"Gelingender Alltag" in der Jugendhilfe - Ein Rückblick auf die Arbeit des Waldhauses in Hildrizhausen
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„Gelingender Alltag“ in der Jugendhilfe 2018 Ein Rückblick auf die Arbeit des Waldhauses in Hildrizhausen
Waldhaus-Leitbild | 2 Sozial. Engagiert. Verantwortungsbewusst. Wir sind für Jugendliche, Heranwachsende und junge Familien da, die in Schwierigkeiten geraten sind oder zu geraten drohen. Durch unsere Arbeit leisten wir einen Beitrag dazu, ihre Le- benssituation und Entwicklungschancen zu verbessern. Wir sind Partner und Ansprechpartner für alle, die sich um die Erziehung, Ausbildung und Qualifizierung junger Menschen kümmern. „Chancen Das „Prinzip Waldhaus“ entwickeln, Wir machen junge Menschen und Familien stark. Gemeinsam mit unseren Partnern (Ämtern, Gemeinden, Ver- wo andere In ihrem sozialen Umfeld. bänden und entsprechenden Institutionen) fördern wir die nur Probleme Sodass sie ihr Leben selbstständig in die Hand persönliche und berufliche Entwicklung von Jugendlichen und sehen.“ nehmen können. Heranwachsenden. #wirkümmernuns … Weitere Informationen zum Waldhaus-Leitbild finden Sie auf Facebook und auf der Homepage: www.waldhaus-jugendhilfe.de
Editorial | 3 Liebe Freunde des Waldhauses, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, nach einem ereignisreichen Jubiläumsjahr sind wir das Jahr Integration der UMA | Ein weiterer wesentlicher Punkt 2018 wieder etwas ruhiger angegangen. Die Zahl an zu- auf unserer Agenda sind die notwendigen Anpassungen sätzlichen Aktionen oder Veranstaltungen, wie wir sie in im Bereich der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten 2017 neben der normalen Arbeit gestemmt haben, war im (UMA). Wir arbeiten intensiv an neuen Konzepten – unter abgelaufenen Jahr überschaubar. Auch die Mitarbeiterver- anderem, um diese Jugendlichen reibungslos in Qualifizie- sammlung sowie das Fest der Kulturen und das Sommerfest rung und Beschäftigung zu bringen. fanden im kleineren Rahmen statt. Dafür fiel der Betriebs- ausflug in den Rheingau Ende Juli etwas größer aus. Umwelt- & Arbeitsschutz | Auch der Schutz der Umwelt beschäftigt uns wei- Zukunftsprojekt | Einfach zurückgelehnt haben wir uns terhin. Nach dem ECOfit-Projekt ist nun aber nicht. Denn wir haben uns im zurückliegenden Jahr eine EMAS-Zertifizierung des Waldhauses damit beschäftigt, wie wir die Weichen für die Zukunft im das Ziel. Ebenfalls im Fokus bleibt das Waldhaus stellen können. Ein zentrales Projekt ist dabei der Thema „Arbeitsschutz“. Unter der her- Neubau im Herzen des Stammgeländes. Im November haben vorragenden Leitung von Folkert Milster wir mit dem Abriss der letzten Häuser aus vergangenen Ta- wurden bereits mehrere Ersthelfer-Kurse gen begonnen. Die entstandene große Baugrube wird jetzt erfolgreich umgesetzt. Dieses Angebot soll künftig noch er- mit einem neuen Verwaltungs- und Wohngebäude gefüllt. weitert werden. „Die lästigen Kleinkriege des Alltags überleben wir am sichersten, indem wir uns nicht kleinkriegen lassen.“ © Ernst Ferstl (*1955), österreichischer Lehrer, Dichter und Aphoristiker
Editorial | 4 Erfolgsgeschichten | Unser „hauseigener“ Regisseur De- Zurück zum Alltag | Das Leitmotiv für diesen Jahresbe- nis Pavlovic begann im abgelaufenen Jahr die Serie „Erfolgs- richt lehnt sich an ein Zitat von Shakespeare an: „Ist es geschichten im Waldhaus“. Bereichsübergreifend entsteht im auch Wahnsinn, so hat es doch Methode.“ – Die tagtägliche Moment ein Buch zu diesem Thema. Im Rahmen unseres Ju- Arbeit innerhalb der vier Waldhausbereiche erfordert von biläumsjahres 2017 konnten viele unseren Mitarbeiter/innen tagein tagaus ein engagiertes Geschichten von ehemaligen Ju- und zupackendes, aber auch ein besonnenes Herangehen. gendlichen und betreuten Familien Getreu unserem Leitspruch: „Sozial, engagiert, verant- niedergeschrieben werden. Teils wortungsbewusst“. amüsante und beeindruckende Einblicke in Lebensabschnitte von Der vorliegende Bericht soll Ihnen, liebe Leser/innen, einen Menschen, die im Lauf der Jahr- kleinen Einblick in die Tagesabläufe, die Herangehenswei- zehnte ihren Weg über das Wald- sen und die Arbeitsansätze – eben in unseren Alltag hier im haus in ein selbstbestimmtes Le- Waldhaus – vermitteln. ben gefunden haben. Ich blicke zuversichtlich auf die Herausforderungen des Jah- res 2019 – sowohl auf die oben genannten, die wir kennen, als auch auf die, von denen wir noch nichts wissen. „Packen wir es gemeinsam an!“ „Wir sind gut aufgestellt und werden auf Veränderungen gut reagieren können.“ Hans Artschwager Geschäftsführer Waldhaus gGmbH
Waldhaus-Jahresbericht 2018 | 5 Inhalt Rückblick 2018: Waldhaus-Jubilare: 28 66 Ambulante erzieherische Hilfen „Herzliche Glückwünsche!“ „Alltag“ – ein deutungsoffener Begriff Waldhaus-Team: 67 „Dream Circus“: Neue Mitarbeiter/innen 34 „Zirkus bewegt und Lachen heilt.“ Waldhaus intern: 68 Projekt-Steckbrief: Aus dem Alltag des Betriebsrats 39 Waldhaus-Leitbild: „Drachenflieger“ 2 „Sozial. Engagiert. Verantwortungsbewusst.“ Mehr als Verwaltung: 69 Rückblick 2018: Waldhaus Service GmbH 40 Editorial: (Jugend-)Berufshilfe & Integrationsprojekte 3 Hans Artschwager „Konzeption & Alltag“ Spenden 2018: 70 Das Waldhaus sagt: „Danke!“ Im Fokus: Rückblick 2018: 6 46 „Gelingender Alltag“ in der Jugendhilfe Kommunale Jugendsozialarbeit Café „Fuchsbau“: 71 Der „ganz normale“ Alltag in 15 Kommunen ... Ein Ort zum Ankommen ... Waldhaus vor Ort: 12 Die vier Geschäftsbereiche Waldhaus-Porträt: Unsere Partnerschaften: 60 72 Michael „Micha“ Weinmann Kooperationspartner & Förderer Rückblick 2018: 14 Stationäre erzieherische Hilfen Foto-Rückblick 2018: „Der direkte Draht“ 64 74 „Gelingender Alltag“ in der Heimerziehung „Waldhaus-Splitter“ Waldhaus-Kontaktdaten
Waldhaus-Jahresbericht 2018 | 6 Im Fokus: „Gelingender Alltag“ (von Prof. Matthias Moch, DHBW Stuttgart) Über den Alltag nachzudenken, scheint ein überflüssiges Unterfangen zu sein. Ist es wirklich notwendig und angebracht, etwas zu thematisieren, was im Grunde genommen selbstverständ- lich ist? – Gibt es da nicht interessantere Themen? – Und sollte man, zumal in einem Jahresbe- richt, nicht eher gelungene Projekte, fachliche Weiterentwicklungen oder zumindest die erlebten „Im Alltag sind Höhepunkte im Verlauf des vergangenen Jahres hervorheben? Gewohnheiten und Routinen ebenso präsent In einer Welt, in der „Profilschärfung“, „Alleinstellungs- Ich beginne mit einer kleinen Geschichte: wie Halt geben- merkmal“ und „best practice“ Kernbegriffe jeder unterneh- „Dommo, ein tüchtiger Pflanzer aus dem Dorf An- merischen Überlebensstrategie sind, scheint die Rede über dioumbolo im Dogonland (Westafrika), ist mit uns de Rhythmen einen gelingenden Alltag wenig werbewirksam zu sein. An in die nächste Stadt, Mopti, gefahren, um seine und erwartbare diesem Punkt regt sich Widerstand gegenüber den Gepflo- Geschäfte zu erledigen. Er konnte noch die Säcke Ereignisse.“ genheiten der Selbstdarstellung und wir vergewissern uns mit Hirse, die er mitgebracht hatte, gegen Salz tau- der genuinen Aufgaben sozialpädagogischer Arbeit. Die schen. Dann verfiel er in einen ‚katatonen Stupor’ – alltäglichen Verrichtungen sind Grundlage allen weiterge- er verlor die Sprache und wurde starr und gelähmt. henden Tuns, sie prägen unsere Sicherheit, unser Wohlbe- Ausgetrocknet und halb verdurstet hockte er in der finden, unsere elementare Orientierung in Bezug auf Orte, prallen Sonne, keine zwanzig Schritte von den Fluten Zeiten und soziale Beziehungen. Im Alltag sind Gewohn- des Nigerstromes. Wir mussten ihn in den Schatten heiten und Routinen ebenso präsent wie Halt gebende tragen und ihm Wasser einflößen. Auf der Fahrt zu- Rhythmen und erwartbare Ereignisse. rück kam er bald zu sich. Als die Felszacken, die tro- ckenen gelben Halden und die Brotfruchtbäume des Dogonlandes auftauchten, gewann er seine Sprache
Im Fokus: „Gelingender Alltag“ in der Jugendhilfe | 7 finition einen sehr hohen Stellenwert. Die in dieser Welt zurück und war bald wieder der gesprächige, intelli- „sinnvollen“ Handlungsweisen haben eine enorme Wider- gente und tatkräftige Mann, der er vor der Reise ge- ständigkeit gegen Veränderungen. Die Gesamtheit unserer wesen war; so wie er in seiner Heimat gelebt hatte Alltagserfahrungen macht unsere „Lebenswelt“ aus. Sie und weiterleben wird.“ überträgt sich auch auf neue Kontexte, in denen möglicher- (Paul Parin, Die Zeit vom 23.12.94, S. 43) weise ganz andere Sichtweisen und Sinnverständnisse vor- herrschend sind. Alltag ist konkret und unhinterfragt. Alltag verlangt Respekt. „Die Gesamtheit Die Welt, in die wir geboren werden und hineinwachsen, Das Alltagsleben von Familien ist geprägt von Regeln und unserer Alltags- wird von uns als gegebene, als natürlich vorhandene, erlebt. „natürlichen Einstellungen“, die in der Familie oft nicht re- erfahrungen Im Verlauf unserer Erfahrungen im Umgang mit der Natur flektiert werden, die aber für Außenstehende häufig uner- und materiellen Dingen, wie auch in der Begegnung mit an- kannt oder unverständlich sind. Mit dieser Fremdheit der Le- macht unsere deren Menschen, entsteht in uns ein Bild von unserer Welt, benswelt sind, trotz vermeintlicher Nähe, auch Mitarbeiter/ „Lebenswelt“ in dem wir mit großer Selbstverständlichkeit unterstellen, innen mobiler, ambulanter und teilstationärer Maßnahmen aus ...“ dass sie als unverwechselbare Wirklichkeit existiert, dass sie konfrontiert. Und sie können es sich – angesichts der Nähe heute im Wesentlichen dieselbe ist wie gestern und dass sie zum Familienleben – weder leisten, diesen ihnen fremden auch morgen dieselbe sein wird. Alltag zu ignorieren, noch ihn unangetastet zu lassen. Wie wir wohnen, was wir essen, wie lange wir schlafen, Vor dem Verstehen kommt zunächst die respektvolle Annä- welchen Stellenwert Schule für uns hat und was wir in un- herung an Verhaltensweisen und Haltungen, die den Fach- serer Freizeit tun, all diese Vorgänge füllen meist unhinter- kräften möglicherweise problematisch erscheinen, welche fragt und selbstverständlich unseren Alltag aus. Sie prägen für die Adressaten aber mehr oder weniger „gelingende“ für uns das, was „wirklich“ und „wichtig“ ist. Erfahrungen, Lösungsversuche sind. Wenn betroffene Kinder und Jugend- die Kinder in ihrer Herkunftsfamilie sowie in ihrem primären liche sowie ihre Eltern die Erfahrung machen, dass pädago- sozialen Umfeld machen, haben in ihrer Wirklichkeitsde- gische Fachkräfte ihre alltägliche eigene Welt respektieren
Waldhaus-Jahresbericht 2018 | 8 und nicht als defizitär verurteilen, dann wächst in ihnen die entscheiden, hinzuweisen, Raum zu schaffen, einzugrenzen Bereitschaft, eigene leidgeprägte Gewohnheiten zu hinter- oder zu unterstützen. fragen und hinterfragen zu lassen. Alltag ist individuell. Alltag erzieht. Bei allen Erziehungshilfen steht die Arbeit mit dem betrof- Sozialpädagogische Hilfen sind kein Spezialangebot. Er- fenen Kind oder Jugendlichen entsprechend seinen ent- zogen wird im Wesentlichen in Alltagssituationen, beim wicklungsbezogenen Bedürfnissen im Mittelpunkt. Die Erledigen alltäglicher Aufgaben, beim Zurechtkommen mit angebotenen Leistungen sind als individualisierte Hilfen an sich selbst, mit anderen, mit Dingen, beim Bewältigen von der persönlichen Bedarfslage orientiert. Das bedeutet, der Schwierigkeiten. In dieser Hinsicht ist es der Alltag selbst, Alltag ist nicht standardisiert sondern individuell und auf die der vielfältige Aufgaben stellt. Adressaten und Fachkräfte Situation bezogen. „Alltagsaufgaben handeln vor dem Hintergrund ihrer aktuellen subjektiven sind in wechsel- Einschätzung jeweils der Situation angemessen und auf das Entsprechend fordert ein gelingender Alltag Kreativität, seitiger Kommu- Subjekt bezogen. „Erziehen“ oder „Beraten“ stehen sel- Spontanität sowie Bereitschaft zum Risiko. So gewinnt ein nikation zwischen ten im Fokus der Aufmerksamkeit, sie erfolgen im Rahmen Angebot vielleicht vor allem dadurch eine zentrale Position Adressaten und alltäglicher Handlungssituationen, die im Sinne einer posi- im Alltag des jungen Menschen, dass es, im engeren oder Fachkräften an- tiven Entwicklung und Anregung bewältigt werden müssen. weiteren Sinne, einen wesentlichen Beitrag zu seiner all- zugehen.“ Wenn wir „Koproduktion“ als entscheidendes Merkmal täglichen „Versorgung“ leistet. Dies ist durchaus im ganz von Unterstützungsangeboten anerkennen, so sollten wir elementaren Sinn von Essen, Trinken, „ein Dach über dem in Rechnung stellen, dass Alltagsaufgaben in wechselsei- Kopf haben“, „nicht alleine sein“ zu verstehen. Des Weite- tiger Kommunikation zwischen Adressaten und Fachkräf- ren meint Versorgung immer auch psychische Geborgenheit ten anzugehen sind. Fachlich gutes erzieherisches Handeln sowie psychosoziale Stärkung: Es sind vertrauensvolle Per- ist zunächst so zu verstehen, dass in Alltagssituationen die sonen ansprechbar, die auch emotionalen Rückhalt bieten. wachstumsbezogenen Aufgaben erkannt werden. Daneben Es gibt Räume, die Schutz, Anerkennung, Rückzug und kommt es darauf an, im komplexen Geschehen des Alltags Austausch ermöglichen, und Gelegenheit für anregende, der Adressaten – oftmals unter Druck – angemessen zu bedürfnisbezogene Betätigungen bieten.
Im Fokus: „Gelingender Alltag“ in der Jugendhilfe | 9 Alltag fordert heraus. bedeutet daher auch, die Überzeugungen und Haltungen von Adressaten und Fachkräften – seien sie nun bewusst Probleme im Alltagsleben von Kindern und Jugendlichen oder unbewusst – zu hinterfragen, in ihrer Beschränktheit sind in der Regel nicht ausschließlich auf die aktuellen Le- aufzudecken und zu ihrer Entkräftung auch Gegenerfah- bensumstände zurückzuführen. Sie sind immer auch ein rungen zu vermitteln. Ausdruck eines Mangels an Fähigkeiten in der Bewältigung anstehender Aufgaben, sei es nun im sozial-kommunika- Alltag vereinnahmt. tiven, im schulisch-kognitiven oder im emotionalen Bereich. „Gelingendes sozi- Erziehungshilfen verstehen sich als Kontext, in dem notwen- Mitarbeiter/innen in sozialpädagogischen Diensten werden alpädagogisches dige Kompetenzen in einer Weise erworben werden können, durch die Diskrepanz zwischen dem Alltag von Adressaten Handeln setzt die dass ihre Bedeutung in der Alltagsbewältigung unmittelbar und ihren eigenen fachlichen Zielen herausgefordert. In der erkennbar ist. Konfrontation mit manch befremdlichen Facetten in Bezug Fähigkeit voraus, auf Gewalt, Ernährung, Medienkonsum und Lebensbedin- immer wieder eine Die Förderung kognitiver Funktionen und Motorik sowie gungen des jungen Menschen sind sie Loyalitätskonflikten Beobachterrolle kreatives Gestalten unter Einsatz von Medien, handwerk- ausgesetzt. Der Alltag der Adressaten strapaziert die Ner- einzunehmen, liche Projekte und sportliche Aktivitäten sind in den Alltag ven, verstellt den eigenen Blick, vereinnahmt, macht viel- Distanz zu gewin- so integriert, dass dadurch sowohl Bedürfnisse befriedigt als leicht auch abhängig. nen, neue Fragen auch Anforderungen gestellt werden. Schwierigkeiten, die zu stellen und aus Alltagssituationen heraus entstehen können, müssen In dieser Lage setzt gelingendes sozialpädagogisches Han- eigene Grenzen zu nachvollzogen, kommuniziert und bewältigt werden. deln die Fähigkeit voraus, immer wieder eine Beobachter- sehen.“ rolle einzunehmen, Distanz zu gewinnen, neue Fragen zu Zurechtkommen im Alltag scheitert oft an Widerständen, stellen, eigene Grenzen zu sehen. Für die Beobachterrolle ist die ihrerseits selbst wieder „altbewährte“ Gewohnheiten konstitutiv, dass sie phasenweise den Blick auf bestimmte sind. Nicht kommunizieren wollen oder können, schädlicher Aspekte und Widersprüche eines komplexen Geschehens Konsum von Medien und Drogen, Vermeidung von Risiken (eigenes Verhalten, Verhalten Dritter, Interaktionen) richtet. oder das Nicht-wahrhaben-wollen von Schwächen können Was die Handlungsorientierung des Im-Alltag-Erziehenden Anlässe für wiederholtes Scheitern sein. Gelingender Alltag anbetrifft, so kann man unterstellen, dass sie/er mit zuneh-
Waldhaus-Jahresbericht 2018 | 10 mendem Grad von Professionalisierung auch im Vollzug des macht ein alltagsbezogener Hilfeansatz vielfältige, oftmals Handelns ständig reflexive Prozesse einsetzen wird. einschneidende Interventionen notwendig, wie etwa das praktische Schaffen von Freiräumen, Betätigungs- und Alltag will verstanden werden. Lernfeldern, die Umsetzung neuer Regeln, von aktiv aufsu- chender Arbeit, das Einfordern von Verbindlichkeiten, das Eine Veränderung und Erweiterung des Alltagslebens des Verfügbarmachen von Ressourcen, die Krisenintervention zu jungen Menschen im Rahmen einer Wohngruppe, Tages- ungewohnten Tages- und Wochenzeiten, die Konfrontation gruppe, einer sozialen Gruppenarbeit, einer mobilen Be- mit persönlichen oder familiären Sackgassen, das Knüpfen treuung oder im Jugendhaus eröffnet konstruktive Möglich- und Vermitteln hilfreicher Kontakte. keiten, problematische Einstellungsmuster zu hinterfragen, indem sie erstens den Einzelnen und die Familie entlastet, Alltag befähigt. zweitens die Bereitschaft zur Selbstkonfrontation erhöht und drittens in einem gelingenden Verlauf eine ehrlichere Familienergänzende Erziehungshilfen bauen auf verbind- Kommunikation zwischen den Beteiligten fördert. So mag liche und verlässliche Beziehungen. Diese bilden den Hinter- das „Eintauchen“ in eine fordernde, attraktive Gruppenat- grund für alle Forderungen, denen sich der junge Mensch mosphäre den Adressaten neue Handlungsperspektiven er- im Rahmen der Maßnahme ausgesetzt sieht. Regeln, die es öffnen: „Flucht ist keine Lösung!“ / „Es gibt Leute, die mich einzuhalten gilt, und Absprachen, denen nachzukommen „Eine zentrale mögen.“ / „Ich habe Freiräume für eigene Interessen.“ / „ich ist, erhalten ihren Stellenwert zu allererst im Kontext einer Aufgabe sozial- will meine Familie nicht verlieren.“ / „Wenn es Probleme Beziehung zu Erwachsenen, die im Alltag des Kindes bzw. pädagogischer gibt, ist jemand für mich da.“ – Komplementär mögen auch des Jugendlichen eine glaubwürdige Rolle spielen. Dass An- Arbeit besteht Eltern erkennen, dass eine „Einrichtung“ mit ihren Res- gekündigtes tatsächlich umgesetzt wird, ist für viele betrof- darin, den beste- sourcen dem Kind bzw. dem Jugendlichen Wege aufzeigen fene junge Menschen in ihren sonstigen Lebenskontexten henden Alltag kann, um den Alltag gelingend zu bewältigen, Fähigkeiten eine eher seltene Erfahrung. Dementsprechend besteht das zu entdecken und neue Interessen zu entwickeln. pädagogische Engagement vor allem darin, auszuhandeln eines jungen und abzusprechen, was der Einzelne oder was man gemein- Menschen zu Dazu muss aber die Erfahrung kommen, dass Alternativen sam zu bewerkstelligen hat. erweitern.“ im Alltagsleben verwirklicht werden können. Manchmal
Im Fokus: „Gelingender Alltag“ in der Jugendhilfe | 11 Eine zentrale Aufgabe sozialpädagogischer Arbeit besteht darin, den bestehenden Alltag eines jungen Menschen Beruflicher Werdegang: zu erweitern. Eine solche Erweiterung muss in mehreren Studium der Psychologie und der Erziehungswissen- Dimensionen – im örtlichen, im inhaltlichen sowie im psy- schaft an den Universitäten Marburg und Tübingen. chisch-interpretativen Sinn – verstanden werden. Ausge- Tätigkeit in Feldern der lebensfeldbezogenen Erzie- hend vom bestehenden Lebensfeld des Heranwachsenden hungshilfe und in der ambulanten Kinder- und Ju- und der Eigenständigkeit seines Alltags setzen die Angebote gendpsychiatrie. dort an, wo angesichts mangelnder Entwicklungschancen neue Handlungsfelder erschlossen werden können. Seit 2004 Studiengangsleiter, von 2010 bis 2013 Ge- schäftsführer, seit 2014 Vorsitzender der Fachkom- mission Sozialwesen an der DHBW / Landeslehrpreis Baden-Württemberg DHBW 2010 / Forschungsför- derlinie DHBW 2013. Prof. Dr. Matthias Moch ist Studiengangsleiter „Erziehungshilfen/Kinder- und Jugendhilfe“ an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in Stuttgart. Er ist Diplom-Psychologe und Supervisor (BDP).
Waldhaus vor Ort | 13 Stationäre erzieherische Hilfen: Ambulante und teilstationäre erzieherische Chancen entwickeln, wo andere Hilfen: nur Probleme sehen. Gemeinsam lernen, auf eigenen Resozialisierung und Beheimatung durch ein strukturiertes Füßen zu stehen. Beziehungsangebot in Wohngruppen und mit Hilfe von Aufsuchende Sozialarbeit und Hilfen bei der Erziehung: Wir gruppenpädagogischen und darin integrierten individuellen beraten und unterstützen im Gesamtsystem „Familie“. Konzepten. Jugendberufshilfe: Kommunale Jugendsozialarbeit: Heute lernen, was Wir kümmern uns um die morgen wichtig ist. Erwachsenen von morgen. Impulsgebendes, modulares Arbeiten unter ganzheitlicher Gemeinwesenorientierte Jugendsozialarbeit in der Kom- Einbeziehung der Jugendlichen mit dem Ziel einer erfolg- mune zusammen mit den ansässigen Schulen und Institu- reichen Vermittlung in Ausbildung oder in Arbeit. tionen: Wir arbeiten für und mit den Jugendlichen vor Ort.
Stationäre erzieherische Hilfen | 15 Rückblick 2018 | Stationäre erzieherische Hilfen „Gelingender Alltag“ in der Heimerziehung Jugendhilfe bzw. die Wohngruppen sollen Kindern und Jugendlichen ein „Zuhause“ bieten, wenn sie aus den verschiedensten Gründen temporär nicht bei ihren Eltern leben können. Sie kommen aus unterschiedlichsten Situationen und Erlebnissen in eine Wohngruppe und ziehen dort ein. „Wie ist es, nicht mehr bei den Eltern und der Familie leben zu können, und wie geht es den Jugendlichen damit?“ – Meistens ist diese Entscheidung kein gewünschter Weg sondern „Wir versuchen fremdbestimmt. Und es ist eine große Umstellung für die Jugendlichen, denn ihr ganzer Alltag bedürftigen stellt sich auf den Kopf. Jugendlichen zu helfen, wenn Die Mitarbeiter/innen nehmen sich Zeit, sie hören zu und hel- Probleme gilt es zu klären und zu lösen. Es gilt, den Kontakt die Eltern als fen ihnen dabei, in der Gruppe anzukommen und sich zu in- zur Schule oder zum Ausbildungsbetrieb zu halten, und die Erziehungs- tegrieren. Die Jugendlichen brauchen Menschen, die sich auf Jugendlichen bei ihrem schulischen und beruflichen Werde- berechtigte sie einlassen, sich kümmern, mit ihnen mitfühlen, wenn sie gang zu unterstützen. Und natürlich alles, was so zu einem ausfallen und Streit mit Freunden oder Liebeskummer haben. Sie brauchen „normalen“ Alltag dazugehört: Mithelfen im Haushalt, die Betroffenen Menschen, die wertschätzend mit ihnen umgehen, die sie Wäsche waschen, putzen und aufräumen, aber auch die alleine nicht loben, wenn sie etwas gut gemacht haben, und die ihnen da- Hobbys der Jugendlichen. Die Jugendlichen bekommen eine bei helfen, mit Fehlern umzugehen und zu Fehlern zu stehen. Struktur für ihren Alltag, sie bekommen Grenzen gesetzt. Es mehr zurecht gibt aber auch Raum zur Mitbestimmung, z. B. gibt es eine kommen.“ In einem „Zuhause“ ist man verletzlich und zeigt Gefühle, wöchentliche Gruppenbesprechung, in der überlegt wird, Michael Weinmann die Jugendlichen sollen sich ernst genommen fühlen mit was am Gruppenabend gemacht wird. ihren Themen. In jeder Wohngruppe leben acht Jugendli- che. Da entstehen im Alltag Konflikte untereinander aber Auf den folgenden Seiten wollen wir Einblicke geben, einen auch mit den Betreuern. Dazu kommen ggf. Konflikte und Querschnitt aus dem Alltag der Gruppen zeigen und Mitarbei- Schwierigkeiten in der Schule oder in der Ausbildung. Diese ter und Jugendliche über ihren Tagesablauf berichten lassen.
Stationäre erzieherische Hilfen | 16 Tagesablauf in einer stationären Wohngruppe (WG) 6:00 Uhr | Wecken der Jugendlichen 16:00 Uhr | Bäder- und Gruppendienste Sieben Jugendliche stehen auf und gehen ins Bad, einer hat keine Celine und Sophie machen ihre Dienste gut, Leonie versucht zu Lust. Er bleibt im Bett. Betreuer stellt Musik an, damit er wach wird. schummeln: Sie macht den Bodenwischer nass, ohne den Boden zu wischen, und meint dann, sie wäre fertig. 6:30–7:30 Uhr | Frühstück 7:30–8:00 Uhr | „Los geht`s!“ zur Schule bzw. Ausbildung 18:30 Uhr | Abendessen Emil kommt zurück. Die Bahn fällt aus, er schreibt aber eine Beim Abendessen kommt es wegen einer Kleinigkeit zum Klassenarbeit in der ersten Stunde. Schnell ins Auto und los geht Streit zwischen Ben und Emil. Die beiden gehen aufeinander „Eine gute All- die Fahrt nach Böblingen zur Schule. los, die Stühle fallen auf den Boden. Der Betreuer muss dazwi- tagsgestaltung schengehen. Nach einem klärenden Gespräch 8:30 Uhr | Dienstende für den Betreuer wird das Abendessen fortgesetzt. ist keine ein- 12:00 Uhr | Dienstbeginn des Betreuers fache Aufgabe 20:00 Uhr | Gruppenabend Auf dem Anrufbeantworter ist eine Nachricht aus der Schule. So- Zum heutigen Gruppenabend haben die Jugendlichen U sondern eine phie ist dort nicht angekommen, sie hat den ganzen Tag gefehlt. in der letzten Besprechung entschieden, dass sie tägliche Heraus- einen Filmeabend machen wollen. 12:30 Uhr | Die ersten Jugendlichen kommen. forderung.“ Schon geht es rund mit Erzählungen vom Vormittag. Sie haben sich gemeinsam einen Film ausgesucht. 13:00 Uhr | Mittagessen 22:00 Uhr | Nachtruhe/Zimmerzeit 14:00 Uhr | Lernzeit Moritz möchte keine Hausaufgaben machen, er In der Wohngruppe wohnen acht Jugendliche, es ist wird wütend und wirft alle Hefte und Bücher durch immer mindestens ein Betreuer anwesend. das Zimmer und rennt aus dem Haus.
Stationäre erzieherische Hilfen | 17 Fallzahl ION Stationärer Bereich 2018 Belegung am 31.12.2018 Gesamtbelegungstage 411 Anteil des Amtes für Jugend und Bildung Böblingen 10 1 9 6 8 8 8 4 8 7 9 3 6 6 6 6 3 6 5 4 5 6 5 5 5 5 4 4 4 4 4 4 4 3 3 3 UMA-Clearinggruppe 8 3 3 3 AWG Eichenhof AWG Haus Johannes 2 2 Team 1 Team 2 Hailfingen 1 1 0 AWG AWG Intensiv- Regel- WG VP VP UMA VP UMA WG UMA VP UMA VP UMA VP BJW BJW BJW Eichenhof Haus betreuung gruppe Stein- Stein- Haus Uhlandstr. Uhlandstr. 1. OG 2. OG 3. OG Marien- Schönaich Rutes- Johannes im Heim im Heim graben graben Johannes Holz- Holz- Bahnhofstr. Bahnhofstr. Bahnhofstr. straße heimer gerlingen gerlingen Leo Leo Leo Hbg. Straße Leo Belegung Jugendamt BB
Stationäre erzieherische Hilfen | 18 Einblicke in den Erzieher-Alltag Zum Beispiel an einem Wintersporttag, an dem die Jugend- (Intensivwohngruppe, Hildrizhausen) lichen etwas lernen wollen, weil es „cool“ ist, etwas zu beherrschen, was man bisher noch nicht kann, etwa Snow- Ein normaler Tag im Waldhaus in Hildrizhausen startet in boardfahren. Die Geschwindigkeit des Lernprozesses hier der Regel mit „Fahrstuhlmusik“ aus dem Mobilteil des Fest- und bei den Lernprozessen im „uncoolen“ Alltag könnte netztelefons im Büro des Intensivbetreuten Wohnens. Zu man im medialen Zeitalter mit einem Breitbandinternet- diesem Zeitpunkt war man bereits ein „Bastard“, „Idiot“, anschluss und einem klassischen 56k-Modem (piepen und „Spast“ oder wahlweise auch der „Depp vom Dienst“ bzw. tuten) vergleichen. – Dieses Gefühl des „Lernen-Wollens“ „im Dienst“. Denn am Vortag hatte man für die männlichen sollte man in Flaschen füllen und verkaufen. Bewohner im Alter von 14 bis 18 Jahren meist unliebsame Entscheidungen getroffen, die ihren Alltag bestimmen. Die gute Nachricht dabei ist, dass die Bewohner unserer Gruppe nicht lernbehindert sind! Aus dieser Erkenntnis Es gibt aber auch Lichtmomente der Pädagogik, wenn man schöpft man eine immense Energie. So sind es im Alltag die die Jugendlichen nicht quer durch den Supermarkt daran kleinen Erfolge, die uns auch in diesem Jahr wieder ein Lä- erinnern muss, den Finger nicht in Lebensmittel zu stecken cheln ins Gesicht gezaubert haben. oder sonstige originelle Verhaltensweisen in der Öffentlich- keit an den Tag zu legen. „Kein Tag ist wie der andere, so bleibt die Arbeit als Erzieher immer interessant und abwechslungsreich.“
Stationäre erzieherische Hilfen | 19 Alltagsbericht eines Jugendlichen und die Welt (wobei es eher heißen sollte: „Mädchen und die (C. D., Waldhaus-Wohngruppe) restliche Hälfte der Menschheit“). Wir steigen aus und verab- schieden uns, J. nach rechts zum Bus und ich zu meiner Schule. Mein Tag fängt wie bei jedem anderen damit an, dass ich auf- wache. Wie immer klingelt mein Handywecker um 6 Uhr. Ich Nach der Schule ... stehe auf, wasche mich, putze meine Zähne und ziehe mich Der Schultag war lang und öde. Wie jedes Mal schreibe ich mir an. Es ist ein nach sibirischen Verhältnissen frischer Mon- eine Notiz, dass ich endlich damit anfangen sollte, mir Pausen- tagmorgen und ich lege mich wieder ins Bett, um ein letztes brote am Tag davor zu machen. Und wie jedes Mal weiß ich, bisschen Schlaf zu erhaschen, bevor der Fahrdienst uns um dass ich es eh wieder nicht machen und es spätestens morgen 7.10 Uhr runter zur Bushaltestelle fährt. Um 7 Uhr kommt J. Mittag wieder bereuen werde. – So, jetzt ein Zeitsprung zum in mein Zimmer gerannt: „Du weißt schon, dass es 7 Uhr ist, Unterrichtsende: „Endlich aus!“ – Ich checke mein Handy. Ich oder?!“ Ich, noch im Halbschlaf, lasse ihm seinen Moment, habe ein paar neue Nachrichten, unter anderem von J. „Hey damit er sich in seiner eigenen Selbstherrlichkeit sonnen kann C., ich warte am Bahnhof, die Bahn kommt in 7,5 Minuten.“ – und bleibe noch bis um 7.05 Uhr unter der Decke liegen und Okay, dann mal los! Ich gehe raus und laufe los. „5 Minuten“, genieße die Gemütlichkeit meines Bettes. Jetzt jedoch muss schreibe ich zurück. Ich lasse mir Zeit, die Bahn kommt erst um alles schnell gehen! Ich springe auf und renne ins Bad. Haare 15.35 Uhr. Schon von weitem sehe ich J., wie er dasteht und okay? – Sieht ganz gut aus! aufs Handy starrt. Ich gehe zu ihm, wir schlagen ein. „Willst du Sofa-Ecke im WG-Zimmer auf auch einen?“, frage ich und halte ihm einen meiner Kopfhörer dem Waldhaus-Stammgelände „Last minute“-Aufbruch entgegen. „Natürlich Digga“, antwortet er und nimmt wie Ich rutsche auf meinen Socken zurück ins Zimmer. Jacke an, immer den linken (keine Ahnung warum). Ich starte die Mu- Schuhe an. Welche Schuhe? Die roten! Mist, die roten sind sik und so fahren wir zur Sporthalle zur Fußball-AG. Wir kom- dreckig! Dann halt die blauen. – Mütze? Wenn ja, welche? Ich men an und werden direkt mit den Worten „noch eine Minute, ziehe die Raiders-Football-Mütze an. Warum habe ich meine Jungs!“ in die Umkleide gehetzt. Haare gemacht? Egal, keine Zeit zum Denken! – Geldbeutel, Handy, Kopfhörer, Schulranzen, alles dabei. Ich renne zum Büro, kurzer Blick auf die Uhr: 7.09 Uhr, noch eine Minute. Ich renne runter zum Fahrdienst. An der Bahnstation angekommen steigen wir in die Bahn ein, diskutieren ein bisschen über Gott
Stationäre erzieherische Hilfen | 20 Fußball als „ausgleichende“ Sporteinheit Abendprogramm Die nächste Stunde verbringen J. und ich damit, uns gegenseitig Um 18.30 Uhr wache ich wieder auf, geweckt von R.’s Ru- Feuer unterm Hintern zu machen, indem wir versuchen, durch fen: „Eeesseeen!“ Wie schon vor 45 Minuten hieve ich mich Grätschen, Schubser und Tackles den Ball zu bekommen. Spä- wieder hoch und sitze vollkommen verpennt am Esstisch. ter sitzen wir vollkommen verschwitzt im Waldhaus-Bus und fa- Das Essen war ganz passabel. Die Zeit nach dem Abendes- hren zurück. Ich schleppe mich mit schmerzenden Gliedmaßen sen verbringe ich damit, auf der Gitarre das verdammte „F“ die Treppe hoch und falle in die Dusche. Eine halbe Stunde und zu lernen. – Vollkommen unmöglich, wenn ihr mich fragt … eine Körpertiefenreinigung später falle ich auf mein Bett. Ich checke meine Nachrichten und antworte auf die, die mir wich- Um 20.30 Uhr sitze ich am Esstisch mit allen Jugendlichen tig erscheinen. Ich stecke mein Handy ans Ladekabel und liege und die Jugendlichenbesprechung beginnt: Wer will eine einfach da. Einfach. Nur. Liegen. Heimfahrt? Okay R. geht. Themen der Jungs? Keine (auch Ich lasse den Tag Revue passieren und schlafe fast ein, da mal gut). Wer kocht wann? C. am Donnerstag, wie jedes kommt H. in mein Zimmer: „C., komm mit, wir machen Wä- Mal. – So schnell wie die Jugendlichenbesprechung anfing, sche.“ Ich hieve mich vom Bett hoch und packe meinen Wä- ist sie auch wieder vorbei. Ich packe meine Schulsachen für schekorb. Und dann beginnt meine Reise mit einer Tonne Wä- morgen und dann ab in die Heia. Morgen ist wieder ein an- sche die Treppen runter, die Treppen hoch, nochmals die Treppe strengender Tag! runter und endlich bin ich da. Ich sortiere meine Wäsche: weiß, schwarz, Socken, Jeans, alles an den vorgesehenen Platz. Auf dem Rückweg rauche ich noch geschwind eine und falle wie- der in mein Bett. Kaum berührt mein Kopf das Kissen, bin ich auch schon eingeschlafen.
Stationäre erzieherische Hilfen | 21 „Wohngruppen-Alltag einer und Mittagessenszeit. Wir sitzen zu viert am Tisch, heute DHBW-Studentin“ (WG Steingraben) nur in kleiner Runde durch die Mittagschule am heutigen Tag. Drei Jugendliche wollen ihre Lernzeit mit der Betreuerin „Tock, tock! Kannst du bitte die Küche aufschließen?!“, ruft es nutzen. Schön, dass heute die „duale” Studentin da ist, zu heute Morgen um 5.30 Uhr an der Türe des Büros. Da ich eh zweit lassen sich die vielen Bedarfe der Jugendlichen besser Wann gehst du nur noch im Halbschlaf bin, stehe ich auf und richte den Früh- abdecken. Zwei Stunden und gefühlt 100 Gleichungen, 200 zufrieden stückstisch. Im Hinterkopf habe ich dabei, dass die Frühstücks- Englischvokabeln und drei Chemieberichte später ist die Lern- nach Hause? zeit unter der Woche laut Regelwerk von 6 bis 8 Uhr ist. Da zeit vorbei. Es ist 18 Uhr und die Betreuerin bittet Moritz, dass „Wenn alles bin ich aber nicht zu streng, denn ohne Frühstück ins Praktikum er den ersten Teil des Küchendienstes erledigen soll. Nun wird Wichtige ge- ist natürlich nicht gesund und ehe ich mich versehe, wuselt es gemeinsam der Tisch für ein leckeres Vesper gerichtet. schafft ist und schon im Haus. Bis auf Ahmed, er schläft noch, denn er hat erst um 10 Uhr Schule. Um 9 Uhr kommt Ahmed aus dem Zimmer Abendprogramm der Tag ab- und frühstückt gemütlich. Um 9.30 Uhr geht er zum Bus. End- Um 18.30 Uhr sitzen fast alle pünktlich am Abendessentisch. wechslungsreich lich Feierabend! Nur noch schnell die Übergabe fertig schreiben Weil heute das B-Jugendtraining in Altdorf ist, kommt Mike war.“ für meine Kollegen. nicht zum Abendessen. Anna hat Ballett und Julius Boxen. Die drei kommen erst gegen 20 Uhr ausgehungert vom Training Schichtwechsel zurück. Zum Glück ist die Küche heute bis 21 Uhr offen und Um 12 Uhr hört man, wie das Türschloss geht, Dienstbeginn es gibt je ein riesiges Sandwich für für die Kollegin, die heute Nachtdienst hat. Sie ist ab jetzt die drei. Um 21.30 Uhr kommen die neue Ansprechpartnerin für alle und bis morgen früh im zwei andere Jugendliche zurück, Dienst. Erstmal ankommen und in der Übergabe lesen, was die nach dem Essen noch eine Run- gestern los war, Mails checken, Anrufbeantworter abhören de in Herrenberg unterwegs waren. und nach der heutigen „To-do“-Liste schauen. Da heute ein Wochentag ist, ist um 22 Uhr Schlafenszeit und somit eine Mittagessen & Hausaufgaben Stunde später Feierabend für mich. Währenddessen geht immer wieder die Haustüre. Die ersten Am Freitag und am Samstag heißt Jugendlichen kommen nach Hause und schon ist es 13 Uhr es dagegen durchhalten bis 24 Uhr! Die „Zentrale“ der WG Steingraben
Stationäre erzieherische Hilfen | 22 Tagesablauf in der Außenwohngruppe Wir Betreuer/innen haben dabei nicht den Anspruch, die Her- „Eichenhof“ kunftsfamilie zu ersetzen. Ein solcher Ansatz wäre zum Schei- tern verurteilt. Wir können jedoch Schritt für Schritt Vertrauen „Morgens frühstücken wir zusammen, danach werden wir aufbauen und stabile, verlässliche Beziehungen anbieten. Ge- an den Bahnhof gefahren. Von dort aus gehe ich in die nau das machen wir täglich. Schule. Wenn es bei mir gut läuft, so wie heute, kann ich danach noch etwas raus und Zeit mit Sichtbar wird dies unter anderem dann, wenn die Jugend- meinen Freunden verbringen. Das bespreche lichen sich über den Eichenhof unterhalten und sagen, dass ich natürlich zuvor. Wenn ich dann zurück von der Eichenhof ihr „Zuhause“ oder ihr „zweites Zuhause“ ist. meinen Freunden komme, steht das Mittagessen Es verwundert in diesem Zusammenhang auch nicht, dass die bereits auf dem Herd. Ich esse was und erzäh- Jugendlichen im Eichenhof überdurchschnittlich freiwillig lan- le dabei von meinem Tag. Im Anschluss muss ge in unserer Wohngruppe leben. In den allermeisten Fällen ich Hausaufgaben machen. Das nervt mich ab folgt der Auszug nach erfolgreicher Beendigung der Schullauf- und an schon. Ich versuche, das selbstständig bahn oder nach einer beständigen Phase in der Ausbildung. zu erledigen, aber wenn es schwierig ist, kann Zu diesem Zeitpunkt hat man einen weiten gemeinsamen Weg ich immer nachfragen und mir wird geholfen. Ist das mal erledigt, gehe ich mit den anderen Jungs raus auf den Hof und wir spielen noch Fußball. Heute kann ich nur kurz mitspielen, Die komplette WG „Eichenhof“ im weil ich noch ins Basketballtraining gehe. Danach ist der Sommer 2018 – mit Bereichsleiter Tag eigentlich schon vorbei.“ Michael Weinmann (Waldhaus), Jugendamtsleiterin Gabriele Schmauder (Stadt Leonberg) und So oder so ähnlich unspektakulär hören sich die Tagesabläufe Sozialdezernent Alfred Schmid von vielen Jugendlichen im Alter von 14 Jahren an. Mit einem (Landkreis Böblingen) Unterschied: Dieser Jugendliche wohnt mit sieben anderen Jugendlichen in der Wohngruppe „Eichenhof“.
Stationäre erzieherische Hilfen | 23 zurückgelegt. Beide Seiten – Jugendliche/r und Betreuer/in – Es gibt regelmäßig Einzelgespräche mit den Jugendlichen. wissen, dass es nun Zeit für einen neuen Lebensabschnitt ist, Diese werden positiv wahrgenommen. „Mit ihnen können auf den man bestmöglich vorbereitet wurde. wir über alles reden. Man wird bei Krisen oder der Zukunfts- planung unterstützt. Außerdem sagen uns die Betreuer je- Der Tagesablauf im „Haus Johannes“ (AWG) den Tag, was wir machen müssen. Und sie sind immer gut drauf!“ – Zurzeit haben wir backbegeisterte Bewohner Die Begrüßungen im Haus Johannes sind etwas Besonderes. im Haus. Es macht Spaß, einen Kuchen zu backen und vor Von einer Jugendlichen bekommt man immer zur Begrü- allem, gemeinsam zu backen und zu essen. ßung ein lautstarkes und fröhliches „Hiiiii“ zu hören. Man fühlt sich dann einfach willkommen. Mein Tagesablauf (BJW Marienstraße) Bei uns im Haus gibt es ein blaues Zimmer, hier finden alle Wenn ich morgens aufstehe, dusche ich mich und esse et- gemeinsamen Aktionen statt: Hausaufgaben erledigen, ein was. Dann gehe ich zur Friedrich-Fröbel-Schule. Dort mache Spiele-Abend oder wir schauen gemeinsam einen Film. „Ich ich einen Bundesfreiwilligendienst (Bufdi). Auf der Arbeit bekomme Vokabeln abgefragt, es ist schön, mit anderen helfe ich den Lehrern. Ich spiele mit den Kindern und bin lernen zu können und nicht allein zu sein.“ Im blauen Zim- beim Essen mit dabei. Um 16 Uhr gehe ich nach Hause. Nach mer ist man bei Schwierigkeiten nie auf sich allein gestellt. der Arbeit gehe ich zum Fitness. Danach besuche ich das Man hat laut unserer jugendlichen Bewohner „immer ein Büro, wenn ich Hilfe brauche. paar Gehirne, die mitdenken“. Ich möchte Kinderpfleger werden. Ich habe mir eine Praktikumstelle organisiert. Wenn ich zu Hause bin, koche ich mir et- was zum Essen. Das Jahr 2018 war gut für mich, da ich den Hauptschulabschluss ge- macht und den Bufdi begonnen habe. „Guten Appetit!“: Alle(s) bereit fürs Mittagessen im Haus Johannes
Stationäre erzieherische Hilfen | 24 „Highlights“ aus den Wohngruppen Team II | Regelwohngruppe VP Steingraben Herrenberg Im Jahr 2018 gab es viele Ausflüge und Aktivitäten. Dabei „Partizipation lebendig gestalten und erfahr- war der Bodensee ein sehr beliebtes Ziel, vorne weg der bar machen ...“ Affenberg in Salem. Hier konnten wir hautnah die dort le- Zweimal im Jahr findet in der Verselbstständigungsgruppe benden Affen bestaunen. Sportlich wurde es beim Trampo- im Steingraben Herrenberg eine Hausversammlung für alle linspringen in der Sprungbude, beim Schwarzlicht-Minigolf, VP-Bewohner/innen und alle Mitarbeiter/innen statt. Dieser Pitpat spielen (Mischung aus Billard und Minigolf) oder Termin sowie die wöchentlich stattfindende Gruppenbe- beim Tretbootfahren mit anschließendem Eisessen. Auch die sprechung sind verpflichtend für alle. Dieser Rahmen bietet Kreativität durfte nicht fehlen: Wir bastelten fleißig, mal- den jungen Menschen eine Möglichkeit, ihren Lebensmittel- ten oder stellten Kunstwerke aus Alu-Dosen her. Im Winter punkt und den Alltag aktiv mitzugestalten. Die Regelgruppe auf „Entde- backten wir Plätzchen und liefen Schlittschuh. ckungstour“ im Elbsandstein- Wir haben für die VP (Verselbstständigungsplätze) ein Regel- gebirge und im Kletterpark. Unsere Sommerfreizeit führte uns nach Dresden und in die werk, welches das Zusammenleben der jungen Menschen in Sächsische Schweiz. Es war eine Mischung aus Kultur und den Wohngemeinschaften sowie ihre Rechte und Pflichten Erlebnispädagogik, was allen viel Freude bereitet hat. Wir regelt. Die Regeln sind jedoch nicht starr. Sie können in ge- erkundeten die Stadt Dresden, machten eine Tagestour im meinsamen Aushandlungsprozessen zwischen Jugendlichen Kanu und besuchten die Tiere im Dresdner Zoo. und Mitarbeitern verändert werden. Denn uns geht es da- rum, dass die jungen Menschen reflektieren und sich fragen: Ein Highlight des Jahres war sicherlich die Renovierung der „Welche Regeln sind gut und sinnvoll? Was ist mir wichtig? Wohngruppe im August, während der wir auf Sommerfrei- Kann ich tatsächlich etwas bewirken, wenn ich für meine zeit waren. Wir fühlen uns super wohl und haben uns in un- Meinung einstehe?“ serem „neuen“ Zuhause wieder gut eingelebt.
Stationäre erzieherische Hilfen | 25 Schon seit Längerem WG Steingraben Herrenberg wurde in Gruppenbe- sprechungen der leise » Winterfreizeit in Todtnau mit Skifahren und Rodeln Wunsch nach einem » Sommerfest mit Ehemaligentreffen offeneren Umgang » Sommerfreizeit in Falkau im Schwarzwald mit Übernachtungs- » Erste-Hilfe-Kurs mit den Jugendlichen und mit Folkert gästen von außer- » Zuckerfest halb in der Gruppe geäußert. In der Hausversammlung » Schlittschuhlaufen mit Franzi Ende 2017 wurde dieser Wunsch lauter und so wurde ein » Bowling Schreiben an den Bereichsleiter gerichtet. Zusätzlich fasste » Schwimmbad sich ein Mitbewohner ein Herz und sprach bei einem zufäl- » Adventsbasar Hilde-Domin-Schule ligen Zusammentreffen die Bereichsleitung direkt an. Die » Interne Steingraben-Weihnachtsfeier Antwort lautete ungefähr: „Es gibt keine Regel, die in VP » Legal sprayen als Gruppenabend in Bad Cannstatt bei über 18-Jährigen Übernachtungsbesuche verbietet. Ihr » Kartbahn in Gärtringen müsst schauen, wie ihr es umsetzen könnt, damit es keine » Kicken im Soccer-Park als Abschied für Amer WG Steingraben auf Winterfreizeit Probleme gibt.“ in Todtnau (Schwarzwald) Seit Anfang 2018, nachdem wir in der Hausversammlung gemeinsam mit den Jugendlichen überlegt haben, wie die Übernachtungsbesuche gestaltet werden können, haben wir fast jedes Wochenende Gäste. Wir Mitarbeiter spüren, wie wichtig unseren Mitbewohnern dieser Freiraum ist, und des- halb schützen sie ihn besonders und halten sich an die von ihnen vereinbarten Regelungen. Sie haben die Erfahrung ge- macht, dass ihre Meinung wichtig ist, dass sie mit ihrem An- liegen ernst genommen wurden und dass sich persönlicher Einsatz eben doch positiv auswirken kann.
Stationäre erzieherische Hilfen | 26 UMA-WG Uhlandstraße VP Bahnhofstraße Leonberg, BJW Herrenberg, BJW Schönaich (UMA) Mit einem runderneuerten Team um die Hausleiterin Tanja König startete die UMA-Wohngruppe Uhlandstraße in das In beiden Betreuungsformen (BJW = Betreutes Jugendwoh- Jahr 2018. Die weiter abnehmenden Flüchtlingszahlen wirk- nen, VP = Verselbstständigungsplätze) wohnen ehemalige ten sich auch auf die Arbeit in der Wohngruppe aus, sodass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge an drei Standorten sich vermehrt um die weitere Integration der Jugendlichen im Landkreis. Der Alltag war geprägt von der Begleitung und jungen Erwachsenen in Schule, Verein und sozialem der Jugendlichen im ersten Lehrjahr, vor allem auf der schu- Umfeld gekümmert werden konnte. Neben dem Erwerb von lischen Seite, beim Schulabschluss und bei der Suche nach Schulabschlüssen stand auch das Finden von Ausbildungs- Ausbildungsplätzen. Ein weiteres großes Thema ist die Woh- plätzen im Vordergrund. nungssuche, die Jugendlichen werden älter und selbststän- Im 3D-Kino des Technikmuseums diger und können demnächst alleine wohnen. Es ist jedoch Sinsheim ... Zum Abschluss des Ramadans im Mai organisierten die Ju- sehr schwierig, geeigneten Wohnraum zu finden. gendlichen gemeinsam ein großes Buffet und feierten mit vielen Gästen das Zuckerfest. Daneben hatten alle Gäste die Neben den ernsten Themen kam der Spaß auch nicht zu Möglichkeit, ihre Kräfte beim Tischtennisturnier und beim kurz, wir haben immer wieder kleine Ausflüge gemacht. Tischfußball beim Zuckerfest Tischfußball zu messen. In den Sommerferien stand eine Eine Gruppe hat dabei beim Tagesauflug nach Überlingen einwöchige Gruppenfreizeit nach Glückstadt an der Nordsee an. Die Gruppe unternahm viele Ausflüge – zu Fuß ins Wattenmeer, mit dem Schiff durch den Hamburger Hafen ... Veränderungen in der Gruppe durch Aus- und Ein- „Keine Panik!“ beim Tretbootfahren auf züge führten dazu, dass der Fokus wieder mehr auf dem Bodensee gemeinsame Aktivitäten gelegt wurde. Regelmäßi- ge Ausflüge an den Wochenenden gehören genau- so dazu wie das gemeinsame Kochen und wöchent- liche Gruppenbesprechungen.
Stationäre erzieherische Hilfen | 27 am Bodensee ein „Highlight der besonderen Art“ erlebt: Die Freizeitgestaltung war geprägt vom Jahresthema un- „Wir hatten ein Tretboot gemietet und sind auf den See seres Auszubildenden Reza, der aufschreiben und sammeln gefahren, dann kam sehr starker Wind auf und hat uns sollte, was alles zur deutschen Kultur gehört. Daher waren abgetrieben, wir konnten aus eigener Kraft nicht mehr zu- wir im Dornier-Museum in Friedrichshafen, im Stuttgarter UMA beim Tanz rückstrampeln. Der Bootsverleiher musste uns mit einem Daimler-Museum, in der Staatsgalerie, im Heimatmuseum („Fest der Kulturen“) Motorboot zurückschleppen. Das hat den Jungs besonders Holzgerlingen, auf dem Cannstatter Wasen gut gefallen.“ und beim Weihnachtsmarkt in Ulm. In der Gruppe wurden auch die Hintergründe zum VP Uhlandstraße Holzgerlingen (UMA) „Tag der Deutschen Einheit“ besprochen und wie die Mülltrennung im Landkreis In der VP Uhlandstraße war die Arbeit der Mitarbeiter/in- Böblingen funktioniert. Außerdem gab es nen in der 1. Jahreshälfte darauf ausgerichtet, die Jugend- tolle hausinterne Veranstaltungen und Ver- lichen bei ihren Schulabschlüssen und den Bewerbungen für anstaltungen vom Waldhaus. Das „High- die weitere Schullaufbahn, für eine Ausbildung oder FSJ zu light“ war Ende Juli die dreitägige Freizeit unterstützen, sodass die Jugendlichen in diesen lebensprak- in Köln mit der ganzen Gruppe. tischen Bereichen immer selbstständiger wurden. Ab Som- mer 2018 stellten wir fest, dass unsere jugendlichen Flücht- linge wirklich in Deutschland und „bei uns“ angekommen sind. Es ist ein ganz großer Unterschied im Vergleich zum Beginn unserer Arbeit 2016. UMA im Stuttgarter Kunstmuseum
Ambulante und teilstationäre Hilfen zur Erziehung | 29 Rückblick 2018 | Ambulante und teilstationäre Hilfen zur Erziehung „Alltag“ – ein deutungsoffener Begriff Der Fachbereich „Ambulante und teilstationäre Hilfen zur Erziehung“ betreut Familien und Jugendliche in den drei Familien- und Jugendhilfeverbünden Gäu-Herrenberg, Leonberg und Schönbuch in ihrem häuslichen Umfeld (aufsuchende Betreuung). Wir sind dabei als Schwer- punktträger im Auftrag des Kreisjugendamtes für die Region in einer besonderen Verantwor- tung, was die Ausgestaltung der Jugendhilfe betrifft. „Alltag“ in den erzieherischen Hilfen, das ist die Bandbrei- »» Die Qualifizierung weiterer Mitarbeiter/innen in entwick- te zwischen Langeweile, ohne Besonderheiten, aber auch lungspsychologischer Beratung und zur insoweit erfah- Normalität und Routine. Die Routinen und Konzepte, der renen Fachkraft im Kinderschutz. Halt, feste Abläufe und Standards geben uns neben einer gelingenden Bewältigung unserer Aufgaben und Herausfor- derungen immer wieder noch Raum für die Durchführung be- sonderer Projekte. – Drei dieser Projekte seien hier erwähnt: A Alternativen L Lust, Last, Leben »» Gemeinsames Projekt des Waldhauses mit dem Kreisju- L Lernen, Langeweile gendamt, Außenstelle Herrenberg zur Partizipation von Kin- T Teilhabe, Türen öffnen dern, Jugendlichen und deren Eltern an der Hilfeplanung. »» Gemeinsames Projekt mit dem Kreisjugendamt und wei- A Aktiv, allumfassend teren Trägern der Jugendhilfe zum Thema „Nachhaltig- G Gestalten, gemeinsam keit“ mit wissenschaftlicher Begleitung durch die Uni- versität Tübingen.
Ambulante und teilstationäre Hilfen zur Erziehung | 30 die Bettdecke, die drei jüngsten Kinder weinen. Die älteste Tochter wurde vom Fahrdienst für den Kindergarten abgeholt. Mutter krümmt sich im Bett vor Schmerzen, jammert und be- tet. Der Kindsvater ist am Telefon, dies liegt neben ihr im Bett. Hole die Kinder aus dem Bett und gebe den Zwillingen einen Apfel. Sie haben noch nicht gefrühstückt. Ich spreche mit dem Vater, sage ihm, dass er sofort kommen muss, da die Mutter die Kinder nicht versorgen kann. Er antwortet, dass er erst am nächsten Tag kommt, weil er einen Termin in Karlsruhe Unterwegs in Sachen „Familienhilfe“ ... wahrnehmen muss. Er meint, ich solle die Nachbarin fragen, ob sie die Kinder betreut und versorgt. Aber diese hat selbst Ein ganz „normaler“ Arbeitstag drei Kinder und ist nicht zu Hause. als Familienhelfer/in ... 10.30 Uhr | Ich versuche, das Jugendamt anzurufen. Alle 7 Uhr, Arbeitsbeginn | Ich überprüfe das Diensthandy auf Nummern sind besetzt. Versuche es weiter bis 11 Uhr, dann eingegangene SMS und Anrufe für den Tag. rufe ich im benachbarten Kindergarten an und bitte eine „Wir sind für Ju- bekannte Mitarbeiterin, direkt ins Amt zu gehen und mich gendliche, Heran- 8 Uhr, 1. Termin | Hausbesuch in Leonberg im 4. Stock, dann zurückzurufen. Gleichzeitig meldet sich eine Kollegin, wachsende und ohne Aufzug: Ein Antrag und drei Briefe erklären und aus- die in der Nähe ist, und sagt zu, dass sie hinfährt, um die junge Familien füllen, Schulgespräch der Mutter mit der Klassenlehrerin Mitarbeiterin des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) zu da, die in Schwie- vorbereiten. Fragen aufschreiben: „Was soll dabei gefragt informieren. Die Mutter fällt plötzlich in Schlaf. Ich mache rigkeiten geraten werden?“ mir Sorgen. Plötzlich wacht sie auf. Sie steht auf und begin- sind oder zu ge- nt, eine große Tasche zu packen. Ich frage, was sie macht, 10 Uhr, 2. Termin | Hausbesuch in einer Obdachlosenun- und sie sagt, dass sie ins Krankenhaus gehen wolle. Sie raten drohen.“ terkunft: Mutter mit vier Kindern im Alter von vier Monaten taumelt und fällt glücklicherweise in einen nahen Sessel. Waldhaus-Motto bis fünf Jahren, darunter zweijährige Zwillinge. Vater der Kin- Ich bitte sie, dort sitzen zu bleiben, bis die Mitarbeiter vom der lebt in Karlsruhe. Mutter öffnet die Türe eingewickelt in Jugendamt da sind.
Ambulante und teilstationäre Hilfen zur Erziehung | 31 11 Uhr | Rückruf vom Jugendamt, ASD-Mitarbeiterin wird Mutter möglich wird. Erreiche nur einen anderen Mitarbeiter mit einer Kollegin kommen. Ich sage meine weiteren Ter- und bitte diesen um Rückruf. mine ab. 14 Uhr | Rückruf, ich bitte die ASD-Mitarbeiterin darum, 11.30 Uhr | Erneuter Rückruf vom Jugendamt: Es verzögert direkten Kontakt zum Arzt in der Klinik aufzuneh- sich. men. Die Sozialarbeiterin sagt, dass sie persönlich hingeht und sich später bei mir meldet. 12 Uhr | Die Mitarbeiter sind da, sie haben eine Pflege- familie für die Zwillinge organisiert. Die Mutter geht mit 15.36 Uhr | Rückruf. Sie hatte ein Gespräch mit der dem Säugling ins Krankenhaus. Ich begleite sie. Zurück in Ärztin, es besteht der Verdacht auf Nierenbeckenent- der Wohnung suchen wir Bekleidung für die restlichen drei zündung. Die Aufnahme fand mit Säugling statt, da Kinder zusammen. Die Zwillinge wollen sich nur von mir an- die Mutter stillt. Wir vereinbaren, dass wir am näch- ziehen lassen. Eine ihnen bekannte Situation hat ihnen ge- sten Tag nochmals telefonieren. holfen, die Inobhutnahme (ION) leichter zu überwinden. Ich nehme die aktuellen Briefe, welche die Mutter bereitgelegt (Ende des Arbeitstags) hat, mit, um sie zu bearbeiten. Es ist auch Post vom Bundes- amt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dabei. Das Wohl der Kinder und 12.45 Uhr | Auf dem Weg ins Büro ruft mich die Mutter an, Jugendlichen steht im dass sie nicht stationär aufgenommen wird und zum Haus- Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH nach Fokus der Sozialpädagogi- schen Familienhilfe. arzt gehen soll. Ich sage ihr, sie solle sich nicht wegbewe- § 31 SGB VIII) unterstützt Familien durch intensive gen, und versuche, alles Notwendige zu klären. Betreuung und Begleitung in Erziehungsaufgaben und bei der Bewältigung von Alltagsproblemen. Sie 13.10 Uhr | Im Büro rufe ich das Jugendamt erneut an, um hilft bei der Lösungsfindung in Konflikt- und Krisen- die Mitarbeiter dort zu bitten, ihrerseits Kontakt mit der situationen sowie beim Kontakt mit Ämtern und Klinik aufzunehmen, damit eine stationäre Behandlung der Institutionen. Die Sozialpädagogische Familienhilfe gibt somit Hilfe zur Selbsthilfe für die ganze Familie.
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