Diskurs Rückkehr zur lebensstandardsichernden und armutsfesten Rente - Sozialpolitik
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August 2010 Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik Diskurs Rückkehr zur lebensstandardsichernden und armutsfesten Rente Gesprächskreis Sozialpolitik I
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Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Rückkehr zur lebensstandardsichernden und armutsfesten Rente Klaus-Heinrich Dedring Jörg Deml Diether Döring Johannes Steffen Rudolf Zwiener
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung 3 Schaubild- und Tabellenverzeichnis 4 Abkürzungsverzeichnis 5 Einleitung 6 1. Das Ziel: Lebensstandardsicherung und strukturelle Armutsfestigkeit 8 2. Generationengerechtigkeit und demographische Herausforderung 10 3. Umlagesystem oder „Drei-Säulen-Modell“? 12 3.1 Das herkömmliche rentenpolitische Paradigma 12 3.2 Varianten der Rentenniveauberechnung 12 3.3 Das neue Paradigma: die Rentenreformen von 2001 und 2004 13 3.4 Lebensstandardsicherung im „Drei-Säulen-Modell“ 14 3.5 Altersarmut im „Drei-Säulen-Modell“ 17 3.6 Die Leistungsfähigkeit des „Drei-Säulen-Modells“ im europäischen Vergleich 19 3.7 Probleme beim Aufbau eines Kapitalstocks 21 3.7.1 Gesamtwirtschaftliche Probleme 21 3.7.2 Unerfüllbare Renditeerwartungen 22 4. Ein alternatives Modell: Lebensstandardsicherung und Armutsfestigkeit im Umlagesystem 24 4.1 Rentenniveau und Rentenanpassungsformel 24 4.2 Von der Rentenversicherung der Arbeitnehmer zur Rentenversicherung aller Erwerbstätigen 26 4.3 Lückenschließung 27 4.4 Mindestsicherung 27 4.5 Erwerbsminderungsrenten 28 4.6 Finanzierung 29 5. Die Zukunft der zweiten und dritten Säule 33 6. Fazit 34 Literaturverzeichnis 37 Die Autoren 39 Diese Expertise wird von der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert- Stiftung veröffentlicht. Die Ausführungen und Schlussfolgerungen sind von den Autoren in eigener Verantwortung vorgenommen worden. Impressum: © Friedrich-Ebert-Stiftung | Herausgeber: Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung | Godesberger Allee 149 | 53175 Bonn | Fax 0228 883 9205 | www.fes.de/wiso | Gestaltung: pellens.de | Fotos: dpa Picture Alliance | Druck: bub Bonner Universitäts-Buchdruckerei | ISBN: 978-3-86872-415-8 |
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Vorbemerkung Seit mehreren Jahren deutet sich an, dass das rung begrenzt, sondern bezieht die betriebliche finanzielle Niveau der Altervorsorge in Deutsch- und zusätzliche private Altersvorsorge mit ein. land sinkt und sich diese Entwicklung unter den Dies liegt auf der Hand, da diese drei Teilsyste- geltenden Bedingungen noch beschleunigen wird. me sowohl zeitlich als auch inhaltlich in einem Waren früher Lebensstandardsicherung und Ver- unmittelbaren Zusammenhang stehen: Die soli- meidung von Altersarmut in Deutschland heraus- darisch- und umlagefinanzierte gesetzliche Ren- ragende sozialpolitische Ziele deutscher Renten- tenversicherung soll nicht mehr wie in der Ver- politik, so scheinen diese aufgrund der vorran- gangenheit alleine eine auskömmliche Altersver- gigen Orientierung an Beitragssatzstabilität fak- sorgung sichern, sondern sie soll zusammen mit tisch nicht mehr erreicht zu werden. Es wundert der betrieblichen und der privaten Altersvorsorge nicht, dass das Rentenniveau in Deutschland im dafür Sorge tragen (Drei-Säulen-Modell). Vergleich zu einigen anderen europäischen Län- Wir haben die Autoren gebeten, über eine dern bereits jetzt eher am unteren Ende der Skala Analyse hinaus auch Gestaltungsvorschläge zu rangiert. Lebensstandardsicherung und Armuts- erarbeiten. U. a. sollte dargelegt werden, welche vermeidung sind aber aus unserer Sicht erstre- Rolle die einzelnen Teilsysteme im Drei-Säulen- benswerte und auch erreichbare sozialpolitische Modell für die Gestaltung einer zukünftigen Ren- Ziele. tenpolitik mit dem Ziel Lebensstandardsicherung Wir haben ein Autorenteam gebeten, die und Armutsvermeidung spielen könnten: Soll es Alterssicherungspolitik der vergangenen Jahre zu einer Fortschreibung dieses Modells bisheri- daraufhin zu überprüfen, wie die Prioritätenver- ger Machart kommen oder sind deutliche Neu- schiebung – weg von Lebensstandardsicherung akzentuierungen erforderlich, z. B. mehr Kapital- und hin zur Beitragssatzstabilität – begründet deckung oder Stärkung der Umlagefinanzierung? wurde, wie sie sich im einzelnen ausgewirkt hat Natürlich spielt hier auch die Antwort auf die Fra- und wie dies zu beurteilen ist. Maßstab für die ge eine Rolle, wie die Belastungsgrenzen in wirt- Beurteilung der sozialpolitischen Zielerreichung schaftlicher Hinsicht aussehen könnten. sind Lebensstandardsicherung und Vermeidung Wir bedanken uns bei den Autoren für die von Altersarmut. Maßstab für die Beurteilung konstruktive Zusammenarbeit und hoffen, dass der ökonomischen Zielerreichung ist neben der die vorliegende Expertise mit den darin enthal- Finanzierbarkeit der Einfluss der rentenpoliti- tenen Gestaltungsvorschlägen für eine zukünftige schen Maßnahmen auf den binnen- und außen- Rentenpolitik die öffentliche Diskussion anregt. wirtschaftlichen Erfolg. Die Analyse der Autoren ist nicht auf die Peter König gesetzliche, umlagefinanzierte Rentenversiche- Leiter des Gesprächskreises Sozialpolitik 3
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Schaubild- und Tabellenverzeichnis Schaubild 1: Sicherungsniveau vor Steuern aus gesetzlicher Rentenversicherung und aus Altersvorsorgevertrag für den jeweiligen Rentenzugang 1997 – 2023 15 Schaubild 2: Erforderliche Beitragsjahre zur Deckung des durchschnittlichen Grundsicherungsbedarfs (Single) von 660 € (2009) in Abhängigkeit von individueller Entgeltposition und Sicherungsniveau vor Steuern 18 Schaubild 3: Rentenniveau nach Sozialversicherungsbeiträgen nach geltendem Recht und bei Lebensstandardsicherung 26 Schaubild 4: RV-Beitragssatz nach geltendem Recht und bei Lebensstandardsicherung 29 Tabelle 1: Kombination von Kern- und Zusatzversicherung in ausgewählten europäischen Ländern 19 Tabelle 2: Brutto-Ersatzraten im Alterssicherungssystem ausgewählter europäischer Länder 20 Tabelle 3: Wesentliche Einschnitte bei der Rente und ihre Wirkungen auf den Beitragssatz im Jahre 2030 30 4
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Abkürzungsverzeichnis AV Arbeitslosenversicherung BIP Bruttoinlandsprodukt BMF Bundesministerium der Finanzen DRV Deutsche Rentenversicherung GRV Gesetzliche Rentenversicherung IMK Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung KV Krankenversicherung OECD Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung PfV Pflegeversicherung RRG Rentenreformgesetz RV Rentenversicherung RVB Rentenversicherungsbericht SGB Sozialgesetzbuch SV Sozialversicherung SVR Sachverständigenrat VGR Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung 5
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Einleitung Die Zukunft der Alterssicherung wurde in Deutsch- (2) Der gesellschaftliche Nachkriegskonsens über land lange unter dem Blickwinkel diskutiert, dass die politische Weiterentwicklung des bundes- das hergebrachte gesetzliche Rentensystem als republikanischen Rentenversicherungssystems Garant lebensstandardsichernder Renten in der wurde aufgekündigt: Bis einschließlich des ‚Krise‘ und ohne Zukunft sei. Dass die – umlage- am 9. November 1989 beschlossenen „Ren- finanzierte – gesetzliche Rentenversicherung aus tenreformgesetzes 1992“ sind sämtliche Ren- demographischen Gründen in Zukunft nur noch tenreformen im Konsens der Volksparteien eine randständige Rolle einnehmen könne, war erfolgt. Erst 1997 wurde dieser Konsens von in der veröffentlichten Meinung und im wis- der damaligen christlich-liberalen Koalition senschaftlichen Mainstream jahrelang Konsens. aufgekündigt, als sie mit dem „Rentenreform- Allerdings wird spätestens seit zwei Jahren offen- gesetz 1999“ eine weitere Absenkung des Net- kundig, dass auch die – kapitalgedeckte – betriebli- torentenniveaus beschlossen hat. Auch die che und private Altersvorsorge ihre Versprechen, von der rot-grünen Regierungskoalition ver- hohe Leistungen bei niedrigen Beiträgen zu er- sprochene Rücknahme dieser Regelung so- bringen, nicht halten kann. Die Verunsicherung wie die in der Folge in eigener Verantwortung ist also groß: Kann überhaupt ein sicheres und beschlossene Rentenreform mit dem „Alters- lebensstandardsicherndes Einkommen im Alter vermögensgesetz“ bzw. dem „Altersvermö- garantiert werden? gensergänzungsgesetz“ bestätigte bei vielen Es gilt daran zu erinnern, dass die gerade bei Menschen den Eindruck der Willkürlichkeit, Jüngeren vorhandene skeptische Einstellung ge- in der die Rentenversicherung nicht mehr als genüber der gesetzlichen Alterssicherung in der Ge- etwas Stabiles, sondern als etwas politisch Be- schichte der Bundesrepublik etwas relativ Neues liebiges interpretiert wird. ist. Erst seit Ende der 1990er Jahre begannen jün- Diese Skepsis gegenüber politischen Entscheidun- gere Menschen überhaupt damit, sich Gedanken gen ging vielfach einher mit Veränderungen der darüber zu machen, ob die gesetzliche Rentenver- gesellschaftlichen Orientierung. Der Wunsch, das sicherung stabil und leistungsfähig sei. Dass dies Leben möglichst autonom zu führen und tradi- so ist, ist dabei nicht einer größeren Vorsicht ge- tionelle Bezugspunkte zu hinterfragen, erschien schuldet, sondern lässt sich im Wesentlichen mit gerade vielen „modernen“ und gut Ausgebildeten zwei Faktoren begründen: nur als Abkehr von kollektiven Lösungen mög- (1) Das Beschäftigungsverhältnis als Grundlage lich. Dass gerade der Sozialstaat die Vorausset- der lohn- und beitragsbezogenen Rentenver- zung zur Schaffung von Individualität auch für sicherung begann zu erodieren. Wer längere die abhängig Beschäftigten geschaffen hat, wur- Phasen der Arbeitslosigkeit, unstabile Arbeits- de nicht verstanden. An dieses Verständnis von verhältnisse und Beschäftigung zu Niedrig- Individualisierung und Selbstbestimmung sollte löhnen erlebt, der verliert das Vertrauen, dass mit der rot-grünen Rentenreform von 2001 appel- die Gesellschaft diejenigen angemessen ab- liert werden: Das Zurückschneiden der umlage- sichert, die nicht mehr dauerhaft in den Ar- finanzierten Rentenversicherung beim gleichzei- beitsmarkt integriert sind. tigen Ausbau der geförderten Altersvorsorge ver- 6
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs sprach, dass auch die abhängig Beschäftigten an besteht und die Forderung nach einem gesetz- den Gewinnen auf den Kapitalmärkten teilhaben lichen Mindestlohn mittlerweile in der Bevöl- sollten. kerung mehrheitsfähig ist, so werden auch die Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Leistungskürzungen in den Sozialversicherungen bereits die Beschlussfassung von „Altersvermö- zunehmend kritischer bewertet. Gerade vor dem gensgesetz“ und „Altersvermögensergänzungsge- Hintergrund kollabierender Finanzmärkte ist im- setz“ im Juni 2001 vor dem Hintergrund des mer mehr Menschen klar geworden, welch hohe Kollapses des sogenannten „Neuen Marktes“ er- Bedeutung „Sicherheit“ für die Lebensplanung folgte. Gleichwohl ist ohne die Entwicklung auf hat. „Sicherheit“ im Alter kann eben nur die um- den Aktienmärkten in den Jahren zuvor, die Teil- lagefinanzierte Rente bieten. Auch die SPD, die privatisierung der Alterssicherung nicht zu ver- den rentenpolitischen Paradigmenwechsel zum stehen. Demgegenüber erfolgten die Eingriffe in „Mehr-Säulen-Modell“ zu Beginn des Jahrtau- das Leistungsrecht der Rentenversicherung in sends betrieben hat, hat nun auf ihrem letzten den folgenden Jahren, kulminierend mit dem Bundesparteitag einen vom Bundesvorstand ein- „RV-Nachhaltigkeitsgesetz“ im Jahr 2004, vor gebrachten Leitantrag beschlossen, in dem sie dem Hintergrund der bis dahin tiefsten ökono- selbstkritisch feststellt, dass der SPD in weiten mischen Krise in der Geschichte der Bundesre- Teilen der Arbeitnehmerschaft angelastet wird, publik, mit entsprechend massiven Verwerfun- dass „sie sich von zentralen Sicherungsverspre- gen bei den Einnahmen der Rentenversicherung. chen des Sozialstaates … verabschiedet habe“. Seit einigen Jahren nun ist eine Art Neube- Daher wird für die Zukunft formuliert: „Wir wer- sinnung festzustellen. Diskussionen über die Zu- den unsere Alterssicherungspolitik am Ziel der kunft der sozialen Sicherungssysteme, die über Lebensstandardsicherung orientieren und uns für den lange gepflegten „Gürtel-enger-schnallen- eine solidarische gesetzliche Rentenversicherung Duktus“ hinausgehen, werden nicht länger nur stark machen. Dies schließt selbstverständlich in kleinem Kreise geführt. Mit dem Modell der die Prüfung der rentenpolitischen Maßnahmen „Erwerbstätigenversicherung“ besteht nach seit 2001 ein.“ Die hier vorgelegten Thesen, wie langer Zeit wieder eine Idee, die an allgemeine lebensstandardsichernde und armutsfeste Renten Gerechtigkeitsvorstellungen appelliert. Genau gesichert und finanziert werden können, verste- so, wie kein Verständnis mehr für sich immer hen sich als ein Beitrag zu dieser notwendigen weiter auseinander entwickelnde Einkommen gesellschaftlichen Debatte. 7
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung 1. Das Ziel: Lebensstandardsicherung und strukturelle Armutsfestigkeit Ein gesetzliches oder staatlich gefördertes Alters- tierten Verhältnis zum Nettoarbeitseinkommen sicherungssystem, das den Anforderungen an vergleichbarer Erwerbstätiger steht. In diesem einen modernen Sozialstaat genügen soll, muss Sinne war Lebensstandardsicherung – gemessen in erster Linie zwei Ziele verfolgen: am sogenannten Nettorentenniveau – bis Ende der 1990er Jahre ein implizites Leistungsziel der (1) Lebensstandardsicherung und gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland. (2) Armutsfestigkeit. Es entsprach gesellschaftlichen und politischen Erwartungen und wurde in der Regel auch er- Diese beiden Ziele gelten für jedes Alterssiche- reicht. rungssystem unabhängig davon, ob etwa das Das Ziel der Armutsfestigkeit des Alterssiche- Umlage- oder das Kapitaldeckungsverfahren ein- rungssystems kann eng und weit definiert wer- gesetzt wird, ob die Mitgliedschaft obligatorisch den. Nach der engen Definition darf keine Rente oder freiwillig ist, ob es gleichermaßen für alle unterhalb des jeweiligen Armutsniveaus liegen. Bürgerinnen und Bürger gilt oder berufsständisch Diese Bedingung können nur Rentensysteme mit orientiert ist, oder, ob es aus einem einheitlichen Mindestsicherungsgarantie erfüllen. In Deutsch- gesetzlichen System oder aus mehreren „Säulen“ land wird Armutsfestigkeit des Rentensystems besteht. nicht in diesem strengen, sondern im weiteren Von Lebensstandardsicherung kann gespro- Sinne verstanden, nämlich als strukturelle Ar- chen werden, wenn Versicherte, die dem Alters- mutsfestigkeit. sicherungssystem langjährig als Beitragszahler Von „struktureller Armutsfestigkeit“ ist die angehört haben, im Alter und bei Erwerbsunfä- Rede, wenn die Leistungen des Alterssicherungs- higkeit eine Rente erhalten, die es ermöglicht, systems bei erwerbslebenslanger Beitragszahlung den im Berufsleben erworbenen Lebensstandard aus Vollzeitbeschäftigung eine Nettoversorgung aufrecht zu erhalten. Sie ist zwar niedriger als das gewährleisten, die nicht nur Grundsicherungsbe- Arbeitseinkommen vergleichbarer Erwerbstätiger, dürftigkeit vermeidet, sondern deutlich oberhalb reicht jedoch aus, sozialen Abstieg zu vermeiden. des „Fürsorge“-Niveaus liegt. Armutsfestigkeit Lebensstandardsicherung als Versorgungsziel kann wird hier im Verhältnis zum geltenden Niveau eine bestimmte und zahlenmäßig definierte Rela- der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs- tion zwischen dem letzten Erwerbseinkommen minderung bemessen. Dieses Niveau beläuft und der Rente unabhängig von der besonderen sich derzeit für Alleinstehende auf bundesdurch- Erwerbs- und Versicherungsbiographie jedes schnittlich rd. 660,– € monatlich1. Offen bleibt einzelnen Versicherten nicht garantieren. Der dabei, um wie viel – zum Beispiel um 20 % – diese Grundsatz der Lebensstandardsicherung verlangt Schwelle überschritten werden sollte. Die so de- aber, dass die verfügbare Rente nach langem finierte strukturelle Armutsfestigkeit eines Alters- Versicherungsleben in einem allgemein akzep- sicherungssystems gewährleistet nicht, dass in 1 Die mögliche steuerliche Belastung war zwar in der Rentennettoquote berücksichtigt, doch spielte diese aufgrund der Besteuerung der Standardrente mit dem niedrigen Ertragsanteil und den steuerlichen Freibeträgen in der Vergangenheit faktisch keine Rolle. 8
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs keinem Falle ergänzende Leistungen der sozialen • Zum einen haben erhebliche Veränderungen Grundsicherung in Anspruch genommen werden in Gesellschaft, Wirtschaft und Arbeitswelt, müssen. Dies ist vielmehr unter bestimmten Be- wie die Instabilität der Familienmuster, Erosi- dingungen, wie zum Beispiel größeren Lücken im on des Normalarbeitsverhältnisses, Entstehen Versicherungsverlauf, lang andauernder Teilzeit- und Zunahme prekärer Beschäftigungsverhält- arbeit, sehr niedrigem Arbeitseinkommen oder nisse, Massenarbeitslosigkeit und wachsende bei besonderen Haushaltskonstellationen durch- soziale Ungleichheit, dazu geführt, dass viele aus möglich. Entscheidend für die strukturelle Versicherte weder die persönlichen Voraus- Armutsfestigkeit ist vielmehr, dass Bedürftigkeit setzungen für eine Rente deutlich oberhalb des älterer oder erwerbsgeminderter Personen, auch Grundsicherungsniveaus erfüllen, noch annä- wenn sie weder über andere Einkünfte noch über hernd eine Sicherung ihres Lebensstandards Vermögen verfügen, ein Ausnahmefall bleibt. erreichen können. In diesem Sinne hatte sich die gesetzliche Ren- • Zum anderen hat der Gesetzgeber mit den Ren- tenversicherung in der Bundesrepublik Deutsch- tenreformen des letzten Jahrzehnts die Ziele land in den vergangenen Jahrzehnten als struk- der Lebensstandardsicherung und der struk- turell armutsfest erwiesen. turellen Armutsfestigkeit für die gesetzliche Es ist jedoch festzustellen, dass das deutsche Rentenversicherung ausdrücklich zugunsten Alterssicherungssystem in Zukunft beide Ziele, der Beitragsstabilität aufgegeben und beschlos- sowohl die Lebensstandardsicherung als auch die sen, das Rentenniveau längerfristig deutlich strukturelle Armutsfestigkeit, deutlich verfehlen abzusenken. Die so aufgerissene Lücke sollte wird. Dies ist zwar im derzeitigen Rentenbestand durch die ergänzende kapitalgedeckte Zusatz- noch nicht spürbar, muss aber dennoch für die vorsorge geschlossen werden. Dieser Anspruch kommenden Jahrzehnte erwartet werden: kann aber nicht eingelöst werden. 9
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung 2. Generationengerechtigkeit und demographische Herausforderung Die Entscheidung, in der gesetzlichen Rentenver- und den konkurrierenden politischen Zielen. sicherung die Ziele der Lebensstandardsicherung Diese können eine andere Verwendung der und strukturellen Armutsfestigkeit fallen zu las- vorhandenen Mittel bedingen oder eine Min- sen, hängt mit der öffentlichen Diskussion über derung der Belastung der Steuer- und Beitrags- die Zukunft der Alterssicherung zusammen. Sie zahler. wurde bislang von dem Dogma dominiert, dass • Die Finanzierung der Alterssicherung hängt das bisherige Rentensystem wegen der wachsen- nicht vom Zahlenverhältnis der älteren und den Alterslast nicht mehr bezahlbar sei. Das her- jüngeren Altersklassen, sondern von der Rela- gebrachte System fortzuführen, sei deshalb unge- tion zwischen den Rentenberechtigten und recht gegenüber den jungen und den künftigen Beitragszahlern ab. Die Entwicklung der Gebur- Generationen. Ältere würden zu Lasten der Jün- ten und der Lebenserwartung haben darauf zwar geren bevorzugt. einen Einfluss, aber keineswegs den allein ent- Es ist zwar unbestritten, dass die sogenannte scheidenden. Daneben spielen Wanderungen, demographische Alterslast, also das Zahlenver- Wirtschaftswachstum, Entwicklung von Arbeits- hältnis zwischen den Jahrgängen im Rentenalter markt und Beschäftigung eine wichtige Rolle. und denjenigen im erwerbsfähigen Alter in den • Die Höhe des tragbaren Beitragssatzes kann kommenden Jahrzehnten deutlich steigen wird. nicht isoliert beurteilt werden. Ob Arbeitneh- Aus diesem unbestrittenen Tatbestand kann aber mer steigende Beiträge verkraften können, weder geschlossen werden, dass die umlagefinan- hängt vor allem von der Lohn- und Produkti- zierte Rentenversicherung überfordert sei („Be- vitätsentwicklung ab. Die Akzeptanz von hö- zahlbarkeit“) noch dass der Ausstieg aus diesem heren Beiträgen hängt auch von Erwartungen System für die jüngeren Generationen vorteilhaft über ein bestimmtes Sicherungsniveau ab. oder gar ein Gebot der Gerechtigkeit wäre („Ge- • Generationengerechtigkeit ist keineswegs gleich- nerationengerechtigkeit“). Vielmehr gelten fol- bedeutend mit möglichst niedrigen Beiträgen gende Erwägungen: zur Alterssicherung. Bei dieser zeitpunktbezo- • „Bezahlbarkeit“ ist kein ökonomischer, son- genen Betrachtungsweise wird vernachlässigt, dern ein politischer Begriff. Entgegen dem An- dass alle Generationen alle Altersstufen durch- schein bringt er keinen wirtschaftlichen Sach- laufen: Für die heutigen Jungen sind niedri- zwang zum Ausdruck, sondern eine politische gere Beiträge zwar zunächst vorteilhaft, dafür Prioritätensetzung, nämlich die Option, bei müssen sie aber später als Alte den Nachteil insgesamt begrenzten finanziellen Ressourcen niedriger Renten in Kauf nehmen; umgekehrt Mittel für einen bestimmten Zweck und gege- werden sie zunächst durch höhere Beiträge be- benenfalls zu Lasten anderer Zwecke aufzubrin- lastet, profitieren aber von höheren Renten. gen und zu verwenden oder aber dies nicht zu Insgesamt liegt es im wohlverstandenen In- tun. Über die „Bezahlbarkeit“ der Rentenver- teresse aller Generationen, das umlagefinan- sicherung kann demnach isoliert überhaupt zierte Rentensystem mit der Lebenstandard- nicht sinnvoll gesprochen werden, sondern sicherung beizubehalten. nur im Zusammenhang mit den Zielen, die in • Nicht nur bei umlagefinanzierten, sondern auch der Rentenversicherung erreicht werden sollen bei kapitalgedeckten Alterssicherungssystemen 10
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs leben Rentnerinnen und Rentner von dem für das dar, was sie von ihrer Elterngeneration Sozialprodukt, welches die Erwerbstätigen er- erhalten hat, wie z. B. Unterhalt, Ausbildung wirtschaften. Realwirtschaftlich betrachtet ist und Erziehung. es ein Irrtum, jede Generation könne für sich Aus diesen Gründen ist es falsch, die Begrenzung selbst sorgen. Die Kosten der Alterssicherung des Beitragssatzes zur Rentenversicherung zum können zwar unterschiedlich verteilt werden, alleinigen Kriterium der Renten- und Alterssiche- sie können aber durch keinerlei Maßnahmen rungspolitik zu machen. Weder ein hoher noch vermieden werden. ein niedriger Beitragssatz können allein ein sinn- • Schließlich hat das umlagefinanzierte System volles sozialpolitisches Ziel sein. Vielmehr ist die im Grundsatz der Generationensolidarität, der Höhe des Beitragssatzes das Ergebnis einer gesell- traditionell etwas unscharf als „Generationen- schaftlichen und politischen Abwägung, in die vertrag“ bezeichnet wird, eine moralische sowohl die angestrebten Sicherungsziele als auch Grundlage. Die Beiträge der erwerbstätigen die verfügbaren finanziellen Ressourcen sowie die Generation in dieses System sind nicht nur die Dringlichkeit konkurrierender politischer Ziele Grundlage für ihre eigene Alterssicherung, mit einbezogen werden müssen. sondern sie stellen auch eine Gegenleistung 11
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung 3. Umlagesystem oder „Drei-Säulen-Modell“? 3.1 Das herkömmliche rentenpolitische Demgegenüber folgt die Äquivalenz der privaten Paradigma Kapitalanlage und der privaten Lebensversiche- rung einer ganz anderen Logik: Sie verspricht Seit der Rentenreform von 1957 basiert die ge- keine Teilhabe an der allgemeinen Lohnentwick- setzliche Rentenversicherung der Bundesrepublik lung entsprechend dem individuellen Status im Deutschland auf dem Umlagesystem, das den Ver- Berufsleben, sondern die Verzinsung der Erspar- sicherten bei erwerbslebenslanger Beitragszahlung nisse und die Absicherung eines versicherungs- den im Beruf erworbenen Lebensstandard sichert mathematisch kalkulierten Risikos. und bei vollzeitnaher Beschäftigung zugleich im Ob das Ziel der Lebensstandardsicherung Regelfall auch Altersarmut vermeidet, ohne dass mittels des Prinzips der Teilhabeäquivalenz auch dazu eine Mindestrente erforderlich wäre. tatsächlich erreicht wird, hängt entscheidend da- Dabei folgt die gesetzliche Rentenversiche- von ab, ob das Rentenniveau eine ausreichende rung dem Prinzip der „Teilhabeäquivalenz“, die Höhe hat. Das Rentenniveau wird definiert als sich von der versicherungsmathematischen Äqui- Verhältnis zwischen der sogenannten Standard- valenz, wie sie etwa der privaten Rentenversiche- rente zum Durchschnittslohn. Das Rentenniveau rung zugrunde liegt, grundlegend unterscheidet. ist die entscheidende Messgröße dafür, in wel- Die Teilhabeäquivalenz beruht auf dem Grund- chem Umfang das Rentensystem im Alter und satz, dass die individuellen Rentenansprüche, bei Erwerbsminderung das ausfallende Arbeits- welche die Versicherten in einem bestimmten einkommen ersetzt. Jahr erworben haben, während der gesamten Rentenlaufzeit zueinander genau in dem gleichen Verhältnis stehen, in dem ihre beitragspflichtigen 3.2 Varianten der Einkommen gestanden haben. Mit anderen Wor- Rentenniveauberechnung ten: Im Ergebnis soll das Äquivalenzprinzip ge- währleisten, dass alle Rentnerinnen und Rentner Für die Berechnung des Rentenniveaus gibt es gemäß ihrer früheren Stellung im Einkommens- zahlreiche Varianten, je nach Definition der Stan- gefüge an der allgemeinen Lohnentwicklung dardrente und des Durchschnittslohnes. Die drei teilhaben. Über die individuelle Rentenhöhe ent- wichtigsten, die gesetzlich normiert wurden, sind: scheiden dann zwei Berechnungskomponenten: (1) „Bruttorentenniveau“: Bruttorente eines (1) eine individuelle Komponente, die von der Durchschnittsverdieners nach 45 Beitrags- relativen Einkommensposition abhängt, wel- jahren („Standardrente“) im Verhältnis zum che die einzelnen Versicherten während ih- durchschnittlichen Bruttolohn, res Berufslebens eingenommen haben. Diese (2) „Nettorentenniveau“: Verfügbare Standard- drückt sich in den persönlichen Entgeltpunk- rente (nach Abzug von Kranken- und Pfle- ten aus. geversicherungsbeitrag) im Verhältnis zum (2) eine allgemeine, für alle Versicherten gleicher- durchschnittlichen Nettolohn2, maßen gültige Rechengröße, der sogenannte (3) „Sicherungsniveau vor Steuern“ nach der aktuelle Rentenwert, der von Jahr zu Jahr an die gesetzlichen Definition: Verfügbare Stan- allgemeine Lohnentwicklung anzupassen ist. dardrente (nach Abzug von Kranken- und 2 Die mögliche steuerliche Belastung war zwar in der Rentennettoquote berücksichtigt, doch spielte diese aufgrund der Besteuerung der Standardrente mit dem niedrigen Ertragsanteil und den steuerlichen Freibeträgen in der Vergangenheit faktisch keine Rolle. 12
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Pflegeversicherungsbeitrag, aber vor etwaiger niveau unabhängig von verzerrenden Einflüssen Steuern auf Rente) im Verhältnis zum durch- durch die private und betriebliche Vorsorgetä- schnittlichen Bruttolohn nach Abzug der So- tigkeit zu messen (vgl. 3.1). zialversicherungsbeiträge der Arbeitnehmer und der Beiträge zur geförderten freiwilli- gen privaten Zusatzvorsorge, aber vor Abzug 3.3 Das neue Paradigma: der Lohnsteuer. Dieses Sicherungsniveau ist die Rentenreformen von 2001 gesetzlich definiert und soll bis 2020 nicht und 2004 unter 46 % und bis 2030 nicht unter 43 % ab- sinken (§ 154 SGB VI). Ab dem Jahr 2000 kam es in der Rentenpolitik Das Nettorentenniveau galt traditionell als aus- zu einem Paradigmenwechsel, der unter dem sagekräftigste Maßzahl. Es ist jedoch nicht mehr Eindruck der allgemeinen Markt- und Privatisie- sinnvoll verwendbar, seit mit dem „Altersein- rungseuphorie jener Jahre vollzogen wurde. Im künftegesetz“ von 2004 beschlossen wurde, ab Zentrum stand die politische Entscheidung für 2005 schrittweise zur Vollbesteuerung der Ren- den Vorrang der Beitragssatzstabilität, die mit ten überzugehen. Das hat zur Folge, dass die dem Argument begründet wurde, zu hohe Lohn- Rentnerinnen und Rentner unterschiedlicher nebenkosten seien eine entscheidende Ursache Zugangsjahre unterschiedlich besteuert werden. von Arbeitslosigkeit. Mit der Rentenreform von Das Nettorentenniveau ist also wegen der Neu- 2001 („Altersvermögensgesetz“ und „Altersver- regelung der Rentenbesteuerung zukünftig nicht mögensergänzungsgesetz“) wurde das Ziel der mehr aussagefähig. Lebensstandardsicherung ausdrücklich aufgege- Auch das „Sicherungsniveau vor Steuern“ ist ben. An die Stelle des bis dahin geltenden Para- in der Form, in der es in den offiziellen Rechnun- digmas ist das neue „Drei-Säulen-Modell“ getre- gen der Bundesregierung verwendet wird, kein ge- ten. Die gesetzliche Rentenversicherung soll eigneter Maßstab dafür, in welchem Umfang die künftig keine volle Absicherung mehr leisten, Renten der gesetzlichen Rentenversicherung den sondern nur noch einen (wenn auch den größ- Lebensstandard sichern. Vor allem der Abzug der ten) Teilbeitrag zur lebensstandardsicherenden Beiträge zur privaten Vorsorge vom durchschnitt- Alterssicherung beitragen (erste Säule). Der zur lichen Bruttolohn ist problematisch, solange sich Lebensstandardsicherung fehlende Teil soll dann nicht alle Arbeitnehmer an der Zusatzvorsorge be- durch betriebliche und/oder private Vorsorge teiligen. Diese Berechnungsmethode führt dazu, aufgebracht werden (zweite und dritte Säule). Der dass ein optisch überhöhter Wert für das Siche- Wechsel zum Drei-Säulen-Modell wurde durch rungsniveau ausgewiesen wird. Der naheliegende zwei Schritte bewerkstelligt: Ausweg, das Sicherungsniveau vor Steuern ein- Mit den Rentenreformen der Jahre 2001 fach um die privaten Altersvorsorgeaufwendun- („Altersvermögensergänzungsgesetz“) und 2004 gen zu bereinigen, ist jedoch versperrt, weil die („RV-Nachhaltigkeitsgesetz“) wurden die Renten Abzüge auf die Arbeitsentgelte nach dem derzeit von der Lohnentwicklung abgekoppelt. Die Ren- praktizierten Verfahren an Hand von Quoten aus tenanpassungsformel wurde so verändert, dass der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung vor- das Rentenniveau in der gesetzlichen Renten- genommen werden und diese Quoten nach dem versicherung langfristig erheblich abgesenkt derzeit praktizierten Verfahren keine Trennung wird. Gleichzeitig wurde eine Obergrenze des der Sozialversicherungsbeiträge von Aufwendun- Beitragssatzes (20 % bis 2020 bzw. 22 % bis 2030) gen zur betrieblichen und privaten Vorsorge (z. B. eingeführt. für die geförderte Altersvorsorge) zulassen. Des- Mit dem „Altersvermögensgesetz“ wurde halb wird im Folgenden eine andere Definition gleichzeitig eine finanzielle Förderung der frei- vorgeschlagen („Rentenniveau nach Sozialversi- willigen privaten kapitalgedeckten Vorsorge cherungsbeiträgen“), die es erlaubt, das Renten- eingeführt. Hierzu dient die steuerliche Absetz- 13
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung barkeit von Vorsorgeaufwendungen bei der Ein- der Beitragssatz bis zum Jahr 2030 nach den da- kommenssteuer sowie die Zahlung einer von der maligen Annahmen auf knapp 25 % ansteigen Kinderzahl abhängigen Altersvorsorgezulage. müssen3 (Sachverständigenrat 2004 / 2005, S. 241, Hinzu kam die Steuer- und Sozialversicherungs- Schaubild 73). freiheit bei „Entgeltumwandlung“ (Betriebsren- Die 2004 beschlossene und schrittweise tenansprüche statt Barlohn). Auf diese Weise soll wirksame Vollbesteuerung der Renten sowie die die kapitalgedeckte Zusatzversorgung, so das Ziel Steuerfreiheit der Rentenversicherungsbeiträge und die Begründung der Reform, die Lücke schlie- reduzieren das Nettorentenniveau zusätzlich. ßen, die durch die Senkung des Rentenniveaus in Für den Rentenzugang des Jahres 2030 wird das der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenver- Nettorentenniveau nach Berechnungen des Ver- sicherung entsteht. bandes der Rentenversicherungsträger nur noch Die entscheidende Frage ist, ob sich diese 52,2 % betragen – statt 70 % nach dem traditio- Konstruktion unter Berücksichtigung realistischer nellen Zielwert (Sachverständigenrat 2004 / 2005 Annahmen als Vorteil für die künftigen Rentner 2004, S. 241). Die sozialpolitische Bedeutung die- erweist. Hierbei ist auch zu bedenken, dass sich ses Vorganges wird noch deutlicher, wenn man die Rentenbezugsdauer bei steigender Lebenser- bedenkt, dass ein Großteil der Erwerbstätigen wartung erhöht. Die Rentner müssen also länger realistischerweise eine Vollzeiterwerbsbiographie von dem angesammelten Kapital leben. Das be- mit 45 Versicherungs- und Beitragsjahren nicht deutet, dass ihre laufenden Einkünfte niedriger erreicht. werden oder der Vorsorgeaufwand steigt. Untersucht man die Entwicklung des Siche- rungsniveaus vor Steuern nach der gesetzlichen Definition, (also mit Abzug der privaten Alters- 3.4 Lebensstandardsicherung im vorsorgebeiträge im Nenner) dann ergibt sich „Drei-Säulen-Modell“ folgendes Bild (Schaubild 1). Folgende Ergebnisse können aus dieser Grafik abgelesen werden: Inwieweit das Drei-Säulen-Modell den Lebens- • Das Sicherungsniveau vor Steuern, das 2000 standard wie bislang angemessen sichern kann, etwa 53 % betrug, wird in der gesetzlichen Ren- wird von zwei Faktoren bestimmt, nämlich ers- tenversicherung bis 2023 auf 46,2 % zurück- tens vom Absinken des Rentenniveaus im Um- gehen. lagesystem und zweitens davon, ob die kapital- • Das aus den zwei Säulen zusammengesetzte gedeckte Zusatzversorgung in der Lage ist, dies zu Gesamt-Sicherungsniveau vor Steuern sinkt für kompensieren. den Rentenzugang des Jahres 2023 auf 50,8 %, Nach den vom Sachverständigenrat ver- bleibt also etwas hinter dem zurück, was die öffentlichten Zahlen wird das ursprüngliche gesetzliche Rentenversicherung im Jahre 2000 Bruttorentenniveau von 48,5 % im Jahr 1998, (d. h. vor dem Paradigmenwechsel) allein und das einem Nettorentenniveau von 70,8 % ent- ohne Ergänzung durch die zweite und dritte sprach, infolge der Reformen auf 39,7 % bis zum Säule gewährleisten konnte. Jahr 2030 reduziert werden. Dem Bruttorentenni- • Ob die Neurentner des Jahres 2023 dieses veau von 39,7 % im Jahre 2030 würde, wenn man hypothetische Sicherungsniveau von knapp die Änderung bei der Rentenbesteuerung außer 51 % tatsächlich erreichen, ist mit großen Un- Acht lässt, ein Nettorentenniveau von ca. 58,5 % sicherheiten behaftet, denn es hängt davon entsprechen (Sachverständigenrat 2004 / 2005, ab, in welchem Umfang private Altersvorsorge S. 241, 725). Dies ist der Preis für die letztlich will- betrieben wird und ob die in den Rechnun- kürliche Begrenzung des Beitragssatzes bei 22 %. gen unterstellte Kapitalverzinsung von jahres- Ohne die Reformmaßnahmen seit 2001 hätte durchschnittlich 4 % tatsächlich erreicht wird. 3 Diese Rechnung des SVR basiert auf dem im Jahre 2000 geltenden Rentenrecht, also v. a. einschließlich des demographischen Faktors aus der Reform von 1997 (RRG 1999), durch den das Nettorentenniveau bis zum Jahre 2030 ebenfalls – auf rd. 64 % – gesenkt werden sollte. 14
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Schaubild 1: Sicherungsniveau vor Steuern aus gesetzlicher Rentenversicherung und aus Altersvorsorgevertrag für den jeweiligen Rentenzugang 1997 – 2023 55% 54% 53% 52% 51% 50% 49% 48% 47% 46% 45% 44% 43% 42% 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 GRV Altersvorsorgevertrag Sicherungsniveau vor Steuern in der GRV: Rechnerisches Verhältnis von Standardrente (bzw. von „Riester-Rente“) abzüglich darauf entfallender Sozialbeiträge zum Durchschnittsentgelt (VGR) abzüglich der gesamtwirtschaftlichen SV-Abgabenquote (ohne Steuern aber einschl. Altersvorsorge-Prämien) Rentenzugänge vor 2010: ohne Altersvorsorgevertrag Annahmen des RVB: Altersvorsorgeaufwendungen ab 2002 im Umfang der vollen staatlichen Förderfähigkeit (ab 2008 4 % des versicherungspflichtigen Bruttoentgelts), Absicherung ausschließlich des Langlebigkeitsrisikos, Verzinsung 4 % p. a., Verwaltungskosten 10 %, Dynamisierung in der Auszahlungsphase wie in der gesetzlichen Rentenversicherung Bis 2008 Ist-Zahlen, ab 2009 Szenario des Rentenversicherungsberichts der Bundesregierung, mittlere Variante Quelle: DRV, Rentenversicherung in Zeitreihen 2009, S. 232, RVB der Bundesregierung 2009, S. 38 sowie eigene Berechnungen • Das Nettorentenniveau wird auf jeden Fall Die Rentenreformen seit Beginn des Jahr- durch die schrittweise wachsende Besteuerung zehnts beruhten auf dem politischen Credo, der Renten sowie die Steuerfreistellung der Lebensstandardsicherung sei nach wie vor ge- Rentenbeiträge noch zusätzlich vermindert. währleistet, wenn auch nicht mehr alleine durch Zu beachten ist, dass hier das Sicherungsniveau die gesetzliche Rentenversicherung, wohl aber vor Steuern im Sinne der gegenwärtig praktizier- im Zusammenspiel der drei Säulen, wobei die ge- ten amtlichen Berechnungsweise dargestellt ist. setzliche Rentenversicherung immer noch eine Das heißt, dass es sich um Werte handelt, die dominante Rolle spiele. Hinsichtlich dieses Cre- durch den Abzug der betrieblichen und privaten dos sind aber berechtigte Zweifel angebracht. Die Altersvorsorgeaufwendungen überhöht sind. geförderte Zusatzversorgung kann aus einer Reihe 15
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung von Gründen die Lücke in der Lebensstandard- offiziellen Daten zur betrieblichen und priva- sicherung nicht schließen. Insofern beruhten die ten Vorsorge signalisieren zwar auf den ersten Reformen insgesamt auf einem erkennbar und Blick eine bemerkenswerte Verbreitung der von vornherein unerfüllbaren Versprechen: Zusatzvorsorge4. Die Daten lassen aber keinen • Schon systematisch kann die kapitalgedeckte Schluss auf Höhe und Qualität der betriebli- Vorsorge die Einkommensersatzfunktion der chen oder privaten Vorsorge zu. Es ist vielmehr gesetzlichen Rentenversicherung nicht über- zu vermuten, dass ein Teil dieser Vorsorge zu ge- nehmen. So fehlt es sowohl der betrieblichen ring dimensioniert ist, und dass ein großer Teil wie auch der privaten Altersvorsorge an der der zusätzlichen Altersvorsorge auf Beschäftigte Entsprechung von versichertem Arbeitslohn mit höheren Einkommen entfällt. Da sich die und Rentenanspruch in dem Sinne, in dem Beschäftigten mit Betriebsrentenanspruch und dies die Rentenversicherung gewährleisten solche mit „Riester-Verträgen“ zum Teil über- konnte, solange das Rentenniveau stabil blieb. schneiden, ist der Schluss gerechtfertigt, dass Von einer Teilhabe an der allgemeinen Lohn- ein erheblicher Teil der Arbeitnehmerinnen entwicklung nach Maßgabe der früheren Ent- und Arbeitnehmer die Versorgungslücke durch geltposition im Sinne der Teilhabeäquivalenz die Rentenreformen 2001 und 2004 nicht aus- kann also nicht die Rede sein. gleicht und auch nicht ausgleichen kann. • Außerdem sind gesetzliche Rentenversiche- • Besonders problematisch ist bei der betriebli- rung einerseits sowie betriebliche und private chen und privaten Vorsorge die Kombination Altersversorgung andererseits nicht kongruent. aus Freiwilligkeit und progressiver finanzieller Gesicherter Personenkreis, versicherte Risiken Förderung durch den Staat. Dies führt zu syste- und Leistungsspektrum sind nicht deckungs- matischer Fehlsubventionierung und Mitnah- gleich, weil sich die Strukturprinzipien der meeffekten. Es werden vorwiegend diejenigen drei Säulen grundsätzlich unterscheiden: hier gefördert, die keine Förderung benötigen und Pflichtversicherung, dort Freiwilligkeitsprinzip, auch ohne Förderung freiwillige Vorsorge be- hier Umlagesystem, dort Kapitaldeckungsver- treiben würden. fahren. Eine weitgehende Deckungsgleichheit • Die Entgeltumwandlung in der betrieblichen und eine obligatorische zusätzliche betriebli- Altersversorgung geht zusätzlich zu Lasten der che oder private Altersvorsorge wären jedoch Sicherung in der ersten Säule, weil die umge- Voraussetzung dafür, dass das abgesenkte wandelten Lohn- und Gehaltsansprüche nicht Rentenniveau im gesetzlichen Umlagesystem der Versicherungspflicht in der gesetzlichen durch betriebliche und / oder private Vorsorge Rentenversicherung unterliegen. Der geförder- kompensiert werden kann. te Aufbau der zweiten Säule geschieht also in • Private und betriebliche Altersvorsorge sind einer Form, welche die erste Säule zusätzlich freiwillig und wirken daher selektiv. Da vor schwächt. allem Beschäftigte mit niedrigen Einkommen • Das Hinterbliebenenrisiko und das Risiko der und solche, die sich in unsicheren Arbeitsver- Erwerbsminderung werden in der privaten Al- hältnissen befinden, nicht in der Lage sind, die tersversorgung völlig unzureichend abgedeckt, erforderlichen Beiträge aufzubringen und auch zumal dies für die finanzielle Förderung nicht nicht auf betriebliche Versorgungszusagen des obligatorisch ist. Eine vollwertige Invaliditäts- Arbeitgebers bauen können, bleibt die Lücke, sicherung ist im Rahmen einer Privatversiche- die durch die Senkung des Rentenniveaus im rung ohne umfangreiche Regulierung nicht Umlagesystem entsteht, ohne Ausgleich. Die möglich und wäre vor allem viel zu teuer. Auch 4 17,5 von 27,8 Mio. sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (53 %) hatten Ende 2007 eine betriebliche Versorgungszusage. Ende September 2008 betrug der Bestand an geförderten „Riester-Verträgen“ etwa 12 Mio., davon 9,2 Mio. bei privaten Rentenversicherungen (Alterssicherungsbericht 2008, S.126, 132). 16
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs für die vom Gesetzgeber 2000 abgeschaffte Be- 3.5 Altersarmut im „Drei-Säulen-Modell“ rufsunfähigkeitsrente bietet der private Markt praktisch keinen Ersatz. Die gesetzliche Rentenversicherung in Deutsch- • Auf dem Markt für Altersvorsorgeprodukte feh- land ist, wie beschrieben, nach dem Prinzip der len Markttransparenz und ausreichender Ver- Teilhabeäquivalenz konstruiert und kennt keine braucherschutz. Die grundlegende Regulierung Mindestrente. In einem so gestalteten Umlage- des Altersvorsorgemarktes wäre die Bedingung system kann Altersarmut nicht systematisch und dafür gewesen, dass der privaten Vorsorge eine für alle Fälle ausgeschlossen sein. Wenn allerdings wesentliche Funktion im Alterssicherungssys- eine Reihe von Bedingungen erfüllt sind, dann tem übertragen werden konnte. Genau dies bleibt Altersarmut trotz fehlender Mindestrente ist bei den Reformen aber unterblieben. Eine ein Ausnahmefall. Diese Bedingungen sind vor Folge ist unter anderem, dass die Anbieter von allem: Altersvorsorgeprodukten vielfach die staatli- • Die Versicherungsbiographien der Rentenbe- che Förderung abschöpfen, so dass die einge- rechtigten müssen annähernd geschlossen setzten Steuergelder nicht die Altersversorgung sein. Dies setzt zum einen voraus, dass der verbessern, sondern die Gewinne der Anbieter Arbeitsmarkt echte Beschäftigungschancen für erhöhen. alle bietet, zum anderen dass die rentenrecht- Ein Licht auf die Mängel der privaten Altersvor- lichen Folgen etwaiger individueller Lücken, sorge wirft eine aktuelle Studie für die Verbrau- die zum Beispiel durch Kindererziehung, cherzentrale, in der eine Vielzahl von geförderten Krankheit, Arbeitslosigkeit entstehen, ausge- Altersvorsorgeprodukten („Riester-Renten“) un- glichen werden. tersucht wurde (Oehler 2009). Dabei zeigte sich, • Die Lohnspreizung darf nicht allzu groß sei, dass über die Hälfte der Anbieter keine nutzbaren weil Armutslöhne mehr oder weniger zwangs- Kosteninformationen anbieten. Zudem wiesen läufig zu Armutsrenten führen. zwischen 30 und 40 % der untersuchten „Riester- • Das generelle Rentenniveau muss ausreichend Renten“ mindestens einen zentralen Mangel auf. sein, weil sonst im unteren Teil der Skala die Nur rund die Hälfte der in der Untersuchung ein- Einkommensersatzrate nicht ausreicht, um die bezogenen Personen haben einen „Riester-Ver- Armutsschwelle zu überwinden. trag“, fast die Hälfte von ihnen nutzt die mög- Diese Voraussetzungen waren in der Bundes- liche Zulagenförderung nicht voll aus. „Mehr republik Deutschland jahrzehntelang gegeben, als 75 % bei 45-Jährigen und ganze 90 % bei so dass Altersarmut zwar vereinzelt vorkam, aber 30-Jährigen der staatlichen Zulagen werden durch nur eine geringe Bedeutung hatte. Heute ist dies die Kosten der Anbieter ‚aufgefressen‘ “ (Oehler jedoch nicht mehr der Fall, und für die Zukunft 2009, S. 17). Beachtet werden muss auch, dass die ist mit rasch wachsender Altersarmut zu rechnen. Zulagen selbst über Steuern und damit teilweise Zum einen haben sich die faktischen Bedingun- von den Begünstigten selbst finanziert werden. gen durch wachsende Einkommensungleichheit, Kostengünstige Alternativen – z. B. geförderte Langzeitarbeitslosigkeit und „Prekarisierung“ ge- Altersvorsorgeprodukte von der gesetzlichen Ren- ändert. Zum anderen wird der rentenpolitische tenversicherung oder bei der Finanzagentur des Paradigmenwechsel durch die Rentenreformen Bundes – werden bisher nicht angeboten. zu Beginn des Jahrzehnts das Rentenniveau län- gerfristig so weit senken, dass Altersarmut für die Beschäftigten im unteren Einkommensbereich mehr oder weniger die unausweichliche Folge sein wird (vgl. Schaubild 2). 17
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Schaubild 2: Erforderliche Beitragsjahre zur Deckung des durchschnittlichen Grundsicherungsbedarfs (Single) von 660 € (2009) in Abhängigkeit von individueller Entgeltposition und Sicherungsniveau vor Steuern 70,0 60,0 50,0 Erforderliche Beitragsjahre 40,0 30,0 20,0 10,0 0,0 50% 60% 70% 80% 90% 100% 110% 120% 130% 140% 150% 160% 170% 180% 190% 200% 210% Erwerbslebensdurchschnittliche Entgeltposition in % des Durchschnittsentgelts Sicherungsniveau vor Steuern 43 % (Zielwert für 2030) Sicherungsniveau vor Steuern 52 % (Stand 2009) Das Sicherungsniveau vor Steuern in Höhe von lem Arbeitsleben nur mit Mühe eine Rente in 52 % entspricht dem Wert von 2009 (RVB 2009, Höhe des Grundsicherungsbedarfes für eine Ein- S. 38). 43 % ist der in §154 SGB VI normierte zelperson erreichen können. Dieser Betrag würde Zielwert, den der Gesetzgeber im Jahre 2004 für ihnen auch außerhalb der Rentenversicherung das Jahr 2030 anvisiert hat5. ohne jegliche Beitragszahlung zustehen. Sinkt Das Schaubild zeigt, dass Beschäftigte mit das Sicherungsniveau vor Steuern auf den Ziel- unterdurchschnittlichem Einkommen, etwa 70 % wert für 2030, nämlich 43 %, dann müsste ein des Durchschnitts, bereits nach heutigem Stand 70 %-Verdiener fast 50 Jahre arbeiten, um diesen und einem Sicherungsniveau von 52 % nach vol- „Fürsorge-Break-Even“ zu erreichen. Es ist wohl 5 In beiden Fällen handelt es sich um das durch Abzug der Riester-Beiträge im Nenner verzerrte Sicherungsniveau. 18
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs kaum anzunehmen, dass die freiwillige kapital- mehr, dass die Alterssicherung in Deutschland gedeckte Zusatzversorgung, die der Theorie nach bei der Lebensstandardsicherung – legt man bei die Konsequenzen des abgesenkten Rentenni- Berechnungen den heutigen Rechtsstand zugrun- veaus auffangen soll, zur Lösung dieses Problems de – deutlich hinter vergleichbaren europäischen tatsächlich beiträgt. (und zwar nicht nur hinter den skandinavischen) Ländern zurückbleibt. Die hier betrachteten Länder (Deutschland, 3.6 Die Leistungsfähigkeit des Großbritannien, Frankreich, Niederlande und die „Drei-Säulen-Modells“ Schweiz) haben sehr unterschiedliche Alterssiche- im europäischen Vergleich rungssysteme (vgl. Tabelle 1). Allen ist gemein- sam, dass sie aus einem „Kernsystem“ bestehen, Jahrzehntelang wurde in der Bundesrepublik auf das sich ergänzende Zusatzsicherungssysteme Deutschland die Vorstellung gepflegt, wir verfügten aufbauen. Bei den Kernsystemen gibt es Länder, über ein im internationalen Vergleich leistungsstar- die eher dem Lebensstandardsicherungsprinzip kes Alterssicherungssystem. Dieses Bild, das wo- folgen (Deutschland, Frankreich, mit Einschrän- möglich seinen Ursprung in der Vorreiterrolle hat, kungen Schweiz); hier knüpft die Rentenhöhe an die Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts bei den früheren Einkommen an. Andere (Großbri- der Einführung der Sozialversicherung gespielt tannien, Niederlande) beschränken sich auf eine hat, hält jedoch heute keiner Überprüfung mehr Basissicherung. Deutschland hat insofern eine stand. Vergleiche auf Basis des von der OECD zur Sonderstellung, als es hier, wie bereits erwähnt, Verfügung gestellten Datenmaterials belegen viel- keine Mindestrenten im eigentlichen Sinne mehr Tabelle 1: Kombination von Kern- und Zusatzversicherung in ausgewählten europäischen Ländern Kernsystem Zusatzsicherung Typ Personenkreis Verpflichtungsgrad Personenkreis Organisation D Einkommensbezogene Vorrangig Freiwillig Vorrangig Privat, Rentenversicherung Arbeitnehmer Arbeitnehmer betrieblich (Lebensstandard- oder Branche konzept) GB Basis- Erwerbstätige Obligatorisch mit Vorrangig Staatlich oder Rentenversicherung Wahlmöglichkeit Arbeitnehmer privat / betrieb- lich / Branche F Gemischte Renten- Vorrangig Obligatorisch Vorrangig betrieblich versicherung (Lebens- Arbeitnehmer Arbeitnehmer oder Branche standardkonzept + (Erwerbstätige) Mindestsicherung) NL Basis- Gesamte Quasi-obligatorisch Vorrangig betrieblich Rentenversicherung Bevölkerung Arbeitnehmer oder Branche CH Gemischte Renten- Gesamte Obligatorisch Vorrangig betrieblich versicherung (Lebens- Bevölkerung Arbeitnehmer oder Branche standardkonzept + Mindestsicherung) 19
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Tabelle 2: Brutto-Ersatzraten im Alterssicherungssystem ausgewählter europäischer Länder Niedrigverdienst Mittlerer Verdienst Höherer Verdienst Regel- Brutto- Brutto- Brutto- Rang Rang Rang Altersgrenze Ersatzraten Ersatzraten Ersatzraten D 65 43,0 % 5 43,0 % 4 42,6 % 3 GB 65 51,0 % 4 30,8 % 5 21,3 % 5 NL 65 93,4 % 1 88,3 % 1 86,6 % 1 F 60 61,7 % 3 53,3 % 3 48,5 % 2 CH 65 62,5 % 2 58,3 % 2 40,5 % 4 OECD- Durch- 72,2 % 59,0 % 54,2 % schnitt Quelle: OECD 2009, S.115 f. gibt. Auch bei der Zusatzsicherung ist Deutsch- Die Brutto-Ersatzraten werden auf Basis des land unter den hier betrachteten Ländern ein Rechtsstandes 2006 (einschließlich bereits be- Sonderfall: Die Zusatzsicherung ist bei uns in al- schlossener, aber erst schrittweise wirksam wer- ler Regel freiwillig, während sie in den anderen dender Änderungen) berechnet, und zwar so, dass Ländern obligatorisch oder wenigstens „quasi- die Altersversorgungsansprüche, die ein 20-jäh- obligatorisch“ ist, d. h. sie beruht auf flächende- riger Berufsanfänger, beginnend in diesem Jahr, ckenden allgemeinverbindlichen Tarifverträgen. während seines gesamten Arbeitslebens bis zur Ein weiterer Punkt, in dem sich diese fünf Län- jeweiligen nationalen Regelaltersgrenze erwirbt, der erheblich unterscheiden, betrifft die Finan- zum Bruttolohn eines vergleichbaren Arbeitneh- zierung. Zwar finanzieren alle ihre Kernsysteme mers ins Verhältnis gesetzt werden. Sozialversi- durch Beiträge, aber die Bemessungsgrundlagen cherungsbeiträge und Steuern werden weder bei und die Verteilung der Beitragslast auf Arbeitneh- Rentnern noch bei Arbeitnehmern berücksich- mer und Arbeitgeber sind unterschiedlich. tigt. Dieses Messkonzept entspricht also dem in Neuere Modellrechnungen der OECD erlau- Deutschland gebräuchlichen Begriff des Brutto- ben es, die Leistungsfähigkeit der Alterssiche- Rentenniveaus, jedoch mit dem Unterschied, rungssysteme dieser ausgewählten Länder zu ver- dass der Berechnung der Rente nicht einheitlich gleichen. Die Tabelle 2 zeigt die Brutto-Einkom- 45 Arbeitsjahre, sondern die jeweilige nationale mensersatzraten aus dem Alterssicherungssystem, „Norm-Lebensarbeitszeit“ vom 20. Lebensjahr bis wobei nur die obligatorischen oder quasi-obli- zur Regelaltersgrenze unterlegt wird. gatorischen Systeme mit einem Erfassungsgrad Die Berechnung der Brutto-Ersatzraten wird von mindestens 85 %, nicht aber die freiwilligen jeweils für drei Einkommensstufen durchge- Systeme einbezogen sind. Dies bedeutet, dass in führt nach OECD-Kriterien, nämlich für Durch- Deutschland lediglich die gesetzliche Renten- schnittsverdienst, Niedrigverdienst (50 % des versicherung betrachtet wird (Sondersysteme für Durchschnitts) und höheren Verdienst (150 % Beamte werden in keinem der Länder in die Be- des Durchschnitts). Diese Differenzierung ist not- trachtung mit einbezogen). wendig, um ein einigermaßen zutreffendes Bild 20
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