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15 2018 9. August 2018 71. Jahrgang KOMMENTAR ZUR DISKUSSION GESTELLT Handels- und Wohlfahrtseffekte einer »Nulllösung«: Wie gerecht ist die Welt? – Wegfall der EU- und US-Importzölle im Soziale Ungleichheit Automobilsektor Benjamin Jung und Timo Walter und Wirtschafts FORSCHUNGSERGEBNISSE wachstum Die (Super-)Effizienz von Till van Treeck, Judith Niehues und Galina Kolev, Piotr Pysz, volkswirtschaftlichen Peter Hampe, Andreas Peichl und Marc Stöckli, Georg Cremer Fakultäten Matthias Gnewuch und Klaus Wohlrabe DATEN UND PROGNOSEN Wie sehen die Unternehmen die neue Datenschutzgrund verordnung? Julia Schricker IM BLICKPUNKT ifo Konjunkturumfragen Juli 2018 Klaus Wohlrabe
ifo Schnelldienst ISSN 0018-974 X (Druckversion) ISSN 2199-4455 (elektronische Version) Herausgeber: ifo Institut, Poschingerstraße 5, 81679 München, Postfach 86 04 60, 81631 München, Telefon (089) 92 24-0, Telefax (089) 98 53 69, E-Mail: ifo@ifo.de. Redaktion: Dr. Marga Jennewein. Redaktionskomitee: Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest, Annette Marquardt, Prof. Dr. Chang Woon Nam. Vertrieb: ifo Institut. Erscheinungsweise: zweimal monatlich. Bezugspreis jährlich: Institutionen EUR 225,– Einzelpersonen EUR 96,– Studenten EUR 48,– Preis des Einzelheftes: EUR 10,– jeweils zuzüglich Versandkosten. Layout: Kochan & Partner GmbH. Satz: ifo Institut. Druck: Majer & Finckh, Stockdorf. Nachdruck und sonstige Verbreitung (auch auszugsweise): nur mit Quellenangabe und gegen Einsendung eines Belegexemplars. im Internet: http://www.cesifo-group.de
SCHNELLDIENST 15/2018 ZUR DISKUSSION GESTELLT Wie gerecht ist die Welt? – Soziale Ungleichheit und Wirtschaftswachstum 3 Seit einigen Jahren treten Fragen der Ungleichheit und Armut verstärkt in das Zentrum des Interesses der Wirt- schaftswissenschaften. Hat die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen zugenommen? Und ist dies nicht abträglich für den sozialen Zusammenhalt und behindert das Wirtschaftswachstum von Ländern und Regionen? Zudem wird die These vertreten, dass die Globalisierung in vielen Ländern Verlierer hervorbringt, die besonders stark dem rechten aber auch linken Populismus zuneigen. Auf einer wissenschaftlichen Tagung, die unter der Leitung von Wolfgang Quaisser in der Akademie für Politische Bildung Tutzing vom 6. bis 8 Juli 2018 stattfand, wurde diese Thematik mit dem Schwerpunkt auf Deutschland diskutiert. Till van Treeck, Universität Duisburg-Essen, sieht Anhaltspunkte dafür, dass Verschiebungen in der Einkommensverteilung zur Entstehung von nicht nachhaltigen Wachstumsmodellen in verschiedenen Ländern beigetragen haben. Die Entwicklung der Ungleichheit und ihre gesamtwirtschaftlichen Wirkungen seien dabei entscheidend von länderspezifischen Ins- titutionen abhängig. Während die USA in den letzten Jahrzehnten durch stark steigende Spitzenhaushaltsein- kommen geprägt seien, zeigten die Maße für die personelle Einkommensverteilung für Deutschland eine weniger dramatische Entwicklung auf. Judith Niehues und Galina Kolev, Institut der deutschen Wirtschaft, Köln, zeigen, dass der oft zitierte negative Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und Wirtschaftswachstum, insbesondere für Länder mit hohem Entwicklungsstand und im internationalen Vergleich geringer Ungleich- heit, nicht zutrifft. Grundsätzlich könne man festhalten, dass sich nur schwer kausale Effekte von Ungleich- heit auf das Wirtschaftswachstum identifizieren lassen. Piotr Pysz, Hochschule für Finanzen und Management, Białystok, sieht vor allem externe Ursachen für eine Ungleichheit in den Ländern Mittel- und Osteuropas: 40 Jahre des »sozialistischen Experiments«. Die Erwartungen eines »Wirtschaftswunders« nach der liberalen Revolution seien aber auch nach mehr als 25 Jahren des Transformationsprozesses nur für eine geringe Bevölkerungsgruppe in Erfüllung gegangen, so dass heute eine antiliberale Gegenströmung in Osteuropa festzustellen sei. Peter Hampe, Technische Universität Dresden, unterstreicht, dass das »Soziale« der »Sozialen Marktwirtschaft« auf drei unter- schiedlichen Säulen ruht, nämlich den sozialen Effekten der Marktwirtschaft selbst, den Sozialleistungen und den sozialen Zielsetzungen der deutschen Wirtschaftspolitik. Trotzdem hielten rund 45% der Deutschen die gegen- wärtige Wirtschaftsordnung nicht für ausreichend sozial. Zu erklären sei dies unter anderem damit, dass sich die reale Einkommenssituation der meisten Deutschen seit der Wiedervereinigung kaum verbessert, für einige sogar verschlechtert, für den oberen Einkommensbereich aber deutlich verbessert habe. Die Sozialpolitik müsse nachhaltiger, zielgerechter und effizienter gestaltet werden. Andreas Peichl und Marc Stöckli, ifo Institut, argu- mentieren, dass die Entwicklung der Einkommensungleichheit in Deutschland besser sei, als in der öffentlichen Debatte dargestellt. Berücksichtige man Kompositionseffekte, zeige sich, dass es für die Gesamtbevölkerung seit 2005 einen fallenden Trend gebe. Auch beim Thema Fairness schneide Deutschland nicht schlecht ab. Gleich- wohl bestehe Reformbedarf bei der hohen effektiven Grenzbelastung für Haushalte mit niedrigen Einkommen aufgrund des Transferentzugs im Sozialbereich. Zudem sollte aus Sicht der Chancengerechtigkeit die Förderung der Bildung im Kleinkindalter ausgeweitet werden. Georg Cremer, ehem. Deutscher Caritasverband e.V., sieht eine Diskreditierung der Grundsicherung in der öffentlichen Debatte in Deutschland, die Reformansätze, die gegen- über armen Menschen und Erwerbstätigen am unteren Rand der Mitte geboten wären, blockiere. Zudem fordert er mehr Fairness für Familien im Niedrigeinkommensbereich und eine zielgenauere Bekämpfung der Altersarmut. KOMMENTAR Handels- und Wohlfahrtseffekte einer »Nulllösung«: Wegfall der EU- und US-Importzölle im Automobilsektor 26 Benjamin Jung und Timo Walter Im Handelsstreit zwischen der EU und den USA haben sich der Präsident der Europäischen Kommission, Jean- Claude Juncker, und der US-Präsident Donald Trump Ende Juli 2018 auf den schrittweisen Abbau von Zöllen in
allen Sektoren mit Ausnahme des Automobilsektors geeinigt. Keine drei Wochen davor war vorgeschlagen wor- den, ausschließlich im Automobilsektor die vollständige Eliminierung von Zöllen anzustreben. Welche Handels- und Wohlfahrtseffekte hätte eine solche Nulllösung für Deutschland, den Rest der EU und die USA? Mit Hilfe eines quantitativen Handelsmodells berechnen Benjamin Jung und Timo Walter, Universität Hohenheim, diese Effekte für drei Szenarien: In Szenario 1 wird angenommen, dass Deutschland handelspolitische Autonomie habe, so dass die Nulllösung im Automobilsektor bilateral zwischen Deutschland und den USA stattfinden kann. In Szenario 2 werden die Autozölle zwischen den USA und allen Mitgliedstaaten der EU auf null gesenkt. Im dritten Szenario eliminieren die EU und die USA ihre Zölle im Automobilsektor gegenüber allen WTO-Mitgliedern. Die Simulationen zeigen, dass Deutschland, die EU und die USA am meisten im Rahmen des dritten Szenarios profitieren würden. Ein bilateraler Alleingang von Deutschland und den USA bzw. zwischen der EU und den USA wäre weniger von Vorteil. FORSCHUNGSERGEBNISSE Die (Super-)Effizienz von volkswirtschaftlichen Fakultäten 30 Matthias Gnewuch und Klaus Wohlrabe Der Artikel untersucht die (Super-)Effizienz von 188 volkswirtschaftlichen Fakultäten weltweit auf Basis von Daten von RePEc. Als Input dient die Anzahl der Mitarbeiter gemessen in Vollzeitäquivalenten einer Fakultät. Der Output wird als zwei Hauptkomponenten, die die Informationen von 30 bibliometrischen Rankings kondensieren, defi- niert. Es zeigt sich, dass es einige super-effiziente Fakultäten gibt, die eine deutlich höhere Produktivität als ihre Konkurrenten aufweisen; deutschsprachige Fakultäten sind nicht darunter. DATEN UND PROGNOSEN Wie sehen die Unternehmen die neue Datenschutzgrundverordnung? 35 Julia Schricker Die neue Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), die seit Ende Mai für alle EU-Mitgliedstaaten verpflichtend gilt, sorgt für viel Diskussionsstoff sowohl auf Seiten der Unternehmen als auch bei den Verbrauchern. Die Rand- stad-ifo-Personalleiterbefragung hat im Frühjahr 2018 rund 1 000 deutsche Personalleiter, die als Verantwortli- che für Umsetzung und Einhaltung in besonderer Weise betroffen sind, dazu befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass für drei Viertel der Befragungsteilnehmer die negativen Aspekte der DSGVO überwiegen. Insbesondere die klei- nen und mittelständischen Unternehmen bewerten die neue Datenschutzgrundverordnung als problematisch. IM BLICKPUNKT ifo Konjunkturumfragen Juli 2018 auf einem Blick: Die deutsche Wirtschaft setzt ihre Expansion in verlangsamter Gangart fort 40 Klaus Wohlrabe Das ifo Geschäftsklima hat sich im Juli minimal verschlechtert. Die Unternehmer waren zwar etwas zufriedener mit ihrer aktuellen Geschäftslage, nahmen jedoch ihre Erwartungen zurück. Die deutsche Wirtschaft setzt ihre Expansion in verlangsamter Gangart fort. Die deutschen Unternehmen planen, auf unverändert hohem Niveau neues Personal einzustellen. Im Moment gibt es keine Anzeichen, dass sich der lang anhaltende Aufschwung am deutschen Arbeitsmarkt abkühlt. Nur in der Industrie gaben die Beschäftigungserwartungen nach. Die Stimmung unter den deutschen Exporteuren hat sich etwas aufgehellt. Die Exporterwartungen der Industrie sind im Juli gestiegen, nach zuletzt sieben Rückgängen in Folge. Das weltwirtschaftliche Umfeld bleibt für die deutschen Exporteure jedoch schwierig.
ZUR DISKUSSION GESTELLT Wie gerecht ist die Welt? – Soziale Ungleichheit und Wirtschafts- wachstum Seit einigen Jahren treten Fragen der Ungleichheit und Armut verstärkt in das Zentrum des Interesses der Wirtschaftswissenschaften. Hat die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen zugenommen? Und ist dies nicht abträglich für den sozialen Zusammen- halt und behindert das Wirtschaftswachstum von Ländern und Regionen? Zudem wird die These vertreten, dass die Globalisierung in vielen Ländern Verlierer hervorbringt, die besonders stark dem rechten aber auch linken Populismus zuneigen. Auf einer wissenschaft- lichen Tagung, die unter der Leitung von Dr. Wolfgang Quaisser in der Akademie für Politi- sche Bildung Tutzing vom 6. bis 8 Juli 2018 stattfand, wurde diese Thematik mit Schwerpunkt Deutschland diskutiert. Einige der dort vorgestellten Vorträge werden hier veröffentlicht. Till van Treeck* ein ganzes Kapitel (Kapitel 17, S. 491 ff.). Das Kapitel beginnt mit einem Zitat von Arthur Okun aus dem Jahr Das Ende der »trickle-down 1975: »[Der Konflikt] zwischen Gerechtigkeit und Effizi- economics«: Ungleichheit als enz [ist] unser größter sozioökonomischer Zwiespalt, der uns in der Sozialpolitik in Dutzenden von Facetten Wachstumsbremse und als heimsucht. Wir können einfach nicht beides zugleich Krisenursache? haben: Markteffizienz und Verteilungsgerechtigkeit.« Bei Mankiw und Taylor (2016, S. 4) wird der vermeint- liche große Zwiespalt als Illustration der ersten von Till van Treeck Spätestens seit der Veröffentlichung des internatio- nalen Bestsellers »Das Kapital im 21. Jahrhundert« »zehn volkswirtschaftlichen Regeln« (»Alle Menschen von Thomas Piketty (2014) ist die Debatte über die stehen vor abzuwägenden Alternativen.«) postu- mit einer steigenden Einkommens- und Vermögens- liert: »Effizienz betrifft die Größe des ökonomischen ungleichheit verbundenen Probleme zum neuen Kuchens, Gerechtigkeit die Verteilung des Kuchens. Megathema in den Wirtschaftswissenschaften und in Diese beiden Ziele stehen bei politischen Maßnah- der Politik geworden. Dabei wird in der internationa- men meist im Konflikt. […] Versucht die Regierung len Debatte zunehmend die Position vertreten, dass den ökonomischen Kuchen in gleichmäßigere Stü- eine steigende Einkommensungleichheit eine zent- cke zu schneiden, wird der ganze Kuchen kleiner.« rale Ursache für geringes Produktivitätswachstum Im Kapitel zu »Einkommensungleichheit und Armut« bzw. gesamtwirtschaftliche Instabilität sein kann. Die werden sie noch deutlicher: »Wenn der Staat Maßnah- zugrunde liegende Forschung wurde insbesondere men ergreift, um die Einkommensverteilung gerech- vom Internationalen Währungsfonds (IWF) (für einen ter zu gestalten, verzerrt er Anreize, verändert Verhal- Überblick vgl. Dabla-Norris et al. 2015) und der Orga- tensweisen und bewirkt eine weniger effiziente Res- nisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- sourcenallokation.« (Mankiw und Taylor (2016, S. 547) wicklung (OECD) (für einen Überblick vgl. OECD 2015) Samuelson und Nordhaus (2010, S. 502) verwenden betrieben. statt des Bilds des zerschnittenen Kuchens die Analo- Die neuen Forschungsergebnisse stehen in kras- gie des löchrigen Eimers: »Mit seinen Versuchen, eine sem Widerspruch zu konventionellen Lehrbuchdar- Einkommensumverteilung von den Reichen hin zu den stellungen (vgl. ausführlicher van Treeck 2016). Samu- Armen vorzunehmen, kann der Staat unter Umstän- elson und Nordhaus (2010) widmen dem Zusammen- den der volkswirtschaftlichen Effizienz Schaden zufü- hang zwischen Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit gen und das gesamte zur Verteilung verfügbare Ein- kommen schmälern.« * Prof. Dr. Till van Treeck ist geschäftsführender Direktor des In- Die jüngere internationale Forschung im Bereich stituts für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen und Fellow des Forum for Macroeconomics and Macroeconomic Policies der Makroökonomik zieht jedoch diese big trade-off (FMM). hypothesis in Zweifel und mit ihr den Ansatz der trick- ifo Schnelldienst 15 / 2018 71. Jahrgang 9. August 2018 3
ZUR DISKUSSION GESTELLT le-down economics. Dabei können angebots- und nach- Gini-Koeffizient der Nettoeinkommen nicht gestiegen frageseitige Argumente unterschieden werden.1 wäre. In Ländern wie Neuseeland oder Mexiko waren die negativen Wachstumseffekte der Ungleichheit noch UNGLEICHHEIT ALS PRODUKTIVITÄTSBREMSE? deutlich stärker. Cingano (2014) argumentiert, dass insbesondere die Einkommensungleichheit am unte- Ostry, Berg und Tsangarides (2014) und Dabla-Norris ren Ende der Verteilung von Bedeutung ist. Die Erklä- et al. (2015) unterscheiden die folgenden angebotssei- rung ist, dass untere Einkommensgruppen im Zuge tigen Argumente: steigender Ungleichheit weniger in Bildung investieren können, wodurch die Entwicklung des Humankapitals –– Schwächung des Humankapitals: Wenn relativ ein- geschwächt wird. kommensschwache Personen nicht in der Lage Bei der Interpretation dieser Ergebnisse ist zwar sind, eine gute Ausbildung und Gesundheitsver- aus methodischer Sicht Vorsicht geboten, wie etwa sorgung zu finanzieren, reduzieren sich durch die Paul Krugman (2015) ausführt. Denkbar wäre auch, Zunahme von Einkommensungleichheit insbeson- dass in einzelnen Ländern ein geringes Wachstum dere in der unteren Hälfte der Verteilung die Inves- ursächlich für den Anstieg der Einkommensungleich- titionen in Humankapital mit negativen Wirkungen heit mitverantwortlich war. Grundsätzlich sind die auf das Produktivitätswachstum. Ergebnisse empirischer Untersuchungen zum Zusam- –– Politische Instabilität: Ökonomische Ungleichheit menhang zwischen Ungleichheit und Wachstum mit kann zu politischer Instabilität führen, und die großer Unsicherheit behaftet. Je nach betrachtetem damit verbundene Unsicherheit für die Marktteil- Zeitraum, Länderauswahl und methodischem Design nehmer kann mit geringen Investitionen und Pro- fallen die Schlussfolgerungen sehr unterschiedlich aus duktivitätseinbußen verbunden sein. (vgl. Behringer, Theobald und van Treeck 2016). Klar ist –– Zunahme politischer Korruption: Hohe Ungleichheit aber: Die vermeintlich einfachen Lehrbuchthesen der bei Einkommen und Vermögen kann dazu führen, trickle-down economics erscheinen im Lichte der neue- dass finanzstarke Interessengruppen den politi- ren Forschungsergebnisse jedenfalls kaum haltbar. schen Prozess dominieren und beispielsweise eine übermäßige, wachstumshemmende Deregulierung UNGLEICHHEIT ALS KRISENURSACHE? der Finanzmärkte erwirken. Jenseits des angebotsseitigen Zusammenhangs zwi- Ostry, Berg und Tsangarides (2014) führen Wachstums- schen Ungleichheit und Produktivitätswachstum liegt regressionen für eine Gruppe von Industrie- und Ent- ein zentrales Problem in der Frage, wie bei hoher bzw. wicklungsländern durch und kommen zu dem Ergeb- stark steigender Einkommensungleichheit eine hinrei- nis, dass Länder mit höherer Einkommensungleich- chend große Nachfrage generiert werden kann, um die heit, gemessen am Gini-Koeffizient für die verfügbaren gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten aus- Haushaltseinkommen, in den vergangenen Jahrzehn- zulasten und eine hohe Arbeitslosigkeit zu verhindern. ten ein geringeres Wirtschaftswachstum und kürzere Von besonderer Bedeutung ist dabei die Entwicklung Wachstumsphasen zu verzeichnen hatten als Länder des privaten Konsums, der in den entwickelten Volks- mit geringerer Einkommensungleichheit (unter Berück- wirtschaften in der Regel zwischen 60 und 70% des sichtigung anderer, das Wachstum beeinflussender Bruttoinlandsprodukts ausmacht: Wenn sich im Zuge Faktoren). Sie argumentieren ebenfalls, dass staatliche steigender Ungleichheit die Einkommen der breiten Einkommensumverteilung in der Regel positive Effekte Masse der Bevölkerung nur schwach entwickeln, droht auf das Wachstum hat. Zwar kann eine sehr starke entweder eine Überschuldung der privaten Haushalte, staatliche Umverteilung wegen der damit einhergehen- wenn die unteren Einkommensgruppen ihren Kon- den Anreizwirkungen, isoliert betrachtet, einen nega- sum kreditfinanziert hochhalten, oder ein gesamtwirt- tiven Effekt auf das Wachstum haben. Zugleich hat die schaftlicher Nachfrageausfall. staatliche Umverteilung aber einen indirekten posi- So vertreten viele Ökonomen die These, dass der tiven Effekt auf das Wirtschaftswachstum, eben weil starke Anstieg der Einkommensungleichheit in den USA sie die Ungleichheit der Nettoeinkommen reduziert. in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Finanz- Für die meisten Länder wird daher durch staatliche und Wirtschaftskrise nach 2007 steht.2 Besondere Auf- Umverteilung das Wachstum insgesamt gestärkt. Und merksamkeit in der breiteren Öffentlichkeit erlangte selbst bei extremer Umverteilung sind keine negativen diese Hypothese durch einen 2010 veröffentlichten Wachstumswirkungen zu erwarten. Bestseller von Raghuram Rajan, früherer Chefökonom Cingano (2014) bestätigt dieses Ergebnis für die des IWF. Länder der OECD. Nach seinen Schätzungen wäre das Der vermutete Zusammenhang zwischen Einkom- Wirtschaftswachstum in Ländern wie den USA, Groß- mensungleichheit und Finanzkrise kennt verschiedene britannien oder Deutschland zwischen 1990 und 2010 Varianten, deren Kern sich aber kurz wie folgt zusam- um mehr als ein Fünftel höher gewesen, wenn der menfassen lässt: Seit Beginn der 1980er Jahre ist die 1 2 Die folgende Darstellung basiert teilweise auf van Treeck (2015). Für einen Literaturüberblick vgl. van Treeck (2014). 4 ifo Schnelldienst 15 / 2018 71. Jahrgang 9. August 2018
ZUR DISKUSSION GESTELLT Einkommensungleichheit in den USA stark gestiegen, in Deutschland seine während der 2000er Jahre explo- insbesondere am obersten Ende der Einkommens- dierenden Gewinne in hohem Maße einbehalten. Die verteilung. Die darunter liegenden Einkommensgrup- damit einhergehende schwache Entwicklung der Lohn- pen konnten ihre relativen Kaufkraftverluste aber teil- bzw. Haushaltseinkommen (und die im Vergleich zu weise durch längere Arbeitszeiten, geringere Erspar- den angelsächsischen Ländern geringeren Möglichkei- nis und höhere Verschuldung kompensieren (vgl. Reich ten zu kreditfinanziertem Konsum) werden von vielen 2010; Frank, Levine und Dijk 2014). Der Zugang zu Kre- Ökonomen als eine Ursache für die schwache binnen- diten für Konsumenten selbst mit zweifelhafter Bonität wirtschaftliche Entwicklung und die hohe Exportab- wurde durch deregulierte und innovative Kreditmärkte hängigkeit der deutschen Volkswirtschaft ausgemacht ermöglicht, aber auch durch die direkte politische För- (vgl. Behringer et al. 2013). derung von Immobilienkrediten und eine expansive Eine hohe Einkommensungleichheit kann somit Zinspolitik (vgl. Rajan 2010; Stiglitz 2012). Ohne die über die skizzierten Nachfrageeffekte zu globalen hohe Konsumorientierung und Kreditaufnahme aller Ungleichgewichten im Außenhandel beitragen (vgl. Einkommensgruppen unterhalb der Spitzenverdiener Behringer und van Treeck 2018) und die Wahrschein- wäre das Wirtschaftswachstum demnach geringer und lichkeit von Finanzkrisen erhöhen. die Arbeitslosigkeit höher gewesen. Allerdings hat die Überschuldung der privaten Haushalte maßgeblich GLEICHMÄSSIGERE EINKOMMENSVERTEILUNG die Gefahr einer privaten Schuldenkrise erhöht, die FÜR STABILERES WACHSTUM sich schließlich in der Großen Rezession ab 2008 reali- siert hat (vgl. Kumhof, Rancière und Winant 2015). Eine Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass Verschiebungen in ganz ähnliche Entwicklung lässt sich für Großbritan- der Einkommensverteilung zur Entstehung von nicht nien und einige andere Länder insbesondere im angel- nachhaltigen Wachstumsmodellen in verschiede- sächsischen Raum feststellen, die im Vorfeld der Krise nen Ländern beigetragen haben. Die Entwicklung der ebenfalls einen starken Anstieg der Spitzeneinkommen Ungleichheit und ihre gesamtwirtschaftlichen Wirkun- und der privaten Verschuldung erlebten. Aus dem kre- gen hängen dabei entscheidend von länderspezifi- ditfinanzierten privaten Nachfrageboom resultierten schen Institutionen ab (vgl. Behringer und van Treeck in diesen Ländern zunehmende Leistungsbilanzdefi- 2017). Während das US-amerikanische Modell in den zite, die zunächst problemlos über die internationalen letzten Jahrzehnten durch stark steigende Spitzen- Finanzmärkte finanziert werden konnten, dann aber haushaltseinkommen geprägt war, zeigen die üblichen mit zur weltweiten Finanzkrise ab 2007 beitrugen (vgl. Maße für die personelle Einkommensverteilung für Kumhof et al. 2012). Deutschland hier eine weniger dramatische Entwick- In einer Reihe weiterer Länder wie China, Deutsch- lung an. Hierzulande sind vielmehr die stark steigen- land und Japan ist es in den Jahren vor der Krise eben- den (einbehaltenen) Unternehmensgewinne, die nicht falls zu deutlichen Verschiebungen in der Einkom- in Statistiken zur Einkommensungleichheit erfasst mensverteilung hin zu mehr Ungleichheit gekommen, werden, ein Grund für die schwache Entwicklung der allerdings gingen diese mit einer relativ schwachen Masseneinkommen. binnenwirtschaftlichen Entwicklung und zunehmen- Das kreditfinanzierte Wachstumsmodell wichtiger den Exportüberschüssen einher. Kumhof et al. (2012) Leistungsbilanzdefizitländer wie den USA oder Großbri- argumentieren, dass in China und anderen Schwellen- tannien hat sich mit der Krise ab 2007 als nicht nachhal- ländern das dort unterentwickelte Finanzsystem den tig erwiesen. In Zukunft wird hier eine stabile Entwick- unteren Einkommensgruppen den Zugang zu Krediten lung des privaten Konsums nur mit entsprechenden erschwerte, weswegen der Anstieg der Einkommens- Zuwächsen bei den Masseneinkommen zu erreichen ungleichheit in diesen Ländern mit einer Schwächung sein. Auch das deutsche Exportüberschussmodell mit des privaten Konsums und nicht mit höherer Verschul- seinen strukturellen Finanzierungsüberschüssen im dung einherging. Die reichen Haushalte, die von der Unternehmenssektor ist inhärent instabil. Die Korrek- Umverteilung profitierten, erwarben daher in zuneh- tur von Fehlentwicklungen in der Einkommensvertei- mendem Maße ausländische Finanztitel, weil sie ihre lung wird eine wichtige Rolle bei der Suche nach einem gestiegenen Ersparnisse im Inland nicht attraktiv anle- nachhaltigen Wachstumsmodell spielen müssen. gen konnten. In Deutschland (und anderen Exportüber- LITERATUR schussländern) ist der Anteil der sehr hohen Einkom- Behringer, J., C. Belabed, T. Theobald und T. van Treeck (2013), »Einkom- men an den gesamten Haushaltseinkommen (Top mensverteilung, Finanzialisierung und makroökonomische Ungleichge- einkommensquoten) weniger stark gestiegen als in wichte«, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 82(4), 203–221. den angelsächsischen Ländern. Während in den USA Behringer, J., T. Theobald und T. van Treeck (2016), Ungleichheit und mak- roökonomische Instabilität. Eine Bestandsaufnahme, FES 2017-Plus, Fried- oder Großbritannien die Unternehmen ihre steigen- rich-Ebert-Stiftung, Bonn. den Einnahmen unter dem Druck der »Shareholder- Behringer, J. und T. van Treeck (2017), »Varieties of capitalism and growth Value-Orientierung« und des »Markts für Manager« an regimes. The role of income distribution«, FMM Working Paper Nr. 9. die Spitzenverdiener innerhalb des Haushaltssektors Behringer, J. und T. van Treeck (2018), »Income distribution and the cur- weitergegeben haben, hat der Unternehmenssektor rent account«, Journal of International Economics, im Erscheinen. ifo Schnelldienst 15 / 2018 71. Jahrgang 9. August 2018 5
ZUR DISKUSSION GESTELLT Cingano, F. (2014), »Trends in Income Inequality and its Impact on Econo- Judith Niehues und Galina Kolev** mic Growth«, OECD Social, Employment and Migration Working Papers Nr. 163. Ungleichheit und Wirt- Dabla-Norris, E., K. Kochhar, N. Suphaphiphat, F. Ricka und E. Tsounta (2015), »Causes and Consequences of Income Inequality: A Global Per- schaftswachstum – ein spective«, IMF Staff Discussion Note, International Monetary Fund, Washington. nicht-linearer Zusammen- Frank, R. A. Levine und O. Dijk (2014), »Expenditure Cascades«, Review of Behavioral Economics 1, 55–73. hang Krugman, P. (2015), »Musings on Inequality and Growth«, ver- fügbar unter: http://krugman.blogs.nytimes.com/2015/06/08/ In den vergangenen Jahren wurde die Debatte um die musings-on-inequality-and-growth/?_r=0. Ungleichheit in der Gesellschaft um eine neue Facette Kumhof, M., R. Rancière, C. Lebarz, A. W. Richter und N.A. Throckmorton (2012), »Income Inequality and Current Account Imbalances«, Internatio- ergänzt. Im Jahr 2014 kamen Studien des Internatio- nal Monetary Fund Discussion Paper 12/08. nalen Währungsfonds (IWF) wie auch der OECD glei- Kumhof, M., R. Rancière und P. Winant (2015), »Inequality, Leverage, and chermaßen zu dem Ergebnis, dass eine steigende Crises«, American Economic Review 105(3), 1217–1245 Einkommensungleichheit ein geringeres Wirtschafts- Mankiw, N. G. und M. P. Taylor (2016), Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, Schäffer-Poeschel, Stuttgart. wachstum impliziere und gleichzeitig, dass von höhe- OECD (2015), In It Together: Why Less Inequality Benefits All, OECD Publish rer Umverteilung eher keine wachstumshemmenden ing, Paris. Effekte zu erwarten wären (vgl. Cingano 2014; Ostry, Ostry, J. D., A. Berg und C. Tsangarides (2014), »Redistribution, Inequa- Berg und Tsangarides (2014). Besonders häufig wurde lity, and Growth«, IMF Staff Discussion Note 14/02, International Monetary Fund, Washington. der kausal interpretierte Befund aus der OECD-Studie Rajan, R. (2010), Fault Lines: How Hidden Fractures Still Threaten the World aufgegriffen, dass in Deutschland bei gleichbleibender Economy, Princeton University Press, Princeton. Einkommensungleichheit das Wirtschaftswachstum Reich, R. (2010), Aftershock: The Next Economy and America’s Future, zwischen 1990 und 2010 um fast 6 Prozentpunkte höher Knopf. hätte ausfallen können. Samuelson, P. A. und W. D. Nordhaus (2010), Volkswirtschaftslehre, Mi-Wirtschaftsbuch, München. Die Studien erhielten auch insbesondere deswe- Stiglitz, J. (2012), The Price of Inequality. How Today’s Divided Society gen große mediale und politische Aufmerksamkeit, da Endangers Our Future, Norton & Company, New York. sie den bis dahin weitläufig vermuteten Trade off zwi- van Treeck, T. (2014), »Did inequality cause the U.S. financial crisis?«, Jour- schen Effizienz und Gerechtigkeit in Frage stellten. Ein nal of Economic Surveys 28(3), 421–448. grundlegender Zielkonflikt der Wirtschaftspolitik wäre van Treeck, T. (2015), »Schadet eine ungleiche Einkommensverteilung der Wirtschaft?«, WISO Direkt (36), Friedrich-Ebert-Stiftung, verfügbar unter: gelöst, da insbesondere gemäß der OECD-Studie von http://library.fes.de/pdf-files/wiso/12083.pdf. ungleichheitsreduzierenden Umverteilungsmaßnah- van Treeck, T. (2016), »Der ‚große Zwiespalt‘ zwischen Effizienz und men keine negativen Anreizeffekte ausgingen, sondern Gerechtigkeit: Realität oder Ideologie?«, in: van Treeck, T. und J. Urban (Hrsg.), Wirtschaft neu denken. Blinde Flecken der Lehrbuchökonomie, die geringere Ungleichheit zu einem höheren Wachs- iRights media, Berlin, 30–41. tum führe. THEORETISCHER HINTERGRUND In der theoretischen Literatur werden sowohl kausale Mechanismen diskutiert, die für einen positiven Ein- fluss von Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum sprechen, als auch Argumente, die eher auf einen nega- tiven Zusammenhang deuten. Das zentrale Argument für einen positiven Wachs- tumseffekt der Ungleichheitshöhe liegt in den Leis- tungs- und Innovationsanreizen, die sich aus den damit einhergehenden (erwarteten) Einkommensvor- teilen und -unterschieden ergeben. Befragungen in Deutschland deuten beispielsweise darauf hin, dass Unterschiede in den Einkommen durchaus gewünscht sind, wenn sie verschiedene Leistungen widerspiegeln. Knapp drei Viertel der im Auftrag des Presse- und Infor- mationsamts der deutschen Bundesregierung zu den Einstellungen zum Thema Ungleichheit Befragten sind beispielsweise der Meinung, dass diejenigen, die mehr in die Renten- und Arbeitslosenversicherung einzahlen, * Dr. Judith Niehues ist Leiterin der Forschungsgruppe Mikrodaten und Methodenentwicklung beim Institut der deutschen Wirtschaft Köln e.V. ** Dr. Galina Kolev ist Leiterin der Forschungsgruppe Gesamtwirt- schaftliche Analysen und Konjunktur am Institut der deutschen Wirt- schaft Köln. 6 ifo Schnelldienst 15 / 2018 71. Jahrgang 9. August 2018
ZUR DISKUSSION GESTELLT auch bessere Leistungen bekommen sollten. Auch über KRITISCHE EINORDNUNG DER OECD-STUDIE die Sparquote einer Volkswirtschaft kann ein positiver Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wachs- Auf den ersten Blick bringt die OECD-Studie in unter- tum erklärt werden, da die Sparquote in den obe- schiedlichen Spezifikationen robust das Ergebnis eines ren Einkommensschichten tendenziell höher ausfällt. negativen Effekts der Einkommensungleichheit auf Dies geht mit einer höheren Ersparnis einher, die dann das Wirtschaftswachstum hervor (vgl. Cingano 2014). für Investitionszwecke zur Verfügung steht und dar Weiterhin zeigen die Schätzungen, dass die Höhe der über hinaus eine positive Wirkung auf das Wirtschafts- staatlichen Umverteilung – gemessen als Unterschied Judith Niehues wachstum haben kann. der Ungleichheit vor und nach den staatlichen Abga- Ein negativer Einfluss kommt beispielsweise ben und Transfers – hingegen keinen signifikanten Ein- dann zustande, wenn Menschen mit geringen Einkom- fluss auf das Wirtschaftswachstum hat. Weitere Analy- men einen schlechteren Zugang zum Bildungssystem sen führen zu der Erklärung, dass der negative Einfluss haben und dadurch eine optimale Entfaltung der Bil- der Ungleichheit weniger auf die Einkommenskonzent- dungschancen verhindert wird. Dieser Mechanismus ist ration am oberen Ende der Verteilung zurückgeht, son- besonders stark in Entwicklungsländern zu erwarten, dern vor allem darauf, dass Kinder aus einkommens- in denen viele Menschen nur begrenzten Zugang zum schwachen Schichten schlechtere Chancen im Bil- Bildungssystem haben. Ein wachstumshemmender dungssystem haben. Galina Kolev Effekt kann sich ebenfalls ergeben, wenn die Höhe der Die Erklärung ist mit Blick auf die vorherigen Ungleichheit so hoch ist, dass sie mit sozialen Unruhen Regressionsergebnisse allerdings insofern überra- und politischer Instabilität einhergeht. Auch kann eine schend, da das Bildungsniveau bereits in den Wachs- hohe Ungleichheit zu einer Verschiebung der Präferen- tumsschätzungen explizit berücksichtigt wird und zen in Richtung umfassenderer Umverteilungsmaß- – im Gegensatz zur Ungleichheit – keinen signifikan- nahmen führen, die dann nach konventioneller Theorie ten Einfluss auf das Wirtschaftswachstum offenbart. das Wirtschaftswachstum hemmen. Zuletzt kann sich Der widersprüchliche Befund wird mit der Möglichkeit eine mit höherer Ungleichheit einhergehende niedrige begründet, dass die beim sogenannten System GMM Konsumquote negativ auf das Wachstum auswirken. Schätzer als Instrumente verwendeten zurückliegen- den Veränderungen des Bildungsniveaus eventuell EMPIRISCHE STUDIEN nur einen geringen Erklärungsbeitrag für die aktuel- len Bildungsniveaus aufweisen. Ein einfacher Regres- Mit Blick auf die bisherigen Studien zum Einfluss von sionstest zeigt jedoch, dass dieses weniger für die Bil- Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum ist es dungsvariable als für die Ungleichheitsvariable gilt, zunächst einmal interessant festzuhalten, dass diese bei der die verzögerten Ungleichheitsveränderungen Thematik keineswegs ein neues Feld in der ökonomi- das aktuelle Niveau der Ungleichheit überhaupt nicht schen Literatur ist. Bereits in den 1990er Jahren war erklären können (vgl. Kolev und Niehues 2016). Die der Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wachs- Überprüfung der möglichen Erklärung stellt somit sehr tum Gegenstand einer großen Anzahl empirischer Ana- viel mehr die Validität des Regressionskoeffizienten der lysen. Das Papier von Neves et al. (2016) zeigt in einer Ungleichheitsvariablen in Frage. umfassenden Übersicht der zum Thema bereits veröf- Weitere Robustheitschecks zeigen darüber hin- fentlichten Studien, dass der geschätzte Koeffizient aus, dass sich nur in wenigen Spezifikationen auf für die Auswirkung zunehmender Ungleichheit auf das Basis ausgewählter Länder und Daten ein signifikant Wirtschaftswachstum in einer recht großen Bandbreite negativer Einfluss der Einkommensungleichheit auf zwischen –0,135 und 0,156 Prozentpunkten liegt. das Wirtschaftswachstum reproduzieren lässt. Bei- Der Effekt zunehmender Ungleichheit auf das spielsweise verschwindet der negative Ungleichheits- Wirtschaftswachstum ist gemäß der Meta-Analyse effekt unmittelbar, wenn eine Dummy-Variable für im Durchschnitt und bei Berücksichtigung der Stu postkommunistische Länder hinzugefügt wurde. Hier dienunterschiede negativ und statistisch signifikant, zeigt sich die Bedeutung spezifischer Ländereffekte aber ökonomisch nicht sehr bedeutend. Ein Anstieg für die beobachteten Ergebnisse: Diese Länder wei- des Gini-Koeffizienten um 10 Prozentpunkte geht dem- sen gleichzeitig ein geringeres Ungleichheitsniveau nach mit einem um 0,1 Prozentpunkte geringerem Wirt- und ein vergleichsweise hohes Wirtschaftswachs- schaftswachstum einher.1 Zur Einordnung: In Deutsch- tum im betrachteten Zeitraum aus. Doch die geringe land ist der Gini-Koeffizient der Netto-Einkommensun- Ungleichheit ist nicht zwangsläufig die Erklärung für gleichheit seit der Wiedervereinigung von 0,25 um rund das hohe Wirtschaftswachstum. Viel wahrscheinlicher 4 Prozentpunkte auf 0,29 gestiegen. Darüber hinaus deu- ist es, dass das hohe Wirtschaftswachstum in diesen tet der Studienüberblick von Neves et al. (2016) darauf Ländern konvergenzbedingt ist. Kontrolliert man die hin, dass wachstumshemmende Effekte eher in schwach Ländereffekte und betrachtet ausschließlich die zeit- entwickelten Volkswirtschaften zu erwarten sind. lichen Veränderungen der Variablen, wird aus einem leicht negativen Zusammenhang zwischen Ungleich- 1 Im Falle einer Gleichverteilung nimmt der Gini-Koeffizient der Ein- kommensverteilung den Wert 0 an, im Falle maximaler Ungleichheit heit und Wirtschaftswachstum ein schwach positiver den Wert 1. Effekt. ifo Schnelldienst 15 / 2018 71. Jahrgang 9. August 2018 7
ZUR DISKUSSION GESTELLT NICHT-LINEARER EINFLUSS Abb. 1 DER UNGLEICHHEIT Gefahrenzonen für Wachstumsverluste durch steigende Ungleichheit Im Jahr 2010 Wohingegen die methodischen Quadrant I: Einfache Gefährdung durch hohe Ungleichheit Quadrant II: Doppelte Gefährdung durch hohe Ungleichheit und geringes Wohlstandsniveau Unsicherheiten des negativen Quadrant III: Einfache Gefährdung durch geringes Wohlstandsniveau Quadrant IV: Keine Gefährdung Zusammenhangs erst durch einen aufmerksamen Blick in 0,65 Gini Koeffizient der Nettoeinkommen die Studie sowie durch Repli- II Namibia I 0,60 kation und Robustheitschecks Südafrika der Regressionsanalyse offen- 0,55 Sambia China bar werden, hätten auch schon 0,50 Chile Barbados Hong Kong die vielfach graphisch darge 0,45 Mexiko stellten Hauptergebnisse der Vereinigtes 0,40 Russland Studie (vgl. Cingano 2014, Israel Königreich Türkei USA 0,35 Abb. 3) Fragen aufwerfen kön- Australien nen. Aus der Abbildung geht 0,30 Moldawien Östereich Schweiz Deutschland Norwegen unmittelbar hervor, dass der 0,25 Ukraine Ungarn Schweden wachstumshemmende Effekt 0,20 III Tschechien IV steigender Einkommensun- 10 000 20 000 30 000 40 000 50 000 gleichheit auf das Wirtschafts- BIP pro Kopf in US-Dollar (in Preisen von 2005) wachstum in den skandi- Anmerkung: Die vertikale Achse (BIP pro Kopf in Höhe von 9 000 US-Dollar) stellt die obere Grenze der Schätzwerte navischen Ländern Schwe- des BIP pro Kopf dar, unterhalb dessen ein wachstumshemmender Effekt der Ungleichheit zu erwarten ist. Die horizontale Achse (Gini-Koeffizient der Nettoeinkommen in Höhe von 0,35) stellt die untere Grenze der Schätzwerte den, Finnland und Norwegen des Gini-Koeffizienten dar, oberhalb dessen ein negativer Effekt der Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum wahrscheinlicher wird. Luxemburg und Singapur sind aufgrund ihres sehr hohen BIP pro Kopf in dieser Abbildung erkennbar stärker ausfiel als nicht dargestellt. beispielsweise in den USA, Quelle: PWT (Penn World Tables); SWIID (Standardized World Income Inequality Database); Institut der deutschen Wirtschaft. © ifo Institut obwohl diese sich bekannt- lich durch eine deutlich höhere Polarisation der Einkommen kennzeichnen. Das Ergeb- baren Befund, dass der durchschnittliche Schwellen- nis ist insofern sehr überraschend, da die skandinavi- wert für einen negativen Ungleichheitseinfluss bei schen Länder insbesondere bei Analysen zur Bildungs- unter 5 000 US-Dollar liegt. Ein wachstumshemmender mobilität im Vergleich zu anderen Ländern regelmä- Effekt steigender Ungleichheit ist demnach nur in Län- ßig sehr gut abschneiden. Nach der Theorie wäre also dern mit vergleichsweise geringem Entwicklungsstand gerade für diese Länder zu erwarten, dass die wachs- zu vermuten. tumshemmenden Effekte steigender Ungleichheit Abbildung 1 zeigt, welche Länder gemäß der ermit- vergleichsweise gering ausfallen müssten. Da in der telten (konservativen) Schwellenwerte eines weltwei- OECD-Studie nur lineare Einflüsse untersucht werden, ten Vergleichs mit einem wachstumsmindernden Ein- ergibt sich allerdings zwangsläufig ein konstanter Ein- fluss steigender Ungleichheit rechnen müssen. Eine fluss steigender Ungleichheit in allen Ländern. Gefahr für das Wirtschaftswachstum ist eher in Ländern Wenn man hingegen – gemäß der dargelegten der ersten drei Quadranten des Diagramms zu erwar- theoretischen Argumente naheliegend – auch nicht-li- ten. Die Darstellung zeigt bspw., dass sich das Ungleich- neare Einflüsse berücksichtigt, zeigt sich, dass der heitsniveau in den USA bereits in einem Bereich befin- Effekt zunehmender Ungleichheit auf das Wirtschafts- det, in dem bei weiter steigender Ungleichheit wachs- wachstum entscheidend von dem bereits vorliegenden tumshemmende Effekte wahrscheinlicher werden. Mit Niveau an Ungleichheit abhängt (vgl. Kolev und Nie- einem Gini-Koeffizienten von 0,29 ist das Ungleich- hues 2016). Im weltweiten Vergleich von 113 Ländern heitsniveau in Deutschland hingegen im internatio- ist bis zu einem Schwellenwert des Gini-Koeffizienten nalen Vergleich eher gering, gleichzeitig ist das Wohl- von 0,35 – wenn überhaupt – eher von einem positi- standsniveau deutlich überdurchschnittlich. Wie auch ven Zusammenhang auszugehen. Erst wenn dieses viele andere EU-Staaten sortiert sich Deutschland mit »gute Maß« an Ungleichheit überschritten wird, ist mit diesen Kennziffern eindeutig in den vierten Quadran- negativen Folgen der zunehmenden Ungleichheit auf ten ein, in dem ein wachstumshemmender Effekt stei- das Wirtschaftswachstum zu rechnen. Auch der Ent- gender Ungleichheit sehr unwahrscheinlich ist. wicklungsstand der Länder spielt eine entscheidende Auch bei dem ebenfalls in der Debatte diskutierten Rolle. In weniger entwickelten Volkswirtschaften – oder Einfluss staatlicher Umverteilung auf das Wirtschafts- genauer, in Ländern, deren BIP pro Kopf 9 000 US-Dol- wachstum ist davon auszugehen, dass etwaige negative lar nicht übersteigt – zeigt sich in den Schätzungen ein Anreizeffekte mit der bereits bestehenden Höhe von negativer Effekt zunehmender Ungleichheit auf das Abgaben, Steuern und Transfers zusammenhängen. Im Wirtschaftswachstum. Einklang mit dieser Hypothese findet die IWF-Studie bei Auch Fuest et al. (2018) kommen auf Basis 16 ver- Berücksichtigung nicht-linearer Effekte tatsächlich Evi- schiedener Schätzspezifikationen zu dem vergleich- denz dafür, dass in den Ländern, in denen die Umvertei- 8 ifo Schnelldienst 15 / 2018 71. Jahrgang 9. August 2018
ZUR DISKUSSION GESTELLT lung bereits sehr hoch ist, eine weitere Steigerung der Piotr Pysz* Umverteilung schädlich für das Wirtschaftswachstum ist, wie von der verbreiteten Hypothese des Trade-offs Ungleichheiten und Utopien zwischen Effizienz und Gerechtigkeit vorhergesagt (vgl. Ostry, Berg und Tsangarides 2014, S. 23). Deutschland Über die Ungleichheiten in der Welt und den einzelnen gehört gemäß der IWF-Studie zum Kreis der Länder, Ländern wird in den letzten Jahren zunehmend inten- innerhalb derer dieses Niveau bereits überschritten ist. siv und leidenschaftlich diskutiert. Bevor man aller- dings in die Diskussion einsteigt, lohnt es sich zu cha- KORRELATION UND KAUSALITÄT rakterisieren, um welche Art von Ungleichheit es geht. Eine einfache, aber für die weiteren Ausführungen nütz- Plausibilitätsüberlegungen und ökonometrische liche Unterscheidung ist die Ungleichheit zwischen der Robustheitschecks legen nahe, dass der vielfach in materiellen Situation einzelner Menschen und Nati- Debatten zitierte negative Zusammenhang zwischen onen (Einkommen und Vermögen) und der Ungleich- Piotr Pysz Einkommensungleichheit und Wirtschaftswachstum heit der Lebenschancen (vgl. Balcerowicz 2016, S. 1). insbesondere für Länder mit hohem Entwicklungsstand Die Aufmerksamkeit der Nationalökonomen konzent- und im internationalen Vergleich geringer Ungleich- rierte sich seit den Zeiten Adam Smith einseitig auf die heit wenig robust ist. Die Ungleichheits-Schwellen- ungleiche materielle Situation der Menschen. Karl Marx werte, oberhalb derer wachstumshemmende Effekte zu formulierte aufgrund der Tatsache großer Ungleichheit erwarten sind, liegen deutlich über dem Ungleichheits- der Vermögen und Einkommen zwischen der besitzen- niveau in Deutschland. Auch die spezifische Abfolge der den Klasse und dem weitgehend mittelosen Proletariat Ungleichheitsentwicklung und Wachstumsperioden in des 19. Jahrhunderts die These vom unüberwindbaren Deutschland lässt einen negativen Einfluss steigender antagonistischen Widerspruch der kapitalistischen Ungleichheit unwahrscheinlich erscheinen. Der in den Klassengesellschaft. In Übereinstimmung mit der von zugrunde liegenden Daten zu beobachtende Ungleich- ihm entwickelten Theorie des historischen Materia- heitsanstieg hat sich nahezu in Gänze zwischen dem lismus konnte dieser Widerspruch nur auf dem Wege Ende der 1990er Jahre und 2005 vollzogen – und inso- einer siegreichen proletarischen Revolution und Dikta- fern gleichzeitig mit der Periode des schwächsten tur des Proletariats überwunden werden. Nach ihrem Wirtschaftswachstums. In der Folgeperiode, aus der Sieg winkte der Menschheit die Utopie einer klassen- in Wachstumsanalysen der Einfluss der Ungleichheit losen Gesellschaft, in der alle ihre Mitglieder zugleich ermittelt wird, fiel das Wachstum indes höher aus. frei und gleich sind. In der sozialistischen Gesellschaft Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass sich aus sollte, neben persönlicher Freiheit für alle, materiel- ländervergleichenden Studien nur schwer kausale ler Wohlstand für alle herrschen. Auch der Staat sollte Effekte von Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum absterben und den Assoziationen freier Menschen identifizieren lassen. Ob das Ungleichheitsniveau eines Platz machen. Diese, hier kurzgefasste Marxsche Uto- Landes zu Unruhen und Instabilitäten führt, hängt pie bildete durch ihre Attraktivität für die Arbeiterbe- nicht zuletzt entscheidend davon ab, wie die Ungleich- wegungen und Arbeiterparteien die Antriebskraft und heit innerhalb des Landes wahrgenommen wird und das Leitbild für zahlreiche soziale Revolutionen, ange- welche Gerechtigkeitsvorstellungen in der Gesellschaft fangen mit der Pariser Kommune im Jahr 1871. vorherrschen. Die sozialgesellschaftlichen Utopien lenken die Der weltweite korrelative Zusammenhang zwi- Aufmerksamkeit der Menschen von Beschwerlichkei- schen niedriger Ungleichheit und hohem Entwick- ten und Widersprüchen ihres Alltags ab und verhei- lungsstand deutet gleichwohl darauf hin, dass sich ßen eine neue wohlhabendere und gerechtere Wirt- beide Größen gleichzeitig erreichen lassen. Stabile schafts- und Gesellschaftsordnung. Jürgen Habermas und glaubwürdige Institutionen, eine befähigende Bil- warnt in diesem Zusammenhang vor einem Übermaß dungspolitik sowie eine kluge und zukunftsweisende an kühlem Pragmatismus und einem dadurch diktier- Investitionspolitik sind für das simultane Erreichen bei- ten Verzicht auf Utopien: »Wenn die utopischen Oasen der Ziele unerlässlich. austrocknen, breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus.« (Habermas 2002, S. 370) Ande- LITERATUR rerseits muss in Betracht gezogen werden, dass Uto- pien durch ihre verführerische Kraft große Gesell- Cingano, F. (2014), »Trends in income inequality and its impact on Econo- mic growth«, OECD SEM Working Paper 163. schaftsgruppen und ganze Nationen in eine falsche Fuest, C., F. Neumeier und D. Stöhlker (2018), »Ungleichheit und Wirt- und gefährliche Richtung lenken können. Diese Wir- schaftswachstum: Warum OECD und IWF falsch liegen«, ifo Schnelldienst kung blieb auch der Marxschen Utopie nicht erspart. 71(10), 22–25. Unter ihrer Implementierung seit der Oktoberrevolu- Kolev, G. und J. Niehues (2016), »The Inequality-Growth Relationship: An tion 1917 mussten die Völker der Sowjetunion und seit Empirical Reassessment«, IW-Report Nr. 7, Köln. 1945 auch die meisten mitteleuropäischen Nationen Neves, P. C., Ó. Afonso und S.T. Silva (2016), »A MetaAnalytic Reassessment of the Effects of Inequality on Growth«, World Development 78(C), 386−400. lange Jahrzehnte leiden. Ostry, J. D., A. Berg und C. Tsangarides (2014), »Redistribution, Inequality, * Prof. Dr. Piotr Pysz lehrt an der Hochschule für Finanzen und Ma- and Growth«, IMF Staff discussion Note, February. nagement, Białystok. ifo Schnelldienst 15 / 2018 71. Jahrgang 9. August 2018 9
ZUR DISKUSSION GESTELLT Bei der Umsetzung der sozialistischen Utopie in der Völker. Man kann hier an die berühmt gewordene die wirtschaftliche und gesellschaftliche Praxis wurden Vision der »blühenden Landschaften» von Helmut Kohl ihre inneren Widersprüche nicht gesehen bzw. bewusst erinnern oder, mehr volkstümlich, an den verbreiteten übersehen. Der am schwersten wiegende Widerspruch gängigen Spruch »Russen raus, Markt rein und in zwei bezieht sich auf die Relation zwischen den Hauptzielen Jahren leben wir wie in Deutschland«. Übertriebene der sozialistischen Gesellschaft und den dafür einge- Erwartungen auf eine Wiederholung des westdeut- setzten Mitteln. Die Enteignung der privaten Produk- schen »Wirtschaftswunders« nach 1948 unter Erhard tionsmitteln, verbunden mit ihrer Verstaatlichung und kamöen auf. Dieser blauäugige Optimismus trug jedoch der Ersetzung des Marktes in seiner Allokationsfunk- durch unvermeidliche Enttäuschungen künftige Prob- tion durch die Zentralverwaltungswirtschaft, erwiesen leme und Schwierigkeiten. für die Zukunf in sich. sich im Verlauf vieler entbehrungsreicher Dekaden des Die Erwartungen eines »Wirtschaftswunders« nach »sozialistischen Experiments« als völlig ungeeignet, um nun schon mehr als 25 Jahren des Transformations materiellen Wohlstand für die Gesellschaft und Freiheit prozesses gingen nur für eine zahlenmäßig eher geringe für einzelne Menschen zu erreichen. Der grundsätzliche Bevölkerungsgruppe wirklich in Erfüllung. Erfolgrei- Fehler der marxistischen Ideologen und Politiker war, che Unternehmer, hochqualifizierte Spezialisten in auf den Völkern etwas zu versprechen, das einfach unreali- dem Markt sehr gefragten Berufen, Spekulanten, kor- sierbar war. Im krassen Gegensatz dazu steht die nach rupte hohe Beamten und Politiker erreichten einen 1948 in Westdeutschland etablierte Politik der Sozialen westlichen Lebensstandard. Große Teile der Bevölke- Marktwirtschaft unter Ludwig Erhard. Dieser Politiker rung außerhalb der boomenden Großstädte, mit unge- konnte durch Aktivierung der Allokationsfunktion des nügender beruflichen Ausbildung und zu geringer per- von der staatlichen Ordnungspolitik umrahmten Mark- sönlicher Durchsetzungsfähigkeit, wurden von dem tes auf Basis des Privateigentums an Produktionsmit- materiellen Fortschritt der ersten Dekaden der markt- teln sowohl materiellen Wohlstand als auch die Freiheit wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt. Dazu gesell- der Bürger sichern. Der Erfolg der Sozialen Marktwirt- ten sich Befürchtungen vor der immer komplizierter, schaft strahlte durch die Attraktivität des westdeut- komplexer und dynamischer werdenden modernen schen Wohlstandes und die persönliche Freiheit der Welt. Eine wachsende Unsicherheit und die Intrans- Menschen auf den ganzen mittel- und osteuropäischen parenz der Welt erzeugten existenzielle Ängste. Aus Raum aus (vgl. Erhard 1990) Sicht der Psychologie beeinflussen solche Befürchtun- gen die Denk- und Verhaltensweisen der betroffenen DIE LIBERALE REVOLUTION Menschen in Richtung auf Auftreten eines Regress, das heißt, sie befördern solche Einstellungen wie Bevor- Die Ungleichheit in den Ländern Mittel- und Osteuro- zugung der Familie als Ort der Sicherheit, Rückkehr zu pas hatte keine vorwiegend interne, sondern vor allem Traditionen und Heimatliebe, Exponierung der Nation externe Ursachen. Nach mehr als 40 Jahren des »sozi- und des Nationalismus, Verlangen nach einer starken alistischen Experiments« ist den intelektuellen Eliten und stabilen politischen Führung, Ablehnung der Frem- wie auch der Mehrheit der Völker in Polen, Ungarn, der den und der weltweiten Globalisierung. Tschechoslowakei und den baltischen Ländern immer klarer geworden, dass sich der seit der Zwischenkriegs- DIE GEGENREVOLUTION zeit 1918–1939 existierende große wirtschaftliche Ent- wicklungsrückstand zu Deutschland und Westeuropa Auf die euphorische liberale Revolution der letzten nicht nur verringert, sondern im Gegenteil noch vergrö- Dekade des 20. Jahrhunderts folgte im 21. Jahrhun- ßert hat. Das Scheitern des marxistischen Experiments dert eine antiliberale Gegenrevolution. Die Gegenrevo- auf der ökonomischen Ebene ist für fast alle Beteiligten lution, die zunächst vorwiegend die politische Sphäre in den 1980er Jahren mehr als offensichtlich geworden. erfasste, erhielt vor allem nach der Weltfinanz-und Auch politisch konnte die diesen Ländern von der Sow- Wirtschaftskrise 2007/200 Schwung und öffentliche jetunion nach 1945 aufoktroyierte sozialistische Wirt- Aufmerksamkeit. Antiliberale Kritikern stellten zuneh- schafts- und Gesellschaftsordnung den Bürgern keine mend westliche Werte und die an sie angepassten ins- wirkliche Alternative für die persönliche Freiheit und titutionelle Arrangements der westeuropäischen Län- Demokratie des westlichen Europas bieten. der (z.B. die Europäische Union) in Frage. Die von dem Die an der Wende der 1980er/1990er Jahre des polnisch-britischen Soziologen Zygmunt Baumann 20. Jahrhunderts eingeleitete Systemtransformation thematisierte Problematik der Balance zwischen per- in Richtung des westlichen Ordnungsmodells verlief sönlicher Freiheit und Sicherheit fing an, sich allmäh- in der Atmosphäre einer allgemeinen Euphorie. Się lich in Richtung Sicherheit zu verschieben. Die damals erfasste sogar die Vereinigten Staaten von Amerika, wo noch oppositionellen Parteien, die ungarische Fidesz Francis Fukuyama medienwirksam und zugleich naiv und die polnische Recht und Gerechtigkeit (PIS), mach- das »Ende der Geschichte« verkündete. Diese Naivität ten sich zum Träger und Sprachrohr dieser gesellschaft- äußerte sich in den Transformationsländern auch in lichen Tendenzen. Sie nutzten die sprichwörtliche den damals dominierenden sehr kurzfristigen optimis- »Gunst der Stunde«, um auf der Welle der verbreiteten tischen Erwartungen einiger Politiker und der Mehrheit Enttäuschung und Unzufriedenheit über die bisherigen 10 ifo Schnelldienst 15 / 2018 71. Jahrgang 9. August 2018
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