Diskurs Einwanderungsregelungen im Vergleich - Was Deutschland von anderen Ländern lernen kann

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Diskurs Einwanderungsregelungen im Vergleich - Was Deutschland von anderen Ländern lernen kann
Oktober 2015

Expertisen und Dokumentationen
zur Wirtschafts- und Sozialpolitik       Diskurs
                                         Einwanderungsregelungen
                                         im Vergleich
                                         Was Deutschland von anderen
                                         Ländern lernen kann
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II
Studie im Auftrag der Abteilung Wirtschafts-
und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

Einwanderungsregelungen
im Vergleich
Was Deutschland von anderen
Ländern lernen kann

Uwe Hunger und Sascha Krannich
WISO
 Diskurs                                                                                  Friedrich-Ebert-Stiftung

           Inhaltsverzeichnis

           Abkürzungsverzeichnis                                                                                          3

           Tabellenverzeichnis                                                                                            4

           Vorbemerkung                                                                                                   5

           Zusammenfassung                                                                                                6

           1. Einleitung                                                                                                  8

           2. Methodisches Vorgehen                                                                                  10

           3. Ergebnisse                                                                                             12

               3.1 Kanada                                                                                            12

               3.2 Australien                                                                                        20

               3.3 Neuseeland                                                                                        30

               3.4 Großbritannien                                                                                    38

               3.5 Österreich                                                                                        45

           4. Diskussion und Handlungsempfehlungen:
              Was kann Deutschland von den anderen Ländern lernen?                                                   57

               4.1 Vorteile und Risiken eines Punktesystems                                                          57

               4.2 Bedingungsfaktoren für den Erfolg eines Punktesystems                                             58

               4.3 Möglichkeiten und Grenzen einer Punkteregelung in Deutschland                                     62

           5 Literaturverzeichnis                                                                                    64

           Die Autoren                                                                                               75

           Dieses Gutachten wird von der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Fried­
                                                                                           rich-Ebert-
           Stiftung veröffentlicht. Die Ausführungen und Schlussfolgerungen sind von den Autoren in
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           Impressum: © Friedrich-Ebert-Stiftung | Herausgeber: Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der
           Friedrich-Ebert-Stiftung | Godesberger Allee 149 | 53175 Bonn | Fax 0228 883 9205 | www.fes.de/wiso |
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           ISBN: 978-3-95861-282-2 |

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           die FES nicht gestattet.
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Wirtschafts- und Sozialpolitik                                                              Diskurs

Abkürzungsverzeichnis

        AMS       Arbeitsmarktservice (Österreich)
     BMASK        Arbeitsmarktzugang im Bundesarbeitsministerium (Österreich)
         CBI      Confederation of British Industry
        CEC       Canadian Experience Class Program
         CIC      Citizenship and Immigration Canada
         CRS      Comprehensive Ranking System (Kanada)
       DIAC       Department of Immigration and Citizenship (Australien)
         EOI      Expression of Interest
        FSW       Federal Skilled Workers Program (Kanada)
         INZ      Immigration New Zealand
        IRPA      Immigration and Refugee Protection Act (Kanada)
          IZA     Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (Bonn)
         LCP      Live-in Caregiver Program (Kanada)
        MAC       Migration Advisory Committee (Großbritannien)
       MINT       Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik
     NAFTA        North American Free Trade Agreement
       NAP.I      Nationaler Aktionsplan für Integration (Österreich)
    NUMAS         Numerical Multifactor Assessment System (Australien)
      OECD        Organisation for Economic Co-operation and Development
         ÖIF      Österreichischer Integrationsfonds
         PNP      Provincial Nominee Program (Kanada)
RWR-Karte         Rot-Weiß-Rot-Karte (Österreich)
       SAWP       Seasonal Agricultural Worker Program (Kanada)
       SAWS       Seasonal Agricultural Workers Scheme (Großbritannien)
          SIR     Skilled Independent Regional (Australien)
        SMC       Skilled Migrant Category (Neuseeland)
         SOL      Skilled Occupation List (Kanada)
         SVR      Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration
        SWP       Seasonal Worker Program (Australien)

                                                                                           3
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           Tabellenverzeichnis

           Tabelle 1:   Punktekriterien und -gewichtung für hochqualifizierte Arbeitskräfte
                        im Rahmen des kanadischen Punktesystems                                                15

           Tabelle 2:   Übersicht über Kriterien und Gewichtung des australischen Punktesystems                24

           Tabelle 3:   Kriterien und Gewichtung des neuseeländischen Punktesystems                            33

           Tabelle 4:   Punktekriterien und -gewichtung für die einzelnen Bewerbergruppen
                        im Rahmen des britischen Punktesystems                                                 41

           Tabelle 5:   Punktekriterien und -gewichtung für hochqualifizierte Arbeitskräfte
                        im Rahmen der RWR-Karte in Österreich                                                  48

           Tabelle 6:   Punktekriterien und -gewichtung für Engpassberufe
                        im Rahmen der RWR-Karte in Österreich                                                  49

           Tabelle 7:   Punktekriterien und -gewichtung für Schlüsselarbeiter
                        im Rahmen der RWR-Karte in Österreich                                                  50

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Vorbemerkung

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Es fehlt     neues „Einwanderungsgesetz“ eröffnet. Ein sol-
jedoch eine systematische und kohärente Einwan­     ches Gesetz könnte etwa ein Punktesystem zur
derungspolitik. Das „Gesetz zur Steuerung und       Auswahl von Einwanderinnen und Einwande-
Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung         rern nach bestimmten Kriterien (z. B. Qualifika­
des Aufenthalts und der Integration von Unions-     tion, Sprache, Alter) enthalten. Dieses Instrument
bürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz)“        wird vor allem von klassischen Einwanderungs-
aus dem Jahr 2005 war ein wichtiger Meilenstein     ländern, aber auch einigen europäischen Staaten
zur Steuerung von Zuwanderungen nach Deutsch-       genutzt. In der öffentlichen Diskussion wird fast
land. Seitdem wurden unterschiedliche Reformen      ausschließlich das „Kanadische Modell“ als ko-
verabschiedet, die eine weitere Öffnung der Ar-     pierenswertes Beispiel thematisiert. Die Erfahrun-
beitsmärkte für Zuwanderer und Zuwanderinnen,       gen anderer Länder werden kaum berücksichtigt.
vor allem für (hoch-)qualifizierte Arbeitskräfte,        Die Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht
ermöglichen. Entstanden ist ein komplexes Sys-      deshalb diese Expertise, die die Erfahrungen aus
tem unterschiedlicher rechtlicher Regelungen, das   Kanada, Neuseeland, Australien, Großbritannien
selbst für Expert_innen nur noch schwer durch-      und Österreich mit ökonomischen Zuwanderungs­
schaubar ist. Außerdem haben sie nicht dazu bei-    regelungen, insbesondere den Punktesystemen,
getragen, im Ausland das Image Deutschlands als     vergleicht und analysiert. Es zeigt auf, dass es sehr
Einwanderungsland zu verfestigen.                   unterschiedliche Gewichtungen einzelner Fakto-
      Die demografische Entwicklung in Deutsch-     ren in den jeweiligen Ländern gibt und sich auch
land wird trotz einer stärkeren Aktivierung des     die Verfahrenswege und gesellschaftlichen Ab-
einheimischen Arbeitskräftepotenzials zu einem      stimmungsprozesse gravierend unterscheiden.
abnehmenden Erwerbspersonenpotenzial in ab-              Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass
sehbarer Zukunft führen. Zuwanderungen kön-         Deutschland zwar von anderen Ländern lernen
nen diese Entwicklung zwar nicht stoppen, aber      kann, wir aber ein auf unsere gesellschaftlichen
zumindest abmildern. Auch die hohe Zahl von         und politischen Rahmenbedingungen abge-
Flüchtlingen, die zur Zeit nach Deutschland kom-    stimm­tes eigenes Zuwanderungskonzept entwi-
men und von denen viele auf Dauer in Deutsch-       ckeln müs­sen. Hierzu liefert dieses Gutachten wert-
land bleiben werden, verändern die Bevölkerungs-    volle Hinweise.
struktur und das Erwerbspersonenpotenzial.                                               Günther Schultze
      In Deutschland ist angesichts der absehba-                            Leiter des Gesprächskreises
ren Fachkräftelücke und der Öffnung weiterer                            Migration und Integration der
­legaler Zugangswege zum Arbeitsmarkt zur Ent-                                  Friedrich-Ebert-Stiftung
 lastung des Asylsystems die Diskussion um ein

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           Zusammenfassung

           Die Studie untersucht die unterschiedlichen Ein-     1979 eingeführt wurde, seine Bewerber_innen
           wanderungsregelungen in den Einwanderungs-           nach wie vor fast ausschließlich nach human­
           ländern Kanada, Australien, Neuseeland, Groß-        kapitalbezogenen Gesichtspunkten aus, wie Alter,
           britannien und Österreich unter besonderer Be-       Sprachkenntnisse, Berufserfahrungen sowie Bil-
           rücksichtigung der dort geltenden Punktesyste-       dungsstand, ohne auf einen Arbeitsvertrag zu be-
           me. Bisher ist in Deutschland über Kanada hinaus     stehen. Dabei kann Australien auf eine hohe Be-
           relativ wenig über die verschiedenen Ausprägun-      schäftigungsquote unter den Einwanderern und
           gen von Punktesystemen zur Steuerung ökono-          Einwanderinnen verweisen. Neuseeland, das seit
           mischer Zuwanderung bekannt. Ziel der Studie ist     dem Jahr 1991 ein Punktesystem hat und 2003
           es daher, diese Modelle einer breiteren Öffent-      als erstes Land ein Onlinebewerbungssystem im
           lichkeit bekannt zu machen und auf der Basis der     Rahmen des Punktesystems eingeführt hat, ver-
           Analyse der Einwanderungsregelungen konkrete         gibt Punkte ebenfalls überwiegend nach Human­
           Handlungsempfehlungen für ein mögliches Punk­        kapitalkriterien, wobei man auch hier für eine
           te­system in Deutschland zu formulieren. Dabei       ­Arbeitsmarktzusage Punkte bekommen kann. Das
           soll insbesondere darauf geachtet werden, welche      neuseeländische Punktesystem hat dazu beigetra-
           spezifischen Einwanderungsinstrumente in den          gen, dass viele Lücken im neuseeländischen Ar-
           jeweiligen Ländern sich für Deutschland eignen        beitsmarkt langfristig geschlossen werden konn-
           und welche spezifischen Eigenheiten des Einwan-       ten. Im Gegensatz dazu muss in Großbritannien,
           derungslandes Deutschland eine Einführung aber        das im Jahr 2007 ein Punktesystem eingeführt
           auch erschweren würden. Die Expertise basiert         hat, jeder/jede Bewerber_in (außer Studierende)
           dabei sowohl auf einer Literatur- und Dokumen-        eine Arbeitsplatzzusage vorweisen, um einwan-
           tenanalyse als auch auf einer Reihe von Inter-        dern zu können. Punkte werden nur für die ent-
           views mit Expert_innen in den untersuchten            sprechende Arbeitsplatzzusage und nicht für in-
           Ländern.                                              dividuelle Kriterien wie Alter, Beruf usw. ver­
                 Im Ergebnisteil wird zuerst das kanadische      geben. Daher handelt es sich in Großbritannien
           Punktesystem dargestellt, das bereits im Jahr 1967    eigentlich nicht um ein Punktesystem im enge-
           als erstes Punktesystem weltweit eingeführt wur-      ren Sinne. Im österreichischen Punktesystem
           de und daher auf eine lange Erfahrung zurück­         werden Einwanderer und Einwanderinnen dage-
           blicken kann. Das kanadische System wurde in          gen sowohl nach Humankapitalkriterien, also
           den letzten Jahrzehnten mehrfach überarbeitet,        ­Alter, Beruf, Sprachkenntnisse usw., als auch nach
           auch aufgrund einer ineffizienten Arbeitsmarkt­        Nachfragekriterien ausgewählt. So müssen Fach-
           allokation, d. h. dass vor allem hochqualifizierte     kräfte in geringer qualifizierten Berufen ein Ar-
           Arbeitsmigrant_innen zwar vorwiegend nach              beitsplatzangebot vorweisen, um für das Punkte-
           ­ihren Qualifikationen ausgewählt wurden, aber         system zugelassen zu werden, während besonders
            später nicht den Beruf ausüben konnten, für den       hochqualifizierte Arbeitskräfte auch ohne Arbeits­
            sie eigentlich ausgebildet wurden. Zuletzt wurde      platzangebot nach Österreich einreisen dürfen,
            deswegen auch ein Onlinebewerbungssystem ein-         allerdings nur zum Zweck der Arbeitsplatzsuche
            geführt, das eine Einwanderung ohne konkrete          für einen Zeitraum von sechs Monaten. Es han-
            Arbeitsplatzzusage deutlich erschwert. Demge-         delt sich dabei also ebenfalls nur mit Abstrichen
            genüber wählt das australische Punktesystem, das      um ein Punktesystem.

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Im letzten Teil des Gutachtens wird diskutiert,         einer Einwanderung, die nicht oder nicht schnell
was Deutschland von den Erfahrungen der ande-           genug den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes ent-
ren Länder lernen kann. Es wird in diesem Teil          spricht und in Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäf­
klar, dass keines der Punktesysteme in den fünf         tigung der Einwanderinnen und Einwanderer
von uns beschriebenen Fällen eins zu eins auf           mündet, ungleich größer sind. Wie die Studie aber
Deutschland übertragbar ist. Vielmehr wird deut-        zeigt, lässt sich dieses Risiko mit einer hohen Be-
lich, dass jedes System immer auf die spezifischen      wertung einer Arbeitsplatz­    zusage sowie einem
sozialen, ökonomischen, politischen, aber auch         ­effizienten (Online-)Bewerbungssystem durchaus
geografischen Besonderheiten eines Landes aus-          abmildern. Allerdings sollte eine Arbeitsplatzzu­
gerichtet sein muss. Dennoch geht grundsätzlich         sage nicht das alleinige Kriterium sein, d. h. eine
aus der Analyse hervor, dass ein Punkte­    system     Einwanderung auch ohne konkrete Arbeitsplatz-
auch in Deutschland denkbar und möglich wäre.          zusage möglich sein, wenn die Bewerberin bzw.
Das größte Hindernis für seine Einführung bestün-      der Bewerber sich aus anderen Gründen qualifi-
de sicher in den im Vergleich zu den klassischen       zieren kann (Ausbildung in Mangelberufen, be-
Einwanderungsländern wie Kanada, Austra­       lien,   sondere Qualifikation, Sprachkenntnisse usw.).
Neuseeland, aber auch Großbritan­nien sehr viel        Dies wäre auch aus demogra­fischen Gründen das
stärker ausgebauten Sozialsystem, so dass die Risi-     richtige Signal.
ken bei einer Arbeitsmarktfehl­allokation, d. h. bei

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 Diskurs                                                                                       Friedrich-Ebert-Stiftung

           1. Einleitung

           Angesichts der aktuellen Flüchtlingsmigration         zu machen und potenziellen Zuwanderern und
           nach Europa und Deutschland wird derzeit er-          Zuwanderinnen in aller Welt ein faires und trans-
           neut der Ruf nach einer neuen Einwanderungs­          parentes Zuwanderungsangebot zu unterbreiten.
           gesetzgebung für die Bundesrepublik Deutschland       Inzwischen haben eine ganze Reihe von Indus­
           laut. Dabei spielt auch die Einführung eines sog.     triestaaten ein Punktesystem eingeführt, und zwar
           Punktesystems, wie es in anderen Ländern zum          nicht nur in klassischen Einwanderungsländern
           Teil in der Einwanderungspolitik seit vielen Jah-     wie Kanada (das als erstes 1967 ein Punktesystem
           ren praktiziert wird, eine zentrale Rolle. Unter      eingeführt hat), Australien (1979) und Neusee-
           einem Punktesystem versteht man dabei vor
           ­                                                     land (1991), sondern auch in Ländern der EU,
           allem die Auswahl von Zuwanderinnen und
           ­                                                     wie z. B. Dänemark (2007), Großbritannien (2008),
           ­Zuwanderern nach bestimmten Kriterien (wie Al-       Tschechien (2008), die Niederlande (2008) und
            ter, Qualifikation, Berufserfahrung etc.), für die   Österreich (2011).
            jeweils Punkte ver­geben werden. Wenn ein/eine             In Deutschland wird seit einem Vorstoß der
            (potenzielle_r) Zuwanderer oder Zuwanderin ge-       SPD aus dem Frühjahr dieses Jahres wieder ver-
            nügend Punkte (in den verschiedenen Katego­          stärkt über die Einführung eines Punktesystems
            rien) gesammelt hat, wird er/sie für eine Zuwan-     diskutiert. In dem Entwurf „Deutschland als Ein-
            derung in das betreffende Einwanderungsland          wanderungsland gestalten – warum wir ein Ein-
            zugelassen. Zum Teil kann es dabei sein, dass ein    wanderungsgesetz brauchen“ wird von der Bun-
            Zuwanderer oder eine Zuwanderin gar kein Ar-         destagsfraktion (2015a) u. a. ein Punktesystem
            beitsplatzangebot bzw. keinen Arbeitsvertrag vor-    nach kanadischem Vorbild ins Spiel gebracht.
            weisen muss, um in das betreffende Land ein-         Darin heißt es: „Wir schlagen deshalb vor, neben
            wandern zu dürfen. Die Summe seiner/ihrer Qua-       der Blauen Karte EU ein flexibles und nachfrage­
            lifikationen und Eigenschaften reicht für eine       orientiertes Punktesystem zu entwickeln. Mit
            Zuwanderung aus.                                     einem solchen System gewinnt beispielsweise
                                                                 ­
                  Gerade der letzte Punkt dieser Zuwande-        ­Kanada jedes Jahr rd. 250.000 qualifizierte Ein-
            rungsregeln nach Punkten ist aber sowohl in der       wanderer“ (S. 3). Die Einwanderungssysteme an-
            Wissenschaft als auch in der politischen Praxis       derer Länder seien zwar nicht eins zu eins auf
            sehr umstritten. So sagen die Kritiker_innen auf      Deutschland übertragbar, es solle jedoch sorgfäl-
            der einen Seite, dass dies zu ungewollten Effekten    tig geprüft werden, „welche Elemente des kana­
            führen könne, wenn diese Zuwanderinnen und            dischen oder anderer kriteriengeleiteter Einwan-
            Zuwanderer z. B. keinen entsprechenden Arbeits-       derungssysteme wir übernehmen können, um
            platz finden würden, d. h. entweder unter ihrer       die Einwanderung aus Drittstaaten langfristig mit
            Qualifikation arbeiten würden oder sogar arbeits-     einem flexiblen und nachfrageorientierten Punkte-
            los werden. Zudem sei dieses System zu planwirt-      system bedarfsgerecht zu steuern“ (S. 4). Die FDP
            schaftlich, da oftmals eine Höchstzahl an Zuwan-      hat im Mai 2015 ebenfalls ein Einwanderungs-
            derungsplätzen vom Staat festgelegt werde und         konzept vorgelegt („Für ein weltoffenes Deutsch-
            sich die Zahl nicht durch Marktprozesse ergebe        land – die Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik
            (vgl. Kolb 2008). Die Befürworter_innen sehen         der Freien Demokraten“), in dem die Einführung
            dagegen in einem Punktesystem eine attraktive         eines Punktesystems gefordert wird (FDP 2015b).
            Möglichkeit, sich als Zuwanderungsland bekannt        Auch die Grünen unterstützen diese Idee grund-

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Wirtschafts- und Sozialpolitik                                                                                Diskurs

sätzlich und wollen eine Kommission aus Wis-            richt der Unabhängigen Kommission „Zuwande-
senschaft, Wirtschaft, Gewerkschaften, Verwal-          rung“ 2001). Dabei wird es inzwischen durchaus
tung, gesellschaftlichen Gruppen zur Ausarbei-          kritisch und immer weniger als ein Modell an­
tung eines Einwanderungsgesetzes mit Punkte-            gesehen, das eins zu eins auf Deutschland über-
system einrichten (Die Grünen 2015). Die CDU/           tragen werden sollte (vgl. Thränhardt 2014; SVR
CSU spricht sich dagegen noch nicht für ein             2015: 34).
Punktesystem aus, will aber einen eigenen Vor-                Dabei sollte man aber nicht nur nach Kanada
schlag zur Einwanderungsreform bis Dezember             schauen. Wie bereits angesprochen, gibt es auch
2015 vor­ legen. Der Kommissionsvorsitzende für         in anderen Ländern unterschiedliche Konzipie-
ein neues Einwanderungsgesetz in der CDU, A    ­ rmin   rungen und Anwendungen des Punktesystems,
Laschet, sagte: „Wir sind das zweitbeliebteste          die zum Teil sehr positiv bewertet werden (vgl.
Einwanderungsland der Welt – wir haben nur
­                                                       Buchanan et al. 2013; Hawthorne 2011, 2014)
noch nicht die Regeln dafür“ (BR 2015). Ledig-          und Anregungen für die deutsche Diskussion lie-
lich von der Partei „Die Linke“ wird ein Punkte-        fern könnten. Im Folgenden sollen daher neben
system grundsätzlich abgelehnt. Sie bezeichnet          Kanada vier weitere Länder, die ein Punktesystem
das Punkte­  system als „Nützlichkeitsrassismus“        bei der Einwanderung anwenden, namentlich
(Die Linke 2015).                                       Australien, Neuseeland, Großbritannien und
      Auch die Wissenschaft ist sich in Bezug auf die   ­Österreich, einer genaueren Untersuchung unter-
Notwendigkeit bzw. Sinnhaftigkeit eines Punkte-          zogen werden, um daraus Anregungen und An-
systems in Deutschland nicht einig. So hat etwa          haltspunkte für eine mögliche Einführung einer
der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für         Punkteregelung in das deutsche Zuwanderungs-
Integration und Migration (SVR) in seinem Jah-           system abzuleiten. Bisher ist in Deutschland über
resgutachten 2014 betont, dass im Bereich des            Kanada hinaus relativ wenig über die verschie­
Arbeitsmigrationsrechts kein grundlegender Re-           denen Ausprägungen von Punktesystemen zur
formbedarf bestehe (SVR 2014: 15). Auch die              Steuerung von ökonomischer Zuwanderung be-
OECD (2013b: 15) hat Deutschland jüngst be-              kannt. Ziel der Studie soll es daher sein, diese
scheinigt, dass es im Hinblick auf die Arbeits­          Modelle einer breiteren Öffentlichkeit bekannt
                                                         ­
migrationspolitik zu den liberalsten Ländern im          zu machen und auf der Basis der Analyse der Ein-
gesamten OECD-Raum gehört. Andererseits hat              wanderungsregelungen konkrete Handlungs-
sich das Forschungsinstitut zur Zukunft der Ar-          empfehlungen für ein mögliches Punktesystem
beit (IZA) in Bonn klar für ein solches System aus-      in Deutschland zu formulieren. Dabei soll insbe-
gesprochen und dazu jüngst ein differenziertes           sondere darauf geachtet werden, welche spezifi-
Konzept vorgelegt, wie man ein Punktesystem für          schen Einwanderungsinstrumente in den jeweili-
Deutschland effizient konzipieren könnte (Rinne          gen Ländern sich für Deutschland eignen würden
et al. 2015). Auffallend ist dabei, dass sich sowohl     und welche spezifischen Eigenheiten des Einwan-
Politik wie Wissenschaft fast ausschließlich auf         derungslandes Deutschland eine Einführung aber
das kanadische Modell, als das, wenn man so will         auch erschweren würden. Dazu gehört insbeson-
„praised immigration model“ für Deutschland              dere die Berücksichtigung der spezifischen deut-
beziehen (vgl. Thränhardt 2014: 3). Bereits die          schen Sozialbeziehungen zwischen Arbeitgeber_
Süssmuth-Kommission 2001 hatte vorgeschlagen,            innen und Gewerkschaften, aber auch die Ein-
dass qualifizierte Einwanderinnen und Einwan-            wanderungsgeschichte und -politik des Landes
derer nach kanadischem Vorbild anhand eines              sowie die politische Kultur des Konsenses und
Punktesystems ausgewählt werden sollten (Be-             der gesellschaftlichen Kohäsion.

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           2. Methodisches Vorgehen

           Die Studie basiert dabei im Wesentlichen auf zwei    Experteninterviews
           Untersuchungsschritten: erstens auf einer Litera-
           tur- und Dokumentenanalyse der einschlägigen         Im Anschluss an die Literatur- und Dokumenten-
           Literatur sowie Gesetzes- und Verfahrensvorschrif­   analyse wurden Expert_inneninterviews durch-
           ten zu den Punktesystemen in den einzelnen           geführt, um die Analyse abzusichern und offene
           Ländern sowie zweitens auf der Durchführung          Fragen mit Expert_innen (politische Entschei-
           von Expert_inneninterviews.                          dungsträger_innen sowie Expert_innen aus Wis-
                                                                senschaft und Wirtschaft) in den jeweiligen Län-
           Literatur- und Dokumentenanalyse                     dern zu klären und einen Einblick in die Einwan-
                                                                derungspolitik aus der Perspektive des jeweiligen
           Die intensive Literatur- und Dokumentenanalyse       Landes zu bekommen. Zudem wurden auch In-
           zu den Steuerungsmöglichkeiten von Arbeitsmi­        terviews mit Expert_innen in Deutschland ge-
           gration im Allgemeinen und zu den konkreten          führt, um mögliche Optionen der Einwande-
           Punktesystemen in den fünf Untersuchungslän-         rungssteuerung hierzulande zu diskutieren und
           dern Kanada, Australien, Neuseeland, Großbri-        um Handlungsempfehlungen für Deutschland
           tannien und Österreich im Besonderen stand da-       abzuleiten. Die Expert_innen wurden dabei an-
           bei am Beginn der Studie. Hierbei wurden sowohl      hand von Leitfäden befragt, die sich in erster
           die Einwanderungsgeschichte als auch die aktu­       ­Linie auf folgende Fragen bezogen:
           elle Einwanderungspolitik in den Fallstudienlän-      – Wie sehen die rechtlichen Regelungen zur
           dern sowie in Deutschland berücksichtigt. Dabei         Steuerung der Arbeitsmigration aus?
           lieferten insbesondere die offiziellen Onlinean­      – Wie stellen sich die rechtlichen Rahmenbe­
           gebote der für die Einwanderung zuständigen Mi-         dingungen für das Punktesystem (Umsetzungs-
           nisterien und Behörden umfangreiche und aktu-           kriterien, Punktevergabe, Aufenthaltsregelung,
           elle Informationen bzgl. der Kriterien und Ge-          Regelungen für Mangelberufe, unterschied­
           wichtungen der Punktesysteme sowie über den             liche Qualifikationsstufen etc.) dar?
           Antrags- und Bewerbungsprozess im Rahmen der          – Wie wird die Umsetzung des Punktesystems
           Punktesysteme. In Kanada war dies vor allem das         von den Akteuren bewertet? Werden die wirt-
           CIC (Citizenship and Immigration Canada), in            schaftlichen und politischen Ziele erreicht?
           Australien das Department of Immigration and            Wie werden die Modalitäten des Punktesys-
           Border Protection, in Neuseeland das Immigra­           tems eingeschätzt, wie Bewerbungs- und An-
           tion New Zealand, in Großbritannien das UK              tragsverfahren, Anerkennung von Qualifika­
           Visas and Immigration und in Österreich das
           ­                                                       tionen, Aufenthaltsstatus, regionale Gesichts-
           Help-Portal. Zudem wurden die einschlägige wis-         punkte, Übergangsregelungen vom befristeten
           senschaftliche Literatur zu Punktesystemen in           zu unbefristeten Status etc.?
           den Untersuchungsländern und auch darüber             – Trägt das Punktesystem wesentlich dazu bei, um
           ­hinaus ausgewertet.                                    die Nachfrage auf den Arbeitsmärkten nach aus-
                                                                   ländischen Fachkräften zu befriedigen?
                                                                 – Welche Integrationsangebote für die Zuwande-
                                                                   rinnen und Zuwanderer gibt es?

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– Inwieweit werden die betroffenen gesellschaft-         immer gleich vor: Zunächst geben wir einen kur-
  lichen Gruppen, wie Arbeitgeberverbände und            zen historischen Überblick der Einwanderungs­
  Gewerkschaften, in den politischen Entschei-           geschichte und -politik und den unterschiedli-
  dungsprozess einbezogen?                               chen rechtlichen Regelungen der Steuerung der
                                                         ökonomischen Zuwanderung des jeweiligen Lan-
Bei den Expert_innen handelte es sich um:                des, so dass ersichtlich wird, wie und wo das
– Maia Welbourne (Mitarbeiterin in der Einwan-           Punktesystem in der Gesamteinwanderungssyste-
  derungsbehörde „Citizenship and Immigra­               matik des jeweiligen Landes zu verorten ist. Den
  tion Canada“);                                         Hauptteil der Kapitel macht dann die Darstellung
– Lesleyanne Hawthorne (Professorin an der               der Struktur der Punktesysteme aus. Dabei gehen
  University of Melbourne, Australien);                  wir auf die unterschiedlichen Kriterien und Ge-
– Richard Bedford (Professor an der University of        wichtungen innerhalb der Punktesysteme ein.
  Waikato, Neuseeland);                                  Hierzu gehört etwa die Bedeutung einer Arbeits-
– Martin Ruhs (Professor an der Oxford Universi-         platzzusage, Regelungen für Mangelberufe und
  ty, Großbritannien);                                   Engpässe in bestimmten Sektoren, das Bewer-
– Margit Kreuzhuber (Mitarbeiterin in der Abtei-         bungs- und Antragsverfahren sowie auf die poli­
  lung für Sozialpolitik und Gesundheit der              tischen Entscheidungsprozesse im Rahmen des
  Wirtschaftskammer, Österreich);                        Punktesystems. Auch etwaige regionale und
– Heinz Faßmann (Professor an der Universität            ­föderale Gesichtspunkte sowie die Einbeziehung
  Wien, Österreich);                                      gesellschaftlich relevanter Gruppen in die Ent-
– Ulf Rinne (Stellvertretender Forschungsdirek-           scheidungsfindung werden erörtert. Zudem soll
  tor im Forschungsinstitut zur Zukunft der Ar-           es auch um Fragen gehen, ob Werbung im Aus-
  beit (IZA), Deutschland) und                            land für das Punktesystem gemacht wird und wie
– Holger Kolb (Leiter der Stabsstelle „Jahres­            die Regelungen der Einreise und des Aufenthalts
  gutachten“ beim Sachverständigenrat deut-               von Selbstständigen aussieht und ob es spezielle
  scher Stiftungen für Integration und Migration          Integrationsangebote gibt, die für Zuwanderer
  (SVR), Deutschland).                                    und Zuwandererinnen nach dem Punktesystem
                                                          gemacht werden. Wird eine Genderperspektive
Die Interviews wurden per Skype bzw. Telefon              berücksichtigt und welcher Aufenthaltsstatus
durchgeführt. Dabei wurden die Interviews größ-           wird den Einwanderern und Einwanderinnen
tenteils auf Tonbandgerät aufgenommen, tran-              ­angeboten? Welche Einreiseregelungen gelten für
skribiert und nach den Methoden der qualita­               Familienangehörige und wie sind sie rechtlich
tiven Inhaltsanalyse ausgewertet. Die Studie wur-          abgesichert? Schließlich sollen auf der Basis der
de innerhalb von zehn Wochen in den Monaten                Literatur und unseren Interviews auch Aussagen
von Juli bis September 2015 durchgeführt.                  über die Effektivität und Wirkungen der Punkte-
       Nachfolgend wollen wir die wesentlichen             systeme in den einzelnen Ländern gemacht wer-
­Ergebnisse unserer Analysen für die Länder Kana-          den. Die detaillierte Analyse der verschiedenen
 da, Australien, Neuseeland, Großbritannien und            Punktesysteme soll die Grundlage für eine ab-
 ­Österreich darstellen. Dabei gehen wir chronolo-         schließende Einschätzung der Möglichkeiten und
  gisch vor, d. h. wir starten mit der Darstellung des     Grenzen eines Punktesystems in Deutschland
  ersten Punktesystems in Kanada und arbeiten uns          ­liefern. Wo liegen die Vorteile und Risiken eines
  dann über das zweite Land mit Punktesystem,               Punktesystems aus deutscher Sicht? Welche Be-
  Australien, über die nachfolgenden Länder Neu-            dingungsfaktoren für den Erfolg oder Misserfolg
  seeland, Großbritannien und Österreich vor. In-           eines Punktesystems sind bei einer möglichen
  nerhalb der Länderdarstellungen gehen wir dabei           Einführung zu berücksichtigen?

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           3. Ergebnisse

           3.1 Kanada                                          tensivierte sie noch, indem er die Einwanderung
                                                               noch stärker an den Staaten des Commonwealth
           3.1.1 Kurzer historischer Überblick der             ausrichtete und generell weiße Einwanderer und
                 Einwanderungspolitik                          Einwanderinnen bevorzugte (Chapnick 2007).
                                                                     Erst in den 1960er Jahren wurde die ethnisch
           Die ersten europäischen Einwanderer und Ein-        diskriminierende und national ausgerichtete
           wanderinnen aus Frankreich und Großbritan­          ­Einwanderungspolitik langsam aufgeweicht und
           nien kamen während der Kolonialisierungszeit         stärker nach ökonomischen Kriterien ausgerich-
           Nordamerikas im 17. Jahrhundert nach Kanada.         tet. Dabei wurde ein besonderer Schwerpunkt auf
           Nach dem Siebenjährigen Krieg zwischen Groß-         gut ausgebildete Arbeitsmigrant_innen gelegt. In
           britannien und Frankreich fiel fast das gesamte      diesem Zuge wurde im Jahr 1967 auch das welt-
           heutige Staatsgebiet Kanadas im Jahr 1763 unter      weit erste Punktesystem zur Regulierung von
           britische Kolonialherrschaft. Im Jahr 1828 be-       hochqualifizierten Einwanderern und Einwande-
           gann Großbritannien mit dem Migration Act            rinnen eingeführt. Das neue Punktesystem orien-
           zum ersten Mal die Auswanderung nach Kanada          tierte sich dabei vor allem an der Ausbildung, den
           zu regulieren und 1910 wurde mit dem Immigra-        Fähigkeiten und der Berufserfahrung der poten-
           tion Act erstmalig die kanadische Staatsbürger-      ziellen Einwanderer und Einwanderinnen. Seit
           schaft eingeführt, und die kanadische Regierung      seiner Einführung wurde das Punktesystem mehr-
           übernahm die Regulierung der Einwanderung            mals überarbeitet und aktuellen Anforderungen
           selbst. Dabei wurden potenzielle Einwanderer         angepasst, etwa im Kontext des Immigration Act
           und Einwanderinnen in zwei Kategorien einge-         1976, als das Punktesystem eine stärkere sektor-
           teilt: in Einwanderer und Einwanderinnen aus         spezifische und regionale Komponente erhielt
           bevorzugten Herkunftsländern und in Einwan­          (Buchanan et al. 2013).
           derer und Einwanderinnen aus nicht-bevorzug-              Im Zuge des Immigration Act 1978 wurden
           ten Herkunftsländern. Bevorzugte Herkunftslän-       auch eine neue Flüchtlingspolitik und eine Neu-
           der waren anglophone Länder wie Großbritan­          regelung der Familienzusammenführung von
           nien, Irland oder die USA. Zu den nicht-bevor-       Einwanderern und Einwanderinnen festgelegt.
           zugten Herkunftsländern gehörten vor allem           Zudem sollten durch das Gesetz mehr Unterneh-
           asiatische Länder, aber auch lateinamerikanische     mer_innen und Investor_innen nach Kanada ge-
           Länder. Trotz dieser Regelung kamen in der ersten    holt werden, um die Wirtschaftskraft des Landes
           Zeit der Zuwanderung nach Kanada vor allem           zu stärken. Der Immigration Act 1978 wurde im
           viele chinesische Arbeitsmigrant_innen, um den       Jahr 2002 von dem Immigration and Refugee
           hohen Bedarf an geringqualifizierten Arbeitskräf-    Protection Act (IRPA) abgelöst, der seitdem alle
           ten in der wachsenden kanadischen Wirtschaft         Arten von Einwanderung in einem einzigen Ge-
           zu decken. Die große chinesische Einwanderung        setz zusammenfasst. Seither basiert die kana­
           wurde jedoch schließlich mit dem sog. Chinese        dische Einwanderungspolitik bis heute auf drei
           Immigration Act 1923 stark eingeschränkt (Chan       Säulen: 1) ökonomische Einwanderung, 2) Fami-
           2013). Der Citizenship Act 1946 setzte die selek­    lienzusammenführung und 3) Flüchtlingspolitik
           tive Einwanderungspolitik Kanadas fort bzw. in-      (Government of Canada 2015).

    12
WISO
Wirtschafts- und Sozialpolitik                                                                           Diskurs

3.1.2 Kurzer Überblick über die unterschiedlichen    im „Provincial Nominee Program“ (PNP) bewer-
      rechtlichen Regelungen der Steuerung der 		    ben können und im gleichen Punktesystem aus-
      ökonomischen Zuwanderung                       gewählt werden, nämlich im Onlinebewerbungs-
                                                     system „Express-Entry“ (Interview mit Maia Wel-
Die kanadische Arbeitsmigrationspolitik war lan-     bourne, Citizenship and Immigration Canada,
ge Zeit rein humankapital- bzw. personenorien-       September 2015), das in Punkt 3.1.3 beschrieben
tiert, d. h. auf die pauschale Rekrutierung von      wird;
Hochqualifizierten ausgerichtet, ohne auf die tat-   (3) Unternehmer_innen und Investor_innen, die
sächliche Nachfrage auf dem heimischen Arbeits-      nach Kanada einwandern wollen, bewerben sich
markt zu achten. Vor allem nach Inkrafttreten        im Rahmen des „Business Immigration Program“,
des IRPA im Jahr 2002 konnte man die kana­           das nicht nach Punkten selektiert, sondern
dische Arbeitsmigrationssteuerung als „Human­        eigenen Visabestimmungen unterliegt (siehe
                                                     ­
kapitalsystem in Reinform“ ansehen (Finotelli        Punkt 3.1.8);
2013). Dies hat sich in den letzten Jahren jedoch    (4) geringqualifizierte Einwanderer und Einwan-
nach und nach verändert, indem in das kanadi-        derinnen, die häufig nur kurzfristig auf dem Ar-
sche Einwanderungssystem schrittweise Elemen-        beitsmarkt nachgefragt werden und sich über das
te eingebaut wurden, die verstärkt auch Aspekte      „Temporary Foreign Worker Program“ bewerben
der Arbeitsmarktnachfrage berücksichtigen. Seit-     können. Diese werden nicht nach einem Punkte-
her orientiert sich das kanadische Einwande-         verfahren ausgewählt. Hierzu gehört u. a. die
rungsmodell sowohl am Arbeitsmarktangebot,           Visavergabe an US-amerikanische und mexika­
                                                     ­
also an potenziellen Arbeitskräften in aller Welt,   nische Einwanderer und Einwanderinnen im
die nach Kanada kommen wollen, als auch an der       Rahmen des NAFTA-Abkommens (1994), das
Arbeitsmarktnachfrage der einheimischen Unter-       „Seasonal Agricultural Worker Program“ (SAWP) –
nehmen (Bauder et al. 2014: 4). Man spricht in       das bereits seit dem Jahr 1966 besteht – zur Re­
diesem Zusammenhang daher von einem sog.             krutierung von Landwirtschaftsarbeiter_innen
Hybridsystem (Hinte et al. 2015). Diese Misch-       aus Mexiko und der Karibik und schließlich das
form in der Arbeitsmigrationssteuerung hat man       „Live-in Caregiver Program“ (LCP) für Pflege­
vor allem deswegen eingeführt, weil man erkann-      kräfte in Krankenhäusern und Altersheimen
te, dass das Punktesystem stärker an der tatsäch­    (Citizenship and Immigration Canada 2015d).
lichen Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ausge-
richtet werden musste, weil viele eingewanderte      Nimmt man alle kanadischen Einwanderungs-
Hochqualifizierte keinen Arbeitsplatz finden         programme zusammen, kamen im Jahr 2014 ins-
konnten, für den sie auch wirklich ausgebildet       gesamt 261.000 Wirtschaftsmigrant_innen nach
wurden. Als Paradebeispiel gilt hierbei der „Aka-    Kanada, davon rund 48.000 Hochqualifizierte im
demiker als Taxifahrer“ (Thränhardt 2014). Die-      Rahmen des Federal Skilled Worker Program. Für
ses Problem konnte durch die neueren Änderun-        das Jahr 2015 plant die kanadische Regierung
gen im Punktesystem abgemildert werden, vor al-      erneut mit einer Visavergabe an insgesamt
                                                     ­
lem durch die hohe Bewertung einer Arbeitsplatz-     47.000 bis 51.000 hochqualifizierten Migrant_in-
zusage durch ein kanadisches Unternehmen.            nen durch das Punktesystem (Interview mit Maia
                                                     Welbourne, Citizenship and Immigration Cana-
Gegenwärtig wird die ökonomische Einwande-           da, September 2015).
rung nach Kanada in vier Kategorien unterteilt:
(1) Hochqualifizierte, die sich im sog. „Federal     3.1.3 Struktur des Punktesystems
Skilled Workers Program“ (FSW) bewerben können
und über ein Punktesystem ausgewählt werden;         Kriterien und Gewichtung des Punktesystems
(2) qualifizierte Migranten, die sich im Rahmen      Die hochqualifizierten Migrant_innen im Federal
des „Federal Skilled Trades Program“ (FST), des      Skilled Workers Program werden im Prinzip nach
„Canadian Experience Class Program“ (CEC) und        zwei verschiedenen Punktesystemen in zwei auf-

                                                                                                        13
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 Diskurs                                                                                       Friedrich-Ebert-Stiftung

           einanderfolgenden Stufen ausgewählt. Um für das      höchsten bewertet. Hier können bis zu 28 Punkte
           eigentliche kanadische 100-Punkte-System zuge-       erlangt werden. Dabei wird die französische und
           lassen zu werden, muss man sich zuerst im Online-    englische Sprache gleich bewertet, da beide offi­
           system „Express Entry“ (siehe Punkt „Bewerbungs-     zielle Amtssprachen in Kanada sind. Wenn man
           und Antragsverfahren“) bewerben und eine ge-         Kenntnisse in beiden Sprachen vorweisen kann,
           wisse Mindestpunktzahl – die variabel ist und der    bekommt man Zusatzpunkte.
           aktuellen Anzahl der Bewerber_innen und der                Ad 2: Berufliche Qualifikationen und Fähig-
           Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt angepasst wird –      keiten: Für berufliche Qualifikationen und Fähig-
           von maximal 1.200 möglichen Punkten errei-           keiten können max. 25 Punkte erzielt werden.
           chen. Das „Express Entry“-System wurde erst zu       Dabei bekommt man die volle Punktzahl für ei-
           Beginn des Jahres 2015 eingeführt, um den Aus-       nen Doktorabschluss, 23 Punkte für einen Master­
           wahlprozess für nachgefragte Arbeitskräfte effizi-   abschluss oder einen gleichwertigen Abschluss,
           enter und schneller zu gestalten. Dabei wird nun     22 Punkte für zwei oder mehr Post-Sekundärab-
           der Arbeitsplatzzusage von einem kanadischen Un-     schlüsse im Rahmen eines Dreijahresprogramms,
           ternehmen ein besonders hohes Gewicht beige-         21 Punkte für einen Post-Sekundärabschluss im
           messen. Hierfür bekommt man bereits die Hälfte       Rahmen eines Dreijahresprogramms, 19 Punkte
           aller möglichen Punkte, nämlich 600 von 1.200        für Post-Sekundärabschluss im Rahmen eines zwei-
           (Citizenship and Immigration Canada 2015d).          jährigen Studienprogramms, 15 Punkte für einen
                Erst wenn ein/eine hochqualifizierte/r Mi­      Post-Sekundärabschluss im Rahmen eines Einjah-
           grant_in im ersten Punktesystem (Express Entry)      resprogramms und schließlich fünf Punkte für
           die Mindestpunktzahl erreicht hat, kann er/sie       ­einen Schulabschluss (Allgemeine Hochschulreife).
           sich im zweiten Punktesystem – das als das                 Ad 3: Berufserfahrungen: Hier können max.
           „klassische kanadische Punktesystem“ bezeich-         15 Punkte erworben werden. Hierzu muss min-
           net werden kann und bereits seit mehreren Jahr-       destens eine sechsjährige Berufserfahrung nach-
           zehnten im Federal Skilled Workers Program An-        gewiesen werden. Dreizehn Punkte gibt es für
           wendung findet – bewerben. Die Arbeitskräfte          eine Berufserfahrung von vier bis fünf Jahren, elf
           werden dabei in einem einfachen Schema eben-          Punkte für zwei bis drei Jahre und fünf Punkte für
           falls nach verschiedenen Kriterien und Gewich-        ein Jahr.
           tungen ausgewählt. Die sechs zentralen Punkte-             Ad 4: Alter: Wenn man zwischen 18 und 35
           vergabekriterien sind:                                Jahre alt ist, bekommt man zwölf Punkte. Wenn
           (1) Englisch- oder Französischkenntnisse;             man älter als 35 Jahre ist, bekommt man pro Le-
           (2) berufliche Qualifikationen und Fähigkeiten,       bensjahr einen Punkt abgezogen, somit gibt es ab
           (3) Berufserfahrung;                                  einem Alter von 47 Jahren null Punkte.
           (4) Alter;                                                 Ad 5: Arbeitsplatzangebot: Kann man ein Ar-
           (5) Arbeitsplatzangebot bei einem kanadischen         beitsplatzangebot eines kanadischen Unterneh-
           Unternehmen und                                       mens vorweisen, bekommt man zehn Punkte,
           (6) Erfahrungen und berufliche Qualifikationen        unabhängig davon, ob man zum Zeitpunkt der
           des Lebens- oder Ehepartners/der Lebens- oder         Bewerbung bereits in Kanada wohnt oder nicht.
           Ehepartnerin.                                              Ad 6: Erfahrungen und Qualifikationen des
                                                                 Lebens- oder Ehepartners: Hier kann man maxi-
           Für diese Kriterien muss ein Bewerber bzw. eine       mal weitere zehn Punkte sammeln. Hier werden
           Bewerberin insgesamt mindestens 67 von maxi-          für entsprechende Sprachkenntnisse, ein Studium
           mal 100 Punkten sammeln, um eine Aufenthalts-         in Kanada, ein Arbeitsplatzangebot in Kanada und
           genehmigung in Kanada zu bekommen.                    Verwandtschaft in Kanada jeweils fünf Punkte
               Ad 1: Englisch- und Französischkenntnisse:        vergeben und für einen Arbeitsplatz in Kanada
           Englisch- und Französischkenntnisse werden im         sogar zehn Punkte (vgl. Tabelle 1).
           kanadischen Punktesystem von allen Kriterien am

    14
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Wirtschafts- und Sozialpolitik                                                                                   Diskurs

  Tabelle 1:

  Punktekriterien und -gewichtung für hochqualifizierte Arbeitskräfte im Rahmen des kanadischen Punktesystems

  Punktevergabekriterien für hochqualifizierte Arbeitskräfte                         Punktegewichtung
  Englisch- oder Französischkenntnisse                                             Maximale Punktzahl: 28
  Sprachfähigkeiten
  CLB-Level 9 oder höher                                                                     6
  CLB-Level 8                                                                                5
  CLB-Level 7                                                                                4

  Verständnisfähigkeiten
  CLB-Level 9 oder höher                                                                     6
  CLB-Level 8                                                                                5
  CLB-Level 7                                                                                4

  Schreibfähigkeiten
  CLB-Level 9 oder höher                                                                     6
  CLB-Level 8                                                                                5
  CLB-Level 7                                                                                4

  Lesefähigkeiten
  CLB-Level 9 oder höher                                                                     6
  CLB-Level 8                                                                                5
  CLB-Level 7                                                                                4

  Kenntnisse offizielle Zweitsprache
  mind. CLB-Level 5 (in allen vier Fähigkeitsformen)                                         4

  Berufliche Qualifikationen und Fähigkeiten                                       Maximale Punktzahl: 25

  Doktorabschluss                                                                           25
  Masterabschluss oder gleichwertiger Abschluss                                             23
  zwei oder mehr Post-Sekundärabschlüsse (Dreijahresprogram)                                22
  Post-Sekundärabschluss (Dreijahresprogramm)                                               21
  Post-Sekundärabschluss (Zweijahresprogramm)                                               19
  Post-Sekundärabschluss (Einjahresprogramm)                                                15
  Hochschulreife                                                                             5

  Berufserfahrung                                                                  Maximale Punktzahl: 15

  1 Jahr                                                                                     5
  2 bis 3 Jahre                                                                             11
  4 bis 5 Jahre                                                                             13
  6 oder mehr Jahre                                                                         15

  Alter                                                                            Maximale Punktzahl: 12

  18 bis 35 Jahre                                                                           12
  pro Jahr älter, ein Punkt Abzug
  ab 47 Jahre                                                                                0

  Arbeitsangebot in Kanada                                                         Maximale Punktzahl: 10

  arbeitet zum Zeitpunkt der Bewerbung bereits in Kanada                                    10
  arbeitet zum Zeitpunkt der Bewerbung nicht in Kanada                                      10

  Erfahrungen und Qualifikationen des Lebens- oder Ehepartners/
  der Lebens- oder Ehepartnerin                                                    Maximale Punktzahl: 10

  Sprachfähigkeiten                                                                          5
  Studium in Kanada                                                                          5
  Arbeit in Kanada                                                                          10
  Arbeitsangebot in Kanada                                                                   5
  Verwandte in Kanada                                                                        5

  Maximalpunktzahl:                                                                         100

  Mindestpunktzahl:                                                                         67

  Quelle: Citizenship and Immigration Canada (CIC) 2015c; eigene Übersetzung.

                                                                                                                15
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 Diskurs                                                                                        Friedrich-Ebert-Stiftung

           Bedeutung der Arbeitsplatzzusage                       Bewerbungs- und Antragsverfahren
           Wie bereits erwähnt, setzt das aktuelle kanadi-        Das Bewerbungsverfahren beginnt mit dem
           sche Auswahlsystem für hochqualifizierte Fach-         Onlinebewerbungssystem „Express-Entry“. Die-
                                                                  ­
           kräfte, das „Federal Skilled Workers Programme“,       ses Bewerbungssystem gilt nicht nur für Hoch-
           einen deutlichen Schwerpunkt auf ein konkretes         qualifizierte im Federal Skilled Worker Program,
           Arbeitsplatzangebot. Damit hat es aus den Feh-         sondern auch für (qualifizierte) Bewerber_innen
           lern der Vergangenheit gelernt und will einer er-      im Rahmen des Federal Skilled Trades Program
           höhten Arbeitslosigkeit unter hochqualifizierten       (FSTP), des Canadian Experience Class (CEC) so-
           Einwanderinnen und Einwanderern vorbeugen.             wie des Provincial Nominee Programs (PNP). Die
           Deswegen entfallen im Online-Bewerbungssystem          folgenden Ausführungen beziehen sich aber nur
           „Entry Express“, dem ersten Punkteverfahren im         auf das Federal Skilled Worker Program. Dabei
           zweistufigen ­Bewerbungsprozess, allein die Hälfte     müssen hochqualifizierte Migrant_innen alle not-
           aller möglichen Punkte (600 von 1.200 Punkten)         wendigen Informationen in das Express-Entry-­
           auf den Nachweis einer Arbeitsplatzzusage. Wenn        System eingeben, die sich auf die Auswahlkrite­
           man diese 600 Punkte erreicht, hat man in der          rien des Punktesystems beziehen (s. o.). Die Krite-
           Regel die Hürde des ersten Punktesystems bereits       rien können jedes Jahr neu zusammengestellt wer-
           genommen und ist für das Auswahlverfahren des          den. Zurzeit gehören dazu u. a. die klassischen
           zweiten Punktesystems zugelassen. Hier kann            Human­kapitalfaktoren wie Bildungsstand, allge-
           man „nur“ zehn von insgesamt 100 möglichen             meine Berufserfahrungen, Sprachkenntnisse und
           Punkten für die Arbeitsplatzzusage erreichen, wo-      Alter sowie Berufserfahrungen in Kanada (s. o.).
           bei man die Bewerbung im zweiten Punktesystem          Für diese Kriterien kann man insgesamt 600 Punk-
           nur noch als pro forma Prozess ansehen kann,           te erreichen. Die komplette andere Hälfte aller zu
           weil meistens die Bewerber_innen, die das erste        erreichenden Punkte, nämlich ebenfalls 600 Punk-
           Punktesystem erfolgreich überstanden haben,            te, gibt es, wenn man ein konkretes Jobangebot
           auch tatsächlich zur Einwanderung zugelassen           in Kanada vorweisen kann. Wie bereits erwähnt,
           werden (Hinte et al. 2015: 16).                        gibt es keine konkrete Mindestpunktzahl, son-
                                                                  dern diese richtet sich nach der aktuellen Anzahl
           Regelungen für Mangelberufe und Engpässe in            der Bewerber_innen und der Nachfrage auf dem
           bestimmten Sektoren                                    Arbeitsmarkt (Interview mit Maia Welbourne,
           Im kanadischen Punktesystem gibt es jedoch kei-        ­Citizenship and Immigration Canada, September
           ne sog. Mangelberufeliste „Skilled Occupation           2015). Insgesamt werden maximal 1.200 Punkte
           List“ (SOL) wie in Australien, die die von australi-    vergeben.
           schen Unternehmen nachgefragten Arbeitskräfte                Nach den Punkteergebnissen wird der Be-
           jährlich nach Priorität ordnet und im Punkte­           werber/die Bewerberin in einem Online-Pool im
           system entsprechend berücksichtigt. Es gibt auch        Rahmen des „Comprehensive Ranking System“
           keine Extrapunkte für Bewerber_innen, die in            (CRS) eingestuft, das Teil des Auswahlprozesses
           Mangelberufen tätig sind, weder im Punkte­              im „Express-Entry-System“ ist. Diejenigen Bewer-
           system des Express-Entry, noch im 100-Punkte-           ber_innen, die ganz oben stehen, werden zuerst
           system. Mangelberufe spiegeln sich aber indirekt        eingeladen, sich für das zweite Punktesystem zu
           im „Express Entry“ wider, weil es für ein Joban­        bewerben (siehe oben, das sog. „100-Punkte­
           gebot von einem kanadischen Unternehmen die             system“). Danach werden die Nachplatzierten
           Hälfte aller möglichen Punkte gibt. Dabei ist da-       eingeladen, die weniger Punkte erreicht haben.
           von auszugehen, dass es sich zumeist um Mangel-         Letztendlich werden so viele Bewerber_innen zu-
           berufe handelt, für die in Kanada keine einheimi-       gelassen, bis das vorgegebene Kontingent ausge-
           schen Arbeitskräfte gefunden werden konnten.            schöpft ist. Das beträgt zurzeit 51.000 Plätze. Da
                                                                   sich aber in den letzten Jahren immer mehr Ar-
                                                                   beitskräfte beworben haben, als in der kanadi-
                                                                   schen Wirtschaft benötigt wurden, ist davon aus-

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Wirtschafts- und Sozialpolitik                                                                              Diskurs

zugehen, dass auch in diesem Jahr bei weitem         „Citizenship and Immigration Canada“ (CIC), ne-
nicht alle Bewerber_innen ausgewählt werden,         ben seinem Hauptsitz in der Hauptstadt Ottawa,
die sich im „Express Entry“ beworben haben. Alle     zahlreiche regionale Büros in den einzelnen Pro-
Bewerber_innen bleiben maximal zwölf Monate          vinzen, die die regionalen Migrationsprogramme
im Online-Pool. Falls sie nach dieser Zeit immer     vor Ort umsetzen sollen (Birrell et al. 2006: 184).
noch nicht ausgewählt wurden, werden sie auto-            Eine Sonderrolle spielt in diesem Zusammen-
matisch vom System gelöscht. Solange sie aber        hang die Provinz Quebec, die seit den Beschlüs-
im System sind, können sie sich Hoffnungen auf       sen des Cullen-Couture Agreement von 1978 –
eine Einladung machen, denn zum einen können         ein Abkommen mit dem kanadischen Staat, das
sie ihre eigene Gesamtpunktzahl jederzeit auf-       der Provinz Quebec eine gewisse Autonomie ver-
werten, indem sie z. B. zusätzliche Qualifikatio-    schaffte – ihre Arbeitsmigrant_innen nicht im
nen erwerben, und zum anderen können kana­           Rahmen des bundesweiten PNP rekrutiert, son-
dische Unternehmen jederzeit auf den Bewerber-       dern nach einem eigenen separaten Punktesys-
pool zugreifen und sich eine geeignete Arbeits-      tem. Dieses System vergibt auch Punkte für Krite-
kraft unter den Bewerber_innen heraussuchen          rien wie Arbeitsplatzangebot, Berufserfahrungen
und ihnen ein entsprechendes Jobangebot un­          und Qualifikationen, aber auch Extrapunkte für
terbreiten. Das macht das ganze System relativ       gute Französischkenntnisse, weil Französisch in
flexibel und anpassungsfähig.                        der Provinz Quebec, im Gegensatz zum größten
     Diejenigen Bewerber_innen, die im „Express      Teil Kanadas, die erste Amtssprache ist (Buchanan
Entry“ ausgewählt wurden, müssen sich in der         et al. 2013: 21). Damit haben die hochqualifizier-
zweiten Bewerbungsstufe im „100-Punktesystem“        ten Migrant_innen die Wahl, ob sie sich im Rah-
bewerben, das oben ausführlich dargestellt wur-      men des Punktesystems von Quebec bewerben
de. Wenn sie auch dieses Auswahlsystem über­         oder im Rahmen der nationalen Programme.
stehen, indem sie mindestens 67 Punkte sam-
meln, können sie sich für ein Arbeitsvisum mit       Einbeziehung gesellschaftlich relevanter Gruppen
einem unbefristeten Aufenthaltsstatus bewerben.      Vertreter_innen der regionalen Behörden wurden
                                                     auch bei der Ausarbeitung des Punktesystems auf
3.1.4 Politische Entscheidungsprozesse               nationaler Ebene einbezogen. So konnten die
      im Rahmen des Punktesystems                    einzelnen Provinzen und Territorien ihre Ideen
                                                     und Ansichten in die Konzeption des PNP, aber
Regionale und föderale Gesichtspunkte                auch in das Federal Skilled Workers Program ein-
Der Rahmen der kanadischen Einwanderungs­            bringen (Interview mit Maia Welbourne, Citizen-
politik wird nach wie vor im Wesentlichen von        ship and Immigration Canada, September 2015).
der Bundesregierung bestimmt. Dies gilt auch für     Als das Express Entry System konzipiert wurde,
die Hochqualifiziertenmigration. Dennoch ha-         wurden vor allem Arbeitgebergruppen eingeladen,
ben die einzelnen Provinzen und Territorien eige-    um Möglichkeiten zu diskutieren, wie das Punkte-
ne Instrumente, um Zuwanderung nach ihren            system stärker an die wirtschaftlichen Bedürfnisse
­eigenen Bedürfnissen zu steuern (Schmidtke 2014).   und die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ange-
 Dafür wurde auch das nationale „Provincial          passt werden kann.
 ­Nominee Program“ (PNP) verabschiedet, das es
  den einzelnen Provinzen ermöglicht, ausländi-      3.1.5 Effektivität und Wirkungen des Punktesystems
  sche Arbeitskräfte nach eigenen Kriterien zu re­
  krutieren. Im Jahr 2011 wurden in diesem Rah-      Wie bereits angesprochen, gab es viele Probleme
  men mehr als 38.000 Visa vergeben (inkl. Fami­     bei der praktischen Anwendung durch das klas­
  lienangehörigen der Hauptbewerber_innen), also     sische Punktesystem in Kanada. Das größte Pro-
  fast genauso viele wie durch das Federal Skilled   blem stellte dabei die ineffiziente Arbeitsmarkt­
  Workers Program (Buchanan et al. 2013: 21). Zu-    allokation dar, d.h. dass vor allem hochqualifi-
  dem unterhält das bundesweite Migrationsbüro       zierte Arbeitsmigrant_innen zwar vorwiegend

                                                                                                           17
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 Diskurs                                                                                         Friedrich-Ebert-Stiftung

           nach ihren Qualifikationen ausgewählt wurden,          der tatsächlichen Bewerberanzahl, die in dem je-
           aber später nicht den Beruf ausüben konnten, für       weiligen Jahr nach Kanada kommen wollten“
           den sie eigentlich ausgebildet wurden. Stattdessen     (Interview mit Maia Welbourne, ­Citizenship and
           mussten sie notgedrungen häufig Jobs annehmen,         Immigration Canada, September 2015).
           die weit unter ihrem Qualifikations­niveau lagen.
           Den größten Anteil unter den Hochqualifizierten       Diese Probleme sollten durch die Einführung des
           stellten dabei Mediziner_innen und Ingenieur_         Express-Entry-Systems zu Beginn des Jahres 2015
           innen dar (34 bzw. 32 Prozent im Jahr 2005)           behoben werden. Als Vorbild galt dabei das aus­
           (Hawthorne 2014: 5).                                  tralische Punktesystem, das wesentlich schnellere
                 Nicht selten wurden Hochqualifizierte zu-       Bearbeitungszeiten und eine bessere Arbeitsmarkt­
           dem arbeitslos und rutschen unter die Armuts-         allokation vorweisen konnte (Interview mit Maia
           grenze. Im Jahr 2001 galt dies für über ein Drittel   Welbourne, Citizenship and Immigration Cana-
           aller Einwanderinnen und Einwanderer in Kana-         da, September 2015). Obwohl es noch zu früh ist,
           da (Birrell et al. 2006: 192). Obwohl man diese       die Effektivität und Wirkungen des überarbeite-
           Fehlallokationen an den verantwortlichen Stel-        ten Punktesystems im Rahmen des Express-Entry-
           len zur Kenntnis nahm, wurde lange Zeit nichts        Systems grundsätzlich zu bewerten, gibt es schon
           daran geändert:                                       erste Zahlen, die auf eine Optimierung des Sys-
                                                                 tems schließen lassen. So wurden im ersten Halb-
            „Es war sehr schwer ein ökonomisches Einwande-       jahr 2015 hauptsächlich Bewerber_innen ausge-
            rungssystem zu entwickeln, das auf die aktuellen     wählt, die bereits eine Arbeitsplatzzusage hatten.
            Arbeitsmarktbedürfnisse reagieren kann. Einige       Allerdings liegen die Bewerberzahlen mit 4.809
            Bewerber_innen verbrachten sechs bis sieben Jah-     im Federal Skilled Workers Program weit unter
            re in der Warteschleife, bevor sie bearbeitet und    der Jahresvorgabe von 48.000 bis 51.000 Zuwan-
            zugelassen wurden. Also, das System reagierte        derungsplätzen (SVR 2015b).
            nicht auf die Arbeitsmarktbedürfnisse, wie wir es
            gebraucht hätten“ (Interview mit Maia Welbourne,     3.1.6 Werbung im Ausland
            Citizenship and Immigration Canada, September
            2015).                                               Vor der Einführung des Express-Entry-Systems zu
                                                                 Beginn des Jahres 2015 gab es keine gezielte Wer-
           Dies spiegelte sich auch in der Inflexibilität der    bung für das Punktesystem im Ausland, auch ge-
           kanadischen „Planwirtschaft“ (Kolb 2008) wider,       rade aus dem Grund, dass es ohnehin schon zu
           die auch zu lange Bearbeitungszeiten verursachte:     viele Bewerbungen gab, die man nicht bearbeiten
                                                                 konnte und für die es nicht genügend Plätze im
            „Kanada hatte grundsätzlich immer mehr Nach-         Punktesystem gab. Mit der Einführung des Ex-
            frage von Menschen, die nach Kanada kommen           press-Entry-Systems hat sich dies verändert, und
            wollten, als wir Plätze in unserem Jahresplan für    es gibt Überlegungen, mehr Werbung für das
            Einwanderinnen und Einwanderer zur Verfügung         neue System zu machen:
            hatten. Also war es klar, dass wir einen Plan aus-
            arbeiten und uns ziemlich strikt daran halten         „Mit dem Express Entry-System können wir jetzt
            würden. Aber die Menschen beworben sich wei-          tatsächlich in die Öffentlichkeit gehen und mehr
            terhin, obwohl das Kontingent im Jahresplan be-       Werbung machen, weil das Express Entry-System
            reits erreicht worden war und wir uns nicht mehr      es uns ermöglicht, nur diejenigen einzuladen, die
            um die Bearbeitung ihrer Bewerbungen kümmern          die besten Erfolgschancen haben. So wie das Sys-
            konnten. Dies führte mit der Zeit zu sehr großen      tem jetzt aufgebaut ist, wird es zu keinen Bearbei-
            Rückständen und sehr langen Bearbeitungszeiten.       tungsrückständen kommen, weil nur diejenigen
            Und wie gesagt: Es gab ein Ungleichgewicht zwi-       sich bewerben dürfen, die von uns zur Bewerbung
            schen der Anzahl freier Plätze im Jahresplan und      eingeladen wurden. Dies ist eine grundsätzliche

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