15 2018 CESifo Group Munich

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15 2018 CESifo Group Munich
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                                                                                        2018
                                                                                       9. August 2018
                                                                                         71. Jahrgang

KOMMENTAR                              ZUR DISKUSSION GESTELLT

Handels- und Wohlfahrtseffekte einer
»Nulllösung«:
                                       Wie gerecht ist die Welt? –
Wegfall der EU- und
US-Importzölle im                      Soziale Ungleichheit
Automobilsektor
Benjamin Jung und Timo Walter          und Wirtschafts­
FORSCHUNGSERGEBNISSE
                                       wachstum
Die (Super-)Effizienz von              Till van Treeck, Judith Niehues und Galina Kolev, Piotr Pysz,
volkswirtschaftlichen                  Peter Hampe, Andreas Peichl und Marc Stöckli, Georg Cremer
Fakultäten
Matthias Gnewuch und
Klaus Wohlrabe

DATEN UND PROGNOSEN

Wie sehen die Unternehmen
die neue Datenschutzgrund­
verordnung?
Julia Schricker

IM BLICKPUNKT

ifo Konjunkturumfragen
Juli 2018
Klaus Wohlrabe
15 2018 CESifo Group Munich
ifo Schnelldienst
ISSN 0018-974 X (Druckversion)
ISSN 2199-4455 (elektronische Version)

Herausgeber: ifo Institut, Poschingerstraße 5, 81679 München, Postfach 86 04 60, 81631 München,
Telefon (089) 92 24-0, Telefax (089) 98 53 69, E-Mail: ifo@ifo.de.
Redaktion: Dr. Marga Jennewein.
Redaktionskomitee: Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest, Annette Marquardt, Prof. Dr. Chang Woon Nam.
Vertrieb: ifo Institut.
Erscheinungsweise: zweimal monatlich.
Bezugspreis jährlich:
Institutionen EUR 225,–
Einzelpersonen EUR 96,–
Studenten EUR 48,–
Preis des Einzelheftes: EUR 10,–
jeweils zuzüglich Versandkosten.
Layout: Kochan & Partner GmbH.
Satz: ifo Institut.
Druck: Majer & Finckh, Stockdorf.
Nachdruck und sonstige Verbreitung (auch auszugsweise):
nur mit Quellenangabe und gegen Einsendung eines Belegexemplars.

im Internet:
http://www.cesifo-group.de
SCHNELLDIENST                                                                                  15/2018

ZUR DISKUSSION GESTELLT

Wie gerecht ist die Welt? – Soziale Ungleichheit und Wirtschaftswachstum                                       3

Seit einigen Jahren treten Fragen der Ungleichheit und Armut verstärkt in das Zentrum des Interesses der Wirt-
schaftswissenschaften. Hat die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen zugenommen? Und ist dies
nicht abträglich für den sozialen Zusammenhalt und behindert das Wirtschaftswachstum von Ländern und
Regionen? Zudem wird die These vertreten, dass die Globalisierung in vielen Ländern Verlierer hervorbringt, die
besonders stark dem rechten aber auch linken Populismus zuneigen. Auf einer wissenschaftlichen Tagung, die
unter der Leitung von Wolfgang Quaisser in der Akademie für Politische Bildung Tutzing vom 6. bis 8 Juli 2018
stattfand, wurde diese Thematik mit dem Schwerpunkt auf Deutschland diskutiert. Till van Treeck, Universität
Duisburg-Essen, sieht Anhaltspunkte dafür, dass Verschiebungen in der Einkommensverteilung zur Entstehung
von nicht nachhaltigen Wachstumsmodellen in verschiedenen Ländern beigetragen haben. Die Entwicklung der
Ungleichheit und ihre gesamtwirtschaftlichen Wirkungen seien dabei entscheidend von länderspezifischen Ins-
titutionen abhängig. Während die USA in den letzten Jahrzehnten durch stark steigende Spitzenhaushaltsein-
kommen geprägt seien, zeigten die Maße für die personelle Einkommensverteilung für Deutschland eine weniger
dramatische Entwicklung auf. Judith Niehues und Galina Kolev, Institut der deutschen Wirtschaft, Köln, zeigen,
dass der oft zitierte negative Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und Wirtschaftswachstum,
insbesondere für Länder mit hohem Entwicklungsstand und im internationalen Vergleich geringer Ungleich-
heit, nicht zutrifft. Grundsätzlich könne man festhalten, dass sich nur schwer kausale Effekte von Ungleich-
heit auf das Wirtschaftswachstum identifizieren lassen. Piotr Pysz, Hochschule für Finanzen und Management,
Białystok, sieht vor allem externe Ursachen für eine Ungleichheit in den Ländern Mittel- und Osteuropas: 40 Jahre
des »sozialistischen Experiments«. Die Erwartungen eines »Wirtschaftswunders« nach der liberalen Revolution
seien aber auch nach mehr als 25 Jahren des Transformationsprozesses nur für eine geringe Bevölkerungsgruppe
in Erfüllung gegangen, so dass heute eine antiliberale Gegenströmung in Osteuropa festzustellen sei. Peter Hampe,
Technische Universität Dresden, unterstreicht, dass das »Soziale« der »Sozialen Marktwirtschaft« auf drei unter-
schiedlichen Säulen ruht, nämlich den sozialen Effekten der Marktwirtschaft selbst, den Sozialleistungen und den
sozialen Zielsetzungen der deutschen Wirtschaftspolitik. Trotzdem hielten rund 45% der Deutschen die gegen-
wärtige Wirtschaftsordnung nicht für ausreichend sozial. Zu erklären sei dies unter anderem damit, dass sich
die reale Einkommenssituation der meisten Deutschen seit der Wiedervereinigung kaum verbessert, für einige
sogar verschlechtert, für den oberen Einkommensbereich aber deutlich verbessert habe. Die Sozialpolitik müsse
nachhaltiger, zielgerechter und effizienter gestaltet werden. Andreas Peichl und Marc Stöckli, ifo Institut, argu-
mentieren, dass die Entwicklung der Einkommensungleichheit in Deutschland besser sei, als in der öffentlichen
Debatte dargestellt. Berücksichtige man Kompositionseffekte, zeige sich, dass es für die Gesamtbevölkerung seit
2005 einen fallenden Trend gebe. Auch beim Thema Fairness schneide Deutschland nicht schlecht ab. Gleich-
wohl bestehe Reformbedarf bei der hohen effektiven Grenzbelastung für Haushalte mit niedrigen Einkommen
aufgrund des Transferentzugs im Sozialbereich. Zudem sollte aus Sicht der Chancengerechtigkeit die Förderung
der Bildung im Kleinkindalter ausgeweitet werden. Georg Cremer, ehem. Deutscher Caritasverband e.V., sieht eine
Diskreditierung der Grundsicherung in der öffentlichen Debatte in Deutschland, die Reformansätze, die gegen-
über armen Menschen und Erwerbstätigen am unteren Rand der Mitte geboten wären, blockiere. Zudem fordert
er mehr Fairness für Familien im Niedrigeinkommensbereich und eine zielgenauere Bekämpfung der Altersarmut.

KOMMENTAR

Handels- und Wohlfahrtseffekte einer »Nulllösung«:
Wegfall der EU- und US-Importzölle im Automobilsektor                                                         26
Benjamin Jung und Timo Walter

Im Handelsstreit zwischen der EU und den USA haben sich der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-
Claude Juncker, und der US-Präsident Donald Trump Ende Juli 2018 auf den schrittweisen Abbau von Zöllen in
allen Sektoren mit Ausnahme des Automobilsektors geeinigt. Keine drei Wochen davor war vorgeschlagen wor-
den, ausschließlich im Automobilsektor die vollständige Eliminierung von Zöllen anzustreben. Welche Handels-
und Wohlfahrtseffekte hätte eine solche Nulllösung für Deutschland, den Rest der EU und die USA? Mit Hilfe eines
quantitativen Handelsmodells berechnen Benjamin Jung und Timo Walter, Universität Hohenheim, diese Effekte
für drei Szenarien: In Szenario 1 wird angenommen, dass Deutschland handelspolitische Autonomie habe, so dass
die Nulllösung im Automobilsektor bilateral zwischen Deutschland und den USA stattfinden kann. In Szenario 2
werden die Autozölle zwischen den USA und allen Mitgliedstaaten der EU auf null gesenkt. Im dritten Szenario
eliminieren die EU und die USA ihre Zölle im Automobilsektor gegenüber allen WTO-Mitgliedern. Die Simulationen
zeigen, dass Deutschland, die EU und die USA am meisten im Rahmen des dritten Szenarios profitieren würden.
Ein bilateraler Alleingang von Deutschland und den USA bzw. zwischen der EU und den USA wäre weniger von
Vorteil.

FORSCHUNGSERGEBNISSE

Die (Super-)Effizienz von volkswirtschaftlichen Fakultäten                                                        30
Matthias Gnewuch und Klaus Wohlrabe

Der Artikel untersucht die (Super-)Effizienz von 188 volkswirtschaftlichen Fakultäten weltweit auf Basis von Daten
von RePEc. Als Input dient die Anzahl der Mitarbeiter gemessen in Vollzeitäquivalenten einer Fakultät. Der Output
wird als zwei Hauptkomponenten, die die Informationen von 30 bibliometrischen Rankings kondensieren, defi-
niert. Es zeigt sich, dass es einige super-effiziente Fakultäten gibt, die eine deutlich höhere Produktivität als ihre
Konkurrenten aufweisen; deutschsprachige Fakultäten sind nicht darunter.

DATEN UND PROGNOSEN

Wie sehen die Unternehmen die neue Datenschutzgrundverordnung?                                                    35
Julia Schricker

Die neue Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), die seit Ende Mai für alle EU-Mitgliedstaaten verpflichtend gilt,
sorgt für viel Diskussionsstoff sowohl auf Seiten der Unternehmen als auch bei den Verbrauchern. Die Rand-
stad-ifo-Personalleiterbefragung hat im Frühjahr 2018 rund 1 000 deutsche Personalleiter, die als Verantwortli-
che für Umsetzung und Einhaltung in besonderer Weise betroffen sind, dazu befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass
für drei Viertel der Befragungsteilnehmer die negativen Aspekte der DSGVO überwiegen. Insbesondere die klei-
nen und mittelständischen Unternehmen bewerten die neue Datenschutzgrundverordnung als problematisch.

IM BLICKPUNKT

ifo Konjunkturumfragen Juli 2018 auf einem Blick:
Die deutsche Wirtschaft setzt ihre Expansion in verlangsamter Gangart fort                                        40
Klaus Wohlrabe

Das ifo Geschäftsklima hat sich im Juli minimal verschlechtert. Die Unternehmer waren zwar etwas zufriedener
mit ihrer aktuellen Geschäftslage, nahmen jedoch ihre Erwartungen zurück. Die deutsche Wirtschaft setzt ihre
Expansion in verlangsamter Gangart fort. Die deutschen Unternehmen planen, auf unverändert hohem Niveau
neues Personal einzustellen. Im Moment gibt es keine Anzeichen, dass sich der lang anhaltende Aufschwung am
deutschen Arbeitsmarkt abkühlt. Nur in der Industrie gaben die Beschäftigungserwartungen nach. Die Stimmung
unter den deutschen Exporteuren hat sich etwas aufgehellt. Die Exporterwartungen der Industrie sind im Juli
gestiegen, nach zuletzt sieben Rückgängen in Folge. Das weltwirtschaftliche Umfeld bleibt für die deutschen
Exporteure jedoch schwierig.
ZUR DISKUSSION GESTELLT

Wie gerecht ist die Welt? –
Soziale Ungleichheit und Wirtschafts-
wachstum

Seit einigen Jahren treten Fragen der Ungleichheit und Armut verstärkt in das Zentrum
des Interesses der Wirtschaftswissenschaften. Hat die Ungleichverteilung von Einkommen
und Vermögen zugenommen? Und ist dies nicht abträglich für den sozialen Zusammen-
halt und behindert das Wirtschaftswachstum von Ländern und Regionen? Zudem wird die
These vertreten, dass die Globalisierung in vielen Ländern Verlierer hervorbringt, die
besonders stark dem rechten aber auch linken Populismus zuneigen. Auf einer wissenschaft-
lichen Tagung, die unter der Leitung von Dr. Wolfgang Quaisser in der Akademie für Politi-
sche Bildung Tutzing vom 6. bis 8 Juli 2018 stattfand, wurde diese Thematik mit Schwerpunkt
Deutschland diskutiert. Einige der dort vorgestellten Vorträge werden hier veröffentlicht.

Till van Treeck*                                                       ein ganzes Kapitel (Kapitel 17, S. 491 ff.). Das Kapitel
                                                                       beginnt mit einem Zitat von Arthur Okun aus dem Jahr
Das Ende der »trickle-down                                             1975: »[Der Konflikt] zwischen Gerechtigkeit und Effizi-
economics«: Ungleichheit als                                           enz [ist] unser größter sozioökonomischer Zwiespalt,
                                                                       der uns in der Sozialpolitik in Dutzenden von Facetten
Wachstumsbremse und als                                                heimsucht. Wir können einfach nicht beides zugleich
Krisenursache?                                                         haben: Markteffizienz und Verteilungsgerechtigkeit.«
                                                                       Bei Mankiw und Taylor (2016, S. 4) wird der vermeint-
                                                                       liche große Zwiespalt als Illustration der ersten von                            Till van Treeck
Spätestens seit der Veröffentlichung des internatio-
nalen Bestsellers »Das Kapital im 21. Jahrhundert«                     »zehn volkswirtschaftlichen Regeln« (»Alle Menschen
von Thomas Piketty (2014) ist die Debatte über die                     stehen vor abzuwägenden Alternativen.«) postu-
mit einer steigenden Einkommens- und Vermögens-                        liert: »Effizienz betrifft die Größe des ökonomischen
ungleichheit verbundenen Probleme zum neuen                            Kuchens, Gerechtigkeit die Verteilung des Kuchens.
Megathema in den Wirtschaftswissenschaften und in                      Diese beiden Ziele stehen bei politischen Maßnah-
der Politik geworden. Dabei wird in der internationa-                  men meist im Konflikt. […] Versucht die Regierung
len Debatte zunehmend die Position vertreten, dass                     den ökonomischen Kuchen in gleichmäßigere Stü-
eine steigende Einkommensungleichheit eine zent-                       cke zu schneiden, wird der ganze Kuchen kleiner.«
rale Ursache für geringes Produktivitätswachstum                       Im Kapitel zu »Einkommensungleichheit und Armut«
bzw. gesamtwirtschaftliche Instabilität sein kann. Die                 werden sie noch deutlicher: »Wenn der Staat Maßnah-
zugrunde liegende Forschung wurde insbesondere                         men ergreift, um die Einkommensverteilung gerech-
vom Internationalen Währungsfonds (IWF) (für einen                     ter zu gestalten, verzerrt er Anreize, verändert Verhal-
Überblick vgl. Dabla-Norris et al. 2015) und der Orga-                 tensweisen und bewirkt eine weniger effiziente Res-
nisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-                   sourcenallokation.« (Mankiw und Taylor (2016, S. 547)
wicklung (OECD) (für einen Überblick vgl. OECD 2015)                   Samuelson und Nordhaus (2010, S. 502) verwenden
betrieben.                                                             statt des Bilds des zerschnittenen Kuchens die Analo-
     Die neuen Forschungsergebnisse stehen in kras-                    gie des löchrigen Eimers: »Mit seinen Versuchen, eine
sem Widerspruch zu konventionellen Lehrbuchdar-                        Einkommensumverteilung von den Reichen hin zu den
stellungen (vgl. ausführlicher van Treeck 2016). Samu-                 Armen vorzunehmen, kann der Staat unter Umstän-
elson und Nordhaus (2010) widmen dem Zusammen-                         den der volkswirtschaftlichen Effizienz Schaden zufü-
hang zwischen Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit                   gen und das gesamte zur Verteilung verfügbare Ein-
                                                                       kommen schmälern.«
*
   Prof. Dr. Till van Treeck ist geschäftsführender Direktor des In-        Die jüngere internationale Forschung im Bereich
stituts für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen und
Fellow des Forum for Macroeconomics and Macroeconomic Policies
                                                                       der Makroökonomik zieht jedoch diese big trade-off
(FMM).                                                                 hypothesis in Zweifel und mit ihr den Ansatz der trick-

                                                                                    ifo Schnelldienst   15 / 2018   71. Jahrgang   9. August 2018   3
ZUR DISKUSSION GESTELLT

    le-down economics. Dabei können angebots- und nach-                      Gini-Koeffizient der Nettoeinkommen nicht gestiegen
    frageseitige Argumente unterschieden werden.1                            wäre. In Ländern wie Neuseeland oder Mexiko waren
                                                                             die negativen Wachstumseffekte der Ungleichheit noch
    UNGLEICHHEIT ALS PRODUKTIVITÄTSBREMSE?                                   deutlich stärker. Cingano (2014) argumentiert, dass
                                                                             insbesondere die Einkommensungleichheit am unte-
    Ostry, Berg und Tsangarides (2014) und Dabla-Norris                      ren Ende der Verteilung von Bedeutung ist. Die Erklä-
    et al. (2015) unterscheiden die folgenden angebotssei-                   rung ist, dass untere Einkommensgruppen im Zuge
    tigen Argumente:                                                         steigender Ungleichheit weniger in Bildung investieren
                                                                             können, wodurch die Entwicklung des Humankapitals
    ––     Schwächung des Humankapitals: Wenn relativ ein-                   geschwächt wird.
           kommensschwache Personen nicht in der Lage                             Bei der Interpretation dieser Ergebnisse ist zwar
           sind, eine gute Ausbildung und Gesundheitsver-                    aus methodischer Sicht Vorsicht geboten, wie etwa
           sorgung zu finanzieren, reduzieren sich durch die                 Paul Krugman (2015) ausführt. Denkbar wäre auch,
           Zunahme von Einkommensungleichheit insbeson-                      dass in einzelnen Ländern ein geringes Wachstum
           dere in der unteren Hälfte der Verteilung die Inves-              ursächlich für den Anstieg der Einkommensungleich-
           titionen in Humankapital mit negativen Wirkungen                  heit mitverantwortlich war. Grundsätzlich sind die
           auf das Produktivitätswachstum.                                   Ergebnisse empirischer Untersuchungen zum Zusam-
    ––     Politische Instabilität: Ökonomische Ungleichheit                 menhang zwischen Ungleichheit und Wachstum mit
           kann zu politischer Instabilität führen, und die                  großer Unsicherheit behaftet. Je nach betrachtetem
           damit verbundene Unsicherheit für die Marktteil-                  Zeitraum, Länderauswahl und methodischem Design
           nehmer kann mit geringen Investitionen und Pro-                   fallen die Schlussfolgerungen sehr unterschiedlich aus
           duktivitätseinbußen verbunden sein.                               (vgl. Behringer, Theobald und van Treeck 2016). Klar ist
    ––     Zunahme politischer Korruption: Hohe Ungleichheit                 aber: Die vermeintlich einfachen Lehrbuchthesen der
           bei Einkommen und Vermögen kann dazu führen,                      trickle-down economics erscheinen im Lichte der neue-
           dass finanzstarke Interessengruppen den politi-                   ren Forschungsergebnisse jedenfalls kaum haltbar.
           schen Prozess dominieren und beispielsweise eine
           übermäßige, wachstumshemmende Deregulierung                       UNGLEICHHEIT ALS KRISENURSACHE?
           der Finanzmärkte erwirken.
                                                                             Jenseits des angebotsseitigen Zusammenhangs zwi-
    Ostry, Berg und Tsangarides (2014) führen Wachstums-                     schen Ungleichheit und Produktivitätswachstum liegt
    regressionen für eine Gruppe von Industrie- und Ent-                     ein zentrales Problem in der Frage, wie bei hoher bzw.
    wicklungsländern durch und kommen zu dem Ergeb-                          stark steigender Einkommensungleichheit eine hinrei-
    nis, dass Länder mit höherer Einkommensungleich-                         chend große Nachfrage generiert werden kann, um die
    heit, gemessen am Gini-Koeffizient für die verfügbaren                   gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten aus-
    Haushaltseinkommen, in den vergangenen Jahrzehn-                         zulasten und eine hohe Arbeitslosigkeit zu verhindern.
    ten ein geringeres Wirtschaftswachstum und kürzere                       Von besonderer Bedeutung ist dabei die Entwicklung
    Wachstumsphasen zu verzeichnen hatten als Länder                         des privaten Konsums, der in den entwickelten Volks-
    mit geringerer Einkommensungleichheit (unter Berück-                     wirtschaften in der Regel zwischen 60 und 70% des
    sichtigung anderer, das Wachstum beeinflussender                         Bruttoinlandsprodukts ausmacht: Wenn sich im Zuge
    Faktoren). Sie argumentieren ebenfalls, dass staatliche                  steigender Ungleichheit die Einkommen der breiten
    Einkommensumverteilung in der Regel positive Effekte                     Masse der Bevölkerung nur schwach entwickeln, droht
    auf das Wachstum hat. Zwar kann eine sehr starke                         entweder eine Überschuldung der privaten Haushalte,
    staatliche Umverteilung wegen der damit einhergehen-                     wenn die unteren Einkommensgruppen ihren Kon-
    den Anreizwirkungen, isoliert betrachtet, einen nega-                    sum kreditfinanziert hochhalten, oder ein gesamtwirt-
    tiven Effekt auf das Wachstum haben. Zugleich hat die                    schaftlicher Nachfrageausfall.
    staatliche Umverteilung aber einen indirekten posi-                           So vertreten viele Ökonomen die These, dass der
    tiven Effekt auf das Wirtschaftswachstum, eben weil                      starke Anstieg der Einkommensungleichheit in den USA
    sie die Ungleichheit der Nettoeinkommen reduziert.                       in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Finanz-
    Für die meisten Länder wird daher durch staatliche                       und Wirtschaftskrise nach 2007 steht.2 Besondere Auf-
    Umverteilung das Wachstum insgesamt gestärkt. Und                        merksamkeit in der breiteren Öffentlichkeit erlangte
    selbst bei extremer Umverteilung sind keine negativen                    diese Hypothese durch einen 2010 veröffentlichten
    Wachstumswirkungen zu erwarten.                                          Bestseller von Raghuram Rajan, früherer Chefökonom
         Cingano (2014) bestätigt dieses Ergebnis für die                    des IWF.
    Länder der OECD. Nach seinen Schätzungen wäre das                             Der vermutete Zusammenhang zwischen Einkom-
    Wirtschaftswachstum in Ländern wie den USA, Groß-                        mensungleichheit und Finanzkrise kennt verschiedene
    britannien oder Deutschland zwischen 1990 und 2010                       Varianten, deren Kern sich aber kurz wie folgt zusam-
    um mehr als ein Fünftel höher gewesen, wenn der                          menfassen lässt: Seit Beginn der 1980er Jahre ist die

    1                                                                        2
         Die folgende Darstellung basiert teilweise auf van Treeck (2015).       Für einen Literaturüberblick vgl. van Treeck (2014).

4   ifo Schnelldienst   15 / 2018   71. Jahrgang   9. August 2018
ZUR DISKUSSION GESTELLT

Einkommensungleichheit in den USA stark gestiegen,         in Deutschland seine während der 2000er Jahre explo-
insbesondere am obersten Ende der Einkommens-              dierenden Gewinne in hohem Maße einbehalten. Die
verteilung. Die darunter liegenden Einkommensgrup-         damit einhergehende schwache Entwicklung der Lohn-
pen konnten ihre relativen Kaufkraftverluste aber teil-    bzw. Haushaltseinkommen (und die im Vergleich zu
weise durch längere Arbeitszeiten, geringere Erspar-       den angelsächsischen Ländern geringeren Möglichkei-
nis und höhere Verschuldung kompensieren (vgl. Reich       ten zu kreditfinanziertem Konsum) werden von vielen
2010; Frank, Levine und Dijk 2014). Der Zugang zu Kre-     Ökonomen als eine Ursache für die schwache binnen-
diten für Konsumenten selbst mit zweifelhafter Bonität     wirtschaftliche Entwicklung und die hohe Exportab-
wurde durch deregulierte und innovative Kreditmärkte       hängigkeit der deutschen Volkswirtschaft ausgemacht
ermöglicht, aber auch durch die direkte politische För-    (vgl. Behringer et al. 2013).
derung von Immobilienkrediten und eine expansive                Eine hohe Einkommensungleichheit kann somit
Zinspolitik (vgl. Rajan 2010; Stiglitz 2012). Ohne die     über die skizzierten Nachfrageeffekte zu globalen
hohe Konsumorientierung und Kreditaufnahme aller           Ungleichgewichten im Außenhandel beitragen (vgl.
Einkommensgruppen unterhalb der Spitzenverdiener           Behringer und van Treeck 2018) und die Wahrschein-
wäre das Wirtschaftswachstum demnach geringer und          lichkeit von Finanzkrisen erhöhen.
die Arbeitslosigkeit höher gewesen. Allerdings hat die
Überschuldung der privaten Haushalte maßgeblich            GLEICHMÄSSIGERE EINKOMMENSVERTEILUNG
die Gefahr einer privaten Schuldenkrise erhöht, die        FÜR STABILERES WACHSTUM
sich schließlich in der Großen Rezession ab 2008 reali-
siert hat (vgl. Kumhof, Rancière und Winant 2015). Eine    Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass Verschiebungen in
ganz ähnliche Entwicklung lässt sich für Großbritan-       der Einkommensverteilung zur Entstehung von nicht
nien und einige andere Länder insbesondere im angel-       nachhaltigen Wachstumsmodellen in verschiede-
sächsischen Raum feststellen, die im Vorfeld der Krise     nen Ländern beigetragen haben. Die Entwicklung der
ebenfalls einen starken Anstieg der Spitzeneinkommen       Ungleichheit und ihre gesamtwirtschaftlichen Wirkun-
und der privaten Verschuldung erlebten. Aus dem kre-       gen hängen dabei entscheidend von länderspezifi-
ditfinanzierten privaten Nachfrageboom resultierten        schen Institutionen ab (vgl. Behringer und van Treeck
in diesen Ländern zunehmende Leistungsbilanzdefi-          2017). Während das US-amerikanische Modell in den
zite, die zunächst problemlos über die internationalen     letzten Jahrzehnten durch stark steigende Spitzen-
Finanzmärkte finanziert werden konnten, dann aber          haushaltseinkommen geprägt war, zeigen die üblichen
mit zur weltweiten Finanzkrise ab 2007 beitrugen (vgl.     Maße für die personelle Einkommensverteilung für
Kumhof et al. 2012).                                       Deutschland hier eine weniger dramatische Entwick-
      In einer Reihe weiterer Länder wie China, Deutsch-   lung an. Hierzulande sind vielmehr die stark steigen-
land und Japan ist es in den Jahren vor der Krise eben-    den (einbehaltenen) Unternehmensgewinne, die nicht
falls zu deutlichen Verschiebungen in der Einkom-          in Statistiken zur Einkommensungleichheit erfasst
mensverteilung hin zu mehr Ungleichheit gekommen,          werden, ein Grund für die schwache Entwicklung der
allerdings gingen diese mit einer relativ schwachen        Masseneinkommen.
binnenwirtschaftlichen Entwicklung und zunehmen-                Das kreditfinanzierte Wachstumsmodell wichtiger
den Exportüberschüssen einher. Kumhof et al. (2012)        Leistungsbilanzdefizitländer wie den USA oder Großbri-
argumentieren, dass in China und anderen Schwellen-        tannien hat sich mit der Krise ab 2007 als nicht nachhal-
ländern das dort unterentwickelte Finanzsystem den         tig erwiesen. In Zukunft wird hier eine stabile Entwick-
unteren Einkommensgruppen den Zugang zu Krediten           lung des privaten Konsums nur mit entsprechenden
erschwerte, weswegen der Anstieg der Einkommens-           Zuwächsen bei den Masseneinkommen zu erreichen
ungleichheit in diesen Ländern mit einer Schwächung        sein. Auch das deutsche Exportüberschussmodell mit
des privaten Konsums und nicht mit höherer Verschul-       seinen strukturellen Finanzierungsüberschüssen im
dung einherging. Die reichen Haushalte, die von der        Unternehmenssektor ist inhärent instabil. Die Korrek-
Umverteilung profitierten, erwarben daher in zuneh-        tur von Fehlentwicklungen in der Einkommensvertei-
mendem Maße ausländische Finanztitel, weil sie ihre        lung wird eine wichtige Rolle bei der Suche nach einem
gestiegenen Ersparnisse im Inland nicht attraktiv anle-    nachhaltigen Wachstumsmodell spielen müssen.
gen konnten.
      In Deutschland (und anderen Exportüber-              LITERATUR
schussländern) ist der Anteil der sehr hohen Einkom-
                                                           Behringer, J., C. Belabed, T. Theobald und T. van Treeck (2013), »Einkom-
men an den gesamten Haushaltseinkommen (Top­               mensverteilung, Finanzialisierung und makroökonomische Ungleichge-
einkommensquoten) weniger stark gestiegen als in           wichte«, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 82(4), 203–221.
den angelsächsischen Ländern. Während in den USA           Behringer, J., T. Theobald und T. van Treeck (2016), Ungleichheit und mak-
                                                           roökonomische Instabilität. Eine Bestandsaufnahme, FES 2017-Plus, Fried-
oder Großbritannien die Unternehmen ihre steigen-          rich-Ebert-Stiftung, Bonn.
den Einnahmen unter dem Druck der »Shareholder-
                                                           Behringer, J. und T. van Treeck (2017), »Varieties of capitalism and growth
Value-Orientierung« und des »Markts für Manager« an        regimes. The role of income distribution«, FMM Working Paper Nr. 9.
die Spitzenverdiener innerhalb des Haushaltssektors        Behringer, J. und T. van Treeck (2018), »Income distribution and the cur-
weitergegeben haben, hat der Unternehmenssektor            rent account«, Journal of International Economics, im Erscheinen.

                                                                            ifo Schnelldienst   15 / 2018   71. Jahrgang   9. August 2018   5
ZUR DISKUSSION GESTELLT

    Cingano, F. (2014), »Trends in Income Inequality and its Impact on Econo-         Judith Niehues und Galina Kolev**
    mic Growth«, OECD Social, Employment and Migration Working Papers
    Nr. 163.                                                                          Ungleichheit und Wirt-
    Dabla-Norris, E., K. Kochhar, N. Suphaphiphat, F. Ricka und E. Tsounta
    (2015), »Causes and Consequences of Income Inequality: A Global Per-              schaftswachstum – ein
    spective«, IMF Staff Discussion Note, International Monetary Fund,
    Washington.                                                                       nicht-linearer Zusammen-
    Frank, R. A. Levine und O. Dijk (2014), »Expenditure Cascades«, Review of
    Behavioral Economics 1, 55–73.                                                    hang
    Krugman, P. (2015), »Musings on Inequality and Growth«, ver-
    fügbar unter: http://krugman.blogs.nytimes.com/2015/06/08/                        In den vergangenen Jahren wurde die Debatte um die
    musings-on-inequality-and-growth/?_r=0.
                                                                                      Ungleichheit in der Gesellschaft um eine neue Facette
    Kumhof, M., R. Rancière, C. Lebarz, A. W. Richter und N.A. Throckmorton
    (2012), »Income Inequality and Current Account Imbalances«, Internatio-           ergänzt. Im Jahr 2014 kamen Studien des Internatio-
    nal Monetary Fund Discussion Paper 12/08.                                         nalen Währungsfonds (IWF) wie auch der OECD glei-
    Kumhof, M., R. Rancière und P. Winant (2015), »Inequality, Leverage, and          chermaßen zu dem Ergebnis, dass eine steigende
    Crises«, American Economic Review 105(3), 1217–1245
                                                                                      Einkommens­ungleichheit ein geringeres Wirtschafts-
    Mankiw, N. G. und M. P. Taylor (2016), Grundzüge der Volkswirtschaftslehre,
    Schäffer-Poeschel, Stuttgart.                                                     wachstum impliziere und gleichzeitig, dass von höhe-
    OECD (2015), In It Together: Why Less Inequality Benefits All, OECD Publish­      rer Umverteilung eher keine wachstumshemmenden
    ing, Paris.                                                                       Effekte zu erwarten wären (vgl. Cingano 2014; Ostry,
    Ostry, J. D., A. Berg und C. Tsangarides (2014), »Redistribution, Inequa-         Berg und Tsangarides (2014). Besonders häufig wurde
    lity, and Growth«, IMF Staff Discussion Note 14/02, International Monetary
    Fund, Washington.                                                                 der kausal interpretierte Befund aus der OECD-Studie
    Rajan, R. (2010), Fault Lines: How Hidden Fractures Still Threaten the World      aufgegriffen, dass in Deutschland bei gleichbleibender
    Economy, Princeton University Press, Princeton.                                   Einkommensungleichheit das Wirtschaftswachstum
    Reich, R. (2010), Aftershock: The Next Economy and America’s Future,              zwischen 1990 und 2010 um fast 6 Prozentpunkte höher
    Knopf.
                                                                                      hätte ausfallen können.
    Samuelson, P. A. und W. D. Nordhaus (2010), Volkswirtschaftslehre,
    Mi-Wirtschaftsbuch, München.                                                           Die Studien erhielten auch insbesondere deswe-
    Stiglitz, J. (2012), The Price of Inequality. How Today’s Divided Society
                                                                                      gen große mediale und politische Aufmerksamkeit, da
    Endangers Our Future, Norton & Company, New York.                                 sie den bis dahin weitläufig vermuteten Trade off zwi-
    van Treeck, T. (2014), »Did inequality cause the U.S. financial crisis?«, Jour-   schen Effizienz und Gerechtigkeit in Frage stellten. Ein
    nal of Economic Surveys 28(3), 421–448.
                                                                                      grundlegender Zielkonflikt der Wirtschaftspolitik wäre
    van Treeck, T. (2015), »Schadet eine ungleiche Einkommensverteilung der
    Wirtschaft?«, WISO Direkt (36), Friedrich-Ebert-Stiftung, verfügbar unter:
                                                                                      gelöst, da insbesondere gemäß der OECD-Studie von
    http://library.fes.de/pdf-files/wiso/12083.pdf.                                   ungleichheitsreduzierenden Umverteilungsmaßnah-
    van Treeck, T. (2016), »Der ‚große Zwiespalt‘ zwischen Effizienz und              men keine negativen Anreizeffekte ausgingen, sondern
    Gerechtigkeit: Realität oder Ideologie?«, in: van Treeck, T. und J. Urban
    (Hrsg.), Wirtschaft neu denken. Blinde Flecken der Lehrbuchökonomie,
                                                                                      die geringere Ungleichheit zu einem höheren Wachs-
    iRights media, Berlin, 30–41.                                                     tum führe.

                                                                                      THEORETISCHER HINTERGRUND

                                                                                      In der theoretischen Literatur werden sowohl kausale
                                                                                      Mechanismen diskutiert, die für einen positiven Ein-
                                                                                      fluss von Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum
                                                                                      sprechen, als auch Argumente, die eher auf einen nega-
                                                                                      tiven Zusammenhang deuten.
                                                                                           Das zentrale Argument für einen positiven Wachs-
                                                                                      tumseffekt der Ungleichheitshöhe liegt in den Leis-
                                                                                      tungs- und Innovationsanreizen, die sich aus den
                                                                                      damit einhergehenden (erwarteten) Einkommensvor-
                                                                                      teilen und -unterschieden ergeben. Befragungen in
                                                                                      Deutschland deuten beispielsweise darauf hin, dass
                                                                                      Unterschiede in den Einkommen durchaus gewünscht
                                                                                      sind, wenn sie verschiedene Leistungen widerspiegeln.
                                                                                      Knapp drei Viertel der im Auftrag des Presse- und Infor-
                                                                                      mationsamts der deutschen Bundesregierung zu den
                                                                                      Einstellungen zum Thema Ungleichheit Befragten sind
                                                                                      beispielsweise der Meinung, dass diejenigen, die mehr
                                                                                      in die Renten- und Arbeitslosenversicherung einzahlen,
                                                                                      *
                                                                                         Dr. Judith Niehues ist Leiterin der Forschungsgruppe Mikrodaten
                                                                                      und Methodenentwicklung beim Institut der deutschen Wirtschaft
                                                                                      Köln e.V.
                                                                                      **
                                                                                         Dr. Galina Kolev ist Leiterin der Forschungsgruppe Gesamtwirt-
                                                                                      schaftliche Analysen und Konjunktur am Institut der deutschen Wirt-
                                                                                      schaft Köln.

6   ifo Schnelldienst   15 / 2018   71. Jahrgang   9. August 2018
ZUR DISKUSSION GESTELLT

auch bessere Leistungen bekommen sollten. Auch über                     KRITISCHE EINORDNUNG DER OECD-STUDIE
die Sparquote einer Volkswirtschaft kann ein positiver
Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wachs-                           Auf den ersten Blick bringt die OECD-Studie in unter-
tum erklärt werden, da die Sparquote in den obe-                        schiedlichen Spezifikationen robust das Ergebnis eines
ren Einkommensschichten tendenziell höher ausfällt.                     negativen Effekts der Einkommensungleichheit auf
Dies geht mit einer höheren Ersparnis einher, die dann                  das Wirtschaftswachstum hervor (vgl. Cingano 2014).
für Investitionszwecke zur Verfügung steht und dar­                     Weiterhin zeigen die Schätzungen, dass die Höhe der
über hinaus eine positive Wirkung auf das Wirtschafts-                  staatlichen Umverteilung – gemessen als Unterschied
                                                                                                                                                         Judith Niehues
wachstum haben kann.                                                    der Ungleichheit vor und nach den staatlichen Abga-
     Ein negativer Einfluss kommt beispielsweise                        ben und Transfers – hingegen keinen signifikanten Ein-
dann zustande, wenn Menschen mit geringen Einkom-                       fluss auf das Wirtschaftswachstum hat. Weitere Analy-
men einen schlechteren Zugang zum Bildungssystem                        sen führen zu der Erklärung, dass der negative Einfluss
haben und dadurch eine optimale Entfaltung der Bil-                     der Ungleichheit weniger auf die Einkommenskonzent-
dungschancen verhindert wird. Dieser Mechanismus ist                    ration am oberen Ende der Verteilung zurückgeht, son-
besonders stark in Entwicklungsländern zu erwarten,                     dern vor allem darauf, dass Kinder aus einkommens-
in denen viele Menschen nur begrenzten Zugang zum                       schwachen Schichten schlechtere Chancen im Bil-
Bildungssystem haben. Ein wachstumshemmender                            dungssystem haben.
                                                                                                                                                         Galina Kolev
Effekt kann sich ebenfalls ergeben, wenn die Höhe der                        Die Erklärung ist mit Blick auf die vorherigen
Ungleichheit so hoch ist, dass sie mit sozialen Unruhen                 Regressionsergebnisse allerdings insofern überra-
und politischer Instabilität einhergeht. Auch kann eine                 schend, da das Bildungsniveau bereits in den Wachs-
hohe Ungleichheit zu einer Verschiebung der Präferen-                   tumsschätzungen explizit berücksichtigt wird und
zen in Richtung umfassenderer Umverteilungsmaß-                         – im Gegensatz zur Ungleichheit – keinen signifikan-
nahmen führen, die dann nach konventioneller Theorie                    ten Einfluss auf das Wirtschaftswachstum offenbart.
das Wirtschaftswachstum hemmen. Zuletzt kann sich                       Der widersprüchliche Befund wird mit der Möglichkeit
eine mit höherer Ungleichheit einhergehende niedrige                    begründet, dass die beim sogenannten System GMM
Konsumquote negativ auf das Wachstum auswirken.                         Schätzer als Instrumente verwendeten zurückliegen-
                                                                        den Veränderungen des Bildungsniveaus eventuell
EMPIRISCHE STUDIEN                                                      nur einen geringen Erklärungsbeitrag für die aktuel-
                                                                        len Bildungsniveaus aufweisen. Ein einfacher Regres­-
Mit Blick auf die bisherigen Studien zum Einfluss von                   sionstest zeigt jedoch, dass dieses weniger für die Bil-
Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum ist es                         dungsvariable als für die Ungleichheitsvariable gilt,
zunächst einmal interessant festzuhalten, dass diese                    bei der die verzögerten Ungleichheitsveränderungen
Thematik keineswegs ein neues Feld in der ökonomi-                      das aktuelle Niveau der Ungleichheit überhaupt nicht
schen Literatur ist. Bereits in den 1990er Jahren war                   erklären können (vgl. Kolev und Niehues 2016). Die
der Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wachs-                       Überprüfung der möglichen Erklärung stellt somit sehr
tum Gegenstand einer großen Anzahl empirischer Ana-                     viel mehr die Validität des Regressionskoeffizienten der
lysen. Das Papier von Neves et al. (2016) zeigt in einer                Ungleichheitsvariablen in Frage.
umfassenden Übersicht der zum Thema bereits veröf-                           Weitere Robustheitschecks zeigen darüber hin-
fentlichten Studien, dass der geschätzte Koeffizient                    aus, dass sich nur in wenigen Spezifikationen auf
für die Auswirkung zunehmender Ungleichheit auf das                     Basis ausgewählter Länder und Daten ein signifikant
Wirtschaftswachstum in einer recht großen Bandbreite                    negativer Einfluss der Einkommensungleichheit auf
zwischen –0,135 und 0,156 Prozentpunkten liegt.                         das Wirtschaftswachstum reproduzieren lässt. Bei-
     Der Effekt zunehmender Ungleichheit auf das                        spielsweise verschwindet der negative Ungleichheits-
Wirtschaftswachstum ist gemäß der Meta-Analyse                          effekt unmittelbar, wenn eine Dummy-Variable für
im Durchschnitt und bei Berücksichtigung der Stu­                       postkommunistische Länder hinzugefügt wurde. Hier
dienunterschiede negativ und statistisch signifikant,                   zeigt sich die Bedeutung spezifischer Ländereffekte
aber ökonomisch nicht sehr bedeutend. Ein Anstieg                       für die beobachteten Ergebnisse: Diese Länder wei-
des Gini-Koeffizienten um 10 Prozentpunkte geht dem-                    sen gleichzeitig ein geringeres Ungleichheitsniveau
nach mit einem um 0,1 Prozentpunkte geringerem Wirt-                    und ein vergleichsweise hohes Wirtschaftswachs-
schaftswachstum einher.1 Zur Einordnung: In Deutsch-                    tum im betrachteten Zeitraum aus. Doch die geringe
land ist der Gini-Koeffizient der Netto-Einkommensun-                   Ungleichheit ist nicht zwangsläufig die Erklärung für
gleichheit seit der Wiedervereinigung von 0,25 um rund                  das hohe Wirtschaftswachstum. Viel wahrscheinlicher
4 Prozentpunkte auf 0,29 gestiegen. Darüber hinaus deu-                 ist es, dass das hohe Wirtschaftswachstum in diesen
tet der Studienüberblick von Neves et al. (2016) darauf                 Ländern konvergenzbedingt ist. Kontrolliert man die
hin, dass wachstumshemmende Effekte eher in schwach                     Ländereffekte und betrachtet ausschließlich die zeit-
entwickelten Volkswirtschaften zu erwarten sind.                        lichen Veränderungen der Variablen, wird aus einem
                                                                        leicht negativen Zusammenhang zwischen Ungleich-
1
  Im Falle einer Gleichverteilung nimmt der Gini-Koeffizient der Ein-
kommensverteilung den Wert 0 an, im Falle maximaler Ungleichheit
                                                                        heit und Wirtschaftswachstum ein schwach positiver
den Wert 1.                                                             Effekt.

                                                                                     ifo Schnelldienst   15 / 2018   71. Jahrgang   9. August 2018   7
ZUR DISKUSSION GESTELLT

    NICHT-LINEARER EINFLUSS                            Abb. 1
    DER UNGLEICHHEIT                                   Gefahrenzonen für Wachstumsverluste durch steigende Ungleichheit
                                                       Im Jahr 2010

    Wohingegen die methodischen                                   Quadrant I: Einfache Gefährdung durch hohe Ungleichheit
                                                                  Quadrant II: Doppelte Gefährdung durch hohe Ungleichheit und geringes Wohlstandsniveau
    Unsicherheiten des ne­gativen                                 Quadrant III: Einfache Gefährdung durch geringes Wohlstandsniveau
                                                                  Quadrant IV: Keine Gefährdung
    Zusammenhangs erst durch
    einen aufmerksamen Blick in            0,65
                                                    Gini Koeffizient der Nettoeinkommen
    die Studie sowie durch Repli-                   II Namibia                                                                                           I
                                           0,60
    kation und Robustheitschecks                                         Südafrika
    der Regressionsanalyse offen-          0,55           Sambia
                                                                      China
    bar werden, hätten auch schon          0,50
                                                                                    Chile      Barbados
                                                                                                                                       Hong Kong
    die vielfach graphisch darge­          0,45                               Mexiko
    stellten Haupt­ergebnisse der                                                                               Vereinigtes
                                           0,40                                         Russland
    Studie (vgl. Cingano 2014,                                                                       Israel     Königreich
                                                                                  Türkei                                                  USA
                                           0,35
    Abb. 3) Fragen aufwerfen kön-                                                                                                Australien
    nen. Aus der Abbildung geht            0,30      Moldawien                                                                  Östereich Schweiz
                                                                                                      Deutschland                             Norwegen
    unmittelbar hervor, dass der           0,25
                                                         Ukraine                    Ungarn                                  Schweden
    wachstumshemmende Effekt
                                           0,20 III                                          Tschechien                                                 IV
    steigender      Einkommensun-                                  10 000              20 000             30 000                40 000             50 000
    gleichheit auf das Wirtschafts-                                                                   BIP pro Kopf in US-Dollar (in Preisen von 2005)
    wachstum in den skandi-               Anmerkung: Die vertikale Achse (BIP pro Kopf in Höhe von 9 000 US-Dollar) stellt die obere Grenze der Schätzwerte
    navischen Ländern Schwe-              des BIP pro Kopf dar, unterhalb dessen ein wachstumshemmender Effekt der Ungleichheit zu erwarten ist. Die
                                          horizontale Achse (Gini-Koeffizient der Nettoeinkommen in Höhe von 0,35) stellt die untere Grenze der Schätzwerte
    den, Finnland und Norwegen            des Gini-Koeffizienten dar, oberhalb dessen ein negativer Effekt der Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum
                                          wahrscheinlicher wird. Luxemburg und Singapur sind aufgrund ihres sehr hohen BIP pro Kopf in dieser Abbildung
    erkennbar stärker ausfiel als         nicht dargestellt.
    beispielsweise in den USA,            Quelle: PWT (Penn World Tables); SWIID (Standardized World Income Inequality Database); Institut der
                                          deutschen Wirtschaft.                                                                                    © ifo Institut
    obwohl diese sich bekannt-
    lich durch eine deutlich höhere
    Polarisation der Einkommen kennzeichnen. Das Ergeb- baren Befund, dass der durchschnittliche Schwellen-
    nis ist insofern sehr überraschend, da die skandinavi- wert für einen negativen Ungleichheitseinfluss bei
    schen Länder insbesondere bei Analysen zur Bildungs- unter 5 000 US-Dollar liegt. Ein wachstumshemmender
    mobilität im Vergleich zu anderen Ländern regelmä- Effekt steigender Ungleichheit ist demnach nur in Län-
    ßig sehr gut abschneiden. Nach der Theorie wäre also dern mit vergleichsweise geringem Entwicklungsstand
    gerade für diese Länder zu erwarten, dass die wachs- zu vermuten.
    tumshemmenden Effekte steigender Ungleichheit                                   Abbildung 1 zeigt, welche Länder gemäß der ermit-
    vergleichsweise gering ausfallen müssten. Da in der telten (konservativen) Schwellenwerte eines weltwei-
    OECD-Studie nur lineare Einflüsse untersucht werden, ten Vergleichs mit einem wachstumsmindernden Ein-
    ergibt sich allerdings zwangsläufig ein konstanter Ein- fluss steigender Ungleichheit rechnen müssen. Eine
    fluss steigender Ungleichheit in allen Ländern.                          Gefahr für das Wirtschaftswachstum ist eher in Ländern
         Wenn man hingegen – gemäß der dargelegten der ersten drei Quadranten des Diagramms zu erwar-
    theoretischen Argumente naheliegend – auch nicht-li- ten. Die Darstellung zeigt bspw., dass sich das Ungleich-
    neare Einflüsse berücksichtigt, zeigt sich, dass der heitsniveau in den USA bereits in einem Bereich befin-
    Effekt zunehmender Ungleichheit auf das Wirtschafts- det, in dem bei weiter steigender Ungleichheit wachs-
    wachstum entscheidend von dem bereits vorliegenden tumshemmende Effekte wahrscheinlicher werden. Mit
    Niveau an Ungleichheit abhängt (vgl. Kolev und Nie- einem Gini-Koeffizienten von 0,29 ist das Ungleich-
    hues 2016). Im weltweiten Vergleich von 113 Ländern heitsniveau in Deutschland hingegen im internatio-
    ist bis zu einem Schwellenwert des Gini-Koeffizienten nalen Vergleich eher gering, gleichzeitig ist das Wohl-
    von 0,35 – wenn überhaupt – eher von einem positi- standsniveau deutlich überdurchschnittlich. Wie auch
    ven Zusammenhang auszugehen. Erst wenn dieses viele andere EU-Staaten sortiert sich Deutschland mit
    »gute Maß« an Ungleichheit überschritten wird, ist mit diesen Kennziffern eindeutig in den vierten Quadran-
    negativen Folgen der zunehmenden Ungleichheit auf ten ein, in dem ein wachstumshemmender Effekt stei-
    das Wirtschaftswachstum zu rechnen. Auch der Ent- gender Ungleichheit sehr un­wahrscheinlich ist.
    wicklungsstand der Länder spielt eine entscheidende                             Auch bei dem ebenfalls in der Debatte diskutierten
    Rolle. In weniger entwickelten Volkswirtschaften – oder Einfluss staatlicher Umverteilung auf das Wirtschafts-
    genauer, in Ländern, deren BIP pro Kopf 9 000 US-Dol- wachstum ist davon auszugehen, dass etwaige negative
    lar nicht übersteigt – zeigt sich in den Schätzungen ein Anreizeffekte mit der bereits bestehenden Höhe von
    negativer Effekt zunehmender Ungleichheit auf das Abgaben, Steuern und Transfers zusammenhängen. Im
    Wirtschaftswachstum.                                                     Einklang mit dieser Hypothese findet die IWF-Studie bei
         Auch Fuest et al. (2018) kommen auf Basis 16 ver- Berücksichtigung nicht-linearer Effekte tatsächlich Evi-
    schiedener Schätzspezifikationen zu dem vergleich- denz dafür, dass in den Ländern, in denen die Umvertei-

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lung bereits sehr hoch ist, eine weitere Steigerung der                         Piotr Pysz*
Umverteilung schädlich für das Wirtschaftswachstum
ist, wie von der verbreiteten Hypothese des Trade-offs
                                                                                Ungleichheiten und Utopien
zwischen Effizienz und Gerechtigkeit vorhergesagt (vgl.
Ostry, Berg und Tsangarides 2014, S. 23). Deutschland                           Über die Ungleichheiten in der Welt und den einzelnen
gehört gemäß der IWF-Studie zum Kreis der Länder,                               Ländern wird in den letzten Jahren zunehmend inten-
innerhalb derer dieses Niveau bereits überschritten ist.                        siv und leidenschaftlich diskutiert. Bevor man aller-
                                                                                dings in die Diskussion einsteigt, lohnt es sich zu cha-
KORRELATION UND KAUSALITÄT                                                      rakterisieren, um welche Art von Ungleichheit es geht.
                                                                                Eine einfache, aber für die weiteren Ausführungen nütz-
Plausibilitätsüberlegungen und ökonometrische                                   liche Unterscheidung ist die Ungleichheit zwischen der
Robustheitschecks legen nahe, dass der vielfach in                              materiellen Situation einzelner Menschen und Nati-
Debatten zitierte negative Zusammenhang zwischen                                onen (Einkommen und Vermögen) und der Ungleich-                                     Piotr Pysz
Einkommensungleichheit und Wirtschaftswachstum                                  heit der Lebenschancen (vgl. Balcerowicz 2016, S. 1).
insbesondere für Länder mit hohem Entwicklungsstand                             Die Aufmerksamkeit der Nationalökonomen konzent-
und im internationalen Vergleich geringer Ungleich-                             rierte sich seit den Zeiten Adam Smith einseitig auf die
heit wenig robust ist. Die Ungleichheits-Schwellen-                             ungleiche materielle Situation der Menschen. Karl Marx
werte, oberhalb derer wachstumshemmende Effekte zu                              formulierte aufgrund der Tatsache großer Ungleichheit
erwarten sind, liegen deutlich über dem Ungleichheits-                          der Vermögen und Einkommen zwischen der besitzen-
niveau in Deutschland. Auch die spezifische Abfolge der                         den Klasse und dem weitgehend mittelosen Proletariat
Ungleichheitsentwicklung und Wachstumsperioden in                               des 19. Jahrhunderts die These vom unüberwindbaren
Deutschland lässt einen negativen Einfluss steigender                           antagonistischen Widerspruch der kapitalistischen
Ungleichheit unwahrscheinlich erscheinen. Der in den                            Klassengesellschaft. In Übereinstimmung mit der von
zugrunde liegenden Daten zu beobachtende Ungleich-                              ihm entwickelten Theorie des historischen Materia-
heitsanstieg hat sich nahezu in Gänze zwischen dem                              lismus konnte dieser Widerspruch nur auf dem Wege
Ende der 1990er Jahre und 2005 vollzogen – und inso-                            einer siegreichen proletarischen Revolution und Dikta-
fern gleichzeitig mit der Periode des schwächsten                               tur des Proletariats überwunden werden. Nach ihrem
Wirtschaftswachstums. In der Folgeperiode, aus der                              Sieg winkte der Menschheit die Utopie einer klassen-
in Wachstumsanalysen der Einfluss der Ungleichheit                              losen Gesellschaft, in der alle ihre Mitglieder zugleich
ermittelt wird, fiel das Wachstum indes höher aus.                              frei und gleich sind. In der sozialistischen Gesellschaft
     Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass sich aus                         sollte, neben persönlicher Freiheit für alle, materiel-
ländervergleichenden Studien nur schwer kausale                                 ler Wohlstand für alle herrschen. Auch der Staat sollte
Effekte von Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum                            absterben und den Assoziationen freier Menschen
identifizieren lassen. Ob das Ungleichheitsniveau eines                         Platz machen. Diese, hier kurzgefasste Marxsche Uto-
Landes zu Unruhen und Instabilitäten führt, hängt                               pie bildete durch ihre Attraktivität für die Arbeiterbe-
nicht zuletzt entscheidend davon ab, wie die Ungleich-                          wegungen und Arbeiterparteien die Antriebskraft und
heit innerhalb des Landes wahrgenommen wird und                                 das Leitbild für zahlreiche soziale Revolutionen, ange-
welche Gerechtigkeitsvorstellungen in der Gesellschaft                          fangen mit der Pariser Kommune im Jahr 1871.
vorherrschen.                                                                        Die sozialgesellschaftlichen Utopien lenken die
     Der weltweite korrelative Zusammenhang zwi-                                Aufmerksamkeit der Menschen von Beschwerlichkei-
schen niedriger Ungleichheit und hohem Entwick-                                 ten und Widersprüchen ihres Alltags ab und verhei-
lungsstand deutet gleichwohl darauf hin, dass sich                              ßen eine neue wohlhabendere und gerechtere Wirt-
beide Größen gleichzeitig erreichen lassen. Stabile                             schafts- und Gesellschaftsordnung. Jürgen Habermas
und glaubwürdige Institutionen, eine befähigende Bil-                           warnt in diesem Zusammenhang vor einem Übermaß
dungspolitik sowie eine kluge und zukunftsweisende                              an kühlem Pragmatismus und einem dadurch diktier-
Investitionspolitik sind für das simultane Erreichen bei-                       ten Verzicht auf Utopien: »Wenn die utopischen Oasen
der Ziele unerlässlich.                                                         austrocknen, breitet sich eine Wüste von Banalität
                                                                                und Ratlosigkeit aus.« (Habermas 2002, S. 370) Ande-
LITERATUR                                                                      rerseits muss in Betracht gezogen werden, dass Uto-
                                                                                pien durch ihre verführerische Kraft große Gesell-
Cingano, F. (2014), »Trends in income inequality and its impact on Econo-
mic growth«, OECD SEM Working Paper 163.
                                                                                schaftsgruppen und ganze Nationen in eine falsche
Fuest, C., F. Neumeier und D. Stöhlker (2018), »Ungleichheit und Wirt-
                                                                                und gefährliche Richtung lenken können. Diese Wir-
schaftswachstum: Warum OECD und IWF falsch liegen«, ifo Schnelldienst           kung blieb auch der Marxschen Utopie nicht erspart.
71(10), 22–25.
                                                                                Unter ihrer Implementierung seit der Oktoberrevolu-
Kolev, G. und J. Niehues (2016), »The Inequality-Growth Relationship: An
                                                                                tion 1917 mussten die Völker der Sowjetunion und seit
Empirical Reassessment«, IW-Report Nr. 7, Köln.
                                                                                1945 auch die meisten mitteleuropäischen Nationen
Neves, P. C., Ó. Afonso und S.T. Silva (2016), »A MetaAnalytic Reassessment
of the Effects of Inequality on Growth«, World Development 78(C), 386−400.      lange Jahrzehnte leiden.
Ostry, J. D., A. Berg und C. Tsangarides (2014), »Redistribution, Inequality,   *
                                                                                  Prof. Dr. Piotr Pysz lehrt an der Hochschule für Finanzen und Ma-
and Growth«, IMF Staff discussion Note, February.                               nagement, Białystok.

                                                                                                ifo Schnelldienst   15 / 2018   71. Jahrgang   9. August 2018   9
ZUR DISKUSSION GESTELLT

          Bei der Umsetzung der sozialistischen Utopie in            der Völker. Man kann hier an die berühmt gewordene
     die wirtschaftliche und gesellschaftliche Praxis wurden         Vision der »blühenden Landschaften» von Helmut Kohl
     ihre inneren Widersprüche nicht gesehen bzw. bewusst            erinnern oder, mehr volkstümlich, an den verbreiteten
     übersehen. Der am schwersten wiegende Widerspruch               gängigen Spruch »Russen raus, Markt rein und in zwei
     bezieht sich auf die Relation zwischen den Hauptzielen          Jahren leben wir wie in Deutschland«. Übertriebene
     der sozialistischen Gesellschaft und den dafür einge-           Erwartungen auf eine Wiederholung des westdeut-
     setzten Mitteln. Die Enteignung der privaten Produk-            schen »Wirtschaftswunders« nach 1948 unter Erhard
     tionsmitteln, verbunden mit ihrer Verstaatlichung und           kamöen auf. Dieser blauäugige Optimismus trug jedoch
     der Ersetzung des Marktes in seiner Allokationsfunk-            durch unvermeidliche Enttäuschungen künftige Prob-
     tion durch die Zentralverwaltungswirtschaft, erwiesen           leme und Schwierigkeiten. für die Zukunf in sich.
     sich im Verlauf vieler entbehrungsreicher Dekaden des                Die Erwartungen eines »Wirtschaftswunders« nach
     »sozialistischen Experiments« als völlig ungeeignet, um         nun schon mehr als 25 Jahren des Transformations­
     materiellen Wohlstand für die Gesellschaft und Freiheit         prozesses gingen nur für eine zahlenmäßig eher geringe
     für einzelne Menschen zu erreichen. Der grundsätzliche          Bevölkerungsgruppe wirklich in Erfüllung. Erfolgrei-
     Fehler der marxistischen Ideologen und Politiker war,           che Unternehmer, hochqualifizierte Spezialisten in auf
     den Völkern etwas zu versprechen, das einfach unreali-          dem Markt sehr gefragten Berufen, Spekulanten, kor-
     sierbar war. Im krassen Gegensatz dazu steht die nach           rupte hohe Beamten und Politiker erreichten einen
     1948 in Westdeutschland etablierte Politik der Sozialen         westlichen Lebensstandard. Große Teile der Bevölke-
     Marktwirtschaft unter Ludwig Erhard. Dieser Politiker           rung außerhalb der boomenden Großstädte, mit unge-
     konnte durch Aktivierung der Allokationsfunktion des            nügender beruflichen Ausbildung und zu geringer per-
     von der staatlichen Ordnungspolitik umrahmten Mark-             sönlicher Durchsetzungsfähigkeit, wurden von dem
     tes auf Basis des Privateigentums an Produktionsmit-            materiellen Fortschritt der ersten Dekaden der markt-
     teln sowohl materiellen Wohlstand als auch die Freiheit         wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt. Dazu gesell-
     der Bürger sichern. Der Erfolg der Sozialen Marktwirt-          ten sich Befürchtungen vor der immer komplizierter,
     schaft strahlte durch die Attraktivität des westdeut-           komplexer und dynamischer werdenden modernen
     schen Wohlstandes und die persönliche Freiheit der              Welt. Eine wachsende Unsicherheit und die Intrans-
     Menschen auf den ganzen mittel- und osteuropäischen             parenz der Welt erzeugten existenzielle Ängste. Aus
     Raum aus (vgl. Erhard 1990)                                     Sicht der Psychologie beeinflussen solche Befürchtun-
                                                                     gen die Denk- und Verhaltensweisen der betroffenen
     DIE LIBERALE REVOLUTION                                         Menschen in Richtung auf Auftreten eines Regress, das
                                                                     heißt, sie befördern solche Einstellungen wie Bevor-
     Die Ungleichheit in den Ländern Mittel- und Osteuro-            zugung der Familie als Ort der Sicherheit, Rückkehr zu
     pas hatte keine vorwiegend interne, sondern vor allem           Traditionen und Heimatliebe, Exponierung der Nation
     externe Ursachen. Nach mehr als 40 Jahren des »sozi-            und des Nationalismus, Verlangen nach einer starken
     alistischen Experiments« ist den intelektuellen Eliten          und stabilen politischen Führung, Ablehnung der Frem-
     wie auch der Mehrheit der Völker in Polen, Ungarn, der          den und der weltweiten Globalisierung.
     Tschechoslowakei und den baltischen Ländern immer
     klarer geworden, dass sich der seit der Zwischenkriegs-         DIE GEGENREVOLUTION
     zeit 1918–1939 existierende große wirtschaftliche Ent-
     wicklungsrückstand zu Deutschland und Westeuropa                Auf die euphorische liberale Revolution der letzten
     nicht nur verringert, sondern im Gegenteil noch vergrö-         Dekade des 20. Jahrhunderts folgte im 21. Jahrhun-
     ßert hat. Das Scheitern des marxistischen Experiments           dert eine antiliberale Gegenrevolution. Die Gegenrevo-
     auf der ökonomischen Ebene ist für fast alle Beteiligten        lution, die zunächst vorwiegend die politische Sphäre
     in den 1980er Jahren mehr als offensichtlich geworden.          erfasste, erhielt vor allem nach der Weltfinanz-und
     Auch politisch konnte die diesen Ländern von der Sow-           Wirtschaftskrise 2007/200 Schwung und öffentliche
     jetunion nach 1945 aufoktroyierte sozialistische Wirt-          Aufmerksamkeit. Antiliberale Kritikern stellten zuneh-
     schafts- und Gesellschaftsordnung den Bürgern keine             mend westliche Werte und die an sie angepassten ins-
     wirkliche Alternative für die persönliche Freiheit und          titutionelle Arrangements der westeuropäischen Län-
     Demokratie des westlichen Europas bieten.                       der (z.B. die Europäische Union) in Frage. Die von dem
          Die an der Wende der 1980er/1990er Jahre des               polnisch-britischen Soziologen Zygmunt Baumann
     20. Jahrhunderts eingeleitete Systemtransformation              thematisierte Problematik der Balance zwischen per-
     in Richtung des westlichen Ordnungsmodells verlief              sönlicher Freiheit und Sicherheit fing an, sich allmäh-
     in der Atmosphäre einer allgemeinen Euphorie. Się               lich in Richtung Sicherheit zu verschieben. Die damals
     erfasste sogar die Vereinigten Staaten von Amerika, wo          noch oppositionellen Parteien, die ungarische Fidesz
     Francis Fukuyama medienwirksam und zugleich naiv                und die polnische Recht und Gerechtigkeit (PIS), mach-
     das »Ende der Geschichte« verkündete. Diese Naivität            ten sich zum Träger und Sprachrohr dieser gesellschaft-
     äußerte sich in den Transformationsländern auch in              lichen Tendenzen. Sie nutzten die sprichwörtliche
     den damals dominierenden sehr kurzfristigen optimis-            »Gunst der Stunde«, um auf der Welle der verbreiteten
     tischen Erwartungen einiger Politiker und der Mehrheit          Enttäuschung und Unzufriedenheit über die bisherigen

10   ifo Schnelldienst   15 / 2018   71. Jahrgang   9. August 2018
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