Eine Frage des Glaubens? - GEW NRW
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07 2021 DEIN MITGLIEDERMAGAZIN BILDUNG – RELIGION – POLITIK Eine Frage des Glaubens? CORONA-PANDEMIE ARBEITEN AM LIMIT SCHULRECHT Wie läuft das erste Welche Auswirkungen Wo liegen die Schwachstellen Präsenzsemester an den Unis? hat der Lehrkräftemangel? im neuen SchRÄG?
DIE MISCHUNG MACHTʼS. MACH MIT! Foto: Calum Lewis / unsplash.com JETZT NEUE KOLLEG*INNEN WERBEN UND TOLLE PRÄMIEN SICHERN! Bei allen Kolleg*innen, die neue Mitglieder für die GEW NRW gewinnen, bedanken wir uns mit einer tollen Prämie. Wie wäre es mit einer Gewürzreibe von Zassenhaus? Diese und viele weitere Prämien findest du unter gew-nrw.de/mitglieder-werben
Foto: cottonbro / pexels.com Bildung, Religion, Politik: Eine Frage des Glaubens? In der lautstark. geht es dieses Mal um die Zusammenhänge zwischen Religion, Bildung und Politik. Wer beeinflusst wen in dieser Dreieckskonstellation? Welchen Stellenwert haben die christlichen Kirchen trotz schrumpfender Mitgliederzahl? Welche Rolle spielen Islam und Judentum in unserer Gesellschaft und in unseren Bildungseinrichtungen? Und wie steht es um die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten, wenn die Kirche Arbeitgeberin ist?
VERSTEHEN INSPIRIEREN Gesellschaft und Verantwortung Ideen und Impulse 08 Wachstumsorte für 29 Miteinander reden statt Menschlichkeit übereinander Warum wir Kirche heute brauchen 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland 11 Erzkonservativ und europaweit vernetzt 32 Mein Leben ist so gewöhnlich Christlicher Fundamentalismus wie deins in Deutschland Jüdischsein heute 14 Besser lehren und lernen 34 Wie Offenheit und Dialog mit Gottes Segen? Ausgrenzung verhindern können Religion und Schule in Zahlen Antimuslimische Diskriminierung an Schulen Z U S A M M E N H A LT E N Arbeitsplatz und Solidarität EINMISCHEN Politik und Veränderung 17 Durchblick im kirchlichen Arbeitsrecht 40 Lobbyarbeit fürs Seelenheil Sonderrolle der christlichen Kommentar: Kirche macht Politik Kirchen 42 Ein Schulfach im Wandel 20 Hallo, da sind wir wieder! Religionsunterricht Präsenzsemester an den 46 Katholische Grundschulen – Hochschulen Bereicherung oder Spaltung? 25 Was gilt für das neue Pro und Kontra: Bekenntnis- erste Beförderungsamt grundschulen an Grundschulen? 48 Chance vertan Du fragst, die GEW antwortet Schulentwicklung in NRW 26 Arbeiten am Limit #IhrFehlt für gute Schule 06 / 38 Kleine Pause 50 Ich bin die GEW NRW! 51 Ausblick & Impressum
Kleine Pause Neues Teammitglied VORSTAND DER GEW NRW W IEDER KOMPLET T Mit der Mönchengladbacher Schulsozialarbeiterin Marion Vittinghoff ist das Vorstandsteam der GEW NRW wieder vollständig. Sie wurde Ende November kommissarisch zur stellvertretenden Vorsitzenden gewählt. Das Amt war durch die Wahl von Ayla Çelik Teilnehmer*innen gesucht zur Vorsitzenden im Sommer vakant geworden. Sebastian Krebs bleibt der weitere stellvertretende UMFR AGE UNT ER Vorsitzende der GEW NRW. DEUTS C H LE H RER* I NNE N Lies hier, wofür sich Marion Vittinghoff in der Forscher*innen der Universitäten Bremen und Leuphana GEW NRW starkmachen will suchen derzeit für ihr Forschungsprojekt Wissenschaft – gew-nrw.tiny.us/interview-vittinghoff Didaktik – Schule (WiDiSch) noch aktive Unterstützung und bitten Deutschlehrer*innen aller Schulformen, einen 15-minütigen Onlinefragebogen auszufüllen. Das For- schungsprojekt hat das Ziel, den Transfer und den Zugang von Deutschlehrer*innen zu aktuellen Erkenntnissen und neuen didaktischen Ansätzen für das Unterrichtsfach Deutsch zu verbessern. Die Teilnahme ist bis Ende Januar 2022 möglich. Weitere Infos und Zugang zur Umfrage widisch.de Tarifrunde TV-L ABSC H LUSS I N SC H W I E R IGE R CORONA-Z E IT Als „verantwortungsvollen Abschluss in schwieriger Corona-Zeit“ hat die GEW das Ergebnis der Tarifverhandlungen bezeichnet. Das Ergebnis im Überblick: → Corona-Sonderzahlung in Höhe von 1.300 Euro bis März 2022, steuer- und sozialabgabenfrei → 2,8 Prozent mehr Gehalt ab dem 1. Dezember 2022 → Gesprächszusage, über Beschäftigungsbedingungen für studentische Hilfskräfte zu verhandeln. Startschuss für die Schaffung eines TVStud. → Vertragslaufzeit: 24 Monate Die Gerwerkschaften fordern die zeit- und wirkungsgleiche Übertragung auf Beamt*innen. Vielen Dank für eure Unterstützung so wie hier bei Alle Infos zur Tarifrunde der Demo in Düsseldorf. Foto: Alexander Schneider gew-nrw.de/dasgewinnenwir 06
VERSTEHEN Gesellschaft und Verantwortung Scholz, Habeck und Lindner gehören keiner Konfession an. Weht der Wind jetzt schärfer für die Kirchen – oder ist die neue Regierung schlicht ein Abbild des gesellschaftlichen Wandels? Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 30.11.2021, tinyurl.com/weltliche-macht Foto: iStock.com / jacquesvandinteren 07 – 15 / Bildung, Religion, Politik: Eine Frage des Glaubens?
Warum wir Kirche heute brauchen Wachstumsorte für Menschlichkeit Die Corona-Pandemie hat den Kirchen deutlich gezeigt, dass sie in Politik und Gesellschaft nicht mehr unbedingt als systemrelevant angesehen werden. Bau- und Möbel- märkte durften öffnen, Kirchen blieben geschlossen. Öffentliche Proteste dagegen gab es nicht. Können wir auch in Zukunft auf die Kirche verzichten? Weltweit ist das Christentum die am stärksten Je reicher und pluraler eine Gesellschaft ist, desto wachsende Religion. In Deutschland sieht es aber mehr Alternativen gibt es zu dem, was Kirche tut. anders aus. Nach einer Prognose des Freiburger Religionssoziologische Studien zeigen, dass die Instituts Forschungszentrum Generationenverträge meisten Ausgetretenen die Kirchen nicht verlassen, werden sich die Mitgliederzahlen der beiden gro- weil sie mit der Arbeit der Kirchen unzufrieden sind. ßen Volkskirchen bis 2060 halbieren. Die Zahl der Eine Ausnahme bilden die Missbrauchsskandale evangelischen Christ*innen wird demnach auf etwa in der katholischen Kirche. Meist aber kennen die 10,5 Millionen, die Zahl der katholischen Christ*innen Austretenden die konkrete Arbeit der Kirchen gar auf etwa 11,5 Millionen sinken. nicht. In einem gewissen Widerspruch dazu möchte eine Mehrheit aber durchaus, dass es weiterhin Trend zur Entsolidarisierung erreicht die Kirchen Kirchen gibt. Das diakonische Engagement und die Hauptgründe sind der demografische Wandel – es Bildungsarbeit der Kirchen werden hoch geschätzt, gibt fast doppelt so viele Todesfälle wie Taufen – und und 75 Prozent der Westdeutschen sagen, dass das die anhaltend hohe Zahl der Kirchenaustritte. Im Jahr Christentum das Fundament unserer Kultur dar- 2020 sind 440.000 Menschen aus der Kirche ausge- stellt. Aber mit der eigenen Lebensführung hat treten. Finanzielle Gründe spielen dabei eine große das nichts zu tun. Der Religionssoziologe Detlef Rolle, aber es geht um mehr: Menschen verlassen Pollack folgert: „Kirche kann machen, was sie will, die Kirchen, weil sie mit dem Glauben nichts mehr sie erreicht die Menschen nicht mehr.“ Zweifellos anfangen können, weil ihnen die Kirchen gleichgültig ist die Kirche damit ebenso von den Entsolidari- geworden sind, weil Religion, wie Umfragen zeigen, sierungstendenzen betroffen wie Gewerkschaften zu einem unwichtigen Lebensbereich geworden ist. und Parteien. 08 Verstehen / Thema
Wenn die Kirchen gehen, verliert die Gesellschaft zwei Millionen Menschen haupt- und ehrenamtlich Noch gehören rund 51 Prozent der Bevölkerung in in Diakonie und Caritas, noch setzen die Kirchen etwa Deutschland den beiden großen Kirchen an, aber in 20 Prozent ihrer Finanzen für kulturelle Tätigkeiten den nächsten Jahrzehnten werden die Christ*innen ein, noch gibt es Seelsorger*innen in Krankenhäu- hierzulande zur Minderheit werden. Viele Menschen sern und Altenheimen, im Justizvollzug und bei der werden dann nicht mehr wissen, was es mit den Bundeswehr. Noch leisten die Kirchen einen großen Zehn Geboten auf sich hat und warum Ostern und Teil der Flüchtlingsarbeit, führen in der Gesellschaft Weihnachten gefeiert werden. Viele Kirchen werden weitgehend den interreligiösen Dialog und organi- umgewidmet oder abgerissen werden, und an die sieren an vielen Orten die Hospizarbeit. Und noch Stelle von Caritas und Diakonie werden immer mehr unterhalten die evangelische und die katholische private Unternehmen treten. Noch sind die Kirchen Kirche etwa 50.000 größere oder kleinere Kirchen im die größten Träger freier Bildungseinrichtungen Land, von denen drei Viertel unter Denkmalschutz in Deutschland, noch unterhalten sie mehr als die stehen. Ob die Kirchen das in 20 Jahren noch auf- Hälfte aller Kindertagesstätten, noch arbeiten fast rechterhalten können, ist höchst unsicher. >> Foto: iStock.com / sticker2you 09
Detlef Pollack spricht von Trauer: „Hier geht etwas Die Kirchen müssen sich aber auch mehr um ihre verloren, was unserer Gesellschaft guttun würde Mitglieder kümmern. Die Mitgliederkommunikation in und was die gesellschaftliche Entwicklung in West- den Kirchen ist miserabel und nicht mehr zeitgemäß! europa stark geprägt hat. [...] Es erfüllt mich schon Kein Wunder, dass außer den Hochverbundenen nur mit Traurigkeit, dass diese große Institution, diese wenige wissen, was die Kirchen wirklich tun und was große Tradition von vielen nicht mehr wertgeschätzt in der Gemeinde läuft. Wertschätzende Beziehungen wird.“ Seine Wertung wird eindrucksvoll von jünge- sind die Basis aller Veränderungsprozesse. ren Jugendstudien wie Jung - aktiv - evangelisch in Klares Bekenntnis zum Markenkern NRW! bestätigt: „Junge Erwachsene mit kirchlichem Hintergrund engagieren sich in allen gesellschaft- Schließlich müssen sich die Kirchen mehr um ihr lichen Bereichen stärker als die Gesamtheit ihrer öffentliches Image kümmern. Niemand identifiziert Altersgruppe.“ Es sind nicht die Dümmsten und sich mit einer Institution, über die negativ gesprochen Konservativsten, die sich in der Kirche engagieren. wird. Etwa 75 Prozent der öffentlichen Berichterstat- tung über die Kirche beziehen sich auf die katholi- Kontaktflächen zur Gesellschaft vertiefen sche: auf Missbrauchsvorwürfe, Verlautbarungen des Die Zunahme der Konfessionslosigkeit lässt sich Papstes und der Bischöfe. Als evangelischer Christ kaum umkehren, der Prozess der Entkirchlichung habe ich den Eindruck: Das quietschende Rad kriegt wird sich fortsetzen. Die Kirchen haben es aber selbst immer das meiste Öl. Vor allem die evangelische Kirche in der Hand, ob sie als Minderheit bedeutungslos braucht dringend eine bessere und eigenständigere werden oder für suchende und sozial engagierte Öffentlichkeitsarbeit. Zeitgenoss*innen interessant sind. Für die katholische In ihren Worten und in ihrem Handeln müssen die Kirche sind dafür nach den Missbrauchsskandalen Kirchen inhaltlich herausfordernder werden: klarer, jedoch grundlegende innere Reformen nötig. schneller, überraschender – weniger harmlos und In jedem Fall dürfen die Kirchen keine Bunker- auch mal kreativ provozierend. Dazu gehört auch: mentalität entwickeln und sich nicht aus der Mit- Die Kirchen, besonders die evangelische, müssen sich verantwortung für die Gesellschaft verabschieden. trauen, wieder mehr von Gott zu reden, aber weder Allein mit der Pflege binnenkirchlicher Aktivitäten dogmatisch abgeklärt noch in spirituellen Floskeln, werden sie kein zukunftsorientiertes Profil ent- sondern verständlich, befreiend und lebenszugewandt. falten. Sie müssen eher auf eine Vertiefung ihrer Sodass auch moderne Zeitgenoss*innen merken, dass Kontaktflächen zur Gesellschaft Wert legen: in der es nicht unvernünftig ist, an Gott zu glauben. Das Bildungsarbeit, Diakonie und Sozialarbeit, Kultur ist der unverwechselbare Markenkern der Kirchen. und Musik, Flüchtlingsarbeit und Entwicklungshilfe. Die Kirchen sind Wachstumsorte für das, worauf Zugleich dürfen die Kirchen dem Mitglieder- eine Gesellschaft angewiesen ist, wenn sie menschlich schwund nicht einfach schulterzuckend zusehen. bleiben will: für Nächstenliebe und Barmherzigkeit, Nichts ist dringender, als in die religiöse Sozialisation für Ruhe und Erinnerung, für Trost und Dankbarkeit. von Kindern zu investieren. Für die Kirchenbindung Die Kirchen sind damit vielleicht nicht systemrele- der allermeisten Menschen sind die Einflüsse in der vant, aber sie bleiben existenzrelevant. // eigenen Familie entscheidend. Prof. Dr. Hans-Martin Lübking Pfarrer und Religionspädagoge 10 Verstehen / Thema
Christlicher Fundamentalismus in Deutschland Erzkonservativ und europaweit vernetzt Wenn von religiösen Fundamentalist*innen die Rede ist, denken vermutlich die wenigsten an das Christentum. Doch es gibt sie nicht nur in den USA, die Extremkatholischen und Evangelikalen. Auch in Deutschland nehmen sie mit ihrem ultra- Foto: iStock.com / champja; Craig-Jackson konservativen Wertesystem Einfluss auf Politik und Bildung. Soziologe und Publizist Andreas Kemper erklärt die Zusammenhänge. >> 11
Fundamentalismus wird oft in Bezug Wenn man sich die Sprache anschaut, wurden entschärft. Die Demo für alle hat auf militante Gruppen in islamischen ist sie teilweise sehr hasserfüllt und fa- sich dann nach Hessen verlagert, wo in Staaten verwendet. Haben wir natisch. Fundamentalist*innen glauben, Wiesbaden gegen entsprechende Pläne in Deutschland ein Problem mit die Wahrheit gepachtet zu haben. Wer demonstriert wurde. Die Akteur*innen christlichem Fundamentalismus? dagegenspricht, ist des Satans. veranstalten Tagungen und schicken Andreas Kemper: Es kommt darauf an, den Bus der Meinungsfreiheit durch Hat christlicher Fundamentalismus wie man das Wort Problem versteht. Deutschland. Dieser wird mitfinanziert Einfluss auf unser Bildungssystem? Wir haben sicherlich kein Problem mit aus Spanien von der rechts-katholischen Terrorismus von christlichen Funda- Andreas Kemper: Ja natürlich! Zum einen Stiftung CitizenGo. Die Organisation mentalist*innen – anders als teilweise in gibt es immer noch christlich-funda- ist gegen die Ehe für alle und für das den USA. Wenn man sich aber anschaut, mentalistische Schulen. Im extremka- Verbot von Abtreibungen. Sie ist euro- wie rechtsextreme Terroranschläge von tholischen Bereich reicht das von der paweit vernetzt und finanziert auch in den Täter*innen begründet werden, gibt Piusbruderschaft bis zum Opus Dei. Es Deutschland entsprechende Tagungen. es da durchaus christliche Bezüge. Das gibt auch evangelikale Schulen, in denen Bei welchen Bildungsthemen sind hat nichts mit den aktuellen Landes- der Bildungsauftrag in der Hand von christliche Fundamentalist*innen in kirchen zu tun, aber die Begründungen christlichen Fundamentalist*innen ist. der Vergangenheit aufgetreten? von Terroranschlägen lassen teilweise Die gibt es nicht nur in Nordrhein-West- aufhorchen. Auch europaweit, wenn falen und Deutschland. Das Netzwerk Andreas Kemper: Es gab vor einigen etwa der Attentäter Anders Behring existiert teilweise europaweit. So gibt Jahren noch den Versuch, den Biologie- Breivik sich bei seinen Morden in Oslo es etwa in Spanien eine Universität des unterricht zu beeinflussen. Die dama- und auf der Insel Utøya in Norwegen als Opus Dei. lige hessische Kultusministerin Karin Kreuzritter für die christlichen Werte Wolff von der CDU hat sich damals dafür Und außerhalb der Schule? verstanden hat. Aber unterschwellig ausgesprochen, die christliche Schöp- gibt es auch in Deutschland Probleme, Andreas Kemper: Neben dem direkten fungslehre im Biologieunterricht zu etwa wenn Abtreibungskliniken belagert Einfluss auf junge Menschen in den behandeln. Sie wollte den Kreationismus werden. Und es gibt nach wie vor viel Schulen gibt es außerschulische Einmi- gegenüber der Evolutionstheorie nicht Widerstand gegen emanzipatorischen schungsversuche etwa bei Demonstra- benachteiligen, beide Ansätze sollten Fortschritt. tionen wie der Demo für alle in Stuttgart. ihrer Meinung nach gleichberechtigt Sie hat ihren Ursprung in Frankreich, die sein. Diese Vorstöße, wissenschaftliche Dann stimmt der Eindruck, dass Demo richtete sich dort gegen das Adop- Erkenntnisse zu missachten, kennt man christliche Fundamentalist*innen tionsrecht für Schwule und Lesben – teils auch bei den Themen Klimawandel und in Deutschland weniger offensiv ultrakatholisch, teils rechts organisiert. Corona. auftreten als etwa in den USA? Die Stuttgarter Demo für alle richtete Aktuell gibt es Kampagnen, die Auftritte Andreas Kemper: Sprengstoffanschläge sich beispielsweise auch gegen einen von SCHLAU zu verhindern, einem Netz- oder Ähnliches, die es in den USA gibt, emanzipatorischen Bildungsplan in Ba- werk von Schwulen und Lesben, die an haben wir hier nicht. Aber die ideolo- den-Württemberg. Das hat sich tatsäch- Schulen aufklären und Bildungs- und gischen Grundlagen sind die gleichen. lich ausgewirkt, die politischen Pläne Antidiskriminierungsworkshops geben. „Faschistische Gruppen sprechen oft dieselbe Sprache wie extremkatholische oder evangelikale Kreise.“ 12 Verstehen / Thema
Wiki Diskursatlas Antifeminismus diskursatlas.de Mehr über die Arbeit von Andreas Kemper andreaskemper.org Ein weiteres Beispiel ist der Elternver- auf, als sie sich offiziell nach außen Das ist seit einiger Zeit zum Glück ver- ein NRW, der sich schon in den 1970er- geben. Da schreiben sie sich vermeint- boten. Das sind Kämpfe, die beispiels- Jahren gegen den weiteren Ausbau der liche Meinungsfreiheit auf die Fahnen. weise im Europaparlament stattfinden. Gesamtschulen ausgesprochen hat. Er Wir haben 2017 zusammen mit der Inwieweit steht christlicher Fundamen- hat 2018 eine Konferenz in München Heinrich-Böll-Stiftung ein Wiki zum talismus in Verbindung mit rechtem veranstaltet, um die Sexualpädagogik Netzwerk des Antifeminismus gemacht, Gedankengut? Wo gibt es Verbindungen der christlichen Fundamentalist*innen also einen enzyklopädischen Internet- mit der AfD? zu präsentieren. Der „katholische Adel“ auftritt. Darin haben wir unter anderem ist in dem Verein stark vertreten. Die die Vernetzung der Evangelikalen er- Andreas Kemper: Es gibt die Christen in Hälfte der Organisationen, die sich gegen klärt, aber es gab heftige Angriffe, sodass der AfD und den ultrarechten Adelskreis Abtreibung wenden, gehört zu diesem die Heinrich-Böll-Stiftung den Auftritt um Beatrix von Storch. Ebenso gibt es Adel, den es offiziell nicht mehr gibt, schnell aus dem Netz genommen hat. Ultrakatholik*innen, die sich gegen den der aber weiterhin viel Einfluss hat. Mittlerweile wissen wir, dass es ein Papst stellen, weil er ihnen nicht katho- extremistisches europäisches Netzwerk lisch genug ist, und extreme Evangeli- Was setzen Sie mit Ihrer Arbeit christ- kale. Die sind alle europaweit vernetzt. des Antifeminismus gibt: die Agenda lichem Fundamentalismus entgegen? Von evangelikalen Gruppierungen in Europe. Sie stellt sich unter anderem Was kann man tun, wenn Evangelikale den USA kommen jedes Jahr Millionen gegen Abtreibung und versucht Sprache private Grundschulen gründen, wenn nach Europa, um die Bildungsarbeit zu verändern, indem sie beispielsweise christliche Freikirchen Träger von des christlichen Fundamentalismus zu von Sodomie statt von Homosexualität Bildungseinrichtungen werden oder unterstützen. Auch von oligarchischen spricht. Wir sammeln jetzt antifeminis- Lobbyarbeit gegen Sexualkunde- Netzwerken aus Russland gibt es solche tische Zitate von Menschen und tragen unterricht in Baden-Württemberg Unterstützung. sie in einem Atlas zusammen, um sie zu stattfindet? Im Diskursatlas Antifeminismus wol- veröffentlichen. Andreas Kemper: Diese Dinge finden len wir herausarbeiten, mit welcher meistens vor Ort statt. Ich selbst bekom- Welche Erfolge können schon Sprache sie sprechen, welche Embleme me viele Anfragen, um Zusammenhänge verzeichnet werden? sie verwenden. Faschistische Gruppen zu erklären. Wissen zu vermitteln über Andreas Kemper: Der Feminismus und sprechen oft dieselbe Sprache wie ext- die komplexen chritslich fundamentalis- die Schwulen- und Lesbenbewegung remkatholische oder evangelikale Krei- tischen Netzwerke, über ihre Positionen gewinnen seit Jahren an Land. Die Krea- se. Es sind immer wieder die gleichen und ihre politischen Verstrickungen ist tionist*innen machen weniger eigene Schlagworte. Da geht es um „Kampf eine wichtige Grundlagenarbeit. So kön- Kampagnen als eher Abwehrkämpfe. gegen Homo-Lobby“, „Genderwahn“, nen die Akteur*innen vor Ort einschät- Noch vor kurzer Zeit haben diese Leute „Frühsexualisierung“ und den Einsatz zen, mit wem sie es zu tun haben. Denn die „Homo-Heilung“ propagiert, die für die „Keimzelle Familie“. // vor Ort treten Gruppen oft radikaler Homosexualität als „krank“ bezeichnet. Die Fragen stellte Simone Theyßen-Speich. Diplom-Journalistin 13
Religion und Schule in Zahlen Besser lehren und lernen mit Gottes Segen? Christliche Leitkultur? Von wegen! Während 1950 noch rund 96 Prozent der Deutschen einer der beiden großen christlichen Kirchen angehörten, waren es 70 Jahre später nur noch rund die Hälfte (51 %). 1950 3,6 % 2020 3% 2% 4% 24 % 41 % 45,8 % 50,6 % 27 % evangelisch konfessionsgebundene Muslim*innen konfessionslos römisch-katholisch orthodoxe Christ*innen sonstige/andere Religionszugehörige Religiöse Vielfalt ist auch in den Klassenzimmern Nur die Lehrer*innenzimmer hinken hinterher. längst Realität. Die Lehrbefähigungen der Grundschullehrkräfte gehen an den Religionszugehörigkeiten der Schüler*innen vorbei. Die Konfessionszugehörigkeiten der Grundschüler*innen in NRW im Schuljahr 2020 / 2021 sind ein Abbild der Gesamtgesellschaft. 1,2 %* 7,3 % 20,4 % 21,3 % 42,8 % 56 % 30,8 % 20,2 % 0,1 % evangelisch islamisch evangelische Religionslehre *davon: 0,5 % Philosophie / praktische Philosophie, 0,3 % islamische Religions katholisch konfessionslos katholische Religionslehre lehre, 0,2 % Islamkunde in deutscher Sprache, 0,2 % jüdische Religionslehre, jüdisch andere Konfessionen andere Bekenntnislehren* 0,1 % weitere Bekenntnisse Quellen: MSB NRW, Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer Sicht – 2019/2020 (oben); 14 Verstehen / Thema fowid – Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (unten)
Schon gewusst? Bekenntnisschulen gibt es 5 deutschlandweit nur noch in 89 NRW und in Niedersachsen. Sogar Bayern hat sich von diesem Schulmodell verabschiedet. Seine Abschaffung ist aus unserer Sicht überfällig. 803 Ein Drittel aller Wir müssen draußen bleiben. 2.786 Grundschulen Wer nicht dem jeweiligen Bekenntnis angehört, in NRW sind hat an diesen Schulen deutlich schlechtere Bekenntnisschulen. Ein- und Aufstiegschancen und kann zum Beispiel nicht Schulleitung werden. Gemeinschaftsgrundschulen katholische Bekenntnisgrundschulen 1.889 evangelische Bekenntnisgrundschulen andere Bekenntnisgrundschulen Quelle: MSB NRW, Das Schulwesen in Nordrhein- Westfalen aus quantitativer Sicht – 2020 / 2021 Weit weg vom christlichen Menschenbild? Private Ersatzschulen sind sozial selektiv. Der sozioökonomische Status von Schüler*innen privater Ersatzschulen, von denen knapp 60 Prozent in kirchlicher Trägerschaft sind, ist über alle Schulformen hinweg höher als der an öffentlichen Schulen. Messen lässt sich das mithilfe des Highest-International-Socio-Econo- mic-Index-of-Occupational-Status-(HISEI-)Indikators. Dessen Skala reicht von 10 bis 89, wobei niedrige Werte Berufen zugeordnet sind, die einen niedrigen sozioökonomischen Status haben, und hohe Werte mit Berufen korrespondieren, die einen hohen sozioökonimischen Status haben. Gerechte Bildungschancen sehen anders aus. 60 50 1.700.000.000 € 40 50,8 59,9 45,2 51,8 60,2 63 HISEI-Indikator sprich: 1,7 Milliarden Euro. So viel erhalten die 522 privaten Ersatzschulen aus Steuermitteln des Landes NRW. 299 dieser Privatschulen sind 10 katholisch oder evangelisch. Grundschulen nicht gymnasiale Schulen Gymnasien (2016) (Sek I, 2015) (Sek I, 2015) öffentlich privat Quelle: Privatschulen in Deutschland – Trends und Leistungsvergleiche von Klaus Klemm. Lars Hoffmann, Kai Maaz, Petra Stanat (Webcode im Onlinearchiv: 236158) 15
Z U S A M M E N H A LT E N Arbeitsplatz und Solidarität „Gemeinsam mit den Kirchen prüfen wir, inwiefern das kirchliche Arbeitsrecht dem staatlichen Arbeitsrecht angeglichen werden kann. Verkündungsnahe Tätigkeiten bleiben ausgenommen.“ Quelle: Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90 / Die GRÜNEN und FDP, gew-nrw.tiny.us/mitgliederbereich (Webcode im Onlinearchiv: 239307) 16 – 27 / Bildung, Religion, Politik: Eine Frage des Glaubens?
Sonderrolle der christlichen Kirchen Durchblick im kirchlichen Arbeitsrecht Für Beschäftigte der beiden christlichen Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände gelten im Arbeitsrecht zusätzliche kirchliche Regeln. Welche Auswirkungen ergeben sich daraus für die individuellen Rechte der Arbeitnehmenden, die betriebliche Mitbestimmung und den Weg, wie Löhne und Arbeitsbedingungen geregelt werden? >> 17
Lies hier die Langversion der FAQ online lautstark-magazin.tiny.us/faq-kirchliches-arbeitsrecht Dürfen kirchliche Arbeitgeber Was können Arbeitnehmer*innen tun, Haben Tarifverträge Geltung für besondere Anforderungen an wenn sie beispielsweise gekündigt kirchliche Betriebe? Beschäftigte stellen? werden, weil sie sich scheiden lassen Ja, es gibt Tarifverträge, die für kirch- Kirchliche Einrichtungen dürfen unter oder aus der Kirche austreten? liche Betriebe gelten. Allerdings werden anderem nicht mehr pauschal die Zuge- Grundsätzlich gilt: Auch wenn sich die für die meisten kirchlichen Einrichtungen hörigkeit zu einer bestimmten Konfession Rechtsprechung zugunsten der Beschäf- Löhne und Arbeitsbedingungen auf einem verlangen, wenn sie zum Beispiel jemanden tigten verändert hat, können „Verstöße“ kircheneigenen Weg geregelt. Er schließt einstellen. Als Religionsgesellschaften gegen die besonderen Loyalitätspflichten unter anderem das Streikrecht für die können die Kirchen sie zwar grundsätz- stets zu arbeitsrechtlichen Konsequenzen Arbeitnehmer*innen aus, weshalb Gewerk- lich weiterhin verlangen, doch muss diese führen. Es ist im Einzelfall zu prüfen, ob das schaften in der Regel daran nicht mitarbei- Anforderung dann wesentlich, rechtmä- zulässig ist oder nicht. Diese besonderen ten. Für kirchliche Beschäftigte kommen ßig und gerechtfertigt in Bezug auf die Pflichten unterzeichnen alle Beschäftigten in diesem Fall Arbeitsvertragsrichtlinien konkret auszuübende Tätigkeit sein. Das mit ihrem Arbeitsvertrag und akzeptieren (AVR) statt Tarifverträge zur Anwendung, ist höchstrichterlich festgestellt worden damit auch das Recht des Arbeitgebers, wenn und soweit sie im Arbeitsvertrag sowie beispielsweise die Unzulässigkeit gegebenenfalls sogar außerordentlich zu vereinbart worden sind. einer Kündigung in einem katholischen kündigen. Beschäftigte sollten sich deshalb Auch wenn mehrheitlich nicht Tarif- Krankenhaus wegen einer Wiederheirat. Es rechtlich beraten lassen, wenn bestimmte verträge, sondern AVR für kirchliche Be- ist demnach an der jeweiligen beruflichen private Veränderungen zu erwarten oder schäftigte Anwendung finden, so kommt Tätigkeit zu bewerten und durch staatliche bereits geschehen sind und der Arbeitgeber der kirchliche Weg nicht ohne Tarifver- Gerichte überprüfbar, ob besondere Loya- arbeitsrechtliche Konsequenzen androht träge aus. Denn die Tarifergebnisse, die im litätsanforderungen zulässig sind. Diese oder vollzieht. Mitglieder können sich öffentlichen Dienst in zum Teil schwierigen Rechtsprechungen sind wichtige Erfolge bei ihrer Gewerkschaft beraten und auch Auseinandersetzungen erstreikt werden für die Rechte von Beschäftigten, dennoch im Rahmen der Rechtsschutzrichtlinien mussten, werden letztlich entweder auch stellen sie Einzelfallentscheidungen dar. vertreten lassen, wenn beispielsweise im kirchlichen Weg umgesetzt oder bilden Nach wie vor kann beispielsweise ein Kir- eine Kündigungsschutzklage notwendig die Vergleichsreferenz, auf deren Grund- chenaustritt zu einer außerordentlichen werden sollte. Eine Beratung sollte auch lage die eigenen Bedingungen geregelt Kündigung führen und im Einzelfall wird in Anspruch genommen werden, wenn werden. Insofern ist es solidarisch und zu prüfen sein, ob sie zulässig war. // sich Beschäftigte bewerben und aufgrund wichtig, dass kirchliche Beschäftigte auch ihrer Konfessionsfreiheit oder „falscher“ Mitglied der Gewerkschaft sind, selbst Konfession nicht zum Gespräch eingeladen wenn noch nicht unmittelbar ein Tarif- oder abgelehnt werden. // vertrag für sie gilt. // 18 Zusammenhalten / Thema
Dürfen Beschäftigte in kirchlichen Was regelt der sogenannte Dritte Weg? Warum wird beim kirchlichen Einrichtungen streiken? Die Kirchen unterscheiden drei Wege Mitbestimmungsrecht von einem Ja, denn die gewerkschaftlichen Rechte zur Regelung von Arbeitsbedingungen. Recht zweiter Klasse gesprochen? gelten grundsätzlich uneingeschränkt auch Der so genannte Erste Weg ist der indi- Für kirchliche Einrichtungen gelten für Beschäftigte in kirchlichen Einrich- viduelle, frei verhandelte Abschluss eines weder das Betriebsverfassungsgesetz tungen. Dazu zählt unter anderem, sich in Arbeitsvertrags zwischen Arbeitnehmer*in (BetrVG) noch die Personalvertretungs- der Gewerkschaft zu organisieren, andere und Arbeitgeber. Arbeitnehmer*innen gesetze. Sie sind 1952 bei der Verabschie- Kolleg*innen für eine Mitgliedschaft zu sind in aller Regel in der schlechteren dung des BetrVG ausgenommen worden. werben oder selbst im Betrieb aktiv zu Verhandlungsposition. Besser ist es, mit Die Kirchen haben eigene, kirchliche Mit- sein. Das ist höchstrichterlich festgestellt dem Arbeitgeber Augenhöhe herzustellen bestimmungsgesetze geschaffen, die dem worden. Sofern die Gewerkschaft zum bei den Verhandlungen über Löhne und BetrVG nur strukturell ähnlich sind. Vor Streik aufruft, ist wie in konfessionsfreien Arbeitsbedingungen. Das geht am besten, allem in Bezug auf das Verfahren sind sie Betrieben eine Streikteilnahme möglich wenn Arbeitnehmer*innen in der Gewerk- überbürokratisiert, regeln unter anderem und zulässig. Eine Einschränkung des schaft organisiert sind, weil sie dann kol- schlechtere Durchsetzungsmöglichkeiten Streikrechts ist nur dann möglicherweise lektiv mit dem Arbeitgeber Tarifverträge bei Regelungsstreitigkeiten zwischen Mit- denkbar, wenn Gewerkschaften an der verhandeln (Zweiter Weg). arbeitervertretung und Arbeitgeber und kirchlichen Arbeitsrechtssetzung mitwir- Die Kirchen nehmen für sich in An- sehen schlechtere Ansprüche für die Inte- ken. Freie Gewerkschaften tun das in der spruch, einen so genannten Dritten Weg ressenvertretungen in Bezug auf notwen- Regel nicht. Nur so bleibt die Möglichkeit geschaffen zu haben. Er sieht die Regelung dige Schulungen und Freistellungen vor. erhalten, Tarifverhandlungen mit dem von Lohn- und Arbeitsbedingungen in Zudem ist die staatliche Arbeitsgerichts- Arbeitgeber auf Augenhöhe zu führen. // arbeitsrechtlichen Kommissionen vor. Sie barkeit für Mitarbeiter*innenvertretungen sind paritätisch mit Arbeitnehmer*innen nicht zugänglich. Stattdessen müssen sie und Arbeitgebern besetzt und schließen vor kirchliche Arbeitsgerichte ziehen. per Kirchenrecht den Streik aus. Finden Hinzu kommt, dass Gewerkschaften in die beiden Seiten keine Einigung, ent- diesen kirchlichen Mitbestimmungsge- scheidet eine Zwangsschlichtung über ein setzen – anders als im BetrVG – keine Ergebnis. Das Kommissionenmodell sieht eigenen Rechte haben. Die Kirchen hal- die Mitarbeit von Gewerkschaften zwar ten Gewerkschaften gezielt strukturell vor, allerdings ist der kirchlich verordnete heraus. // Streikverzicht nicht akzeptabel, weshalb sie in der Regel nicht mitwirken. Im Er- gebnis dieses Weges entstehen Arbeits- vertragsrichtlinien (AVR), die nicht unmit- telbar und zwingend wie ein Tarifvertrag, sondern erst durch die einzelvertragliche Inbezugnahme gelten. Arbeitgeber können also auch im Arbeitsvertrag davon abwei- chen, dafür gibt es immer wieder Beispiele Mario Gembus wie gekürzte Jahressonderzahlungen. Im Gewerkschaftssekretär in der Grunde ist der kirchliche Weg also eine ver.di-Bundesverwaltung im aufwendig gestaltete Variante des so ge- Fachbereich Gesundheit, Soziale Dienste, nannten Ersten Weges. // Wohlfahrt und Kirchen 19
Präsenzsemester an den Hochschulen Hallo, da sind wir wieder! Mit dem Wintersemester 2021 sind die Hochschulen in NRW in den Präsenzbetrieb zurückgekehrt. Wie fühlt es sich an, wieder auf dem Campus zu sein? Wir haben Lehrende und Studierende in Bochum, Köln und Bonn gefragt. „Ich bin ein sozialer Mensch und die Kommunikation und das Lernen mit anderen sind mir wichtig. Wenn sich mein Studium darauf beschränkt, auf einen Bildschirm zu gucken, kann ich auch an der Fernuni studieren.“ Das ganze Interview mit Clara: lautstark-magazin.tiny.us/clara Dr. Monika Wehrheim ist wissen- schaftliche Mitarbeiterin der Romanistik / Iberoromanische Literatur und Kulturwissen- schaften sowie Geschäfts- führerin des Interdisziplinären Lateinamerikazentrums (ILZ) der Universität Bonn. „Forschungsreisen sind gerade kaum machbar. Ich war vor der Pandemie regelmäßig in Lateinamerika – das fällt dieses Jahr auch auf jeden Fall aus. Ich versuche, die Kontakte dorthin über Zoom und über Mails zu halten. Die persönlichen Begegnungen sind wichtig, um Forschungskooperationen stabil zu halten.“ Das ganze Interview mit Monika: lautstark-magazin.tiny.us/monika 20 Zusammenhalten
„Durch die Pandemie haben sich für mich gute Forschungsideen und Projekte ergeben. Wir interessieren uns zum Beispiel verstärkt Cedric Lawida ist dafür, welche digitalen Medien sich für den wissenschaftlicher Mitarbeiter am sprachsensiblen Unterricht eignen. Dazu Mercator-Institut haben wir unter anderem mit Studierenden für Sprachförde- rung und Deutsch Anschauungsmaterial entwickelt, wie sich als Zweitsprache. bestimmte Tools einsetzen lassen. So ent- stehen jetzt Dinge, von denen Lehrkräfte auch langfristig zehren können.“ Das ganze Interview mit Cedric: lautstark-magazin.tiny.us/cedric „Ich glaube, mich persönlich hat die Distanzlehre nicht beeinträchtigt, weil ich entsprechende Ressourcen habe. Anderen, und ich glaube, dass es an einer Hochschule in einer Metropole wie Köln nicht wenige sind, werden durch die Distanzlehre abgehängt. Denn ihnen fehlt die notwendige Ausstattung, beispiels- weise Laptop und Webcam.“ Das ganze Interview mit Chalid: Clara Bufi studiert im lautstark-magazin.tiny.us/chalid ersten Mastersemester Italienisch und Geschichte auf Lehramt und ist Chalid Ahyoud studiert an der Mitarbeiterin im Hoch- Universität Köln die Fächer Biologie und schulinformationsbüro Französisch auf Gymnasiallehramt. der GEW NRW an der Er leitet dort zudem das Hochschul- Universität Bonn. informationsbüro der GEW NRW. 21
„Ich möchte eine Lanze für Präsenz- unterricht brechen! Jetzt müssen wir die positiven Veränderungen aus der Pandemie in die Präsenz integrieren. Wir dürfen nicht einfach sagen: ‚Okay, nun ist Corona vorbei und wir machen alles wieder wie vorher.‘ Das wäre sehr schade, sehr dumm und es würde viel Potenzial verloren gehen.“ Das ganze Interview mit Susanne: lautstark-magazin.tiny.us/susanne Susanne Kurz ist Leiterin des IT-Zertifikats der Philosophi- schen Fakultät und Dozentin für Medieninformatik und Informationsverarbeitung an der Universität zu Köln. Friederike Thole ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am „Ich würde es gut finden, wenn die Studie- Lehrstuhl Historische Bildungsforschung renden regelmäßig Masken und Schnell- der Ruhr-Universität tests zur Verfügung gestellt bekämen Bochum. Außerdem beziehungsweise eine Teststation an der ist sie aktiv in der GEW-Fachgruppe Uni eingerichtet werden würde, damit sich Hochschule und die Studierenden kostenlos testen lassen Forschung sowie können – einfach zur Sicherheit. Als im Ausschuss junge GEW NRW. Lehrende kriege ich Schnelltests gestellt.“ Das ganze Interview mit Friederike: lautstark-magazin.tiny.us/friederike 22 Zusammenhalten
„Zum Start des Präsenzsemesters waren einige Studierende nicht da, weil sie es einfach nicht geschafft haben eine PRÄSENZ? ABER SICHER! Wohnung zu finden. Andere haben es Wie muss der Präsenzbetrieb an den geschafft, um dann vor Ort mit neuer Hochschulen gestaltet werden, damit er für Beschäftigte und Studierende Wohnung zu erfahren, dass es für sie sicher ist? Das fordert die GEW: doch keine Präsenzveranstaltung gibt. → Die Hochschulen müssen verbindliche Der AStA der Uni Köln hat jetzt wieder Hygieneregeln formulieren, die auch eine Notschlafstelle eingerichtet.“ das 3G-Prinzip einschließen. Praktikabel Das ganze Interview mit Tobias: erscheinen stichprobenartige Kontrollen lautstark-magazin.tiny.us/tobias beim Zutritt zu den Gebäuden oder Räumen anhand der üblichen Nach- weis einer Impfung, Genesung oder Testung – analog oder digital. Die Aus- gabe von Armbändern oder Einträge Tobias Zorn studiert in den Studierendenausweis sind aus Dolmetschen für Deutsche Datenschutzgründen der falsche Weg. Gebärdensprache an der → Hochschulen sollten Beschäftigten und Universität zu Köln und Studierenden kostenlose Corona-Tests ist Koordinator des Landes- und Schutzmasken anbieten. ASten-Treffens NRW. → Hochschulen müssen gemäß der gelten- den arbeits-, gesundheits- und infek- tionschutzrechtlichen Bestimmungen Hygienekonzepte ausarbeiten, die die Einhaltung von Mindestabständen oder die Maskenpflicht beinhalten können. → Hochschulen sollten sich an der Impf- An Pham studiert kampagne beteiligen und auf ihren Cam- Medieninformatik an der pussen Impfangebote machen. Universität zu Köln. → Aus Rücksicht auf vulnerable Personen sowie auf Personen, die nicht geimpft werden können, sollte es für Lehrveran- „Ich bin jetzt im fünften Semester und habe staltungen auch hybride Formate geben. drei Semester als Distanzlehre erlebt. Wenn → Die GEW fordert die Länder auf, die Hochschulen bei allen Maßnahmen ich mir im ersten und damit auch meinem auch finanziell zu unterstützen, und bisher einzigen Präsenzsemester nicht so sich auf bundesweit geltende Standards einen guten Freundeskreis aufgebaut hätte, für die Corona-Schutzmaßnahmen zu verständigen. wäre es mir wahrscheinlich sehr viel schwe- rer gefallen, mein Studium fortzuführen.“ Das ganze Interview mit An: lautstark-magazin.tiny.us/an 23
„Man wartet ewig auf eine Rückmeldung oder eine Note und rennt den Leuten mit E-Mails hinterher. Das sorgt auf beiden Seiten für Belastung. Durch den Schrift- verkehr ist alles noch bürokratischer geworden. Der direkte Austausch mit Kommiliton*innen und Dozent*innen fehlt mir am meisten.“ Das ganze Interview mit Lisa: lautstark-magazin.tiny.us/lisa Lisa Fullert studiert an der Ruhr-Universität Bochum, ist dort Mitarbeiterin im Hochschul- informationsbüro der jungen GEW NRW und Teil des Sprecher*innenteams im Landesausschuss der Studierenden (LASS). Alle Fotos: Annette Etges „Ich glaube, es besteht schon eine gewisse Gefahr, sich ein bisschen in dem Ganzen zu verlieren. Ständig zuhause sein, alles ist irgendwie in der Schwebe. Da kann man schon aufs Abstellgleis geraten und dann vielleicht nicht wieder anfahren, weil einem die Motivation fehlt.“ Das ganze Interview mit Jan: lautstark-magazin.tiny.us/jan Jan Wappler studiert Sozialwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. 24 Zusammenhalten
Du fragst, die GEW antwortet Was gilt für das neue erste Beförderungsamt an Grundschulen? Der Masterplan Grundschule sieht vor, 1.256 Stellen für 2.713 Grundschulen von A12 auf A13 anzuheben. Dadurch wird ein funktionsloses Beförderungsamt an Grundschulen eingeführt, ähnlich dem an Hauptschulen sowie an Real-, Sekundar- und Gesamtschulen. An das Amt sind keine Aufgaben und keine An- rechnungsstunden gebunden, und es wird der ausgewählten Person zeitlich unbefristet übertragen. Ausgeschrieben wird das Beförderungsamt über STELLA, das Ausschreibungsportal des Landes NRW. Folgendes gilt es des Weiteren zu beachten: → Bewerben können sich auf ausgeschriebene Stellen an Grundschulen inter- essierte Kolleg*innen mit der Lehramtsausbildung für Grund-, Haupt- und Realschulen, die an einer dieser Schulformen eingesetzt sind. → Das Amt wird vergeben aufgrund vorausgegangener Leistungen gemäß der Bestenauslese nach Art. 33 Abs. 2 GG beziehungsweise § 14 Abs. 1 LBG. Es gelten die Beurteilungsrichtlinien „vor der Übertragung des ersten Beförderungsamtes einer Laufbahn“ (gemäß Art. 33 Abs. 2 Nr. 3 GG). Eine Ausnahme besteht, wenn bereits eine hinreichend aussagekräftige Beurteilung vorliegt. → Es müssen die laufbahnrechtlichen Voraussetzungen nach § 24 Abs. 1 LVO und § 7 Abs. 2 LVO erfüllt sein, das heißt, eine Beförderung auf diese A13-Stellen ist nach einer Dienstzeit von drei Jahren in A12 sowie frühestens ein Jahr nach Ende der Probezeit möglich. Eine Grundschullehrkraft hat normalerweise eine dreijährige Probezeit in A12 und verbleibt anschließend noch ein Jahr in A12, sodass sie sich erst danach auf diese Stellen bewerben kann. → Bei der Bewerbung von angestellten Lehrkräften werden die beamtenrechtlichen Voraussetzungen entsprechend angewendet, sodass die Höhergruppierung von EG11 (= A12) nach EG13 gemäß § 17 Abs. 4 TV-L erfolgt. Wegen des dadurch bedingten Verlustes der höheren Jahressonderzahlung und der noch nicht be- stehenden stufengleichen Höhergruppierung sollten angestellte Kolleg*innen die finanziellen Folgen vorab berechnen. Die GEW NRW kritisiert, dass → bei einem Umfang von 5 Prozent der Stellen die Beförderungsstellen für Grund- schulen hinter allen anderen Schulformen zurückbleiben, → Fachleitungen weiter auf ein Beförderungsamt beziehungsweise auf die Ein- gruppierung auf A13/EG13 warten und → die Forderung nach A13 für alle Lehrkräfte mit vollständiger Lehrkräfteaus- bildung immer noch nicht umgesetzt ist. // Ute Lorenz Expertin der GEW NRW für Dienstrecht Noch mehr Infos zum Thema gew-nrw.tiny.us/mitgliederbereich (Webcode im Onlinearchiv 239059) 25
#IhrFehlt für gute Schule Arbeiten am Limit Mit der Kampagne #IhrFehlt für gute Schule hat die GEW NRW nach den Sommerferien medienwirksam auf den Lehrkräfte- mangel aufmerksam gemacht. Wie er sich im Arbeitsalltag an Grund- und Förderschulen zeigt, beschreiben die Lehrerinnen Katrin Korte und Kirsten Tietze. Lehrkräftemangel spitzt sich weiter zu funktionierender Teamarbeit und einer positiven Resonanz von Eltern und Kin- Seit 2010 arbeitet sie als Lehrerin an dern immer wieder Kraft für die täglichen einer Gelsenkirchener Grundschule. Ange- Herausforderungen gebe. Resignation an- sichts personeller Unterbesetzung, krank- dererseits, weil bei vielen Kolleg*innen der heitsbedingter Ausfälle und eines ständig Glaube an zeitnahe Entlastung verloren Foto: Fatime Yanaz wechselnden Stamms an Vertretungskräf- ten lasse sich der Personaleinsatz in einer gegangen sei. „Wir sprechen hier über eine Klasse jeweils für höchstens vier Wochen Situation, die noch mindestens zehn, eher überblicken. „Unter diesen Umständen zwanzig Jahre andauern wird. Das hält eine individuelle Förderung für jedes Kind keiner einfach so aus“, betont Katrin Korte. K AT R I N K O R T E zu ermöglichen, ist praktisch unmöglich.“ Politik muss endlich handeln spürt in ihrem Arbeitsalltag den Der Lehrkräftemangel an den Gelsen- Lehrkräftemangel deutlich. kirchener Grundschulen habe sich in den Von der Politik wünscht sich die Gelsen- vergangenen fünf Jahren zugespitzt – mit kirchenerin deshalb, „dass unser Engage- gravierenden Folgen. „Wo wir früher im ment endlich gesehen wird – nicht nur Team arbeiten konnten, muss ich heute als durch die längst fällige Angleichung der Be- Teilzeitkraft mit zehn Unterrichtsstunden zahlung“. Studienplätze müssten signifikant Die Herbstferien waren kaum vorbei, da ganz alleine eine Klassenleitung stemmen“, aufgestockt und der Numerus clausus für musste Katrin Korte ihrer Klasse bereits erzählt Katrin Korte. Der Arbeitsaufwand das Grundschullehramt müsste abgeschafft den dritten Stundenplan für das laufende für Konferenzen, Fortbildungen und Ver- werden. Zudem sollten die Gelder für un- Schuljahr vorlegen. „Es ist mittlerweile nicht waltungsaufgaben falle zusätzlich an und besetzte Stellen an die Schulen fließen, mehr ungewöhnlich, dass sich drei oder verteile sich meist auf wenige Schultern. fordert Katrin Korte. „Wir hätten damit vier Lehrkräfte um ein und dasselbe Fach Denn immer mehr Kolleg*innen seien nicht wenigstens die Möglichkeit, helfende Hände in einer Lerngruppe kümmern müssen. für die Grundschule ausgebildet oder nur aus anderen Professionen zu finden – Nur so können wir sicherstellen, dass der übergangsweise vor Ort. „Für das Kollegium sei es für den Offenen Ganztag, für das Unterricht überhaupt erteilt werden kann“, bedeutet das eine ständige Gratwanderung Sekretariat oder durch Krankenschwestern, sagt die 39-Jährige. Und das bringe eben zwischen Motivation und Resignation.“ die uns bei Corona-Tests und kleinen Un- immer wieder Veränderungen mit sich. Motivation einerseits, weil die Freude an fällen im Schulalltag unterstützen.“ // 26 Zusammenhalten
Gäbe es ihre Kolleg*innen nicht – Kirsten Der Blick von außen bringe zwar neue, Tietze hätte das ein oder andere Mal am oft wertvolle Perspektiven. Trotzdem mache liebsten hingeschmissen. „Ich bin sehr froh, sich die hohe Arbeitslast bemerkbar: „Man in meinem Team zu arbeiten: Wir passen muss sich immer wieder zugestehen: Es aufeinander auf und schauen, wie wir uns geht jetzt gerade nicht, mehr ist einfach gegenseitig entlasten können“, sagt die nicht drin.“ In solchen Situationen sei das Lehrerin der Hermann-Schmidt-Schule Wohl der Schüler*innen der entscheiden- in Paderborn. de Antrieb: „Wenn ich sehe, dass sie von Foto: privat Seit 16 Jahren ist Kirsten Tietze an der unserem Einsatz profitieren, gibt mir das Förderschule mit dem Förderschwerpunkt neuen Schwung. Genau deshalb habe ich Geistige Entwicklung beschäftigt. „Den meinen Beruf gewählt.“ KIRSTEN TIETZE Lehrkräftemangel gab es eigentlich im- mer“, berichtet die 44-Jährige. „Er ist mir Lehrer*innenberuf muss ist Förderschullehrerin und fordert, nur anfangs weniger aufgefallen, weil ich attraktiver werden den Beruf attraktiver zu machen. so damit beschäftigt war, im Schulalltag Doch was muss sich verändern, damit anzukommen.“ Inzwischen aber seien die diese Motivation auch in Zukunft bestehen Auswirkungen für alle deutlich spürbar. bleibt? Für Kirsten Tietze ist zunächst ein grundlegender Imagewandel notwendig. Vertretungskräfte können Arbeitslast „Unser Beruf muss attraktiv gemacht wer- nicht auffangen den. In der öffentlichen Meinung existiert „Früher waren wir in der Regel zu dritt in noch immer die Vorstellung, dass Lehrkräfte einer Klasse“, erinnert sie sich. „Heute kön- faul sind und die meiste Zeit Ferien haben.“ nen wir das längst nicht mehr flächende- Um den Wegfall des Zivildienstes zu kom- ckend ermöglichen – dafür fehlt einfach das pensieren, sei zudem ein verpflichtendes Personal.“ Immer mehr Unterrichtsstunden Sozialpraktikum denkbar – „damit junge müssten durch Vertretungskräfte abgedeckt Menschen eine Idee davon bekommen, werden. „Das können zum Beispiel Studie- was der Beruf überhaupt mit sich bringt“. rende oder Hauswirtschaftskräfte sein, die Daneben spielten aber auch die Besoldung zunächst einmal keine Qualifikation für und Karrierechancen eine Rolle. Denn für die Arbeit an einer Förderschule haben.“ manche sei es eben doch attraktiver, viel Damit einher gingen immer wieder neue Geld in der Wirtschaft zu verdienen, als sich Einarbeitungsphasen und Zusatzaufgaben Tag für Tag unter widrigen Umständen im für die fest angestellten Kolleg*innen. „Da Schulalltag bewähren zu müssen. // kann es dann vorkommen, dass man am Texte: Anne Petersohn Ende des Schuljahres alle Zeugnisse allein freie Journalistin verantwortlich schreiben muss“, berichtet Kirsten Tietze. Social Wall zur Kampagne #IhrFehlt für gute Schule gew-nrw.tiny.us/ihr-fehlt-kampagne 27
INSPIRIEREN Ideen und Impulse 28 – 38 / Bildung, Religion, Politik: Eine Frage des Glaubens?
1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland Miteinander statt übereinander reden #2021JLID – das steht für 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Dieses Festjahr geht im Sommer 2022 zu Ende, doch seine Botschaft bleibt: Das Judentum war und ist konstitutiv für unser Land. Höchste Zeit, es in all seinen Facetten besser kennenzulernen! Wir haben Anregungen für die pädagogische Praxis zusammengestellt. Im Jahr 2021 leben Jüdinnen*Juden nachweislich seit mindes- Natürlich muss das größte Menschheitsverbrechen weiterhin tens 1.700 Jahren auf dem Territorium des heutigen Deutschland. thematisiert werden, doch gilt es, keine Stereotypen zu repro- Das Datum 321 geht zurück auf ein Edikt des römischen Kaisers duzieren. Jüdinnen*Juden wollen keine Opfer sein, sondern ihre Konstantin, das besagt, dass jüdische Menschen städtische Gegenwart aktiv gestalten. Ämter in den Stadträten bekleiden durften und sollten – also „Die Geschichte des Judentums ist mehr als eine Ausgren- auch in Köln, woher die Anfrage kam. Es belegt, dass jüdische zungs-, Verfolgungs- und Opfergeschichte“, heißt es in der Gemeinden bereits seit der Spätantike integrativer Bestandteil gemeinsamen Erklärung des Zentralrats der Juden in Deutsch- der europäischen Kultur waren und sind. Das Judentum gehört land und der Kultusminister*innenkonferenz (KMK) von 2016 also nicht nur zu Deutschland, es war und ist konstitutiv für zur Vermittlung jüdischer Geschichte, Religion und Kultur in unser Land! der Schule. Sie zielt darauf ab, das Judentum in seiner Diversi- tät und Authentizität zu thematisieren, um ein lebendiges und Lebendige jüdische Gegenwart vermitteln differenziertes Bild zu vermitteln. Wie vielfältig jüdische Identi- Jüdisches Leben ist aber nicht nur von religiösen und kultu- täten sind, ist beispielsweise in der Videoclip-Reihe Jewersity rellen Traditionen geprägt, sondern zeichnet sich auch durch und den wöchentlichen Podcasts jüdischer Journalist*innen auf seine Vielfalt und Diskursfreudigkeit aus. Diese Vielseitigkeit www.2021jlid.de zu erleben. im Rahmen des aktuellen Festjahres sichtbar und erlebbar zu machen, ist eines der Ziele von #2021JLID. Zudem setzen über Fachlicher Input für Pädagog*innen 2.000 Veranstaltungen ein deutliches Zeichen gegen jegliche Viele Unterrichtsmaterialien vermitteln bislang jedoch einen Form von Antisemitismus – mit Konzerten, Lesungen, Ausstel- eher begrenzten Einblick ins jüdische Leben. Gleichzeitig sind lungen, Filmen, Podiumsdiskussionen und Bildungsprojekten. Schulen immer noch Orte, an denen antisemitische Inhalte nicht Gerade im schulischen Bereich wird jüdisches Leben häufig nur reproduziert, sondern sogar von Lehrkräften kommentar- auf die Shoah, Pogrome und Antisemitismus reduziert. Doch los gebilligt werden. Insofern verfehlen Schulen ihr Ziel, einen vor allem junge Jüdinnen*Juden wollen nicht permanent als sicheren Raum für jüdische Schüler*innen zu schaffen, und Überlebende, sondern als Lebende wahrgenommen werden. unterstützen damit antisemitische Haltungen. Doch wie kann >> 29
jüdisches Leben in seiner Diversität mit Schüler*in- nen thematisiert werden? Wie gelangen Kolleg*innen an entsprechende Unterrichtsmaterialien? Wo gibt EMPFEHLUNGEN DER es Expert*innen, die unterstützen? KULTUSMINISTERKONFERENZ Eine Vielzahl der bereits entstanden schulbezoge- nen Angebote sind kostenlos, digital und online auf Erinnern für die Zukunft www.2021jlid.de/bildung abrufbar. Zudem werden Empfehlungen zur Erinnerungskultur Best-Practice-Beispiele von ihren Entwickler*innen als Gegenstand historisch-politischer im Rahmen der Digitalen Impulse per Zoom vorgestellt Bildung in der Schule und anschließend im Bildungsportal hochgeladen. Da- tinyurl.com/kmk-erinnern bei handelt es sich etwa um Methodenkoffer, digitale Vermittlung jüdischer Geschichte, Ausstellungen, Filmmaterial oder auch Begegnungs- Religion und Kultur in der Schule angebote. Es ist großartig, wie viele Akteur*innen Gemeinsame Erklärung des Zentral- schon engagiert auf dem Weg sind! rats der Juden in Deutschland und der Kennenlernen auf Augenhöhe Kultusministerkonferenz Begegnungen zwischen jüdischen und nicht jüdi- tinyurl.com/kmk-juedische-geschichte schen Menschen im schulischen Kontext finden aber Umgang mit Antisemitismus auch analog statt – beispielsweise in Kooperation in der Schule mit Bildungspartner.NRW beim Fachtag Jüdisches Gemeinsame Empfehlung des Zentral- Leben in NRW, der am 8. Dezember in Düsseldorf rats der Juden in Deutschland, der stattfinden sollte, pandemiebedingt aber auf Mai/ Bund-Länder-Kommission der Anti- Juni 2022 verschoben wurde. Die über Jahrzehnte semitismusbeauftragten und der etablierte Kontakthypothese, nach der durch Begeg- Kultusministerkonferenz nung mit Menschen Vorurteile abgebaut werden, wird tinyurl.com/kmk-antisemitismus hier kritisch hinterfragt und das nötige didaktische und pädagogische Vor- und Nachbereiten von Be- gegnungspädagogik konstruktiv diskutiert werden. Workshops wie Meet a Jew, Jüdische Nachbarn oder Angebote der Synagogengemeinde Köln ermöglichen ein Kennenlernen auf Augenhöhe. Oder, um es noch einmal mit der gemeinsamen Erklärung von 2016 zu sagen: „Wer lernt, sich in die Perspektive eines anderen Menschen und seine kul- turelle und religiöse Orientierung zu versetzen, lernt Respekt und Wertschätzung.“ Das wünschen wir uns für dieses Festjahr und darüber hinaus. Wir freuen uns, wenn sich alle Mitglieder der Schulgemeinschaft mit offener Neugier auf diesen Perspektivwechsel einlassen. // Sylvia Löhrmann Staatsministerin a. D. und Generalsekretärin des Vereins 321-2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland mit Unterstützung der #2021JLID-Fachberater*innen Julia.Hendrich.ext@2021JLID.de und Felix.Bjerke.ext@2021JLID.de 30 Inspirieren / Thema
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