigt sich jedoch, dass nur ein technolo- erfolgen. gisch fortschrittlicher, hoch digitalisierter und nachhaltiger Agrarsektor die Balance zwischen Ernährungssicherheit, Umweltgesundheit und hochwertigen Produkten herstellen kann. Politik, Gesellschaft und (Agrar-)Wirtschaft müssen jetzt schon auf diese vier agrarischen Handlungs-
KAPITEL 2 Landwirtschaft in Österreich 2050+ mit dem Megathema Versorgungssicherheit Der älteste und für die Ernährung der Weltbevölkerung verant- wortliche Wirtschaftssektor der Menschheit befindet sich im Wandel: Neue Technologien, Umweltbedingungen im Umbruch, soziale Ansprüche und der mit dem Strukturwandel einher- gehende Trend zu größeren Betrieben – in den kommenden Jahr- zehnten erfindet sich die Landwirtschaft wiederum neu. Im Jahr 2050 wird sie in vielerlei Hinsicht eine andere sein als heute. Das Megathema wird jedenfalls die Versorgungssicherheit sein. 6
2 Landwirtschaft in Österreich 2050+ mit dem Megathema Versorgungssicherheit SELBSTVERPFLICHTUNG ZUR SELBSTVERSORGUNG Nicht nur Versorgungssicherheit, sondern auch die ZUKUNFTSHERAUSFORDERUNGEN Versorgung mit qualitätsvollen Lebensmitteln hat in FÜR DIE VERSORGUNGSSICHERHEIT der Republik Österreich Verfassungsrang. Eine ge- KÜNDIGEN SICH AN sunde Landwirtschaft ist beinahe Staatsräson. Kein Wunder, trägt der Sektor doch maßgeblich zum Wohl- Die Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte stand der Menschen bei. Ein vitaler Agrarsektor si- dürfen nicht unterschätzt werden. So sind die Folgen chert rund 500.000 Arbeitsplätze entlang der gesam- der globalen Erderwärmung jetzt schon für alle spürbar ten Wertschöpfungskette, sichert das Tourismusland (vgl. Agrarmarkt Austria 2021). Langfristig stellen der Österreich, sichert die Ernährung der Bevölkerung Klimawandel und der enorme Bodenverbrauch die Er- mit heimischen, qualitätsvollen Lebensmitteln und nährungssicherheit Österreichs in Frage – zumal sich trägt maßgeblich zum Klima- und Umweltschutz bei. die Republik mit heimisch erzeugten Agrarrohstoffen schon heute nicht voll selbstversorgt: Jährlich müssen bereits bis zu 75 Prozent Ölsaaten und Eiweißkulturen wie beispielsweise Soja, Raps, Erbsen oder Sonnen- blumen importiert werden, um Endverbraucher und Futtermittelindustrie zu bedienen; bei Gemüse und BUNDESVERFASSUNGSGESETZ Obst ist das Land auf Importe von 46 bis zu 73 Pro- zent angewiesen (vgl. Fachverband der Lebensmittel- über die Nachhaltigkeit, den Tierschutz, industrie 2021). Durch den Ukraine-Krieg entsteht den umfassenden Umweltschutz, gerade ein neues Bewusstsein für die Gefahren einer die Sicherstellung der Wasser- und Abhängigkeit von Agrar- und Futtermittelimporten. Lebensmittelversorgung und die Forschung An den oben zitierten Zahlen sieht man, wie verletz- bar Österreich bei der Selbstversorgung bereits ist. Die Republik Österreich (Bund, Länder und Ge- meinden) bekennt sich zum Prinzip der Nach- haltigkeit bei der Nutzung der natürlichen Res- sourcen, um auch zukünftigen Generationen best- mögliche Lebensqualität zu gewährleisten. Die Republik Österreich (Bund, Länder und Gemeinden) bekennt sich zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit hochqualitativen Lebens- mitteln tierischen und pflanzlichen Ursprungs auch aus heimischer Produktion sowie der nach- haltigen Gewinnung natürlicher Rohstoffe in Öster- reich zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit. 7
SOUVERÄNITÄT BEHALTEN Die Coronakrise hat gezeigt, dass die Ernährungs- sicherheit der österreichischen Bevölkerung nicht voraussetzungslos gegeben ist. Grenzschließungen zur Pandemiebekämpfung haben den innereuropäischen Handel zwischenzeitlich ausgebremst, globale Liefer- ketten wiederum sind unter der Last ihrer eigenen Komplexität zusammengebrochen (vgl. Cassidy 2021). Vielerorts blieben die Supermarktregale leer, es gab Produkte. Gentechnikfrei ist Österreich allerdings Preiserhöhungen, aber auch -schwankungen wie sel- schon lange nicht mehr, sind importierte Futtermittel ten zuvor. Nicht einmal die Supermacht USA konnte für die Veredelungswirtschaft doch häufig unter Zu- ihrer Bevölkerung Zugang zu allen grundlegenden hilfenahme von Gentechnik produziert worden, um Alltagsgütern garantieren. Deshalb sollten die Öster- die Produktionskosten zu senken. Künftig bleibt zu reicherinnen und Österreicher in existenziellen Be- beobachten, ob die öffentliche Ablehnung von Gen- reichen der Agrarproduktion jede Abhängigkeit ver- technik nicht langfristig einer pragmatischeren Posi- meiden. Importwaren erreichen selten den hohen tionierung weichen wird, auch was neue Methoden Qualitätsstandard der heimischen landwirtschaft- der Biotechnologien wie etwa CRISPR/Cas anbelangt, lichen Produktion. Meist unterbieten sie diese sogar: welche die Anpassung von Sorten an den Klimawandel → Pflanzenschutz: Dünger und Pflanzenschutz- maßgeblich beschleunigen könnte. mittel werden im Ausland (auch im europäischen) oft freigiebig ausgebracht. → Tierschutz: Dem Tierwohl wird oft ein geringerer Stellenwert beigemessen als in Österreich. → Lebensmittelkennzeichnung: Produkte werden irreführend deklariert und vermarktet (Beispiel: Frühkartoffeln aus Ägypten, die sich nach Prüfung als Spätkartoffeln entpuppen). In vielen Ländern außerhalb der EU sind darüber hin- aus die Arbeitsbedingungen kaum kontrollierbar. Pro- dukte, die unter Einsatz von Kinderarbeit oder unter Ausbeutung von Arbeitskräften zu Niedriglöhnen her- gestellt worden sind, sind auch durchaus auf dem österreichischen Markt zu finden. Dasselbe gilt für die europaweit unerwünschten gentechnisch veränderten 8
2 Landwirtschaft in Österreich 2050+ mit dem Megathema Versorgungssicherheit BÖDEN GARANTIEREN SOUVERÄNITÄT Für die Selbstversorgungskraft Österreichs ist der Boden entscheidend. „Agrarfläche ist ein generell knappes Gut und steht – gerade in Österreich mit seiner alpinen Landschaft – in Konkurrenz zu Wohn- und Gewerbe- und Verkehrsfläche“ (vgl. lko.at 2021). So stehen überhaupt nur 15 Prozent der Fläche Öster- reichs als Ackerflächen zur Verfügung. Mit der Erd- erwärmung kommen zusätzliche Stressfaktoren auf die Landwirtschaft zu, die die Nutzbarkeit des Bodens weiter einschränken oder massive Ertragseinbußen nach sich ziehen werden (vgl. Bundesministerium für LANDWIRTSCHAFT ALS KREATIVSEKTOR Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie 2021). Umso dringender müssen kli- Mehr denn je werden unkonventionelle, sogar kreative mafitte Böden, die den radikaleren Bedingungen stand- Lösungen für Probleme gefragt sein, die gerade erst halten, identifiziert und bewahrt werden. Durch den Kontur gewinnen. Ein halsstarriger Fokus auf aus- Flächenhunger von Wirtschaft und Gesellschaft muss schließlich biologische Produktion wird die Zukunfts- dem quantitativen Bodenschutz höchste Priorität ein- ziele ebenso verfehlen wie eine kurzsichtige Intensi- geräumt werden. Dem Megatrend Urbanisierung und vierung nach Manier des letzten Jahrhunderts. Nur auf dem Expansionsdrang wachsender Unternehmen fal- einem gesunden Mittelweg findet der österreichische len fruchtbare Böden, derzeit täglich 11,5 Hektar, zum Agrarsektor zu einer Landwirtschaft 2050, die für alle Opfer. Bebauung und Versiegelung von Flächen sind ihre Akteurinnen und Akteure auskömmlich, dabei an eine der größten Gefahren für die Ernährungssicherheit den Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert und zu- der Republik und heizen den Klimawandel zusätzlich gleich umweltverträglich ist. Mit Wissenschaft und For- weiter an, weil CO2- und Wasserspeicher wegfallen. schung, Politik und Wirtschaft sowie Verbraucherinnen und Verbrauchern werden alle Teile der Gesellschaft einen Beitrag dazu leisten. Zusätzlich muss der heimische Agrarsektor durch internationale Zusammenarbeit gestärkt werden. Die Europäische Union muss global als gestaltende Kraft deutliche Akzente setzen, damit Agrarländer, die nied- rigere Qualitätsstandards ansetzen, in keinen unfairen Wettbewerb mit den europäischen, respektive heimi- schen Bäuerinnen und Bauern treten. Darüber hinaus sollten der Kontinent und die Republik für vielver- sprechende technologische Innovationen offen blei- ben. Denn Ernährungssicherheit bleibt in Zeiten der Erderwärmung langfristig eine gemeinsame Aufgabe. Sie betrifft alle Menschen, weltweit. 9
KAPITEL 3 Megatrends: Zukunftstreiber auf dem Land 58,8 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher leben in urbanen Milieus (vgl. UN DESA 2021). Für viele dieser Städterinnen und Städter gilt das Land heute immer noch entweder als rückständig oder als zeitloses Landschaftsidyll. In Wirklichkeit avanciert der ländliche Raum zum Reallabor, in dem disruptive Technologien und soziale Experimente er- probt, optimiert und exportiert werden. Hier kündigt sich eine tiefgreifende Evolution des Landlebens an, deren Treiber die sogenannten Megatrends sind. 10
3 Megatrends: Zukunftstreiber auf dem Land KONSTANTER WANDEL Komplex und dauerhaft, global und ubiquitär, das heißt überall wirksam: So sind die Megatrends, die Gesellschaften über Jahrzehnte hinweg grundlegend verändern. Dabei handelt es sich um Entwicklungs- dynamiken, die sich permanent gegenseitig beein- flussen, verstärken, eine neue Richtung geben, sich in Gestalt von Gegentrends sogar teilweise revidieren. NACHBEBEN DER CORONAKRISE Ihre Komplexität macht Megatrends mächtig, weil sie das Leben der Menschen nicht nur punktuell berühren, Einen zusätzlichen Katalysator der Veränderung stellt sondern aus allen Richtungen darauf einwirken. Ihr die Coronapandemie dar, die ganze Wirtschafts- weltweiter Wirkradius sorgt dafür, dass Megatrends sektoren zum Erliegen gebracht oder von ihren Märk- überall auf der Welt und in alle Bereiche des sozialen ten abgeschnitten hat. Gleichzeitig löste die Pandemie Lebens hinein wirken, mal stärker, mal schwächer, einen unmittelbaren, kurzfristig positiven Umwelteffekt dafür unablässig (vgl. Zukunftsinstitut 2021a). Für die aus und verwandelte ländliche Gebiete in einen Sehn- ländlichen Räume in Österreich heißen die maßgeb- suchtsraum. Aus diesen Gründen hängt die zukünftige lichen Megatrends: landwirtschaftliche Weiterentwicklung davon ab, auf → Neo-Ökologie welche Weise die Pandemie bestimmte Facetten der → Gesundheit Megatrends verstärkt und andere abschwächt. Der → Urbanisierung Corona-Impact bestimmt die Landwirtschaft 2050 mit. → Konnektivität → Globalisierung → Sicherheit 11
Megatrend Neo-Ökologie den viele Volkswirtschaften erleben, zeigt, wie fragil Das Paradigma der Nachhaltigkeit stößt neue öko- globale Lieferketten wirklich sind (vgl. Davidson Sor- soziale Verhaltensweisen in Gesellschaft, Wirtschaft kin 2021). Spargel aus Peru, Kirschen aus der Türkei, und Politik an. Knoblauch aus China: Auch Österreich importiert aus Ländern, auf deren Waren es sich in Zukunft nicht mehr bedingungslos verlassen kann. Umso wichtiger wird RENAISSANCE DER NATURLUST für Menschen der Konsum von regionalen und saiso- nalen Lebensmitteln, wie er aus volkswirtschaftlicher Die Unausweichlichkeit der Erderwärmung und Sicht heraus schon lange empfohlen wird, weil heimi- die Plötzlichkeit, mit der die Coronapandemie aus- sche Lebensmittel eine dreifache Dividende mit sich gebrochen ist, bedingen eine Korrektur im Mensch- bringen: Sie sind besser für Klima, Umwelt und Wirt- Natur-Verhältnis: Weder will „die Krone der Schöp- schaft. Die neue Aufmerksamkeit, die Erzeugerinnen fung“ die Umwelt in Zukunft noch beherrschen, noch und Erzeugern zuteil wird, befördert auch eine neue liefert der Mensch sich ihr schicksalsergeben aus. Wertschätzung für den Dienst an der Gesellschaft, Stattdessen begreift die Menschheit sich inzwischen den die Landwirtschaft als Versorgerin, aber auch in als integraler Teil der ökologischen Ordnung auf dem der Landschaftspflege erbringt. Ein zwar noch be- Planeten. Während Corona drängen Städterinnen deutungsloses, aber sich bei Städtern wachsender und Städter aus den überfüllten Großstädten in Rich- Popularität erfreuendes Modell stellt das solidari- tung Land und entdecken die Freiheit im Grünen: „Ich sche dar: Endverbraucherinnen und -verbraucher glaube, ich habe mich noch nie so sehr mit der Natur verschaffen lokalen Landwirtinnen und -wirten fi- verbunden gefühlt wie jetzt“, zitieren Innsbrucker For- nanzielle Planungssicherheit, indem sie deren Arbeit scherinnen und Forscher die Teilnehmerin einer Lang- vorfinanzieren. Im Gegenzug werden die Förderinnen zeitstudie, deren Pandemieerfahrung das Gefühl vieler, und Förderer von den betreffenden Höfen mit Frisch- vor allem junger Erwachsener spiegelt. Die Stadt wird ware versorgt (siehe umweltberatung.de). Möglich zunehmend als „Ort der Krankheit“ empfunden (vgl. macht solche alternativen Konsumformen auch der an- Kaufmann/Straganz und Bork-Hüffer 2020). haltende Bio-Boom. 2020 überstieg der Bioanteil bei Lebensmitteln die 10-Prozent-Marke, „sodass die Her- steller mit den Lieferungen nicht immer mitkamen“ (vgl. BIO WÄCHST NACH WIE VOR Stefan 2021). Vegetarische und vegane Lebensmittel sind ebenfalls Gewinner des Trends. Produzentinnen Das Coronavirus hat auch den Welthandel durch- und Produzenten verzeichnen hier Wachstumsraten einandergebracht. Der Containerstau in internationalen von 15 bis 20 Prozent (Sieben-Jahres-Durchschnitt; Häfen und der daraus resultierende Warenmangel, vgl. Birgfellner 2021). 12
3 Megatrends: Zukunftstreiber auf dem Land DER KREIS SCHLIESST SICH BEIM BODENSCHUTZ Über Ernährungsfragen hinaus rücken Bodenschutz- und Bodennutzungsfragen in den Fokus neo-öko- logischen Handelns. Bei der Bodennutzung werden künftig neben dem quantitativen Bodenschutz auch Biodiversitäts- und Ertragsziele miteinander in Ein- MEHR BESSERE PRODUKTE klang gebracht, damit Landwirtschaft die Lebensräume möglichst vieler Arten unberührt lässt – idealerweise Als ubiquitärer Megatrend lässt Neo-Ökologie auch sogar schützt (vgl. Pätzold und Rettich 2020). Aber die konventionelle Landwirtschaft nicht unberührt. Die „der Boden“ ist keine Aufgabe ländlicher Akteure al- Produktqualität in Österreich ist allgemein aufgrund lein, sondern betrifft alle Lebensräume. Deshalb ver- der hohen Anforderungen an die Produktion hervor- binden Forschungsprojekte wie „Rural Urban Nutrient ragend, auch in der Veredelungswirtschaft, die dem Partnership“ in Deutschland Stadt und Land zu einer Dumping-Druck aus dem europäischen Binnenmarkt gemeinsamen Nährstoff-Kreislaufwirtschaft. Dabei seit Langem in erster Linie durch Qualitätsprogramme werden die Nährstoffe aus städtischen Bioabfällen (z.B. AMA-Gütesiegel) widersteht. Ein Vorreiter, wenn und Abwässern zu nachhaltigen „Design-Düngemitteln“ es um nachhaltige und praxistaugliche Innovationen verarbeitet, die auf landwirtschaftlichen Nutzflächen in der Schweinehaltung geht, ist der Verband land- eingebracht werden und eine symbiotische Beziehung wirtschaftlicher Veredelungsproduzenten (VLV) mit zwischen Stadt und Land etablieren, statt dem Land dem „Gustino Strohschwein“-Projekt. Darüber hin- Ressourcen einseitig in Richtung der Städte zu ent- aus bietet auch beispielsweise Hütthaler im Rahmen ziehen (siehe run-projekt.de). seiner Tierwohlprogramme Qualitätsfleischprodukte (Hofkultur und FairHof) an. Damit setzen diese Unter- nehmen neue höchste Standards knapp unterhalb der Biotierhaltung und beweisen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher sowie Landwirtinnen und Landwirte sich heute nicht mehr zwischen hohen Produktions- - mengen und hoher Produktqualität entscheiden müs- sen. Aus einer undogmatischen Perspektive heraus, die sowohl menschliche als auch tierische Bedürfnisse be- rücksichtigt, verbinden sich die „Bessere-Produkte“- Philosophie und der „Mehr-Produkte“-Anspruch zur neuen landwirtschaftlichen Prämisse: mehr bessere heimische Produkte. 13
Selbstliebe und Selbstoptimierung wird Gesundheit zu einer tragenden Säule zahlreicher individueller Lebens- stile – und ausgewogene Ernährung wird zur Basis, auf der sie ruht. Je höher der Beitrag der Ernährung zum persönlichen Wohlsein eingeschätzt wird, desto stärker rücken auch die Herstellungsbedingungen der Lebensmittel in den Vordergrund. Die Menschen fürch- ten negative Gesundheitsfolgen durch Fleischkonsum von mit Antibiotika behandelten Schweinen, durch gentechnisch veränderte Nutzpflanzen und durch Megatrend Gesundheit mit Pflanzenschutzmitteln verunreinigte importierte Lebensmittel. Begründet sind die Ängste nicht immer, Immer mehr immer besser informierte Menschen er- sie weisen dennoch auf den ganzheitlichen Rahmen heben Gesundheit zum zentralen Ziel in allen Lebens- hin, in dem heute über Gesundheit nachgedacht wird. bereichen. Die Menschen fühlen sich nur gesund, wenn die Um- welt – inklusive Nutztieren und -pflanzen – ebenfalls gesund ist. Intakte Landschaften fördern körperliches Wohl und bieten Entschleunigungsräume, in denen seelischer Stress abgebaut werden kann. LAND SCHAFFT ERHOLUNG Vor Corona war für mehr als 700.000 aktive Skitourer die österreichische Berglandschaft paradigmatische Naturdestination, auch wenn der Wintertourismus unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten immer wieder in die Kritik gerät (vgl. Prömpers 2020). Durch die Pandemie suchen Menschen coronakonforme Naturerlebnisse in den nahen Wäldern, deren Erholungsfunktion rückt in den Vordergrund. Hier im Wald und seiner Umgebung gehen Mensch und Naturgesundheit schon lange eine symbiotische Beziehung ein. Zunehmend erlauben Wald- und Forstmanagerinnen und -manager sowie GESUND GEHT NUR MIT DER NATUR Landwirtinnen und Landwirte es der Natur, in aus- gewählten Arealen wieder zu einer unberührten Wild- Keine Konsumentinnen- und Konsumentengenera- nis zu gesunden. Der Prototyp ist Österreichs einziger tion zuvor war so gut informiert über Gesundheits- seit 12.000 Jahren unberührter Urwald, der Rothwald themen wie die heutige. Möglich macht es die Demo- in Niederösterreich, wo Forscherinnen und Forscher kratisierung von Wissen im Internet und der direkte die Selbstheilungskräfte dieses einzigartigen Lebens- Zugang zu Fitness- sowie Ernährungsexpertinnen raums untersuchen (vgl. Schmitzer 2011). und -experten, die als Influencer in Büchern, Magazi- nen und Podcasts hochwertigen Content über körper- liches Wohlbefinden produzieren und teilen. Zwischen 14
3 Megatrends: Zukunftstreiber auf dem Land Produktion abzudecken, zum Beispiel durch nach- haltig angebautes Soja aus Österreich (vgl. Bundes- ministerium für Landwirtschaft, Regionen und Touris- mus 2021b; vgl. Kraml 2020). GESUNDHEIT FÄNGT IM BODEN AN Grundvoraussetzung ist das Vorhandensein von aus- reichend landwirtschaftlichen Flächen. Die Versorgung der Bevölkerung mit wertvollen und ausreichenden Nährstoffen beginnt mit dem Einbringen von Nähr- stoffen in den Boden, die über den Umweg der Pflanzen ihren Weg in tierische und menschliche Organismen finden (vgl. Ökosoziales Forum Österreich & Europa 2019). Landwirtinnen und Landwirten stehen sowohl natürliche als auch technologische Lösungen zur Ver- ZIELSETZUNG: NÄHRSTOFFSOUVERÄNITÄT fügung, die eine bedarfsgerechte Düngung und damit den Erhalt oder sogar eine Steigerung der Boden- Gesundheit hängt maßgeblich von Umweltfaktoren fruchtbarkeit erlauben. Aus der Bio-Szene erobern ab, die in den Verantwortungsbereich der Landwirt- Hühner- und Pferdemist-Start-ups wie PressGold und schaft fallen. „Die heimischen bäuerlichen Familien- Pferdeapfel das österreichische Ökosegment (siehe betriebe pflegen Österreichs einzigartige Kulturland- pressgold.at, pferdeapfel.bio); in der Industrie ver- schaft, versorgen die Bevölkerung mit hochwertigen binden große Unternehmen ihre Kompetenzen, bei- Lebensmitteln und engagieren sich für den Klima- spielsweise Bosch und BASF, die 2020 einen sensor- schutz“, umreißt das Bundesministerium für Land- gestützt eingebrachten Smart Fertilizer im Testmarkt wirtschaft, Regionen und Tourismus das Aufgaben- Südamerika lancierten (vgl. Dürr 2020); in Österreich feld der Bäuerinnen und Bauern. „Ein dynamischer bietet ab 2022 das Start-up AgroBiogel in Zusammen- ländlicher Raum sichert Lebensqualität und garan- arbeit mit der Universität für Bodenkultur ein öko- tiert Ernährungssicherheit“ (vgl. Bundesministerium logisches Hydrogel an, das die Wasserspeicherfähig- für Landwirtschaft, Regionen und Tourismus 2021a). keit von Böden verbessern soll (siehe agrobiogel.com). Ernährungssicherheit als Grundvoraussetzung ge- sunder Lebensweisen hängt nicht länger nur von der Höhe der österreichischen Agrarerträge ab; auch die Qualität muss erhalten bleiben, selbst wenn sich die Rahmenbedingungen verschlechtern sollten. „We need to feed people food that helps them maintain a healthy and nutritionally balanced lifestyle“, analysiert die malaysische Ernährungs-Entrepreneurin und Cor- nell-University-Alumna Shen Ming Lee (vgl. Lee 2019). Mit der Österreichischen Eiweißstrategie 2030 haben Bundesregierung und Landwirtschaft bereits eine erste Initiative in diese Richtung gestartet. Das Ziel: Den Eiweißbedarf der Bevölkerung durch heimische 15
BODENSPEKULATION WIRD VOM STADT- ZUM LANDPHÄNOMEN Während der Coronapandemie haben dicht ge- drängte Großstädte an Attraktivität verloren, eine Verlangsamung der Urbanisierung zeichnet sich ab. Immer mehr Menschen zieht es ins Umland und noch weiter hinaus (vgl. Lechner 2021). Dabei wird häu- fig ein urbanes Lebensgefühl aufs Land exportiert: Neugier, Toleranz und Mobilität sind seine positiven Megatrend Urbanisierung Seiten – aber auch negative Trends migrieren. Moti- viert durch die Niedrigzinspolitik der EU, kaufen Im- Der Gegensatz von Stadt und Land verliert an Be- mobilieninvestorinnen und -investoren, die zuvor auf deutung, je mehr sich urbane Lebensstile in den länd- begehrte Stadtlagen spekulierten, zunehmend land- lichen Raum verlagern. wirtschaftliche Gründe. Mittelfristig erhöht die Wette auf steigende Bodenpreise auch massiv den Druck auf die Landwirtschaft. Angesichts des rasanten Boden- ZUKUNFTSSTÄDTE KÖNNTEN LEBENDIGE verbrauchs wirken die Investments deshalb wie Öl ins LANDSCHAFTEN SEIN offene Feuer. Auf der anderen Seite stehen in Öster- reich 40.000 Hektar Gewerbe-, Wohn- und Industrie- Konservative Schätzungen der Vereinten Nationen immobilien leer. Im touristischen Bereich eskaliert sagen voraus, dass 70 Prozent der Weltbevölkerung die Situation bereits in vielen Gemeinden. Zum Bei- 2050 in Städten leben werden; progressivere, spiel fürchtet Lech am Arlberg einen schleichenden satellitengestützte Berechnungen der EU deuten an, Wandel zum Geisterdorf, seit immer mehr Häuser als dass heute bereits 84 Prozent aller Menschen Stadt- Anlageobjekte gekauft werden und leer stehen (vgl. bewohnerinnen und -bewohner sind (vgl. Scruggs Guyton 2021). 2018). In beiden Perspektiven gehört der Megatrend Urbanisierung zu den wirkmächtigsten Veränderungs- dynamiken unserer Zeit, mit weitreichenden Impli- kationen für Umweltschutz, Land-, Forst- und Vieh- wirtschaft. Gleichzeitig sorgt eine Durchmischung ruraler Räume mit urban sozialisierten, stadtmüden Zuzüglerinnen und Zuzüglern für kreative Impulse auf dem Land. Die progressive Provinz ist länger schon Trei- ber für Neuerungen, die auch in den Städten gebraucht werden. Beispiel Vorarlberg: Das Bundesland ist In- novator im Holzbau, der unter Klimagesichtspunkten auch in den Metropolen der Welt immer stärker nach- gefragt wird – von Wien über Mailand bis Minneapolis (vgl. Hofmeister 2019; vgl. Knöfel 2020). So löst sich der Gegensatz von Stadt und Land immer weiter auf. 16
3 Megatrends: Zukunftstreiber auf dem Land DIE VISION DER STADT-LANDWIRTSCHAFT Die gesellschaftlichen Funktionen von Stadt und Land verzahnen sich zusehends. Mit Hilfe neuer, nachhaltiger Technologien verbinden sich urbanes und rurales Ter- ritorium in Zukunft zu geschlossenen Kreislaufwirt- schaften. Dies ist auch die Vision hinter RUN (Rural RESONANZ-TOURISMUS SCHAFFT Urban Nutrient Partnership), einem Forschungsprojekt AUSGLEICH ZUM STADTLEBEN zwischen fünf deutschen Universitäten und Hoch- schulen sowie diversen privaten Partnern. Die Wissen- Die beliebtesten Urlaubsziele waren für Öster- schaftlerinnen und Wissenschaftler entwickeln ein reicherinnen und Österreicher bereits vor der Pande- Verfahren, um aus städtischen Lebensmittelabfällen mie inländische Destinationen (vgl. Bosio o. D.), inter- einen rieselfähigen „Designdünger“ sowie landwirt- nationale Reiseeinschränkungen stärken den Standort schaftliche Feldfolien herzustellen, die biologisch ab- weiter. Im Vergleich zum Vor-Coronajahr 2019 stieg baubar sind. Damit könnten die Städte der Zukunft die Zahl der Übernachtungen von Österreicherinnen dem ländlichen Boden nicht nur Ressourcen, son- und Österreichern im Heimatland um 14,3 Prozent. dern auch Nährstoffe zurückgeben (vgl. Universität Rechnet man das um 25 Prozent gestiegene Gäste- Stuttgart 2021). Marktreif ist der RUN-Ansatz jedoch aufkommen der deutschen Reisenden hinzu, ergibt noch nicht. Weiter entwickelt sind da Vertical-Far- dies einen Erfolgssommer 2021 (vgl. Wiener Zeitung ming-Konzepte, die Lebensmittel-Selbstversorgung 2021). Davon profitiert auch die Landwirtschaft, die in vertikalen Stadtarchitekturen ermöglichen. Mit dem den inländischen Resonanz-Tourismus erst ermöglicht: Projekt „wolkenfarm“ in St. Pölten liegt seit 2018 eine „82 Prozent der Gäste kommen wegen der schönen österreichische Machbarkeitsstudie vor (siehe wolken- Landschaft und der Natur, um sich zu erholen“ (vgl. farm.org). Das unter anderem beteiligte Vertical Far- Wilhelm 2020). Besucherinnen und Besucher wollen ming Institute rechnet derweil vor, dass in Österreich in Austausch – in Resonanz – mit Land und Leuten tre- 400 Quadratkilometer ungenutzter Innenraum bereit- ten, schätzen aber auch die hochwertigen regionalen stehen, um landwirtschaftlich in Anspruch genommen Lebensmittel. Die österreichischen Tourismusregionen zu werden (vgl. Futurezone 2020). haben in diesem Sinne auch eine Resilienzfunktion für die Metropolen: Hierher kommen die Städterinnen und Städter, um wieder Kraft zu tanken. Den sprichwört- lichen Boden bereiten dem Resonanz-Tourismus die landwirtschaftlichen Betriebe vor Ort, durch die aktive Bewirtschaftung ihrer Böden, die Landschaftspflege und weil sie die lokalen Genussspezialitäten erzeugen, die das Image einer Region mitprägen. 17
Megatrend Konnektivität In der Netzwerkgesellschaft von morgen bestimmt die Interaktion zwischen Mensch, Maschine und Um- welt den Alltag. ÖSTERREICH VERBINDET SICH NEU WER PROFITIERT VON DIGITALISIERTER LANDWIRTSCHAFT? Die österreichische Bundesregierung verzeichnet im Verlauf der Coronapandemie einen Digitalisierungs- Die Finanzierung relevanter Technologien ist aus Sicht schub und formuliert in Kooperation mit dem Digital- von Expertinnen und Experten heute nicht mehr das unternehmen Cisco Systems einen Plan, wie sich diese Hindernis, das es vor einigen Jahren noch darstellte Entwicklung dynamisch fortsetzen lässt: Regularien (vgl. PricewaterhouseCooper 2016). Betriebe schlie- flexibilisieren, Infrastruktur und Technologie entwickeln, ßen sich regional zusammen und investieren in ge- digitale Kompetenz fördern (vgl. Arthur D. Little 2020). meinschaftlich genutzte Systeme – allerdings ist die Damit erreicht der Megatrend Konnektivität in Öster- Skepsis gegenüber Systemanbietern stark ausgeprägt. reich eine nächste Stufe. Die Vernetzung von Menschen Wer auf die Daten aus dem gläsernen Acker zugreifen mit digitalen Technologien hat gerade erst begonnen. dürfen soll, wer sie wirtschaftlich weiterverwenden Ein Endziel gibt es dabei nicht: Konnektivität ist ein darf und ob die Daten den Landwirtinnen und -wirten agiles Geschehen, innerhalb dessen gesellschaftliche, überhaupt ungefiltert zur Verfügung gestellt werden, wirtschaftliche und individuelle Bedürfnisse neue Inno- ist derzeit noch ungeklärt. Dabei wächst der Druck: vationen anstoßen, die wiederum das Technikverhalten Arbeitskräfte fehlen bereits heute und werden auch der Menschen verändern und neue Entwicklungs- in Zukunft immer schwerer zu finden sein. Sobald die perspektiven eröffnen. Daraus folgt: Digitalisierung gesetzlichen Rahmenbedingungen jedoch stimmen beginnt im Kopf. Fortschritt entsteht aus einer Mentali- und Bäuerinnen und Bauern ihre Datensouveränität tät der Offenheit dafür, Dinge anders – smarter – zu behaupten können, steht einer weiteren Ausweitung tun. Der Agrarsektor geht mit gutem Beispiel voran. von Smart Farming nichts mehr im Wege. Die jüngste Generation von Landwirtinnen und Land- wirten hat eine hohe Affinität zu neuen Technologien, während auch die Generation ihrer Väter und Mütter sich in neue Anwendungen pragmatisch einarbeitet und nicht locker lässt, bis Systeme reibungslos in die Abläufe des Betriebs integriert sind. 18
3 Megatrends: Zukunftstreiber auf dem Land NACHHALTIGE INTENSIVIERUNG DURCH KÜNSTLICHE INTELLIGENZ Bis 2050 könnten ökologische Zusammenhänge auf Wiesen und Feldern, in Wäldern, Ställen und auf Weiden durch hochpräzise Sensoren vermehrt registriert und zu Daten verarbeitet werden. Mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) wird der Dünger- oder Wasserbedarf von Böden bedarfsgerecht und zentimetergenau be- stimmt und eine realistische Vorhersage getroffen, wel- HIGHTECH-KLIMASCHUTZ che Auswirkungen einzelne agrarische Maßnahmen auf die umgebende Landschaft haben würden. Nach- Nicht zuletzt der Kampf gegen den Klimawandel wird haltige Intensivierung nennen Forscherinnen und For- mit Hilfe von KI zu einer Gemeinschaftsaufgabe von scher das datenbasierte, maßgeschneiderte Bewirt- Mensch und Maschinen. Riesige Datenmengen zu schaften der verfügbaren Flächen: so umweltschonend Umweltphänomenen, die in komplexen Wechsel- wie nötig, so effizient und ertragsstabil wie möglich beziehungen miteinander stehen, werden rasend (vgl. Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung schnell ausgewertet. Auf deren Basis werden nach- 2018). Auch für die Tierhaltung ist KI attraktiv. Weltweit haltige Handlungsansätze, inklusive einer Bilanz ihrer wird zum Beispiel die Gesichtserkennung bei Schwei- positiven (oder negativen) Klimakonsequenzen, model- nen vorangetrieben, um eine bessere Überwachung liert (vgl. Peteranderl 2021). Technologie ist vielleicht von körperlicher und emotionaler Tiergesundheit ge- kein Heilsbringer für die Umweltherausforderungen währleisten zu können (vgl. McKenna 2020; vgl. Hüt- der Zukunft, aber doch eine wichtige Ressource für tenschmidt 2021a). deren Bewältigung. In der Steiermark sind die Zei- chen der Zeit bereits erkannt worden: Im sogenannten Green Tech Valley vernetzen sich 1.800 Hochschul- forscherinnen und -forscher mit innovativen Start-ups aus der Energie-, Lebensmittel- und Automatisierungs- branche und vielen mehr. Insgesamt 220 Unternehmen und Institutionen erarbeiten hier umweltschonende und -schützende Anwendungen. Europaweit gilt die Region damit als Leuchtturm für grüne Innovationen (vgl. Steinschaden 2020). 19
KLIMAWISSEN AUS INTERNATIONALEN NETZWERKEN Internationale Zusammenarbeit eröffnet vor diesem Megatrend Globalisierung Hintergrund neue Perspektiven. Die Devise der kom- menden Jahrzehnte wird lauten: global denken, lokal Die globalen Auswirkungen von lokalem Handeln wer- handeln. Dabei werden Akteurinnen und Akteure vor den stärker denn je spürbar, gleichzeitig muss Öster- Ort von Expertinnen aus internationalen Netzwerken reich seine Vorbildfunktion in der EU behaupten. unterstützt werden. Die Grundlagen für einen syste- matischen Knowhow-Transfer entstehen gerade. Bei- spielsweise besuchen Fachleute wie Matthias Grün Die weltweite Ausbreitung von SARS-CoV-2 rief von Esterhazy Forst- und Naturmanagement sowie der Menschheit mit voller Wucht in Erinnerung, wie der Pannatura GmbH internationale Kongresse und eng die Staaten der Welt miteinander vernetzt sind: tauschen sich über die Potenziale von alternativen, durch Reisebewegungen, über die der lokale Krank- fremden Baumarten aus – eine wichtige Ressource heitserreger sich verbreiten und bis zur Pandemie im Kampf gegen den Klimawandel, weil Wälder und anwachsen konnte; selbstverständlich auch durch Forste das Treibhausgas CO2 binden. Nichtheimische wirtschaftliche Lieferketten, die in der Coronakrise Arten könnten unter veränderten klimatischen Be- immer wieder abreißen und die Fragilität des welt- dingungen in neuen Weltregionen besser gedeihen weiten Warenverkehrs aufzeigen; aber auch durch und erfolgreicher zu bewirtschaften sein als die der- klimatische Wechselbeziehungen. Weil alles mit allem zeitigen Bestände, denen durch die Auswirkungen zusammenhängt, haben die Lebensweisen in den des Klimawandels die Lebensgrundlage entzogen USA, Afrika und Asien unmittelbare Auswirkungen wird. Esterhazy, der größte private Grundbesitzer in auf das Klima in Europa. Während China – vor den Österreich, schlägt in dieser Hinsicht seit vielen Jah- USA und Indien größter Treibhausgasemittent (vgl. ren immer wieder neue Wege ein. Statista 2021) – konkrete Schritte zur Reduktion sei- nes negativen Umwelteinflusses umsetzt (vgl. Brown 2021), befindet sich Indien mit seiner stark wachsen- den Wirtschaft und Bevölkerung auf ungebremstem Kollisionskurs mit internationalen Klimaschutzzielen (vgl. Menon 2021). Der Schaden, den die Länder Afrikas dem Klima zufügen, ist vor diesem Hintergrund derzeit noch vernachlässigbar. In Summe stößt der Kontinent weniger als ein Viertel des gesamteuropäischen CO2 aus, sogar nur ein gutes Achtel dessen, was China emittiert (siehe globalcarbonatlas.org). Allerdings zeichnet sich mit der zu erwartenden Bevölkerungs- explosion auf dem Kontinent eine dramatische Ver- schlechterung seiner Klimabilanz ab (vgl. Gerber 2020). Das wird neben dem Migrationsdruck unübersehbare Folgen für Boden und Klima haben, was auch Europa mittelfristig zu spüren bekommt – bis hin zur öster- reichischen Landwirtschaft. 20
3 Megatrends: Zukunftstreiber auf dem Land GLOBAL LEADER EUROPÄISCHE UNION Die meisten Beobachterinnen und Beobachter sind sich darüber einig, dass die Ernährung der Weltbe- völkerung eine Aufgabe für die gesamte Weltgemein- schaft darstellen wird, nicht der einzelnen Staaten. Eine Führungsfunktion hat dabei die Europäische Union inne, die zu den wichtigsten Märkten für land- wirtschaftliche Produkte weltweit gehört. Agrarwirt- schaften, die Zutritt zu diesem Markt suchen, müssen eine hohe Qualität vorweisen (vgl. Wax und Anderson 2021). Einerseits stellt die EU damit einen Garanten für Lebensmittelsicherheit und Transparenz dar, ver- ursacht auf der anderen Seite jedoch Friktionen. Part- ner wie die USA richten ihre Produktion konsequent auf Mengenmaximierung aus und fühlen sich durch die hohen EU-Standards im freien Wettbewerb behindert. ÖSTERREICH VOR DUMPING SCHÜTZEN Auch intern wird die EU-Politik nicht nur positiv be- wertet. Eine weitere Verteuerung von Lebensmitteln, Die Republik Österreich bekennt sich zur Sicherung wie sie noch strengere Standards des European Green der Versorgung der Bevölkerung mit hochqualitativen Deal wahrscheinlich nach sich ziehen werden, kön- Lebensmitteln aus heimischer Produktion. Die Selbst- nen sich auch in Europa die Bewohnerinnen und Be- versorgung mit hochqualitativen Agrarerzeugnissen wohner vieler Mitgliedstaaten nicht leisten; auf der an- wird also davon abhängen, ob auf EU-Ebene global deren Seite fühlen sich Erzeugerinnen und Erzeuger in verbindliche Leitplanken definiert und durchgesetzt Ländern wie Österreich hingegen nicht ausreichend werden können. Saubere, nachhaltige, aber teure unterstützt im Konkurrenzkampf mit Billigimporten Rohstoffe, wie sie die österreichische Landwirtschaft aus dem EU-Ausland, welche die hohen Produktions- hervorbringt, müssen zu einem gewissen Grad ver- standards unterlaufen. teidigt werden gegen einen Dumpingmarkt, auf dem sich das günstigste Angebot letztendlich durchsetzt, egal wie es hergestellt worden ist. Dabei kann das österreichische Modell durchaus positiv in die Welt ausstrahlen. Wie in keinem zweiten europäischen Land gelingt hier der Ausgleich zwischen ökologischem Han- deln und wirtschaftlichem Pragmatismus, zwischen Ernährungssicherheit und einem vitalen Agrarsektor. Dieses Gleichgewicht gilt es unbedingt zu schützen. 21
frost der sibirischen Tundra – ein natürlicher CO2-Spei- cher – könnte die Atmosphäre mit noch einmal so viel Kohlenstoffdioxid belasten, wie ihn die Menschheit bislang produziert hat (vgl. Braun 2021). Auch wenn Megatrend Sicherheit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Best- und Worst-Case-Szenarien laufend anpassen, bleibt Die Folgen von Klimawandel und kriegerischen Konflik- die Bandbreite möglicher Folgewirkungen groß. Wer ten sind nicht bis ins letzte Detail vorhersehbar – aber dem Agrarsektor treu bleibt, wird Sicherheit deshalb die Landwirtschaft kann selbstbestimmt den Hand- nicht mehr als erreichbaren Zustand, sondern als per- lungsrahmen setzen. manenten Prozess definieren müssen. DAS SICHERHEITSBEDÜRFNIS DER ERNÄHRUNGSSOUVERÄNITÄT IN NÄCHSTEN GENERATION KRIEGSZEITEN Das Bedürfnis nach Sicherheit ist im Agrarsektor Seit dem 24. Februar 2022 ist auch die geopolitische sehr ausgeprägt. Während die langjährigen Bewirt- Sicherheitslage zur relevanten Einflussgröße für die schafterinnen und Bewirtschafter von Höfen trotz Landwirtschaft geworden. Nach dem Angriffskrieg sich verschlechternder Rahmenbedingungen – Klima- Russlands gegen die Ukraine sind offene Konfron- wandel, Preisdruck – bis zum Pensionsalter durch- tationen zwischen NATO-Mitgliedern und dem post- halten, ist der nachfolgenden Generation die Über- sowjetischen Militärbündnis OVKS wieder vorstellbar, nahme des Betriebs oft zu heikel: Die unsichere Per- bis hin zum Szenario Dritter Weltkrieg (vgl. Dornblüth spektive, wie niedrige Einkommen verbunden mit den 2022; vgl. Fenske 2022). Als EU-Mitglied ist Öster- hohen Investitionen, welche die Digitalisierung, der reich von Krieg in Europa immer mitbetroffen. Un- European Green Deal, aber auch jede einfache Mo- abhängig von der Dauer und weiteren (wenn auch dernisierung eines Stalls oder anderer Wirtschafts- unwahrscheinlichen) Gewalteskalationen berührt der gebäude mit sich bringen, erscheinen vielen potenziel- Konflikt in der Ukraine demnach unmittelbar das Thema len Hofnachfolgerinnen und Hofnachfolgern zu riskant. agrarische Selbstversorgung. Russland und Ukraine sind weltweit maßgebliche Exporteure von Weizen Häufig entscheiden sie sich daher für einen Exit aus der Landwirtschaft. Damit wird sich das Größenwachstum (zusammen rund 25 Prozent; vgl. Tagesschau 2022), der Betriebe jedenfalls weiter rasant fortsetzen. Im dazu kommen im Falle der Ukraine noch hohe Aus- Jahr 2020 wird im Durchschnitt eine Gesamtfläche fuhrzahlen bei Mais, Raps und Sonnenblumenöl (vgl. von 45,1 Hektar pro Betrieb bewirtschaftet. Österreichische Hagelversicherung 2022). Kurzfristig werden die Österreicherinnen und Österreicher mit steigenden Lebensmittelpreisen kalkulieren. Mittel- UNSICHERHEIT AUSHALTEN fristig müssen Politik und Gesellschaft die heimi- sche Versorgung stärker unter sicherheitspolitischen Diese Entscheidung ist insofern rational, als dass die Gesichtspunkten bedenken. Beispielsweise ist die Risiken und Herausforderungen für den Agrarsektor Abhängigkeit von südamerikanischen Sojaimporten eine sehr hohe Dynamik aufweisen. Beispiel Erd- – einem Zukunftslebensmittel! – derzeit sehr hoch. erwärmung: Der tatsächliche Anstieg der weltweiten Politische Instabilität in dieser und anderen Regio- Temperaturen hängt neben den von Menschen emittier- nen könnte die Ernährungssicherheit in Österreich ten Treibhausgasen auch von den Kettenreaktionen ab, unmittelbar beeinträchtigen (vgl. Oswald 2020). die dadurch ausgelöst werden. Schmelzender Perma- 22
3 Megatrends: Zukunftstreiber auf dem Land TRAGENDE SÄULEN DER RESILIENZ Wälder sind bedroht. Apokalyptische Großbrände, wie sie die geschlossenen Wälder Kaliforniens seit Jah- Eine systemische Perspektive auf Sicherheit gewinnt ren heimsuchen, sind vor diesem Hintergrund auch in an Relevanz: Welche Bestandteile eines Betriebs, Wirt- Österreich zu erwarten (Beispiel Großbrand Rax 2021). schaftssektors und der Gesellschaft tragen zur Resi- lienz des Ganzen bei und erhöhen die Widerstands- kraft in Krisen? Geht es um die Abfederung von Kriegs- SCHNELLER REAGIEREN risiken, muss Bodenschutz eine strategische Priorität bekommen. Derzeit gehen Österreich jährlich 4.200 Für zahlreiche heimische Pflanzen werden die steigen- Hektar Agrarfläche verloren – weitgehend selbstver- den Temperaturen und die zu erwartenden Extrem- schuldet, unter anderem durch Verbauung. Würde wetterereignisse der nächsten Jahrzehnte eine große auf dieser Fläche Getreide für Backwaren angebaut, Belastung darstellen. Auch der Schädlings- und ließe sich damit der Brotbedarf von 300.000 Bür- Insektenbefall wird zunehmen (vgl. Lee 2019). Kurzum: gerinnen und Bürgern stillen. Umgekehrt bedeutet Wachstumsbedingungen werden unwirtlicher – Er- das: Österreich gefährdet derzeit fahrlässig seine nährungssicherheit kann nicht mehr einfach voraus- Ernährungssouveränität. Bodenverbrauch befeuert gesetzt werden. Deshalb arbeiten Forscherinnen und Importabhängigkeit und Versorgungsunsicherheit; Forscher mit Hochdruck an neuen, klimaresilienteren Bodenschutz dagegen fördert die agrarische Resilienz. Arten. Eine Schlüsselrolle kommt der Züchtung von ro- Zu den kostbarsten und systemrelevanten Ressourcen busteren, resistenteren Nutzpflanzen zu, die mit weni- in Österreich gehört auch das Grundwasser, das der- ger Wasser und mehr Sonne besser gedeihen. An der zeit noch ausreicht, um alle Bedarfe der Bevölkerung, Universität Bremen arbeitet eine Forschungsgruppe der Industrie und der Landwirtschaft zu decken.Bis um die Molekularbiologin Prof. Dr. Rita Groß-Hardt 2050 könnte das Zusammenspiel aus verschärften am innovativen Verfahren der Drei-Eltern-Kreuzung. Hitzeperioden und verringertem Niederschlag jedoch Das Team kann gewünschte Merkmale gleich dreier dazu führen, dass regionale Grundwasserreserven Eltern auf eine Pflanze vereinen. Dies bedeutet eine beinahe aufgezehrt werden (vgl. Bundesministerium enorme Zeitersparnis im Züchtungsprozess und wird für Landwirtschaft, Regionen und Tourismus 2021c). die Reaktionsgeschwindigkeit der Landwirtschaft er- Vor diesem Hintergrund dürfen Böden nicht weiter höhen. Auf Klimaveränderungen wird sie schneller mit unnötig entwässert und versiegelt werden, sondern angepassten Nutzpflanzen reagieren können (vgl. Zu- es „müssen zum Beispiel die Wasserhaltefähigkeit der kunftsinstitut 2021b). Böden geschützt und Auen renaturiert werden, Regen- wasser muss vor Ort versickern, anstatt direkt in die Noch nicht abschließend geklärt ist die Frage, wel- Kanalisation abgeleitet zu werden“ (vgl. BUND o. D.). che Rolle biotechnologische Verfahren im Wettlauf Nur so bleibt die Wasserversorgung gesichert. Auch gegen die Erderwärmung spielen werden. Während viele europäische Konsumentinnen und Konsumenten Gesundheits- und Umweltrisiken bei Lebensmitteln fürchten, die unter Verwendung von Gentechnik her- gestellt wurden, wollen nun zahlreiche Fachleute mit neuen biotechnologischen Werkzeugen wie etwa der Genschere CRISPR/Cas lebensmittelsichere, maximal widerstandsfähige Pflanzen schneller züchten; maß- geschneiderte Sorten, die dem Klimawandel trotzen und auch unter widrigsten Bedingungen noch stabile Ernteerträge abwerfen (vgl. Lee 2019). 23
Exkurs: „Neue Gentechnik“ – Chance oder Gefahr? Expertinnen und Experten sind sich sicher: Sobald die österreichische Bevölkerung Ernteausfälle und Preissteigerungen durch Klimastress direkt zu spü- ren bekommt, kommen auch Lösungsvorschläge auf den Tisch, die derzeit noch nicht mehrheitsfähig sind – allen voran neue Methoden der Biotechnologie. Ein Blick von außen auf eine offene Debatte. Zwei Forscherinnen haben 2012 die Wissenschafts- welt revolutioniert. Jennifer Doudna von der University of California, Berkeley, und Emmanuelle Charpentier, die zwischen 2002 und 2009 an der Universität Wien geforscht hat. Zeitgleich haben die Frauen im Jahr 2012 ein biotechnologisches Verfahren entwickelt, um DNA- Bausteine im Erbgut zu verändern – so einfach und so präzise, wie es zuvor unvorstellbar war. Das sogenannte Genome Editing eröffnet ungeahnte Möglichkeiten bei der Bekämpfung schwerer Erbkrankheiten, aber auch von Krebs und Aids, sowie bei der Entwicklung von Impfstoffen. Dafür bekamen Doudna und Char- pentier 2020 den Nobelpreis für Chemie. keine fremde DNA eingebracht. Stattdessen werden arteigene Gene zielgenau entfernt, eingefügt oder ausgeschaltet. Das ist der wesentliche Unterschied BIOTECHNOLOGIE SCHÜTZT zur klassischen Gentechnik, die in den USA mit der BIODIVERSITÄT ersten Auspflanzung von gentechnisch veränderten Tomaten im Jahr 1995 begann. Wie in vielen anderen Regionen der Welt könnte Ge- nome Editing die Züchtung von Pflanzen und Tieren Der Klimawandel bringt einen dauerhaften Temperatur- auch in Europa völlig verändern. Vor allem von der be- anstieg mit sich. Immer schneller wird es immer wärmer. reits weltweit eingesetzten Genschere CRISPR/Cas Mit den herkömmlichen Züchtungsmethoden sind Züch- erhofft die Wissenschaft sich weitere Durchbrüche im terinnen und Züchter aufgrund der langen Züchtungs- Bereich der Resistenzzüchtung. Als Werkzeug besticht zyklen (beim Apfel zum Beispiel 25 Jahre) kaum noch in CRISPR/Cas durch seine Präzision: Die Genschere der Lage, mit Umweltveränderungen Schritt zu halten. befreit den Züchtungsprozess aus der Abhängigkeit In der landwirtschaftlichen Züchtung bleiben die zeit- vom Zufall, der bei der traditionellen Kreuzung eine gemäßen Antworten auf den Klimawandel bislang aus. große Rolle spielt. Das bedeutet Zeit- und Kosten- Das gilt auch für Getreidesorten, die unter Pflanzen- ersparnis sowie ein erhöhtes Maß an Vorhersagbar- krankheiten leiden, welche unter anderem durch neue keit, also höhere Sicherheit. Dabei wird in der Regel Insektenarten übertragen werden, die infolge des Klima- 24
3 Megatrends: Zukunftstreiber auf dem Land wandels nach Norden wandern. Das Gleiche gilt für ÖSTERREICH IST SICH UNEINS Körner-Leguminosen, deren österreichische Vertreter unter Viruskrankheiten leiden. Überträger sind Blatt- Die Österreicherinnen und Österreicher verhalten läuse, deren Population noch vor wenigen Jahrzehnten sich dem Thema Gentechnik gegenüber ambivalent. durch harte Winter reguliert wurde. In Österreichs Acker- Überwiegend negativ reagieren sie auf die Nutzung regionen sind harte Winter heute die Ausnahme. von Gentechnik in der heimischen Feldproduktion und lehnen Lebensmittel aus gentechnisch veränderten Organismen ab. Auf der anderen Seite wird mehr oder NEUE IMPULSE ZULASSEN weniger stillschweigend zur Kenntnis genommen, dass gentechnisch veränderter Sojaschrot aus Nord- Zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Südamerika seit mehr als 20 Jahren an heimi- plädieren angesichts dieser Herausforderungen für sche Mastschweine und Hühner verfüttert wird. Güns- den Einsatz von CRISPR/Cas. Dies auch deshalb, weil tiges Genfutter trägt maßgeblich dazu bei, dauer- die Technik aufgrund der vergleichsweise geringen haft preisgünstiges Fleisch zur Verfügung zu haben. Kosten nicht nur großen, globalen Konzernen vor- Negative gesundheitliche Auswirkungen, die auf die behalten bleiben wird, sondern auch von kleinen und gentechnisch veränderte Futterkomponente zurück- mittelständischen Unternehmen genutzt werden kann. zuführen wären, sind weder bei den Tieren noch bei Selbst Mitglieder der deutschen Regierungspartei den Konsumentinnen und Konsumenten bislang fest- Bündnis 90/Die Grünen erkennen die positiven Chan- gestellt worden. cen und setzen sich für die gentechnische Methode in der Landwirtschaft ein (vgl. Christmann et al. 2020). Ob es sich beim Genome Editing überhaupt um eine Gentechnik handelt, war lange umstritten (vgl. Lee 2019). Erst der EuGH hat die Zukunftstechnologie in seinem Urteil von 2018 als gentechnisches Verfahren klassifiziert. Seitdem ist es in der EU de facto unmög- TEILNEHMEN AM DISKURS lich, sich in der landwirtschaftlichen Praxis mit CRISPR/ Cas zu beschäftigen. In der Folge laufen europäische Die Republik Österreich hat sich einem wissenschaft- und auch österreichische Forschungsvorhaben ins lichen Fortschritt verschrieben, der der Landwirtschaft Leere, weil es keinen realistischen Anwendungsfall dient, vgl. „Bundesverfassungsgesetz über die Nach- für die Genschere gibt. In Anbetracht der Hauptziele haltigkeit […]“, § 6: „Die Republik Österreich (Bund, des „European Green Deal“ hat die EU-Kommission Länder und Gemeinden) bekennt sich zur Bedeutung jüngst jedoch eine Neudiskussion des Rechtsrahmens der Grundlagenforschung und der angewandten For- für die Technologie angestoßen. Bis Mitte 2023 soll schung“. In diesem Sinne sind die Österreicherinnen ein konkreter Vorschlag zum weiteren Umgang prä- und Österreicher gut beraten, die Option Genome Edi- sentiert werden. ting faktenbasiert zu bewerten. In Anbetracht der gro- ßen Herausforderungen, die eine nachhaltige und sou- veräne Lebensmittelversorgung zukünftig erschweren werden, müssen Chancen und Risiken objektiv ab- gewogen werden. Österreich sollte alte Tabus über- denken und sich engagiert in die europäische Debatte einbringen – eine Debatte, die bereits läuft. 25
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