Geht da was? noch - Bundeszentrale für politische Bildung

Die Seite wird erstellt Justin Strobel
 
WEITER LESEN
Geht da was? noch - Bundeszentrale für politische Bildung
Winter 2021–2022 / Nr. 81

                                                    Geht da
                                                        noch
                                                      was?
Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung

                                                      Thema   Klasse
Geht da was? noch - Bundeszentrale für politische Bildung
Wo

                                 wir
                                 stehen
Klamotten, Sprache, Ansehen:
                                      Foto: Amina Falah

Klasse macht sich an vielem
fest. Zu einem großen Teil auch
am Geld, das man hat – oder
eben nicht. Wie Einkommen
und Vermögen in unserem Land
verteilt sind, kannst du in diesem
Dossier sehen: bpb.de/verteilung
Geht da was? noch - Bundeszentrale für politische Bildung
Editorial

Milieu, Schicht, Klasse – der Streit
um die soziale Ordnung nimmt
bei uns an Fahrt auf, auch weil der
Zusammenhalt in der Gesellschaft
fragwürdig geworden ist.
      Im eigentlich faszinierenden
Kaleidoskop der Lebensentwürfe
und Erfahrungen werden Muster
erkennbar, die zunehmende Span­
nungen und ungleiche Macht­
verhältnisse anzeigen. Sie behin­
dern die Entfaltungsmöglichkeiten
vieler Menschen. Kurz gesagt:
Klasse existiert, wenn sie nicht
überwunden werden kann. Die
Balance des Sozialen ist gefährdet.
Die Dynamiken der Entwicklung
in Wirtschaft und Gesellschaft
passen nicht mehr recht zusammen.
      In den westlichen Demokratien gilt das Versprechen, dass           Überall in der Welt kämpfen soziale Be­
                                                                                                               wegungen
ein Aufstieg durch Leistung für alle möglich sein soll. Dabei            für mehr Gleichheit: Unser Bild zeigt An­
                                                                                                                 gehörige der
gibt es eine Garantie zur Solidarität, wie sie bei uns als Gleich­       mexikanischen Zapatistas. Die aus dem armen Bundes­
wertigkeit der Lebensverhältnisse im Grundgesetz verbrieft ist.          staat Chiapas stammende Organisation kämpfte früher
      Das öffentliche Selbstbild der Gesellschaft ist in Deutsch­        mit Waffengewalt, unter anderem für mehr Rechte
land immer noch eines der Mitte. Immerhin gibt es diese                  der Indigenen und gegen eine neoliberale Wirtschafts­
Mitte als zahlenmäßig größte Schicht. Aber sie ist heterogen             politik. Heute geschieht das mit friedlichen Mitteln
und in Bewegung. So gehören gut verdienende Akademiker
dazu, aber auch große Teile des Pflegepersonals – sie unter­
scheidet also einiges, nicht zuletzt ihr Einkommen und die
Anerkennung. Gerade der untere Teil der Mittelschicht ist                Die soziale Dimension wird in den laufenden Debatten zu­
ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft. Ohne diesen läuft               nehmend deutlicher: Kann der Zusammenhalt weiter gelingen
wenig, das hat die Pandemie noch deutlicher gemacht. Aber                und die Gesellschaft gerechter werden? Wie nutzen wir den
was hat diese Gruppe davon?                                              technischen Fortschritt, die Revolutionen der Digitalisierung
     Wenn Kinder ein Armutsrisiko sind, Bildungswege von                 und den grundlegenden Wechsel zu mehr Nachhaltigkeit und
der Herkunft bestimmt werden, die Lebenserwartung vom                    Klimagerechtigkeit für eine neue Ordnung des Gemeinsamen?
sozialen Status abhängt, dann kann etwas nicht stimmen.                       Es kann noch grimmiger werden, wenn es einfach so
Wenn es nicht gelingt, den Unterschied zwischen Reich und                weiterläuft wie bisher. Hoffnung macht der Protest aus unter­
Arm besser auszugleichen, und zudem Millionen in prekären                schiedlichsten Schichten und politischen Lagern. Hier wird
Verhältnissen arbeiten, fällt die Gesellschaft weiter ausein­            um Lösungen gerungen, wie unsere Gesellschaft wieder so­
ander. Dazu trägt auch bei, dass sich Vermögen in immer                  lidarischer werden kann. Sie alle eint der Wille zur Verände­
weniger Händen konzentriert und es viele Menschen nicht                  rung und das politische Wissen: Da geht noch was.
schaffen werden, sich vor Altersarmut zu schützen. Was hält
die Gesellschaft für viele dann noch zusammen, wenn Angst
und Ignoranz zunehmen?                                                                                             Thorsten Schilling

                                                                     3
Geht da was? noch - Bundeszentrale für politische Bildung
Inhalt                     All people are equal! Zumindest
                           wenn es ums Abo geht. Das ist für
                           alle gratis: www.fluter.de/abo

 6    Aufwärts und abwärts
      Die einen haben Angst vor
      der Armut, die anderen davor,
      die falschen Klamotten zu                                                                                     22
      tragen. Ein klasse Interview

 10 Was uns krank macht
      In Deutschland hängt die           22 Wohin geht die Fahrt?            34 Klassen-Arbeit
      Lebenserwartung sehr vom               Die Mittelklasse in Kenia           Bildungschancen sind immer
      sozialen Status ab                     ist größer geworden.                noch stark von der Herkunft
                                             Viele Menschen sind trotzdem        abhängig. Es könnte anders sein
 12   Der Traum vom besseren Leben           nur einen Schritt von der
      Als Türkinnen in Deutschland           Armut entfernt                  36 93
      hatten viele Frauen keine guten                                            Eine klassenbewusste Foto­-
      Startbedingungen                   24 Hartz, aber herzlich                 reportage aus einer Banlieue in
                                             Wie arbeitslose Menschen            Frankreich
 16   Sag mal!                               mehr Sicherheit bekommen
      Du bist, wie du sprichst: Auch         könnten                         40 Aber sie trug doch so oft Gucci!
      in der Sprache spiegelt sich                                               Wie ein Mädchen aus Eschweiler
      Klassenzugehörigkeit wider         26 Eine Karte der Gesellschaft          die New Yorker Society reinlegte
                                             Wo stehst du eigentlich?
 17   Zum Heulen                             Auf unserem Schaubild kannst    42 Hoch hinaus
      In Deutschland haben es allein-        du sehen, wonach sich Klassen       Für manche Rapper ist Geld
      erziehende Mütter nicht leicht         und Milieus einteilen lassen        megawichtig, andere sind cooler

 18 Eure Wut ist so herrlich             28 Welcher Rolls-Royce?             44 Was aus uns werden kann
    authentisch                              Viele Superreiche sprechen          Für den IS gab es nur Gläubige
      Manche finden Nürnberg-                ungern über ihren Besitz.           und Ungläubige. Die syrische
      Gostenhof gentrifiziert –              Ein paar Informationen gibt         Stadt Rakka versucht sich davon
      andere nur schöner als früher          es aber                             zu erholen

 21 Marx und mehr                        30 Immer diese Privilegien          47 „Ich wisch euren
      Wo kommt der Begriff Klasse            Luisa erzählt von ihrer Zeit       Opas den Po ab“
                                                                                                                         fluter Nr. 81, Thema: Klasse

      eigentlich her?                        auf einem Eliteinternat             Ohne sie geht nix – und dennoch
                                                                                 bekommt sie kaum Anerkennung.
                                         31 Guck mal, wie arm!                   Eine Pflegerin erzählt
                                  18
                                             Im Fernsehen lacht man
                                             immer noch gern über sozial     48 Ach du je, ein Sachse
                                             Benachteiligte                      Auch über 30 Jahre nach der
                                                                                 Wende fühlen sich viele
                                         32 Nicht eure Affen                     Ost­deutsche als Bürger und
                                             Beim Lieferdienst Gorillas          Bür­gerinnen zweiter Klasse
                                             begehren die Fahrer
                                             und Fahrerinnen auf             50 Impressum & Vorschau

                                                          4
Geht da was? noch - Bundeszentrale für politische Bildung
Nicht nur
                             bei den Einkommen, auch
                        bei den Vermögen zeigt sich die
                           soziale Ungleichheit: Viele
                      ärmere Menschen geben ihr geringes
                  Einkommen komplett für Lebensmittel, Miete
                  und Heizung aus, ohne die Chance auf Wohn­
                eigentum. Dabei ist der Wert von Immobilien –
                   wie der von Aktien – in den vergangenen
                   Jahren stark gestiegen, was auch mit den
                  niedrigen Zinsen zu tun hat. Investitionen

Geht aufs
                in Immobilien sind lukrativer als Sparkonten.
                     Auch durch die Mittelschicht verläuft
                      die Trennlinie aufgrund von Besitz:
                      Wer gut verdient, aber kein Vermögen

 Haus
                          hat, kann schneller absteigen
                             als Menschen, die etwas
                                    besitzen.

            5
Geht da was? noch - Bundeszentrale für politische Bildung
Aufwärts
          Interview von Oliver Gehrs
          Fotos: Jana Sophia Nolle

und                               fluter Nr. 81, Thema: Klasse

abwärts
    6
Geht da was? noch - Bundeszentrale für politische Bildung
Jahrelang dachte man, es ginge
                                                           für alle aufwärts, aber das hat
                                                           sich inzwischen als Trugschluss
      fluter: Der Begriff „Klasse“ klingt ein
                                                           erwiesen. Aufwärts geht’s vor allem
      bisschen veraltet, nach Klassenkampf und
      Kommunismus. Wie kommt das?
                                                           mit der Zahl der Armen und dem
Andreas Reckwitz: Bei Karl Marx, der den Klassen­          Vermögen der Reichen. Und dann
begriff entscheidend geprägt hat, hängt die Zugehörig­
keit zu einer Klasse vom Verhältnis des Menschen zu        tobt auch noch in der Mitte ein
den Produktionsmitteln ab. Da gibt es auf der einen
Seite die Kapitalisten, denen Produktionsmittel wie        Kulturkampf zwischen modernen
Maschinen gehören, und auf der anderen Seite das
Proletariat mit seiner Arbeitskraft. Das machte damals
                                                           und konservativen Menschen.
im 19. Jahrhundert auch Sinn, hat aber im Laufe des
20. Jahrhunderts an Glaubwürdigkeit verloren.
                                                           Ein Gespräch mit dem Soziologen
      Aber heute ist der Klassenbegriff wieder
                                                           Andreas Reckwitz*
      in aller Munde. Warum?
Wenn man heute von Klasse spricht, geht es nicht nur um                    Früher gab es die Vorstellung von einer
ökonomische Fragen, sondern auch um verschiedene Lebens­                   „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ – das heißt,
stile und symbolisches Prestige. In der Soziologie ist seit den             dass alle am wachsenden Wohlstand teilhaben
1980er-Jahren der Klassenbegriff kaum mehr verwendet                        und es im Grunde keine großen Unterschiede gibt.
worden. Man erkannte vielmehr eine Individualisierung und                  War das Selbstbetrug?
Pluralisierung der Lebensstile. Diese erschienen im Prinzip           Von den 1950er-Jahren bis in die 1970er-Jahre stimmte das
gleichberechtigt.                                                     mit Abstrichen. Es gab selbstverständlich keine totale sozia­
                                                                      le Gleichheit, aber die materiellen Unterschiede waren weni­
     Davon kann man heute nicht mehr sprechen.                        ger stark und auch weniger sichtbar als heute. Auto, passa­ble
     Der Lebensstil von Ärmeren wird oft abgewertet.                  Wohnung oder Haus, Jahresurlaub – das Mittelschichtsleben
     Für die Ausgrenzung wegen der sozialen                           der damaligen Zeit wurde fast allen geboten. Der Soziologe
     Herkunft gibt es den Begriff „Klassismus“.                       Ulrich Beck hat dafür das Bild vom Aufzug benutzt, in dem
Man sieht heute, dass es eben nicht nur Diskriminierung               alle nach oben fahren. In der damaligen klassischen Mittel­
aufgrund der Hautfarbe, der sexuellen Orientierung oder des           standsgesellschaft sind tatsächlich viele nach oben gefahren,
Geschlechts gibt, sondern auch aufgrund des Lebensstils und           wenn man sich die Einkommen anschaut und die Optionen,
seines sozial-kulturellen Status. Es kommt zum Beispiel               die sich dadurch ergaben. Aber auch im Aufzug gab es natür­
häufig vor, dass Menschen aus der sogenannten Unterschicht            lich soziale Unterschiede, nicht alle fahren in derselben
in den Medien als defizitär dargestellt werden, als Menschen,         Etage los. Hinzu kommt: Die Mittelstandsgesellschaft war
denen angeblich Kompetenzen fehlen. Plakativ gesagt: die              auch kulturell recht homogen und nivelliert. Natürlich gab
sich nicht um ihre Kinder kümmern können, die Chips essend            es politische Differenzen, aber deutliche kulturelle Unter­
auf dem Sofa sitzen, anstatt sich zu bewegen.                         schiede der Werte und Alltagspraktiken zeigen die Milieu­
                                                                      studien erst seit den 1980er-Jahren.
      Warum hat das Versprechen der Bildungs­gerechtigkeit
      eigentlich nicht für alle funktioniert?                              Es gibt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler,
 Es gibt in der Gesellschaft eine Kluft zwischen Bildungsge­               die inzwischen von einer Abstiegsgesellschaft sprechen.
 winnern und Bildungsverlierern. Das Abitur und der Hoch­                  Beschreibt das die heutige Situation besser?
 schulabschluss sind fast zu einer neuen Norm geworden. Wer           Dass es einen gesamtgesellschaftlichen Abstieg quasi für alle
„nur“ Mittlere Reife oder einen Hauptschulabschluss hat,              gibt, sehe ich nicht. Es gibt vielmehr eine Gleichzeitigkeit
 nimmt sich häufig als Verlierer wahr. Gleichzeitig hat die           von Ab- und Aufstieg. Gerade das ist aber besonders brisant.
Anzahl der Akademikerhaushalte zugenommen. Mehr Bil­                  Wir befinden uns nicht mehr in einem gewöhnlichen Fahr­
 dungschancen und Aufstiegschancen zu schaffen ist zweifel­           stuhl, sondern in einem Paternoster, in dem es gleichzeitig
 los immer gut. Das löst aber nicht das Problem des häufig            für manche aufwärts- und für andere abwärtsgeht.
 mangelnden gesellschaftlichen Ansehens von jenen, die in
 der service class beschäftigt sind. Das sind die, die schlecht            Wer fährt denn gerade nach oben?
 bezahlte Dienstleistungen erbringen. Für die Gesellschaft            Neben der neuen Oberklasse mit ihrem hohen Vermögen ist
 ergibt sich das Problem, dass sie am Ende nichtakademische           das jene neue Mittelklasse, die durch die Akademisierung
 Tätigkeiten, die auch gesellschaftlich nötig sind, nicht mehr        an kulturellem Kapital, an Bildungskapital gewonnen hat.
 besetzen kann. Wenn diese Tätigkeiten aber gesellschaftlich          Wenn man in zukunftsorientierten Berufen der Wissensöko­
 defizitär erscheinen, als Berufe von Menschen, die „es nicht         nomie arbeitet, kann man sich als Teil des Modernisierungs­
 geschafft haben“ im Leben, ist das kein Wunder.                      prozesses sehen. Häufig lebt man hier auch in den Metropol­

                                                                  7
Geht da was? noch - Bundeszentrale für politische Bildung
regionen, die prosperieren. „Nach oben fahren“ heißt in                       „Ich bin Bergmann, wer ist mehr?“
dieser Gruppe übrigens nicht, dass man im historischen                         So hieß es früher, worin sich das Selbstbewusstsein
Vergleich unbedingt an Einkommen gewonnen hat.                                 der Arbeiterschaft ausdrückte. Wo ist dieser
                                                                              Arbeiterstolz geblieben?
      Gibt es in der Mitte auch Verlierer?                               Das Proletariat hatte sich im Laufe der Zeit politisch organisiert
Der traditionellen oder alten Mittelklasse geht es materiell             und ein großes Selbstbewusstsein entwickelt. Viele sind auch
häufig noch recht gut. Aber man sieht sich kulturell und in              aufgrund der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften in die
den Zukunftsaussichten häufig in der Defensive: Die Digita­              Mittelklasse aufgestiegen. „Wir sind das Fundament der Ge­
lisierung und der Ausstieg aus fossilen Rohstoffen bedrohen              sellschaft, ohne uns läuft hier nix“ – diese Gewissheit ist durch
manche Berufe. Jenseits der Metropolregionen dünnt sich                  die Entindustrialisierung in den westlichen Gesellschaften
das öffentliche Leben häufig aus. Die jungen Akademiker                  verschwunden. Drei Viertel der Arbeitsplätze sind heute im
ziehen zum Teil von dort weg. Traditionelle Mittelschichts­              Dienstleistungssektor angesiedelt, ein Teil davon ist die Wissens­
werte wie die klassische Familie, Disziplin oder auch Heimat­            ökonomie der Hochqualifizierten, ein anderer aber eben die
verbundenheit sind heute keine unstrittigen gesellschaftlichen           service class. Sie hat nicht an das Selbstbewusstsein der früheren
Werte mehr, sodass man Einflussverluste erleidet. Man spürt,             Arbeiterklasse angeschlossen. Wenn es unter ihnen ein Klassen­
dass das Wertesystem, für das man steht, nicht mehr modern               bewusstsein gibt, ist es eher ein negatives. Man gehört zu den
ist. Das Ergebnis kann Verbitterung sein.                                Marginalisierten, macht die Drecksarbeit und wünscht seinen
                                                                         Kindern, dass sie aus der eigenen Klasse aufsteigen.
     Wie kann Politik da versöhnend wirken?
Die Politik kann da nur begrenzt agieren. Die Veränderungen                    Ist das Selbstbewusstsein dieser unterschätzten
der Sozialstruktur und der Alltagskultur sind ja Prozesse, die                 Arbeitskräfte während der Corona-Pan­demie
seit Jahrzehnten stattfinden und mit Entindustrialisierung,                    gestiegen?
Wertewandel und Bildungsexpansion zu tun haben. Das kann                 Vielleicht ändert sich da gerade was. Wenn man sich den
man nicht einfach zurückdrehen. Industriejobs verschwinden,              Pflegebereich anschaut, merken die Menschen dort, wie wich­
Akademiker werden mehr, Wissen wird wichtiger, die Gesell­               tig sie für die Gesellschaft sind.
schaft liberaler. Aber natürlich kann man politisch versuchen,
an bestimmten Stellschrauben zu drehen.                                       Ein Beispiel dafür ist auch der Streik an der Charité.
                                                                         Möglicherweise ist das bezeichnend. Es kann aber auch sein,
     Lassen Sie uns über den Niedriglohnsektor                           dass der Markt für mehr Anerkennung und höhere Löhne sorgt.
      sprechen. Hat die Coronapandemie dazu beige­tragen,                In England sieht man, was ohne Lkw-Fahrer passiert, die man
     Menschen ins Licht zu rücken, die für wenig Geld                    nun dringend sucht. Da steigen auch die Löhne.
     wichtige Jobs erledigen?
Der Niedriglohnsektor ist ein Be­
reich, in dem die Politik tatsächlich                                                                           Die Mittelschicht in
                                                 19 9 5              2 0 18
wirken kann. Vielleicht war die Pan­                                                                            Deutschland ist brüchig:
demie da für manche ein Augen­                6   Obere Einkommensschicht              7     %
öffner: Man hat gesehen, dass es                              +1

ohne die Menschen, die in der service        11      Obere Mittelschicht              11                        Zwischen 1995 und 2018
class körperlich arbeiten, gar nicht                         ±0                                                 sank der Anteil derjenigen,
geht. Ohne die Pflegerinnen, die                                                                                die zur Mitte ge­
                                                                                                                                hören, von
rund um die Uhr arbeiten, die Lkw-                                                                              70 Prozent auf nur noch
Fahrer, die Regalbefüller. Man hat                                                                              64 Prozent. Davon sind fünf
                                                                                             M ITTE LSCH ICHT

gemerkt, wie notwendig sie für das          33     Mittlere Mittelschicht             32
                                                                                                                Prozent in die untere Ein­
Funktionieren der Gesellschaft sind.                          -1                                                kommensschicht ab­­gestiegen.
                                                                                                                Das ist das Ergebnis einer
      Aber außer Applaus haben                                                                                  Studie der OECD und der
      sie nichts bekommen …                                                                                     Bertelsmann Stiftung. Die
Vielleicht kommt da ja noch mehr.                                                                               Forscher zählen zum Bei­
                                                                                                                                                Quelle: Bertelsmann Stiftung

Die Erhöhung des Mindestlohns                                                                                   spiel Paare mit zwei Kin­
oder auch Verhandlungen im Pfle­              26     Untere Mittelschicht             21                        dern zur breiten Mitte, die
gebereich stehen ja an. Ein Problem                              5
                                                                 -
                                                                                                                monatlich zwischen 3.000
ist, dass dieses Dienstleistungspro­                                                                            und 8.000 Euro zur Verfü­
letariat politisch nicht so artikuliert                                                                         gung haben. Be­
                                                                                                                              sonders junge
ist und keinen Druck ausübt. Dabei                                                                              Menschen haben zu­ nehmend
sind sie eigentlich die Erben der                                                                               Probleme, nach ihrer Aus­
Arbeiterschaft von gestern, das               24   Untere Einkommensschicht           29                        bildung in der Mittel­
heißt: die Erben der einstmals gro­                              +   5                                          schicht zu landen. Ihr An­
ßen Gruppe, die von körperlicher                                                                                teil an der Mitte sank um
Arbeit lebte.                                                                                                   zehn Prozent.

                                                                 8
Geht da was? noch - Bundeszentrale für politische Bildung
In den USA ist die Ge-                   zwischen neuer Mittel- und Ober­
                                                   fahr, aus der Mittelschicht              klasse durchaus Gemeinsamkeiten,
                                                   abzusteigen, ziemlich                    aber die finanziellen Möglichkeiten
                                                   groß – unter anderem, weil               sind eben andere.
                                                   soziale Sicherungssysteme
                                                   wie in Deutschland fehlen.              Wie kommt es eigentlich, dass
                                                   In San Fran­cisco kostet                Unterschichts­merkmale wie
                                                   zudem eine Einzimmerwoh-                Tätowierungen oder Jogginghosen
                                                   nung schon mal 3.000 Dollar              von höheren Schichten über­
                                                   im Monat – auch, weil hier               nommen werden?
                                                   viele gut ver­dienende                   Es gibt in der neuen Mittelklasse und
                                                   Mitarbeiter der Tech­firmen              der neuen Oberklasse – durchaus im
                                                   im Silicon Valley wohnen.                Gegensatz zur alten Mittelklasse und
                                                   Die Bilder der deutschen                 alten Oberklasse – eine Tendenz zur
                                                   Fotografin Jana Sophia                   Informalisierung, zum Unprätentiö­
                                                   Nolle zeigen Menschen,                   sen. An der Oberfläche scheinen sich
                                                   die vor Kurzem noch Arbeit               die Klassendifferenzen so aufzulösen.
                                                   und Wohnung hatten –                    Aber natürlich ist das nur die Ober­
                                                   und nun ein Leben auf der                fläche. Man ist hier ja nicht auf Adi­
                                                   Straße beginnen müssen                   letten, Rap und Tattoos festgelegt.
                                                                                            Die Mitglieder der modernen Mittel­
                                                                                            klasse oder der Oberklasse haben
                                                                                           vielmehr meist ein breiteres kultu­
     Die Unterklasse hat sich verändert, die Mittel­klasse         relles Repertoire: Man schaut Netflix-Serien, kann aber auch
     hat sich aufgeteilt, aber auch die Oberklasse ist nicht       über Literatur reden oder ins klassische Konzert gehen. Man
     mehr die von früher. Statt Vermögen, die über                 trägt Jeans und Sneakers, blamiert sich aber beim formalen
     lange Zeit erwirtschaftet werden, gibt es mittlerweile        Dinner nicht. Die Unterklasse hat dieses Repertoire nicht,
     viele Superreiche, die in kurzer Zeit über Start-ups          so könnte man urteilen. Und damit wären wir wieder beim
     oder Börsengewinne aufsteigen.                                Thema Klassismus …
Analog zur Mittelklasse gibt es auch eine alte und eine neue
Oberklasse. In der neuen Oberklasse gibt es oft ein extrem              Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer
hohes Arbeitseinkommen, mit dem sich dann zugleich ein                  weiter auseinander. In den USA hat das oberste eine
entsprechendes Vermögen aufbauen lässt. Gerade im Start-                Prozent mehr Vermögen als die 60 Prozent, die als
up-Bereich spielt dann auch gesellschaftliches Engagement               Mittelklasse eingestuft werden. Weltweit hat die
eine Rolle.                                                             Zahl der Milliardäre im vergangenen Jahr deutlich
                                                                        zugenommen. Was passiert in einer Gesellschaft, in
     Wenn früher jemand mit Flip-Flops und kurzen Hosen                 der die einen immer reicher werden und die anderen
     in ein Nobelhotel gekommen wäre, hätte man ihn                     zunehmend Abstiegsängste haben?
     vermutlich rausgeschmissen. Heute denkt das Personal          Ich denke, dass es auf zwei Ebenen ein Legitimationsproblem
     schon mal, dass es ein IT-Milliardär sein muss.               mit dem sehr hohen Reichtum geben kann: Wenn Reiche dank
Der Lebensstil der neuen Oberklasse orientiert sich offenbar       ihres Vermögens politisch enorm einflussreich werden wie
nicht mehr so einfach an den Statussymbolen von gestern.           zum Beispiel in den USA, dann unterminiert das den demo­
Die Gesundheit, der Körper, die psychische Ausgeglichenheit        kratischen Prozess. Und wenn das Vermögen vor allem durch
können dann zu wichtigeren Zielen werden. Auch das kann            Erbschaft zustande kommt oder durch Gewinne auf dem
einiges ökonomisches Kapital erfordern.                            Finanzmarkt, dann widerspricht das dem modernen Leistungs­
                                                                   ethos, dem zufolge sich Einkommen und Status ja aus der
     Sie meinen: Man kann eine Ayurveda-Kur                        eigenen Arbeitsleistung ergeben sollen. Wenn sich in der
     für 1.000, aber auch für 20.000 Euro machen?                  Gesellschaft der Eindruck festsetzt, dass dies nicht mehr un­
Zum Beispiel. Gerade physische und psychische Assistenz –          bedingt zählt, dann ist das zweifellos ein Problem.
Personal Trainer, Coaches, Therapeutinnen –, überhaupt die
Inanspruchnahme hochqualifizierter Dienste, kann sehr
kostspielig sein. Dienste – zum Beispiel auch Privatschulen        *Unser Gesprächspartner
oder -universitäten, private Ärzte – werden hier teilweise         gehört eindeutig der Klasse
wichtiger als materielle Güter. Wobei das Interessante ist,        der Intellektuellen an. Er
dass kulturelle Innovationen wie gesunde Ernährung, Selbst­        ist Professor an der Hum­
erfahrungen oder bestimmte Kleidungsstile eher aus dem             boldt-Uni Berlin und hat
jungen kreativen, urbanen Mittelstandsmilieu kommen und            u. a. das Buch „Das Ende
von der Oberklasse übernommen und ins Luxuriöse weiter­            der Illusionen“ geschrieben
entwickelt werden. Auf der kulturellen Ebene gibt es also          (Suhrkamp Verlag)

                                                               9
Geht da was? noch - Bundeszentrale für politische Bildung
Was                                                Krankenhaus, die Todesrate war doppelt
                                                   so hoch wie beim Rest der Bevölkerung.
                                                  „Wir müssen Sterben und Krankheit als
                                                   etwas anerkennen, das in weiten Teilen
                                                   gesellschaftlich verursacht ist, das uns
                                                   nicht einfach zustößt“, sagt die Leitung
                                                   des Zentrums für Interdisziplinäre
                                                                                                Lebenswelt der Menschen eintauchen.
                                                                                                Rauchern fehlt es ja nicht an Wissen
                                                                                                über die Giftstoffe in einer Zigarette.“
                                                                                                     Irreführend ist die Betonung eines
                                                                                                vermeintlich ungesunden Lebensstils
                                                                                                auch deswegen, weil es entscheidende
                                                                                                Faktoren, wie gesundheitsgefährdende
                                                   Frauen- und Geschlechterforschung an         Wohn- und Arbeitsorte, höhere Unfall­
                                                   der TU Berlin, Sabine Hark.                  risiken, Ungleichbehandlung im Ge­
                                                          Der Zusammenhang zwischen             sundheitssystem, Existenzängste oder
                                                   Klassenzugehörigkeit und Gesundheit          Diskriminierungserfahrungen, in den
                                                   ist in einer Vielzahl bedeutender Studien    Hintergrund drängt.
Von Selmar Schülein                                nachgewiesen, die zu eindeutigen Er­              Darum setzt sich in der Forschung
Illustration: Wolfgang Wiler                       gebnissen kommen: So verlängert ein          zunehmend die Erkenntnis durch, dass
                                                   Abizeugnis das Leben gleich um meh­          man für eine gerechter verteilte Lebens­
                                                   rere Jahre. Wer in Stadtteilen mit Sozial­   erwartung nicht am individuellen Ver­

                                                                                       krank
     Es ist eine leise Katastrophe, die trotz      bauten wohnt, lebt im Schnitt
     guter Datenlage fast unsichtbar ist. Die      zehn Jahre kürzer als jemand
     Lebenszeit, die ein Mensch in Deutsch­        aus einem wohlhabenden Be­
     land zur Verfügung hat, ist abhängig          zirk. Oft sind ärmere Men­
     von der sozialen Klasse: Menschen, die        schen im Beruf – von der
     körperlich arbeiten, sterben in Deutsch­      Fabrikarbeit bis zum Bergbau
     land durchschnittlich über vier Jahre        – erheblichen Gesundheitsri­

                                                                                       macht
     früher als Beamte und Beamtinnen.             siken ausgesetzt und wohnen
     Kassenpatienten erwartet ein deutlich         in Ballungsgebieten mit deut­
     kürzeres Leben als Privatversicherte,         lich stärkerer Luftverschmut­
     und das gesundheitliche Wohl könnte           zung und Lärmbelastung.
     zwischen über- und unterdurchschnitt­         Beides sind Faktoren, die die
     lich verdienenden Menschen kaum               Gesundheit nachweislich
     unterschiedlicher sein. Arme Männer           nega­tiv beeinflussen.
     in Deutschland haben eine über 14 Jah­              „Es ist eine Ungleichheit,
     re kürzere beschwerdefreie Lebens­            die, in gewisser Weise un­
     erwartung als jene, die das Anderthalb­       sichtbar, fast ein gesellschaftliches Tabu   halten, sondern an den Verhältnissen
     fache des Durchschnitts verdienen. Im         ist. Wir haben nicht einmal einen rich­      selbst ansetzen müsste. Das betrifft
     Jahr 2019 galt ein Mensch als arm, der        tigen Begriff dafür, während die Be­         auch den Zugang zu medizinischer Ver­
     nicht mehr als 1.074 Euro im Monat            zeichnung vital inequality im Englischen     sorgung. Während man früher davon
     zum Leben hatte.                              zumindest sachlich treffender ist“, sagt     ausging, dass medizinisch-technologi­
          Die Coronapandemie hat diese             Silke van Dyk, Soziologin mit Schwer­        sche Fortschritte allen zugutekommen,
     existenzielle Benachteiligung in zahl­        punkt Demografie und Ungleichheits­          gilt es mittlerweile als bewiesen, dass
     reichen Ländern sichtbar gemacht, denn        forschung, und weist da­rauf hin, dass       gut vernetzte und besser gebildete Men­
     das Virus trifft nicht alle sozialen Klas­    die Betroffenen oft selbst verantwortlich    schen sich stets früher und leichter
     sen gleichermaßen. Ärmere und sozial          gemacht oder sogar stigmatisiert wür­        Zugang zu neuen Gesundheitsleistungen
     benachteiligte Menschen tragen ein            den. So werde die geringere Lebens­          verschaffen können. Ein weiteres Bei­
     deutlich höheres Risiko für schwere           erwartung in öffentlichen Debatten           spiel für handfeste Unterschiede zwi­
     Krankheitsverläufe und hatten in              sehr stark auf gesundheitsschädigendes       schen den sozialen Klassen ist das
     Deutschland im vergangenen Winter             Verhalten ärmerer Personen zurück­           Rentensystem. Für alle Menschen gilt
     eine bis zu 70 Prozent höhere Sterblich­      geführt. Das Klischee von der ketten­        ein gemeinsames Eintrittsalter, obwohl
     keitsrate bei einer Covid-19-Infektion.       rauchenden, Chips essenden Couch-            viele Berufe körperlich so anstrengend
                                                                                                                                           fluter Nr. 81, Thema: Klasse

     Besonders in den USA traf das Virus           Potato im Plattenbau ist weit verbreitet.    sind, dass eine deutlich kürzere Lebens­
     die ärmere – und oft nichtweiße – Be­                Dabei ist ungesundes Essverhalten     erwartung belegt ist. Silke van Dyk
     völkerung deutlich stärker. Diese Men­        nicht das Produkt mangelnder Selbst­         nennt das eine „substanzielle Umver­
     schen kamen fast dreimal so oft ins           kontrolle. Darum greife es auch zu kurz,     teilung von unten nach oben. Früh

uns
                                                   dieses Problem mit Aufklärungskam­           Sterbende finanzieren die Renten der
                                                   pagnen und Wissensvermittlung über           Besserverdienenden“. In Studien wird
                                                   gesundes Verhalten beheben zu wollen,        darum die Möglichkeit von Ausnahmen
                                                   meint der Bildungsforscher Werner            diskutiert. Bereits heute dürfen Men­
                                                   Friedrichs von der Universität Bamberg.      schen, die langjährig im Bergbau be­
                                                  „Wir müssen von der Oberfläche der            schäftigt waren, ihre Rente in Deutsch­
                                                   Sozialstatistiken in die ganz konkrete       land schon mit 60 Jahren antreten.

                                                                      10
Anstrengender Job,
Existenzangst, schlechte
Wohnverhältnisse:
Das alles hat Einfluss
auf die Länge des Lebens.
Über die existenziellste Form
sozialer Ungleichheit

                                Rauchen, trinken,
                                vor der Glotze hängen:
                                Wer so lebt, ist selbst
                                schuld, wenn er krank
                                wird. So denken viele,
                                dabei ist die Wahrheit
                                viel komplexer

                          11
fluter Nr. 81, Thema: Klasse

                                     12
Der
Traum

      vom
 besseren
    Leben                                Von Houssam Hamade

Vor 60 Jahren wurde mit der Türkei das sogenannte
Anwerbeabkommen geschlossen. Es waren auch Frauen
unter den fast 900.000 Menschen, die damals zum
Arbeiten nach Deutschland kamen. Sie hatten es
oft doppelt schwer, in der neuen Heimat aufzusteigen
                           13
Yeter Kılıç:                                                       Kleidungsstücke wir pro Person aussuchen durften“, sagt
                                                                       Yeter Kılıç’ Tochter Ülkü. Dazu kam der Fischgestank vom
    „Wie eine lebende Leiche“                                          Krabbenpulen – ein Nebenerwerb, dem fast alle Kinder in
                                                                       der Nachbarschaft zusammen mit ihren Müttern nachgingen.
Yeter Kılıç’ Vorname heißt auf Türkisch „Es reicht“. Den               Dabei wurden die Krabben in großen Säcken angeliefert,
 habe sie bekommen, weil sie das zehnte Kind war – und es              anschließend auf einer Folie auf dem Boden im Wohnzimmer
 ihren Eltern nun eben reichte. Kılıç’ Familie stammt aus              ausgebreitet und dort geschält.
Anatolien. Sie waren arme Bauern, ihr Vater musste zusätz­                   Für Yeter Kılıç war immer klar, dass ihre Kinder stu­
 lich ab und zu in den Nachbardörfern als Friseur arbeiten             dieren sollten. „Meine Mutter sah dazu keine Alternative.
 und bekam dafür am Jahresende einen Eimer Getreide.                   Es hieß immer: Entweder studierst du, oder du wirst so wie
       Trotz guter Noten verließ Yeter Kılıç nach der fünften          ich im Fischereihafen landen“, erzählt Ülkü. „Abitur zu
 Klasse die Schule, als Frau war für sie eine Rolle im Haushalt        machen und außerhalb von Bremerhaven zu studieren war
 vorgesehen. „So wurde mir meine Zukunft genommen“, sagt               mein Schlüssel zur Freiheit.“ Anders als vielen anderen
Yeter Kılıç heute. Die Zukunft, die suchte sie dann in Al­             Arbeiterkindern fiel Ülkü das Lernen relativ leicht, aber
 manya, in Deutschland. 1972, kurz nach der Geburt ihrer               auch sie hatte mit Schwierigkeiten zu kämpfen, die den
 ersten Tochter, warben deutsche Unternehmen in der Türkei             deutschen Schülerinnen fremd waren: So hatte sie nieman­
 um weibliche Arbeitskräfte. Um endlich der Armut zu ent­              den, der ihr den Unterrichtsstoff erklärte, wenn sie mal etwas
 kommen, bewarb sich Yeter Kılıç.                                      nicht verstand. Sie hatte kein eigenes Zimmer, in dem sie
       So kam sie als sogenannte Gastarbeiterin nach Deutsch­          ungestört lernen konnte. Und sie kannte keine einzige Per­
 land – einer von etwa 870.000 Menschen, die in den Jahren             son, die studiert hatte – also keine Vorbilder und Ansprech­
1961 bis 1973 im Rahmen des Anwerbeabkommens aus der                   personen. „Ich kannte weder den Begriff Stipendium, noch
 Türkei nach Deutschland zogen. Die Bauerntochter aus Ana­             wusste ich im Alltag, wie ich es kompensieren sollte, wenn
 tolien war plötzlich eine Arbeiterin in einer Fischfabrik in          ich mal wieder meine ganze Energie dafür aufbrauchte,
 Bremerhaven. Um ihre kleine Tochter kümmerte sich die                 meine Unsicherheit zu verbergen.“
 Großmutter in der Türkei, auch ihr Mann blieb zunächst dort.                Trotz der vielen Hemmnisse schaffte Ülkü das Abitur
„Mein Kind zu verlassen fiel mir so schwer, dass ich mich wie          und studierte anschließend. Heute ist sie Juristin und arbei­
 eine lebende Leiche fühlte“, erinnert sich Yeter Kılıç, die           tet für eine Behörde in Bremen. Ihre Mutter, die einst in der
 heute 71 Jahre alt ist. „Ich hatte aber keine andere Wahl. Ich        Fischfabrik stand, ist nach einer schweren Erkrankung in die
 musste arbeiten gehen, um Essen zu haben und um nicht ab­             Frührente gegangen. Für viele Menschen aus der Türkei ist
 hängig von anderen zu sein.“                                          allerdings auch das Alter schwer: 44,5 Prozent der türkischen
      Als Frau hoffte Yeter Kılıç sowohl der Armut als auch            Rentnerinnen und Rentner sind armutsgefährdet. Auch Yeter
 einem streng patriarchalischen System zu entkommen. Doch              Kılıç hat weiterhin wenig Geld, aber sie lebt bescheiden und
 das Leben in Almanya gestaltete sich auch nicht so rosig:             ist zufrieden. Sie hat viele Freundinnen und ist in einem
 Bereits der erste Arbeitstag in der Fischkonservenfabrik war          alevitischen Verein in Bremerhaven aktiv. Jedes Jahr fährt
 schrecklich, erzählt sie. Die junge Mutter vermisste ihre             sie für mehrere Monate in ihr Heimatdorf. Sie liebt es, dort
 Tochter, und neben dem Trennungsschmerz tat ihr auch die              mit Freunden und Bekannten Zeit zu verbringen und bei der
 Brust weh, da immer wieder Milch einschoss – ohne dass sie            Obsternte zu helfen.
 ein Baby hätte stillen können. Erst drei Jahre später konnte
 sie ihre Tochter endlich nach Deutschland holen. Bald kam                 Nuray Özer:
 auch ihr Mann nach, der aber schon nach einigen Jahren in
 Deutschland chronisch erkrankte und der Familie nicht                     „Duzen Sie hier jeden?“
 helfen konnte, sondern im Gegenteil selbst Hilfe brauchte.
       Dabei verdiente Kılıç als Frau noch schlechter als die          Bis heute lebt ein Drittel der unter 18-Jährigen mit Migrations­
 männlichen „Gastarbeiter“. Wie viele andere Türkinnen                 hintergrund in Familien, die von Armut bedroht sind – unter
 stockte sie den niedrigen Stundenlohn durch Überstunden               Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund sind es 13,1 Pro­
 und Akkordarbeit auf. Manchmal kam sie so auf bis zu                  zent. Die Eltern der Diplompädagogin Nuray Özer wohnten
 70 Arbeitsstunden in der Woche. Trotz dieser harten Arbeit            in Istanbul, bevor ihre Mutter 1968, und kurze Zeit später
 blieb die Familie Kılıç arm. Bis in die 1990er-Jahre lebte sie        auch ihr Vater, nach Goslar im Harz zogen – um ein finanziell
 in Wohnungen, die nie mehr als 40 Quadratmeter groß                   abgesichertes und damit auch freieres Leben zu führen.
 waren, ohne warmes Wasser und Badezimmer, eingerichtet                     Auch Özers Familie wurde auseinandergerissen. Nuray
 mit Möbeln vom Sperrmüll.                                             und ihre Schwester blieben bei der Großmutter in der Tür­
                                                                       kei. Die Familie sah das als vorübergehendes Opfer an, um
     Ülkü Kılıç-Walter:                                                allen ein besseres Leben zu ermöglichen. Vier Jahre lebten
                                                                       die Kinder ohne ihre Eltern, viel länger als geplant. In
     Der Geruch der Armut                                              dieser Zeit litten sie unter der Trennung und unter der au­
                                                                       toritären Großmutter.
„Armut war für mich auch der Geruch in den Kleiderkammern                   Nuray Özers Vater war relativ gut ausgebildet und hatte
 des Deutschen Roten Kreuzes, wo wir regelmäßig Schlange               in Istanbul als Maschinentechniker in einer Textilfabrik ge­
 standen und am Eingang Anweisungen erhielten, wie viele               arbeitet. Aber in Deutschland wurden seine Abschlüsse nicht

                                                                  14
zent der Eltern mit Migrationshintergrund gaben an,
                                                                        ihre Kinder „immer“ oder „häufig“ bei den Hausauf­
                                                                        gaben zu unterstützen. Und 96 Prozent der Eltern
                                                                        stimmten der Aussage „Bildung ist der wichtigste
                                                                        Schlüssel für ein gelungenes Leben“ zu.
                                                                              Oft ist es eher das schulische Umfeld, das einen
                                                                        Aufstieg verhindert. Nuray Özer wurde als Kind ge­
                                                                        mobbt – auf dem Weg zur Schule und während des
                                                                        Unterrichts. Andere Kinder verspotteten ihre ärmliche
                                                                        Kleidung, ihre Hautfarbe, ihre Art zu sprechen. Die
                                                                        Lehrer griffen nicht ein. Einmal war es so schlimm,
                                                                        dass sie mitten im Unterricht aufsprang und ihre
                                                                        Mitschüler anbrüllte und sie als Schweine bezeichne­
                                                                        te. Mit der Zeit lernte sie, sich zu behaupten, und
                                                                        wurde sogar Schulsprecherin. Parallel zu ihrem Deutsch
                                                                        wurden auch die Noten besser, sodass sie es zur Freu­
                                                                        de ihrer Eltern an die Uni schaffte. Sie kann sich in­
                                                                        zwischen gut ausdrücken und tritt selbstbewusst auf.
                                                                              Rassismus im Alltag erlebt sie allerdings immer
                                                                        noch. So hat sie bis heute Schwierigkeiten, Jobs und
anerkannt. In den folgenden Der Fotograf Henning Christoph              Wohnungen zu finden. Einmal sei ihr bei einer Woh­
Jahren bemühte er sich im­ hat das Leben türkischer Fa-                 nungsbesichtigung mit ihrem Mann die Tür vor der
mer wieder erfolglos um milien in „Almanya“ porträtiert.                Nase zugeschlagen worden – mit den Worten: „Wir
die Anerkennung seiner Auf der vorherigen Doppelseite                   nehmen hier keine Ausländer!“ Tatsächlich zeigen
Qualifikation und später sieht man die Abfahrt in den                   Studien, dass Menschen, die beispielsweise Ayşe oder
auch um eine Weiterbil­ Heimaturlaub                                    Hakan heißen, bei Wohnungsbewerbungen deutlich
dung. Doch der deutsche                                                 seltener Erfolg haben. Aus Daten des Statistischen
Staat unterstützte damals weder Sprachkurse noch andere         Bundesamtes geht hervor, dass selbst ein guter Schulabschluss
Formen der Weiterbildung. Man ging ja schließlich davon         Menschen mit Migrationserfahrung nicht unbedingt vor Armut
aus, dass die „Gastarbeiter“ nach erledigter Arbeit wieder in   schützt: Die Armutsgefährdungsquote bleibt selbst dann hoch
die Türkei zurückkehren würden.                                 (20,4 Prozent), wenn sie Abitur haben. Damit liegt sie sogar
     Sowohl als Arbeiter als auch als Türke habe sich ihr       deutlich höher als bei Hauptschulabsolventen ohne Migrations­
Vater immerzu wegducken müssen, erzählt Nuray Özer. Er          hintergrund (16,2 Prozent).
habe schlechter verdient als seine deutschen Arbeitskollegen,
der Schutz bei der Arbeit sei schlecht gewesen. Irgendwann           Efsun Kızılay:
verlor ihr Vater bei einem Arbeitsunfall einen Daumen, ohne
dass er dafür entschädigt wurde.                                     Die dritte Generation
     Harte Arbeit, schlechter Verdienst und dazu die Aus­
grenzung als Ausländerin: So zerschlugen sich die Hoffnungen    Im Fall der türkischen Migrantinnen und Migranten sind die
ihrer Mutter auf ein selbstbestimmtes Leben. Nuray Özer         Probleme bis in die dritte Generation spürbar: wenig Anerken­
erinnert sich, dass ihre Mutter in Läden immer wieder geduzt    nung und wenige Aufstiegschancen. Efsun Kızılay ist die En­
wurde, während man deutsche Kunden höflich mit Sie an­          kelin eines kurdischen „Gastarbeiters“, der 1970 nach Deutsch­
sprach. Einmal wurde sie darüber so wütend, dass sie sich in    land kam. Auch ihre Familiengeschichte ist von langen
einem Supermarkt mit einer Kassiererin stritt. „Mich hat das    Trennungen, nicht anerkannten Schulabschlüssen und harter
so aufgeregt. ‚Kennen Sie meine Mutter?‘, fragte ich die Ver­   Arbeit für wenig Geld bestimmt. Kızılay ist in einer Kleinstadt
käuferin. ‚Nein? Warum duzen Sie sie dann? Duzen Sie hier       in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen. Andere Kinder belei­
jeden?‘“, erzählt sie und schüttelt noch heute empört den Kopf. digten sie rassistisch, auch bei ihr griffen die Lehrkräfte nicht
     Wie viele „Gastarbeiter“-Kinder hatten Nuray Özer und      ein. Einige gaben ihr sogar ungerechtfertigt schlechte Noten.
ihre Schwester Probleme in der Schule. Das lag aber nicht       Auf dem Schulgelände wurde ihr verboten, Türkisch zu spre­
daran, dass sie nicht intelligent genug waren oder Bildung in   chen. „Wenn mir jemand eine Million Euro geben würde, ich
ihrer Familie nicht wertgeschätzt wurde. Im Gegenteil: Ihre     würde nicht in diese Schule zurückgehen“, sagt sie heute.
Schwester übersprang später sogar eine Schulklasse, nachdem          In ihrer Familie wurde viel gelesen. Neben ihrem Wunsch,
sie noch in der ersten Klasse auf eine Sonderschule geschickt   die Welt gerechter zu machen, half ihr das dabei, einen Mas­
worden war, weil sie kaum Deutsch sprach. Bis heute ist es so,  terabschluss und einen guten Job als Politikwissenschaftlerin
dass Kinder mit Migrationshintergrund selbst bei guten Noten    zu erreichen. Damit ist sie selbst in der dritten Generation
oft schlechtere Schulempfehlungen bekommen und Einwan­          noch eine Ausnahme. Ihre Eltern haben die Diplome ihrer
derern unterstellt wird, dass sie sich nicht genügend um die    beiden Kinder aufgehängt und ihnen gesagt: „Egal wie schwie­
Bildung ihrer Kinder kümmern würden. Im Rahmen eines            rig es war, ihr seid diejenigen, für die wir es gemacht haben.
Forschungsprojekts kam das Gegenteil heraus: Über 70 Pro­       Für euch hat es sich gelohnt.“

                                                               15
Sag mal!
Wie jemand spricht, verrät
viel über seine Herkunft.
Und wie die Menschen
darauf reagieren, viel über
ihre Vorurteile und
das Klassenbewusstsein
im Alltag                                                                                                           Von Anna Schulze

 „Ey, du Assi. Die Ampel ist rot!“ Die Fußgängerampel springt            Klassenunterschiede äußern sich also nicht nur durch Ein­
  um, doch in allerletzter Sekunde heizt noch ein Auto unbe­             kommen oder Lebensstil, sondern auch durch Sprache. In
  dacht darüber. Die Reifen quietschen, der Motor dröhnt.                der Schule wird die sogenannte Standardsprache gelehrt,
 „Was für ein Proll.“                                                    Hochdeutsch, akzentfrei und grammatikalisch einwandfrei.
        Sobald solche Worte fallen, ploppt vor dem inneren Auge          Jede Abweichung davon enthüllt vermeintlich einen Klassen­
  ein Bild auf. Dabei können wir auf die Schnelle gar nicht              unterschied. Wer sich in einer Situation nicht „richtig“ ar­
  wissen, wer am Steuer saß. Vielleicht war es gar kein Mann             tikulieren kann, fällt auf. Beim Abendbrot eines Professoren­
  im Trainingsanzug und mit zurückgegelten Haaren, sondern               paares wird anders gesprochen als in der Mittagspause auf
  eine Frau, die im SUV über die rote Ampel gebrettert ist, um           der Baustelle. Selbst wer versucht, sich sprachlich anderen
  rechtzeitig zu ihrem Meeting zu kommen. Sehr wahrschein­               Klassen anzunähern, wird meist enttarnt. Wer zu korrekt
  lich war es sogar eine ganz andere Person.                             spricht, lässt seine Unbeholfenheit erkennen. Wer immer
       Wer weiß, wie das Wort „Asoziale“ einst benutzt wurde,            hochgestochen gesprochen hat, wird Schwierigkeiten haben,
  gebraucht es eh nicht mehr so leicht. „Asoziale“ wurden im             sich zwangloser auszudrücken.
  Nationalsozialismus verfolgt, viele kamen ins KZ und wurden                 Falsch verwendete Ausdrücke oder starke Dialekte kön­
  ermordet. Darunter waren obdachlose oder verarmte Men­                 nen sogar den sozialen Aufstieg erschweren oder verhindern.
  schen, aber auch kinderreiche Familien aus unteren Schich­            „Kiezdeutsch“ gehörte einst dazu. Bei der urbanen Jugend­
  ten und Prostituierte. Dagegen ist „Proll“ von Proletariat             sprache vermischen sich deutsche und vor allem aus dem
  abgeleitet, also der Arbeiterschaft des 19. Jahrhunderts. Heu­         Türkischen und Arabischen stammende Wörter. Wer es
                                                                                                                                           fluter Nr. 81, Thema: Klasse

  te bezeichnet es eher Menschen ohne Manieren.                          spricht, galt einst als aggressiv und ungebildet. Da sich darin
       Wenn es um Rassismus und Sexismus geht, wächst das                auch Identität und Abgrenzung ausdrücken, hat das „Kiez­
  Bewusstsein für die Diskriminierung durch Sprache allmäh­              deutsch“ Eingang in die Popkultur gefunden. Längst ist es
  lich, beim Klassismus – also der Benachteiligung und Aus­              nicht mehr ungewöhnlich, dass sich auch Jugendliche ohne
  grenzung aufgrund der sozialen Herkunft – fehlt es noch an             Migrationshintergrund solche Ausdrucksweisen aneignen.
  Sensibilität. Dabei gehen die verschiedenen Formen von                      Sprache bildet die Zustände der Gesellschaft ab. Sie
  Diskriminierung oft Hand in Hand: Je häufiger zum Beispiel             offenbart, wie tief Ungleichheiten verwurzelt sind und wie
  Medien Schulen mit einem hohen Migrationsanteil als „Brenn­            wir diese durch unsere Ausdrucksweise zementieren: Du bist,
  punkte“ bezeichnen, desto eher werden Kinder mit Migra­                was du sprichst. Aber genauso gilt: Durch Sprache haben wir
  tionshintergrund als ungebildet und problematisch wahrge­              die Möglichkeit, soziale Unterschiede einzuebnen. Und nicht
  nommen und entsprechend benachteiligt.                                 mehr so „assi“ zu sein.

                                                                   16
Viele Alleinerziehende sind von                                                       Von Mirjam Ratmann
Armut betroffen. Über ein Leben zwischen
Haushalt und Existenzangst

  Zum
                                                                          viele Mütter nicht in Vollzeit
                                                                          arbeiten, nur 42 Prozent waren
                                                                          es 2017. So verwundert es nicht,
                                                                          dass alleinerziehende Mütter in
                                                                          Deutschland eines der größten
                                                                          Armutsrisiken aufweisen. „Die

   Heulen
                                                                          existenzielle Angst ist immer
                                                                          da“, sagt Isabelle. Gerade lebt
                                                                          sie von einem Studienkredit,
                                                                          hinzu kommen Unterhaltszahlungen
                                                                          vom Vater des Kindes und Zuwen­
                                                                          dungen ihrer Eltern. Trotzdem
                                                                          hat sie damit insgesamt gerade
                                                                          mal 50 Euro mehr, als ihr mit
                                                                          Hartz IV zustehen würde.
  Als Isabelle mit 27 schwan­          Die Zeit, in der es in der Kita        Der Austausch mit ande­
  ger wird, ist sie glücklich. Die    ist, verbringt Isabelle in di­      ren Alleinerziehenden helfe ihr,
  Hamburgerin ist damals selbst­       gitalen Vorlesungen und Semina­    denn oftmals könnten Eltern, die
  ständig, koordiniert Freiwilli­     ren ihres Studiums der Sozia­       gemeinsam ein Kind großziehen,
  gendienste und bereitet Menschen    len Arbeit. Wenn ihr Sohn um 20     ihre Probleme nicht nachvollzie­
  auf Auslandsaufenthalte vor. Die     Uhr schläft, muss sie sich um      hen. „Wenn ich höre: ‚Ich bin ja
  Schwangerschaft kommt zwar et­       den Haushalt kümmern. Regelmä­
  was früher als geplant, doch sie     ßig stapeln sich bei ihr zu Hau­
  und ihr Mann wollen das Kind un­     se Geschirr und Wäsche. „Ich bin
  bedingt. In den kommenden neun       sehr glücklich darüber, Mutter
  Monaten zeichnet sich jedoch ab:     zu sein, aber manchmal wünsche
  Ihr Mann, der Vater ihres heute     ich mir schon, dass ich einfach
  vierjährigen Sohnes, ist für die     mal abends in eine Bar gehen
  Vaterschaft nicht bereit. Sechs      könnte“, sagt die heute 31-Jäh­
  Wochen nach der Geburt verlässt     rige. „An richtige Hobbys mag
  er Isabelle und das Baby.           ich gar nicht denken.“ Wenn sie
       Noch heute streiten sich        noch Energie hat, lernt sie oder
  beide vor Gericht um das Sorge­      entspannt sich in der Badewanne.
  recht, weswegen Isabelle nicht      „Solange abends keine Kinderbe­
  mit ihrem richtigen Namen in        treuung angeboten wird, kann ich
  diesem Text vorkommen möchte.        weder zu einem Elternabend noch
  Was es heißt, alleinerziehend        zu einem Theaterstück gehen.“
  – sie spricht lieber von „al­            Als alleinerziehende Mut­
  leinverantwortlich“ – zu sein,      ter ist Isabelle hin- und her­
  erfährt Isabelle relativ schnell:    gerissen zwischen dem Gefühl,
  Ihr Sohn schreit nächtelang          alles einfach hinschmeißen zu
  durch und kommt nicht zur Ruhe.      wollen, und der großen Freu­
  Sie muss ihre Freiberuflichkeit      de über ihren Sohn. So wie ihr
  aufgeben, denn die Seminare und      geht es vielen der 1,34 Millio­
  Workshops, die sie gibt, finden      nen alleinerziehenden Mütter in    eigentlich auch alleinerziehend‘,
  fast immer abends statt. Aber        Deutschland, die 88 Prozent al­    weil der Partner ständig auf Ge­
  sie hat Glück: Ihre Eltern          ler Alleinerziehenden ausmachen.    schäftsreise ist, werde ich echt
  unterstützen sie, Freunde und        Alleinerziehend zu sein bedeu­     schnell wütend.“ Oft ernte sie
  Freundinnen passen in den ers­      tet für die meisten tatsäch­        Mitleid anstelle von Anerkennung.
  ten Monaten regelmäßig auf das      lich auch finanzielle Not. Viele        Aber Isabelle hat einen Plan.
  Kind auf, machen den Abwasch und     Väter zahlen keinen Unterhalt      Sie will eine Beratungsstelle
  gehen für sie einkaufen.             oder müssen erst per Gerichts­     für alleinerziehende Mütter auf­
       Noch heute ist Isabelles        beschluss dazu gebracht werden.    bauen, in der diese unbürokrati­
  Alltag von ihrem Kind bestimmt.      Da oft Kitaplätze fehlen, können   sche Unterstützung bekommen.

                                                      17
Eure Wut
   ist so                                        Von Andreas Thamm
                                                   Fotos: Maria Bayer

          herrlich

       authentisch
                                                                        fluter Nr. 81, Thema: Klasse

In einem kleinen Stadtteil von Nürnberg stellen sich die
großen Fragen: Wollen wir im eigenen Milieu unter uns bleiben?
Wollen wir es schön behaglich haben, wenn das bedeutet, dass
weniger Menschen daran teilhaben können? Oder soll unser
Viertel lieber schmutzig bleiben, aber wenigstens nicht elitär?
Und wer bestimmt am Ende darüber?
Franziska Schwingel war blauäugig, sagt       nur Besserverdienende, die hier
 sie heute. Die gelernte Krankenpflegerin      ein und aus gehen.“ Die Graffi­
 ahnte damals nicht, was es heißt, ihren       tis ließ sie auf den Scheiben und
 Job nach sieben Jahren an den Nagel           ergänzte das „Scheiß Hipster“
 zu hängen und ein Café im angesagtes­         mit „Nice Hipster“.
 ten Viertel der Stadt zu übernehmen.                 Gostenhof hat einiges zu
 Sie wusste nicht, wie viel Arbeit das         bieten, was junge studierende
 bedeutet und wie viel Bürokratie es mit       Menschen anzieht: innenstadt­
 sich bringt. Vor allem aber hätte sie sich    nahe Altbauten, hohe Kneipen­
 nicht ausgemalt, dass ihr Café manchen        dichte, bunte Sticker an den
 Menschen im Viertel ein derartiger Dorn       Laternen. Im 19. Jahrhundert
 im Auge sein würde.                           war Gostenhof für den Bahnhof,
       Das Café Mainheim hat eine brei­        das Gaswerk und die Spielzeug­
 te Glasfront. Dahinter sieht man in der       fabriken bekannt – ein Arbeiter­
 Regel junge Menschen in einem hellen          viertel, das im Gegensatz zur
 Raum auf schlichten Holzstühlen sitzen,       Nürnberger Altstadt vom Krieg
 oft vor ihren aufgeklappten Laptops.          weitgehend verschont blieb.
 Eine sehr typische großstädtische Szene      Während große Teile der Stadt
– abgerundet durch Vintage-Lampen              neu aufgebaut wurden, zogen
 und eine eher hochpreisige Frühstücks­        die Menschen hier in die noch
 karte. Das vegane kostet 13,50 Euro,          erhaltenen Häuser aus der Grün­
 drei Rühreier 10,50 Euro. Im Winter           derzeit. Die Wohnungen waren
 vor vier Jahren sprühten Unbekannte           heruntergekommen, es gab we­
 erst „Yuppies Fuck Off“ an die Fenster,       nig Grün und kaum öffentliches
 wenige Wochen später stand dort:              Leben. Ab den 1960er-Jahren
„Scheiß Hipster“. Eigentlich wollte Fran­      brachte man hier schließlich Neben alten
 ziska nur ein Café führen, stattdessen        die angeworbenen „Gastarbei­ Häusern entstehen
 wurde sie zum Symbol der Gentrifizie­         ter“ und ihre Familien unter. teure Eigentums­              schen Petra-Kelly-Platz
 rung, die hier im Nürnberger Westen          Aus Gostenhof wurde im Volks­ wohnungen                      und Jamnitzerplatz
 seit Jahren die Gemüter erhitzt.              mund Gostanbul.                                             spaziert, merkt, dass
       Egal ob in Berlin-Neukölln, im                 Ab 1980 startete die Stadt                           der Konflikt unter an­
 Hamburger Schanzenviertel oder in             schließlich eine Stadtteilsanierung – mit  derem auf den mit Graffitis überzogenen
 Nürnberg-Gostenhof: Erst ziehen Stu­          Bürgerbeteiligung. Die „Erneuerung         Fassaden ausgetragen wird. „Yuppies
 dierende, Alternative und Künstlerinnen       von unten“ sollte möglichst sozialver­     Fuck Off“ oder „Hände weg von unse­
 dorthin, wo die Mieten niedrig sind.          träglich stattfinden. Alle Wohnungen       ren Nachbarn“ steht da. Politische
 Cafés, Kneipen und kleine Läden ent­          sollten Bäder und der Stadtteil mehr       Meinungsbildung und das erstbeste
 stehen und damit eine kreative Atmo­          Grünanlagen bekommen. Die Sanie­           Instrument, um der Aufwertung von
 sphäre, die das Viertel auch für Menschen     rung des Viertels dauerte bis 1997. Plötz­ Immobilien etwas Abwertendes ent­
 attraktiv macht, die höhere Mieten zah­       lich wurde es schick, nach Gostenhof       gegenzusetzen. Zuletzt traf es das neu
 len können. Also werden die Cafés und         zu ziehen. Davon kündete auch der          eröffnete Restaurant Veles: „Verpisst
 Restaurants schicker, Investoren sanie­       neue Spitzname: Aus dem an Istanbul        euch nach Erlenstegen!“, hatte jemand
 ren Häuser und bieten Wohnungen für           angelehnten Gostanbul wurde GoHo           an die Wand gesprüht, so heißt das
 Besserverdienende an. Schließlich kön­       – wie SoHo, das New Yorker Stadtvier­       Nürnberger Villenviertel.
 nen sich viele alteingesessene Bewohner       tel, das lange für Kunst und Partys             Die Szene, die auch regelmäßig
 und Bewohnerinnen ihr Viertel nicht           berühmt war, mittlerweile jedoch eher      gegen den „Mietenwahnsinn“ auf die
 mehr leisten. Und manche Ladenbesitzer        für teure Luxusapartments. Der Ver­        Straße geht, organisiert sich rund um
 werden plötzlich als Yuppies beschimpft.      gleich mit SoHo ist gar nicht so ab­       den Stadtteilladen „Schwarze Katze“
      „Wir haben uns nicht als Reichen­        wegig: Auch die Veränderung in Gos­        am Jamnitzerplatz. (Gegenüber dem
 verein wahrgenommen“,                                           tenhof lockte Investoren fluter möchten sich die Aktiven lieber
 sagt Cafébesitzerin Fran­                                       an, die hier neu bauten  nicht äußern.) Ausgerechnet in direkter
 ziska. „Wir haben nur                                           oder teuer sanieren lie­ Nachbarschaft zur Schwarzen Katze
 Studenten beschäftigt                                           ßen. Wer heute durch die wurde 2013 ein kastenartiger Bunker
 oder Leute, die hier im                                         Nürnberger Straßen zwi­  zwischen die alten Gründerzeitfassaden
 Umkreis wohnen und                                                                       gesetzt, damals der teuerste Neubau
 ihre Familie davon er­                                                                   der ganzen Stadt. Die Projektentwick­
 nähren. Wir haben im­                                           Franziska Schwingel      ler bewarben ihre bis zu 750.000 Euro
 mer fair bezahlt und re­                                        hat ein Café             teuren Wohnungen auch damit, dass
 gional eingekauft. Und                                          eröffnet, das manche     sie sich eben nicht in einem sterilen,
 es sind weiß Gott nicht                                         zu schick finden         sondern in einem multikulturellen, au­

                                                                19
Vielleicht helfen die nackten Zah­    armee, eine evangelische Freikirche,
                                                   len allein nicht weiter, wenn es      unterhält in der Gostenhofer Haupt­
                                                   vor allem um ein Gefühl geht, das     straße sowie der Leonhardstraße zwi­
                                                   langjährige Bewohnerinnen und         schen türkischem Café, Spielothek und
                                                   Bewohner teilen. Nicola Nemeth        Biomarkt Nordbayerns größte Unter­
                                                   ist Sozialpädagogin, seit 1993        kunft für wohnungslose Menschen mit
                                                   wohnhaft in Gostenhof und viel­       besonderen sozialen Schwierigkeiten.
                                                   fach engagiert für die Mieterinnen    Rund 200 Männer leben in den Apart­
                                                   und Mieter. Einige gute Bekann­       ments, nicht selten mit Suchterkrankung
                                                   te von ihr mussten das Viertel in     oder Gefängniserfahrung. Die Heils­
                                                   den vergangenen Jahren wegen          armee bietet hier nicht nur ein Bett und
                                                   der gestiegenen Miete verlassen,      ein Dach überm Kopf, sondern auch
                                                   sagt sie. Und: „Ich habe das Le­      Beschäftigungsangebote, sozialpädago­
                                                   ben hier früher als familiärer, so­   gische Betreuung und ein Freizeitzen­
                                                   zialer, gemeinschaftlicher emp­       trum. Motto: „Suppe, Seife, Seelenheil.“
                                                   funden. Es ziehen Leute in die             Kilian Brandenburg arbeitet seit
                                                   Neubauten, die es hier schön fin­     22 Jahren hier. Seit März leitet er die
                                                   den, weil es Biergärten gibt. Aber    Einrichtung und hat die Entwicklung
                                                   wehe, um 22.05 Uhr ist es noch        des Viertels hautnah mitbekommen. Der
                                                   laut auf der Straße, dann wird die    Petra-Kelly-Platz habe früher einen etwas
                                                   Polizei gerufen.“                     zweifelhaften Ruf gehabt, der auf das
                                                         Der Eindruck der Verdrän­       Sozialwerk abfärbte. Heute seien die
                                                   gung hängt anscheinend nicht nur      Obdachlosen dort nicht mehr willkom­
                                                   mit Neubauten und schicken Cafés,     men. Aber wo seien sie das schon in
                                                   sondern auch mit der Polizeiprä­      Deutschland, fragt er. „Das ist grund­
                            Durch Studierende      senz und den vielen Beschwerden       sätzlich so und nicht nur dort. Woh­
                            ist der Stadt­-        wegen Ruhestörung zusammen.           nungslosigkeit existiert, es ist aber poli­
thentischen und orga­ teil auch jünger             Einige Alteingesessene glauben,       tisch nicht so erwünscht, dass man das
nisch gewachsenen geworden                         dass die Stadt für die neu Zuge­      irgendwo sieht.“
Stadtteil befänden.                                zogenen in einem einst belebten            Brandenburg kann nicht bestäti­
Selbst die Graffitis                               Viertel für Ruhe sorgen wolle.        gen, dass die Heilsarmee mehr Men­
scheinen den Charme des Viertels aus­        In den Neunzigern lebte Nicola Nemeth       schen aufnehmen müsse, weil sie von
zumachen, der Menschen aus ihren             am Petra-Kelly-Platz, der damals Bauern­    Investoren und gierigen Vermieterinnen
gutbürgerlichen Stadtteilen anlockt.         platz hieß. „Da gab es Bänke und Grün“,     vertrieben worden seien. Aber die Ver­
      Aber ist es wirklich so, dass Arbeits­ sagt sie, „und es war ein Treffpunkt für    weildauer derjenigen, die hier den Ent­
lose, Geringverdienende und Allein­          die Obdachlosen, die sich dort aufhal­      schluss gefasst haben, wieder eine
erziehende vor die Tore der Stadt ver­       ten konnten und uns manchmal bei            eigene Wohnung zu finden und neu
drängt werden, wie die Aktivistinnen         schweren Einkäufen geholfen ha­ben.“        anzufangen, sei länger geworden. „Wenn
und Aktivisten befürchten? Die Stadt         Dann habe die Stadt saniert, und die        du deine Wohnung verloren hast, ist
Nürnberg erklärt dazu, dass die Bau- und     Bänke seien weggekommen. Ein Treff­         es im Laufe der Jahre immer schwie­
Investitionstätigkeiten in Gostenhof fast    punkt sei der Platz geblieben, allerdings   riger geworden, wieder eine bezahl­
vollständig zum Erliegen gekommen            nicht mehr für die weniger Privilegier­     bare zu finden. Unsere Bewohner kon­
seien. Die Bevölkerungszahl sei momen­       ten. „So zerstört man den Sozialcha­        kurrieren um den billigen Raum mit
tan leicht rückläufig, die Mietpreise        rakter eines Viertels“, sagt Nemeth, „und   vielen anderen Leuten.“
bewegten sich 2019/2020 mit 9,75 Euro        die Stadt hat das meiner Meinung nach            Den findet man in Gostenhof kaum
(vgl. 2013/2014: 7,69 Euro) pro Quadrat­     auch mit verstärkter Polizeipräsenz         noch. Gerade entstehen in direkter Nach­
meter auf einem Niveau, das leicht unter     vorangetrieben nach der Devise: Die         barschaft der Obdachlosenunterkunft
dem städtischen Durchschnitt liege –         Straßen müssen sauber sein.“                wieder einmal modernistisch schlichte
                                                                                                                                       fluter Nr. 81, Thema: Klasse

obwohl die Bodenpreise rund um den                Nur ein paar Meter                                     Wohnungen im hochprei­
Jamnitzerplatz von 2014 bis 2020 um          weiter vom schick sanier­                                   sigen Segment: „Die
135 Prozent gestiegen seien. Aber das        ten Platz leben die Men­                                    neue Spielzeugfabrik“
ist im Rest der Stadt ähnlich. Von Gen­      schen, um die sich Ne­                                      nennt sich dieses Projekt.
trifizierung, so Nürnbergs Wirtschafts­      meth sorgt. Die Heils­                                     „Wer hier lebt, ist direkt
referent Michael Fraas, könne also                                                                       am Puls der Zeit“, schrei­
keine Rede sein, allenfalls von politisch                                                                ben die Projektentwick­
gewollter Aufwertung des Quartiers. So       Uns stinkt’s:                                               ler in ihr Exposé. Man
dramatisch die Initiativen die Situation     Der Protest besteht                                         darf sich wohl auf Farb­
beschreiben, so harmlos klingt das, wenn     auch aus Bildern an                                         beutelflecken an der Fas­
städtische Stellen darüber sprechen.         Fenstern & Fassaden                                         sade einstellen.

                                                                20
Sie können auch lesen