"Gelingender Alltag" in der Jugendhilfe - Ein Rückblick auf die Arbeit des Waldhauses in Hildrizhausen

 
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"Gelingender Alltag" in der Jugendhilfe - Ein Rückblick auf die Arbeit des Waldhauses in Hildrizhausen
„Gelingender Alltag“
 in der Jugendhilfe

2018     Ein Rückblick auf die Arbeit des Waldhauses in Hildrizhausen
"Gelingender Alltag" in der Jugendhilfe - Ein Rückblick auf die Arbeit des Waldhauses in Hildrizhausen
Waldhaus-Leitbild | 2

                                                                                          Sozial. Engagiert.
                                                                                          Verantwortungsbewusst.
                                                                                          Wir sind für Jugendliche, Heranwachsende und junge Familien
                                                                                          da, die in Schwierigkeiten geraten sind oder zu geraten drohen.
                                                                                          Durch unsere Arbeit leisten wir einen Beitrag dazu, ihre Le-
                                                                                          benssituation und Entwicklungschancen zu verbessern.

                                                                                          Wir sind Partner und Ansprechpartner für alle, die sich um die
                                                                                          Erziehung, Ausbildung und Qualifizierung junger Menschen
                                                                                          kümmern.
    „Chancen            Das „Prinzip Waldhaus“
   entwickeln,          Wir machen junge Menschen und Familien stark.                     Gemeinsam mit unseren Partnern (Ämtern, Gemeinden, Ver-
   wo andere            In ihrem sozialen Umfeld.                                         bänden und entsprechenden Institutionen) fördern wir die
  nur Probleme          Sodass sie ihr Leben selbstständig in die Hand                    persönliche und berufliche Entwicklung von Jugendlichen und
     sehen.“            nehmen können.                                                    Heranwachsenden.

                        #wirkümmernuns …
                        Weitere Informationen zum Waldhaus-Leitbild finden Sie auf Facebook und auf der Homepage: www.waldhaus-jugendhilfe.de
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Editorial | 3

Liebe Freunde des Waldhauses,
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,

nach einem ereignisreichen Jubiläumsjahr sind wir das Jahr             Integration der UMA | Ein weiterer wesentlicher Punkt
2018 wieder etwas ruhiger angegangen. Die Zahl an zu-                  auf unserer Agenda sind die notwendigen Anpassungen
sätzlichen Aktionen oder Veranstaltungen, wie wir sie in               im Bereich der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten
2017 neben der normalen Arbeit gestemmt haben, war im                  (UMA). Wir arbeiten intensiv an neuen Konzepten – unter
abgelaufenen Jahr überschaubar. Auch die Mitarbeiterver-               anderem, um diese Jugendlichen reibungslos in Qualifizie-
sammlung sowie das Fest der Kulturen und das Sommerfest                rung und Beschäftigung zu bringen.
fanden im kleineren Rahmen statt. Dafür fiel der Betriebs-
ausflug in den Rheingau Ende Juli etwas größer aus.                                     Umwelt- & Arbeitsschutz | Auch der
                                                                                        Schutz der Umwelt beschäftigt uns wei-
Zukunftsprojekt | Einfach zurückgelehnt haben wir uns                                   terhin. Nach dem ECOfit-Projekt ist nun
aber nicht. Denn wir haben uns im zurückliegenden Jahr                                  eine EMAS-Zertifizierung des Waldhauses
damit beschäftigt, wie wir die Weichen für die Zukunft im                               das Ziel. Ebenfalls im Fokus bleibt das
Waldhaus stellen können. Ein zentrales Projekt ist dabei der                            Thema „Arbeitsschutz“. Unter der her-
Neubau im Herzen des Stammgeländes. Im November haben                                   vorragenden Leitung von Folkert Milster
wir mit dem Abriss der letzten Häuser aus vergangenen Ta-                               wurden bereits mehrere Ersthelfer-Kurse
gen begonnen. Die entstandene große Baugrube wird jetzt                erfolgreich umgesetzt. Dieses Angebot soll künftig noch er-
mit einem neuen Verwaltungs- und Wohngebäude gefüllt.                  weitert werden.

                        „Die lästigen Kleinkriege des Alltags überleben wir am
                         sichersten, indem wir uns nicht kleinkriegen lassen.“
                               © Ernst Ferstl (*1955), österreichischer Lehrer, Dichter und Aphoristiker
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Editorial | 4

                Erfolgsgeschichten | Unser „hauseigener“ Regisseur De-         Zurück zum Alltag | Das Leitmotiv für diesen Jahresbe-
                nis Pavlovic begann im abgelaufenen Jahr die Serie „Erfolgs-   richt lehnt sich an ein Zitat von Shakespeare an: „Ist es
                geschichten im Waldhaus“. Bereichsübergreifend entsteht im     auch Wahnsinn, so hat es doch Methode.“ – Die tagtägliche
                Moment ein Buch zu diesem Thema. Im Rahmen unseres Ju-         Arbeit innerhalb der vier Waldhausbereiche erfordert von
                biläumsjahres 2017 konnten viele                               unseren Mitarbeiter/innen tagein tagaus ein engagiertes
                Geschichten von ehemaligen Ju-                                 und zupackendes, aber auch ein besonnenes Herangehen.
                gendlichen und betreuten Familien                              Getreu unserem Leitspruch: „Sozial, engagiert, verant-
                niedergeschrieben werden. Teils                                wortungsbewusst“.
                amüsante und beeindruckende
                Einblicke in Lebensabschnitte von                              Der vorliegende Bericht soll Ihnen, liebe Leser/innen, einen
                Menschen, die im Lauf der Jahr-                                kleinen Einblick in die Tagesabläufe, die Herangehenswei-
                zehnte ihren Weg über das Wald-                                sen und die Arbeitsansätze – eben in unseren Alltag hier im
                haus in ein selbstbestimmtes Le-                               Waldhaus – vermitteln.
                ben gefunden haben.                                            Ich blicke zuversichtlich auf die Herausforderungen des Jah-
                                                                               res 2019 – sowohl auf die oben genannten, die wir kennen,
                                                                               als auch auf die, von denen wir noch nichts wissen.
                                                                               „Packen wir es gemeinsam an!“

                        „Wir sind gut aufgestellt und
                       werden auf Veränderungen gut
                            reagieren können.“
                                                                                Hans Artschwager
                                                                                Geschäftsführer Waldhaus gGmbH
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Waldhaus-Jahresbericht 2018 | 5

Inhalt
                                                   Rückblick 2018:                                     Waldhaus-Jubilare:
                                                                                                  28                                             66
                                                   Ambulante erzieherische Hilfen                      „Herzliche Glückwünsche!“
                                                   „Alltag“ – ein deutungsoffener Begriff
                                                                                                       Waldhaus-Team:                            67
                                                   „Dream Circus“:                                     Neue Mitarbeiter/innen
                                                                                                  34
                                                   „Zirkus bewegt und Lachen heilt.“
                                                                                                       Waldhaus intern:
                                                                                                                                                 68
                                                   Projekt-Steckbrief:                                 Aus dem Alltag des Betriebsrats
                                                                                                  39
Waldhaus-Leitbild:                                 „Drachenflieger“
                                              2
„Sozial. Engagiert. Verantwortungsbewusst.“                                                            Mehr als Verwaltung:                      69
                                                   Rückblick 2018:                                     Waldhaus Service GmbH
                                                                                                  40
Editorial:                                         (Jugend-)Berufshilfe & Integrationsprojekte
                                              3
Hans Artschwager                                   „Konzeption & Alltag“                               Spenden 2018:
                                                                                                                                                 70
                                                                                                       Das Waldhaus sagt: „Danke!“
Im Fokus:                                          Rückblick 2018:
                                              6                                                   46
„Gelingender Alltag“ in der Jugendhilfe            Kommunale Jugendsozialarbeit                        Café „Fuchsbau“:                          71
                                                   Der „ganz normale“ Alltag in 15 Kommunen ...        Ein Ort zum Ankommen ...
Waldhaus vor Ort:
                                              12
Die vier Geschäftsbereiche                         Waldhaus-Porträt:                                   Unsere Partnerschaften:
                                                                                                  60                                             72
                                                   Michael „Micha“ Weinmann                            Kooperationspartner & Förderer
Rückblick 2018:
                                              14
Stationäre erzieherische Hilfen                    Foto-Rückblick 2018:                                „Der direkte Draht“
                                                                                                  64                                             74
„Gelingender Alltag“ in der Heimerziehung          „Waldhaus-Splitter“                                 Waldhaus-Kontaktdaten
"Gelingender Alltag" in der Jugendhilfe - Ein Rückblick auf die Arbeit des Waldhauses in Hildrizhausen
Waldhaus-Jahresbericht 2018 | 6

                                  Im Fokus:

                                  „Gelingender Alltag“
                                  (von Prof. Matthias Moch, DHBW Stuttgart)

                                  Über den Alltag nachzudenken, scheint ein überflüssiges Unterfangen zu sein. Ist es wirklich
                                  notwendig und angebracht, etwas zu thematisieren, was im Grunde genommen selbstverständ-
                                  lich ist? – Gibt es da nicht interessantere Themen? – Und sollte man, zumal in einem Jahresbe-
                                  richt, nicht eher gelungene Projekte, fachliche Weiterentwicklungen oder zumindest die erlebten
  „Im Alltag sind                 Höhepunkte im Verlauf des vergangenen Jahres hervorheben?
   Gewohnheiten
   und Routinen
  ebenso präsent                  In einer Welt, in der „Profilschärfung“, „Alleinstellungs-   Ich beginne mit einer kleinen Geschichte:
  wie Halt geben-                 merkmal“ und „best practice“ Kernbegriffe jeder unterneh-    „Dommo, ein tüchtiger Pflanzer aus dem Dorf An-
                                  merischen Überlebensstrategie sind, scheint die Rede über    dioumbolo im Dogonland (Westafrika), ist mit uns
   de Rhythmen
                                  einen gelingenden Alltag wenig werbewirksam zu sein. An      in die nächste Stadt, Mopti, gefahren, um seine
  und erwartbare
                                  diesem Punkt regt sich Widerstand gegenüber den Gepflo-      Geschäfte zu erledigen. Er konnte noch die Säcke
    Ereignisse.“
                                  genheiten der Selbstdarstellung und wir vergewissern uns     mit Hirse, die er mitgebracht hatte, gegen Salz tau-
                                  der genuinen Aufgaben sozialpädagogischer Arbeit. Die        schen. Dann verfiel er in einen ‚katatonen Stupor’ –
                                  alltäglichen Verrichtungen sind Grundlage allen weiterge-    er verlor die Sprache und wurde starr und gelähmt.
                                  henden Tuns, sie prägen unsere Sicherheit, unser Wohlbe-     Ausgetrocknet und halb verdurstet hockte er in der
                                  finden, unsere elementare Orientierung in Bezug auf Orte,    prallen Sonne, keine zwanzig Schritte von den Fluten
                                  Zeiten und soziale Beziehungen. Im Alltag sind Gewohn-       des Nigerstromes. Wir mussten ihn in den Schatten
                                  heiten und Routinen ebenso präsent wie Halt gebende          tragen und ihm Wasser einflößen. Auf der Fahrt zu-
                                  Rhythmen und erwartbare Ereignisse.                          rück kam er bald zu sich. Als die Felszacken, die tro-
                                                                                               ckenen gelben Halden und die Brotfruchtbäume des
                                                                                               Dogonlandes auftauchten, gewann er seine Sprache
"Gelingender Alltag" in der Jugendhilfe - Ein Rückblick auf die Arbeit des Waldhauses in Hildrizhausen
Im Fokus: „Gelingender Alltag“ in der Jugendhilfe | 7

                                                                 finition einen sehr hohen Stellenwert. Die in dieser Welt
  zurück und war bald wieder der gesprächige, intelli-           „sinnvollen“ Handlungsweisen haben eine enorme Wider-
  gente und tatkräftige Mann, der er vor der Reise ge-           ständigkeit gegen Veränderungen. Die Gesamtheit unserer
  wesen war; so wie er in seiner Heimat gelebt hatte             Alltagserfahrungen macht unsere „Lebenswelt“ aus. Sie
  und weiterleben wird.“                                         überträgt sich auch auf neue Kontexte, in denen möglicher-
  (Paul Parin, Die Zeit vom 23.12.94, S. 43)                     weise ganz andere Sichtweisen und Sinnverständnisse vor-
                                                                 herrschend sind.

  Alltag ist konkret und unhinterfragt.                            Alltag verlangt Respekt.
                                                                                                                                   „Die Gesamtheit
Die Welt, in die wir geboren werden und hineinwachsen,           Das Alltagsleben von Familien ist geprägt von Regeln und
                                                                                                                                   unserer Alltags-
wird von uns als gegebene, als natürlich vorhandene, erlebt.     „natürlichen Einstellungen“, die in der Familie oft nicht re-
                                                                                                                                     erfahrungen
Im Verlauf unserer Erfahrungen im Umgang mit der Natur           flektiert werden, die aber für Außenstehende häufig uner-
und materiellen Dingen, wie auch in der Begegnung mit an-        kannt oder unverständlich sind. Mit dieser Fremdheit der Le-
                                                                                                                                    macht unsere
deren Menschen, entsteht in uns ein Bild von unserer Welt,       benswelt sind, trotz vermeintlicher Nähe, auch Mitarbeiter/        „Lebenswelt“
in dem wir mit großer Selbstverständlichkeit unterstellen,       innen mobiler, ambulanter und teilstationärer Maßnahmen                aus ...“
dass sie als unverwechselbare Wirklichkeit existiert, dass sie   konfrontiert. Und sie können es sich – angesichts der Nähe
heute im Wesentlichen dieselbe ist wie gestern und dass sie      zum Familienleben – weder leisten, diesen ihnen fremden
auch morgen dieselbe sein wird.                                  Alltag zu ignorieren, noch ihn unangetastet zu lassen.

Wie wir wohnen, was wir essen, wie lange wir schlafen,           Vor dem Verstehen kommt zunächst die respektvolle Annä-
welchen Stellenwert Schule für uns hat und was wir in un-        herung an Verhaltensweisen und Haltungen, die den Fach-
serer Freizeit tun, all diese Vorgänge füllen meist unhinter-    kräften möglicherweise problematisch erscheinen, welche
fragt und selbstverständlich unseren Alltag aus. Sie prägen      für die Adressaten aber mehr oder weniger „gelingende“
für uns das, was „wirklich“ und „wichtig“ ist. Erfahrungen,      Lösungsversuche sind. Wenn betroffene Kinder und Jugend-
die Kinder in ihrer Herkunftsfamilie sowie in ihrem primären     liche sowie ihre Eltern die Erfahrung machen, dass pädago-
sozialen Umfeld machen, haben in ihrer Wirklichkeitsde-          gische Fachkräfte ihre alltägliche eigene Welt respektieren
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Waldhaus-Jahresbericht 2018 | 8

                                  und nicht als defizitär verurteilen, dann wächst in ihnen die   entscheiden, hinzuweisen, Raum zu schaffen, einzugrenzen
                                  Bereitschaft, eigene leidgeprägte Gewohnheiten zu hinter-       oder zu unterstützen.
                                  fragen und hinterfragen zu lassen.
                                                                                                    Alltag ist individuell.
                                    Alltag erzieht.
                                                                                                  Bei allen Erziehungshilfen steht die Arbeit mit dem betrof-
                                  Sozialpädagogische Hilfen sind kein Spezialangebot. Er-         fenen Kind oder Jugendlichen entsprechend seinen ent-
                                  zogen wird im Wesentlichen in Alltagssituationen, beim          wicklungsbezogenen Bedürfnissen im Mittelpunkt. Die
                                  Erledigen alltäglicher Aufgaben, beim Zurechtkommen mit         angebotenen Leistungen sind als individualisierte Hilfen an
                                  sich selbst, mit anderen, mit Dingen, beim Bewältigen von       der persönlichen Bedarfslage orientiert. Das bedeutet, der
                                  Schwierigkeiten. In dieser Hinsicht ist es der Alltag selbst,   Alltag ist nicht standardisiert sondern individuell und auf die
                                  der vielfältige Aufgaben stellt. Adressaten und Fachkräfte      Situation bezogen.
 „Alltagsaufgaben                 handeln vor dem Hintergrund ihrer aktuellen subjektiven
  sind in wechsel-                Einschätzung jeweils der Situation angemessen und auf das       Entsprechend fordert ein gelingender Alltag Kreativität,
  seitiger Kommu-                 Subjekt bezogen. „Erziehen“ oder „Beraten“ stehen sel-          Spontanität sowie Bereitschaft zum Risiko. So gewinnt ein
 nikation zwischen                ten im Fokus der Aufmerksamkeit, sie erfolgen im Rahmen         Angebot vielleicht vor allem dadurch eine zentrale Position
  Adressaten und                  alltäglicher Handlungssituationen, die im Sinne einer posi-     im Alltag des jungen Menschen, dass es, im engeren oder
  Fachkräften an-                 tiven Entwicklung und Anregung bewältigt werden müssen.         weiteren Sinne, einen wesentlichen Beitrag zu seiner all-
      zugehen.“                   Wenn wir „Koproduktion“ als entscheidendes Merkmal              täglichen „Versorgung“ leistet. Dies ist durchaus im ganz
                                  von Unterstützungsangeboten anerkennen, so sollten wir          elementaren Sinn von Essen, Trinken, „ein Dach über dem
                                  in Rechnung stellen, dass Alltagsaufgaben in wechselsei-        Kopf haben“, „nicht alleine sein“ zu verstehen. Des Weite-
                                  tiger Kommunikation zwischen Adressaten und Fachkräf-           ren meint Versorgung immer auch psychische Geborgenheit
                                  ten anzugehen sind. Fachlich gutes erzieherisches Handeln       sowie psychosoziale Stärkung: Es sind vertrauensvolle Per-
                                  ist zunächst so zu verstehen, dass in Alltagssituationen die    sonen ansprechbar, die auch emotionalen Rückhalt bieten.
                                  wachstumsbezogenen Aufgaben erkannt werden. Daneben             Es gibt Räume, die Schutz, Anerkennung, Rückzug und
                                  kommt es darauf an, im komplexen Geschehen des Alltags          Austausch ermöglichen, und Gelegenheit für anregende,
                                  der Adressaten – oftmals unter Druck – angemessen zu            bedürfnisbezogene Betätigungen bieten.
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Im Fokus: „Gelingender Alltag“ in der Jugendhilfe | 9

  Alltag fordert heraus.                                        bedeutet daher auch, die Überzeugungen und Haltungen
                                                                von Adressaten und Fachkräften – seien sie nun bewusst
Probleme im Alltagsleben von Kindern und Jugendlichen           oder unbewusst – zu hinterfragen, in ihrer Beschränktheit
sind in der Regel nicht ausschließlich auf die aktuellen Le-    aufzudecken und zu ihrer Entkräftung auch Gegenerfah-
bensumstände zurückzuführen. Sie sind immer auch ein            rungen zu vermitteln.
Ausdruck eines Mangels an Fähigkeiten in der Bewältigung
anstehender Aufgaben, sei es nun im sozial-kommunika-             Alltag vereinnahmt.
tiven, im schulisch-kognitiven oder im emotionalen Bereich.                                                                       „Gelingendes sozi-
Erziehungshilfen verstehen sich als Kontext, in dem notwen-     Mitarbeiter/innen in sozialpädagogischen Diensten werden
                                                                                                                                   alpädagogisches
dige Kompetenzen in einer Weise erworben werden können,         durch die Diskrepanz zwischen dem Alltag von Adressaten
                                                                                                                                   Handeln setzt die
dass ihre Bedeutung in der Alltagsbewältigung unmittelbar       und ihren eigenen fachlichen Zielen herausgefordert. In der
erkennbar ist.                                                  Konfrontation mit manch befremdlichen Facetten in Bezug
                                                                                                                                   Fähigkeit voraus,
                                                                auf Gewalt, Ernährung, Medienkonsum und Lebensbedin-              immer wieder eine
Die Förderung kognitiver Funktionen und Motorik sowie           gungen des jungen Menschen sind sie Loyalitätskonflikten            Beobachterrolle
kreatives Gestalten unter Einsatz von Medien, handwerk-         ausgesetzt. Der Alltag der Adressaten strapaziert die Ner-           einzunehmen,
liche Projekte und sportliche Aktivitäten sind in den Alltag    ven, verstellt den eigenen Blick, vereinnahmt, macht viel-         Distanz zu gewin-
so integriert, dass dadurch sowohl Bedürfnisse befriedigt als   leicht auch abhängig.                                              nen, neue Fragen
auch Anforderungen gestellt werden. Schwierigkeiten, die                                                                             zu stellen und
aus Alltagssituationen heraus entstehen können, müssen          In dieser Lage setzt gelingendes sozialpädagogisches Han-         eigene Grenzen zu
nachvollzogen, kommuniziert und bewältigt werden.               deln die Fähigkeit voraus, immer wieder eine Beobachter-                sehen.“
                                                                rolle einzunehmen, Distanz zu gewinnen, neue Fragen zu
Zurechtkommen im Alltag scheitert oft an Widerständen,          stellen, eigene Grenzen zu sehen. Für die Beobachterrolle ist
die ihrerseits selbst wieder „altbewährte“ Gewohnheiten         konstitutiv, dass sie phasenweise den Blick auf bestimmte
sind. Nicht kommunizieren wollen oder können, schädlicher       Aspekte und Widersprüche eines komplexen Geschehens
Konsum von Medien und Drogen, Vermeidung von Risiken            (eigenes Verhalten, Verhalten Dritter, Interaktionen) richtet.
oder das Nicht-wahrhaben-wollen von Schwächen können            Was die Handlungsorientierung des Im-Alltag-Erziehenden
Anlässe für wiederholtes Scheitern sein. Gelingender Alltag     anbetrifft, so kann man unterstellen, dass sie/er mit zuneh-
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                               mendem Grad von Professionalisierung auch im Vollzug des        macht ein alltagsbezogener Hilfeansatz vielfältige, oftmals
                               Handelns ständig reflexive Prozesse einsetzen wird.             einschneidende Interventionen notwendig, wie etwa das
                                                                                               praktische Schaffen von Freiräumen, Betätigungs- und
                                   Alltag will verstanden werden.                              Lernfeldern, die Umsetzung neuer Regeln, von aktiv aufsu-
                                                                                               chender Arbeit, das Einfordern von Verbindlichkeiten, das
                               Eine Veränderung und Erweiterung des Alltagslebens des          Verfügbarmachen von Ressourcen, die Krisenintervention zu
                               jungen Menschen im Rahmen einer Wohngruppe, Tages-              ungewohnten Tages- und Wochenzeiten, die Konfrontation
                               gruppe, einer sozialen Gruppenarbeit, einer mobilen Be-         mit persönlichen oder familiären Sackgassen, das Knüpfen
                               treuung oder im Jugendhaus eröffnet konstruktive Möglich-       und Vermitteln hilfreicher Kontakte.
                               keiten, problematische Einstellungsmuster zu hinterfragen,
                               indem sie erstens den Einzelnen und die Familie entlastet,        Alltag befähigt.
                               zweitens die Bereitschaft zur Selbstkonfrontation erhöht
                               und drittens in einem gelingenden Verlauf eine ehrlichere       Familienergänzende Erziehungshilfen bauen auf verbind-
                               Kommunikation zwischen den Beteiligten fördert. So mag          liche und verlässliche Beziehungen. Diese bilden den Hinter-
                               das „Eintauchen“ in eine fordernde, attraktive Gruppenat-       grund für alle Forderungen, denen sich der junge Mensch
                               mosphäre den Adressaten neue Handlungsperspektiven er-          im Rahmen der Maßnahme ausgesetzt sieht. Regeln, die es
                               öffnen: „Flucht ist keine Lösung!“ / „Es gibt Leute, die mich   einzuhalten gilt, und Absprachen, denen nachzukommen
   „Eine zentrale              mögen.“ / „Ich habe Freiräume für eigene Interessen.“ / „ich    ist, erhalten ihren Stellenwert zu allererst im Kontext einer
   Aufgabe sozial-             will meine Familie nicht verlieren.“ / „Wenn es Probleme        Beziehung zu Erwachsenen, die im Alltag des Kindes bzw.
   pädagogischer               gibt, ist jemand für mich da.“ – Komplementär mögen auch        des Jugendlichen eine glaubwürdige Rolle spielen. Dass An-
   Arbeit besteht              Eltern erkennen, dass eine „Einrichtung“ mit ihren Res-         gekündigtes tatsächlich umgesetzt wird, ist für viele betrof-
  darin, den beste-            sourcen dem Kind bzw. dem Jugendlichen Wege aufzeigen           fene junge Menschen in ihren sonstigen Lebenskontexten
   henden Alltag               kann, um den Alltag gelingend zu bewältigen, Fähigkeiten        eine eher seltene Erfahrung. Dementsprechend besteht das
                               zu entdecken und neue Interessen zu entwickeln.                 pädagogische Engagement vor allem darin, auszuhandeln
    eines jungen
                                                                                               und abzusprechen, was der Einzelne oder was man gemein-
    Menschen zu
                               Dazu muss aber die Erfahrung kommen, dass Alternativen          sam zu bewerkstelligen hat.
     erweitern.“
                               im Alltagsleben verwirklicht werden können. Manchmal
Im Fokus: „Gelingender Alltag“ in der Jugendhilfe | 11

Eine zentrale Aufgabe sozialpädagogischer Arbeit besteht
darin, den bestehenden Alltag eines jungen Menschen            Beruflicher Werdegang:
zu erweitern. Eine solche Erweiterung muss in mehreren         Studium der Psychologie und der Erziehungswissen-
Dimensionen – im örtlichen, im inhaltlichen sowie im psy-      schaft an den Universitäten Marburg und Tübingen.
chisch-interpretativen Sinn – verstanden werden. Ausge-        Tätigkeit in Feldern der lebensfeldbezogenen Erzie-
hend vom bestehenden Lebensfeld des Heranwachsenden            hungshilfe und in der ambulanten Kinder- und Ju-
und der Eigenständigkeit seines Alltags setzen die Angebote    gendpsychiatrie.
dort an, wo angesichts mangelnder Entwicklungschancen
neue Handlungsfelder erschlossen werden können.                Seit 2004 Studiengangsleiter, von 2010 bis 2013 Ge-
                                                               schäftsführer, seit 2014 Vorsitzender der Fachkom-
                                                               mission Sozialwesen an der DHBW / Landeslehrpreis
                                                               Baden-Württemberg DHBW 2010 / Forschungsför-
                                                               derlinie DHBW 2013.

                                 Prof. Dr. Matthias Moch
                                 ist Studiengangsleiter „Erziehungshilfen/Kinder- und Jugendhilfe“ an der Dualen
                                 Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in Stuttgart. Er ist Diplom-Psychologe und
                                 Supervisor (BDP).
Waldhaus vor Ort | 13

Stationäre erzieherische Hilfen:                            Ambulante und teilstationäre erzieherische
Chancen entwickeln, wo andere                               Hilfen:
nur Probleme sehen.                                         Gemeinsam lernen, auf eigenen
Resozialisierung und Beheimatung durch ein strukturiertes   Füßen zu stehen.
Beziehungsangebot in Wohngruppen und mit Hilfe von          Aufsuchende Sozialarbeit und Hilfen bei der Erziehung: Wir
gruppenpädagogischen und darin integrierten individuellen   beraten und unterstützen im Gesamtsystem „Familie“.
Konzepten.

Jugendberufshilfe:                                          Kommunale Jugendsozialarbeit:
Heute lernen, was                                           Wir kümmern uns um die
morgen wichtig ist.                                         Erwachsenen von morgen.
Impulsgebendes, modulares Arbeiten unter ganzheitlicher     Gemeinwesenorientierte Jugendsozialarbeit in der Kom-
Einbeziehung der Jugendlichen mit dem Ziel einer erfolg-    mune zusammen mit den ansässigen Schulen und Institu-
reichen Vermittlung in Ausbildung oder in Arbeit.           tionen: Wir arbeiten für und mit den Jugendlichen vor Ort.
Stationäre erzieherische Hilfen | 15

Rückblick 2018 | Stationäre erzieherische Hilfen

„Gelingender Alltag“ in der Heimerziehung
Jugendhilfe bzw. die Wohngruppen sollen Kindern und Jugendlichen ein „Zuhause“ bieten,
wenn sie aus den verschiedensten Gründen temporär nicht bei ihren Eltern leben können. Sie
kommen aus unterschiedlichsten Situationen und Erlebnissen in eine Wohngruppe und ziehen
dort ein. „Wie ist es, nicht mehr bei den Eltern und der Familie leben zu können, und wie geht
es den Jugendlichen damit?“ – Meistens ist diese Entscheidung kein gewünschter Weg sondern                                          „Wir versuchen
fremdbestimmt. Und es ist eine große Umstellung für die Jugendlichen, denn ihr ganzer Alltag                                          bedürftigen
stellt sich auf den Kopf.                                                                                                            Jugendlichen
                                                                                                                                    zu helfen, wenn
Die Mitarbeiter/innen nehmen sich Zeit, sie hören zu und hel-   Probleme gilt es zu klären und zu lösen. Es gilt, den Kontakt        die Eltern als
fen ihnen dabei, in der Gruppe anzukommen und sich zu in-       zur Schule oder zum Ausbildungsbetrieb zu halten, und die             Erziehungs-
tegrieren. Die Jugendlichen brauchen Menschen, die sich auf     Jugendlichen bei ihrem schulischen und beruflichen Werde-             berechtigte
sie einlassen, sich kümmern, mit ihnen mitfühlen, wenn sie      gang zu unterstützen. Und natürlich alles, was so zu einem           ausfallen und
Streit mit Freunden oder Liebeskummer haben. Sie brauchen       „normalen“ Alltag dazugehört: Mithelfen im Haushalt,
                                                                                                                                    die Betroffenen
Menschen, die wertschätzend mit ihnen umgehen, die sie          Wäsche waschen, putzen und aufräumen, aber auch die
                                                                                                                                      alleine nicht
loben, wenn sie etwas gut gemacht haben, und die ihnen da-      Hobbys der Jugendlichen. Die Jugendlichen bekommen eine
bei helfen, mit Fehlern umzugehen und zu Fehlern zu stehen.     Struktur für ihren Alltag, sie bekommen Grenzen gesetzt. Es
                                                                                                                                     mehr zurecht
                                                                gibt aber auch Raum zur Mitbestimmung, z. B. gibt es eine              kommen.“
In einem „Zuhause“ ist man verletzlich und zeigt Gefühle,       wöchentliche Gruppenbesprechung, in der überlegt wird,                Michael Weinmann
die Jugendlichen sollen sich ernst genommen fühlen mit          was am Gruppenabend gemacht wird.
ihren Themen. In jeder Wohngruppe leben acht Jugendli-
che. Da entstehen im Alltag Konflikte untereinander aber        Auf den folgenden Seiten wollen wir Einblicke geben, einen
auch mit den Betreuern. Dazu kommen ggf. Konflikte und          Querschnitt aus dem Alltag der Gruppen zeigen und Mitarbei-
Schwierigkeiten in der Schule oder in der Ausbildung. Diese     ter und Jugendliche über ihren Tagesablauf berichten lassen.
Stationäre erzieherische Hilfen | 16

                                       Tagesablauf in einer stationären
                                       Wohngruppe (WG)

                                                 6:00 Uhr | Wecken der Jugendlichen                                    16:00 Uhr | Bäder- und Gruppendienste
                                    Sieben Jugendliche stehen auf und gehen ins Bad, einer hat keine          Celine und Sophie machen ihre Dienste gut, Leonie versucht zu
                                   Lust. Er bleibt im Bett. Betreuer stellt Musik an, damit er wach wird.    schummeln: Sie macht den Bodenwischer nass, ohne den Boden
                                                                                                                       zu wischen, und meint dann, sie wäre fertig.
                                                      6:30–7:30 Uhr | Frühstück
                                   7:30–8:00 Uhr | „Los geht`s!“ zur Schule bzw. Ausbildung                                      18:30 Uhr | Abendessen
                                     Emil kommt zurück. Die Bahn fällt aus, er schreibt aber eine               Beim Abendessen kommt es wegen einer Kleinigkeit zum
                                   Klassenarbeit in der ersten Stunde. Schnell ins Auto und los geht          Streit zwischen Ben und Emil. Die beiden gehen aufeinander
    „Eine gute All-                              die Fahrt nach Böblingen zur Schule.                        los, die Stühle fallen auf den Boden. Der Betreuer muss dazwi-
    tagsgestaltung                                                                                                     schengehen. Nach einem klärenden Gespräch
                                             8:30 Uhr | Dienstende für den Betreuer                                          wird das Abendessen fortgesetzt.
      ist keine ein-
                                             12:00 Uhr | Dienstbeginn des Betreuers
     fache Aufgabe                                                                                                             20:00 Uhr | Gruppenabend
                                  Auf dem Anrufbeantworter ist eine Nachricht aus der Schule. So-                 Zum heutigen Gruppenabend haben die Jugendlichen            U
      sondern eine                phie ist dort nicht angekommen, sie hat den ganzen Tag gefehlt.                    in der letzten Besprechung entschieden, dass sie
   tägliche Heraus-                                                                                                          einen Filmeabend machen wollen.
                                          12:30 Uhr | Die ersten Jugendlichen kommen.
       forderung.“                        Schon geht es rund mit Erzählungen vom Vormittag.                         Sie haben sich gemeinsam einen Film ausgesucht.

                                                       13:00 Uhr | Mittagessen                                           22:00 Uhr | Nachtruhe/Zimmerzeit

                                                       14:00 Uhr | Lernzeit
                                           Moritz möchte keine Hausaufgaben machen, er                      In der Wohngruppe wohnen acht Jugendliche, es ist
                                          wird wütend und wirft alle Hefte und Bücher durch                 immer mindestens ein Betreuer anwesend.
                                                das Zimmer und rennt aus dem Haus.
Stationäre erzieherische Hilfen | 17

               Fallzahl ION Stationärer Bereich 2018                     Belegung am 31.12.2018
               Gesamtbelegungstage 411                                   Anteil des Amtes für Jugend und Bildung Böblingen
                                                                    10
                                    1                                                              9
                                                   6
                                                                     8      8                                                                            8
                                                                            4                                                                            8
                                                                                                                        7
                        9                                                                                                3
                                                                                                                                                                                                                      6
                                                                                       6                       6                   6
                                                            3        6
                                                                                        5                      4                   5                                                                                  6
                                                                                                                                                                      5           5
                                                                                                                                                                      5           5
                                                                     4                                                                                                                        4           4
                                                                            4                                            4                                                                    4           4
                                                                                                                                             3                                                                                  3          3
UMA-Clearinggruppe
                                        8                                                                                                    3                                                                                   3         3
              AWG Eichenhof    AWG Haus Johannes                     2
                                                                                                               2
              Team 1           Team 2                  Hailfingen
                                                                                        1                                          1
                                                                     0
                                                                            AWG        AWG       Intensiv-    Regel-     WG         VP        VP       UMA VP      UMA WG      UMA VP      UMA VP      UMA VP        BJW        BJW        BJW
                                                                         Eichenhof     Haus     betreuung     gruppe    Stein-    Stein-     Haus     Uhlandstr.   Uhlandstr.   1. OG       2. OG       3. OG       Marien-   Schönaich   Rutes-
                                                                                     Johannes    im Heim     im Heim   graben    graben    Johannes     Holz-        Holz-    Bahnhofstr. Bahnhofstr. Bahnhofstr.   straße                heimer
                                                                                                                                                      gerlingen    gerlingen     Leo         Leo         Leo         Hbg.                 Straße
                                                                                                                                                                                                                                           Leo

                                                                                                                                                                                 Belegung                             Jugendamt BB
Stationäre erzieherische Hilfen | 18

                                       Einblicke in den Erzieher-Alltag                         Zum Beispiel an einem Wintersporttag, an dem die Jugend-
                                       (Intensivwohngruppe, Hildrizhausen)                      lichen etwas lernen wollen, weil es „cool“ ist, etwas zu
                                                                                                beherrschen, was man bisher noch nicht kann, etwa Snow-
                                 Ein normaler Tag im Waldhaus in Hildrizhausen startet in       boardfahren. Die Geschwindigkeit des Lernprozesses hier
                                 der Regel mit „Fahrstuhlmusik“ aus dem Mobilteil des Fest-     und bei den Lernprozessen im „uncoolen“ Alltag könnte
                                 netztelefons im Büro des Intensivbetreuten Wohnens. Zu         man im medialen Zeitalter mit einem Breitbandinternet-
                                 diesem Zeitpunkt war man bereits ein „Bastard“, „Idiot“,       anschluss und einem klassischen 56k-Modem (piepen und
                                 „Spast“ oder wahlweise auch der „Depp vom Dienst“ bzw.         tuten) vergleichen. – Dieses Gefühl des „Lernen-Wollens“
                                 „im Dienst“. Denn am Vortag hatte man für die männlichen       sollte man in Flaschen füllen und verkaufen.
                                 Bewohner im Alter von 14 bis 18 Jahren meist unliebsame
                                 Entscheidungen getroffen, die ihren Alltag bestimmen.          Die gute Nachricht dabei ist, dass die Bewohner unserer
                                                                                                Gruppe nicht lernbehindert sind! Aus dieser Erkenntnis
                                 Es gibt aber auch Lichtmomente der Pädagogik, wenn man         schöpft man eine immense Energie. So sind es im Alltag die
                                 die Jugendlichen nicht quer durch den Supermarkt daran         kleinen Erfolge, die uns auch in diesem Jahr wieder ein Lä-
                                 erinnern muss, den Finger nicht in Lebensmittel zu stecken     cheln ins Gesicht gezaubert haben.
                                 oder sonstige originelle Verhaltensweisen in der Öffentlich-
                                 keit an den Tag zu legen.

                                                                                                „Kein Tag ist wie der andere, so bleibt die
                                                                                                Arbeit als Erzieher immer interessant und
                                                                                                           abwechslungsreich.“
Stationäre erzieherische Hilfen | 19

  Alltagsbericht eines Jugendlichen                               und die Welt (wobei es eher heißen sollte: „Mädchen und die
  (C. D., Waldhaus-Wohngruppe)                                    restliche Hälfte der Menschheit“). Wir steigen aus und verab-
                                                                  schieden uns, J. nach rechts zum Bus und ich zu meiner Schule.
Mein Tag fängt wie bei jedem anderen damit an, dass ich auf-
wache. Wie immer klingelt mein Handywecker um 6 Uhr. Ich          Nach der Schule ...
stehe auf, wasche mich, putze meine Zähne und ziehe mich          Der Schultag war lang und öde. Wie jedes Mal schreibe ich mir
an. Es ist ein nach sibirischen Verhältnissen frischer Mon-       eine Notiz, dass ich endlich damit anfangen sollte, mir Pausen-
tagmorgen und ich lege mich wieder ins Bett, um ein letztes       brote am Tag davor zu machen. Und wie jedes Mal weiß ich,
bisschen Schlaf zu erhaschen, bevor der Fahrdienst uns um         dass ich es eh wieder nicht machen und es spätestens morgen
7.10 Uhr runter zur Bushaltestelle fährt. Um 7 Uhr kommt J.       Mittag wieder bereuen werde. – So, jetzt ein Zeitsprung zum
in mein Zimmer gerannt: „Du weißt schon, dass es 7 Uhr ist,       Unterrichtsende: „Endlich aus!“ – Ich checke mein Handy. Ich
oder?!“ Ich, noch im Halbschlaf, lasse ihm seinen Moment,         habe ein paar neue Nachrichten, unter anderem von J. „Hey
damit er sich in seiner eigenen Selbstherrlichkeit sonnen kann    C., ich warte am Bahnhof, die Bahn kommt in 7,5 Minuten.“ –
und bleibe noch bis um 7.05 Uhr unter der Decke liegen und        Okay, dann mal los! Ich gehe raus und laufe los. „5 Minuten“,
genieße die Gemütlichkeit meines Bettes. Jetzt jedoch muss        schreibe ich zurück. Ich lasse mir Zeit, die Bahn kommt erst um
alles schnell gehen! Ich springe auf und renne ins Bad. Haare     15.35 Uhr. Schon von weitem sehe ich J., wie er dasteht und
okay? – Sieht ganz gut aus!                                       aufs Handy starrt. Ich gehe zu ihm, wir schlagen ein. „Willst du    Sofa-Ecke im WG-Zimmer auf
                                                                  auch einen?“, frage ich und halte ihm einen meiner Kopfhörer        dem Waldhaus-Stammgelände
„Last minute“-Aufbruch                                            entgegen. „Natürlich Digga“, antwortet er und nimmt wie
Ich rutsche auf meinen Socken zurück ins Zimmer. Jacke an,        immer den linken (keine Ahnung warum). Ich starte die Mu-
Schuhe an. Welche Schuhe? Die roten! Mist, die roten sind         sik und so fahren wir zur Sporthalle zur Fußball-AG. Wir kom-
dreckig! Dann halt die blauen. – Mütze? Wenn ja, welche? Ich      men an und werden direkt mit den Worten „noch eine Minute,
ziehe die Raiders-Football-Mütze an. Warum habe ich meine         Jungs!“ in die Umkleide gehetzt.
Haare gemacht? Egal, keine Zeit zum Denken! – Geldbeutel,
Handy, Kopfhörer, Schulranzen, alles dabei. Ich renne zum
Büro, kurzer Blick auf die Uhr: 7.09 Uhr, noch eine Minute. Ich
renne runter zum Fahrdienst. An der Bahnstation angekommen
steigen wir in die Bahn ein, diskutieren ein bisschen über Gott
Stationäre erzieherische Hilfen | 20

                                 Fußball als „ausgleichende“ Sporteinheit                          Abendprogramm
                                 Die nächste Stunde verbringen J. und ich damit, uns gegenseitig   Um 18.30 Uhr wache ich wieder auf, geweckt von R.’s Ru-
                                 Feuer unterm Hintern zu machen, indem wir versuchen, durch        fen: „Eeesseeen!“ Wie schon vor 45 Minuten hieve ich mich
                                 Grätschen, Schubser und Tackles den Ball zu bekommen. Spä-        wieder hoch und sitze vollkommen verpennt am Esstisch.
                                 ter sitzen wir vollkommen verschwitzt im Waldhaus-Bus und fa-     Das Essen war ganz passabel. Die Zeit nach dem Abendes-
                                 hren zurück. Ich schleppe mich mit schmerzenden Gliedmaßen        sen verbringe ich damit, auf der Gitarre das verdammte „F“
                                 die Treppe hoch und falle in die Dusche. Eine halbe Stunde und    zu lernen. – Vollkommen unmöglich, wenn ihr mich fragt …
                                 eine Körpertiefenreinigung später falle ich auf mein Bett. Ich
                                 checke meine Nachrichten und antworte auf die, die mir wich-      Um 20.30 Uhr sitze ich am Esstisch mit allen Jugendlichen
                                 tig erscheinen. Ich stecke mein Handy ans Ladekabel und liege     und die Jugendlichenbesprechung beginnt: Wer will eine
                                 einfach da. Einfach. Nur. Liegen.                                 Heimfahrt? Okay R. geht. Themen der Jungs? Keine (auch
                                 Ich lasse den Tag Revue passieren und schlafe fast ein, da        mal gut). Wer kocht wann? C. am Donnerstag, wie jedes
                                 kommt H. in mein Zimmer: „C., komm mit, wir machen Wä-            Mal. – So schnell wie die Jugendlichenbesprechung anfing,
                                 sche.“ Ich hieve mich vom Bett hoch und packe meinen Wä-          ist sie auch wieder vorbei. Ich packe meine Schulsachen für
                                 schekorb. Und dann beginnt meine Reise mit einer Tonne Wä-        morgen und dann ab in die Heia. Morgen ist wieder ein an-
                                 sche die Treppen runter, die Treppen hoch, nochmals die Treppe    strengender Tag!
                                 runter und endlich bin ich da. Ich sortiere meine Wäsche: weiß,
                                 schwarz, Socken, Jeans, alles an den vorgesehenen Platz. Auf
                                 dem Rückweg rauche ich noch geschwind eine und falle wie-
                                 der in mein Bett. Kaum berührt mein Kopf das Kissen, bin
                                 ich auch schon eingeschlafen.
Stationäre erzieherische Hilfen | 21

  „Wohngruppen-Alltag einer                                       und Mittagessenszeit. Wir sitzen zu viert am Tisch, heute
  DHBW-Studentin“ (WG Steingraben)                                nur in kleiner Runde durch die Mittagschule am heutigen
                                                                  Tag. Drei Jugendliche wollen ihre Lernzeit mit der Betreuerin
„Tock, tock! Kannst du bitte die Küche aufschließen?!“, ruft es   nutzen. Schön, dass heute die „duale” Studentin da ist, zu
heute Morgen um 5.30 Uhr an der Türe des Büros. Da ich eh         zweit lassen sich die vielen Bedarfe der Jugendlichen besser            Wann gehst du
nur noch im Halbschlaf bin, stehe ich auf und richte den Früh-    abdecken. Zwei Stunden und gefühlt 100 Gleichungen, 200                   zufrieden
stückstisch. Im Hinterkopf habe ich dabei, dass die Frühstücks-   Englischvokabeln und drei Chemieberichte später ist die Lern-            nach Hause?
zeit unter der Woche laut Regelwerk von 6 bis 8 Uhr ist. Da       zeit vorbei. Es ist 18 Uhr und die Betreuerin bittet Moritz, dass
                                                                                                                                           „Wenn alles
bin ich aber nicht zu streng, denn ohne Frühstück ins Praktikum   er den ersten Teil des Küchendienstes erledigen soll. Nun wird
                                                                                                                                           Wichtige ge-
ist natürlich nicht gesund und ehe ich mich versehe, wuselt es    gemeinsam der Tisch für ein leckeres Vesper gerichtet.
                                                                                                                                          schafft ist und
schon im Haus. Bis auf Ahmed, er schläft noch, denn er hat erst
um 10 Uhr Schule. Um 9 Uhr kommt Ahmed aus dem Zimmer             Abendprogramm                                                            der Tag ab-
und frühstückt gemütlich. Um 9.30 Uhr geht er zum Bus. End-       Um 18.30 Uhr sitzen fast alle pünktlich am Abendessentisch.            wechslungsreich
lich Feierabend! Nur noch schnell die Übergabe fertig schreiben   Weil heute das B-Jugendtraining in Altdorf ist, kommt Mike                  war.“
für meine Kollegen.                                               nicht zum Abendessen. Anna hat Ballett und Julius Boxen. Die
                                                                  drei kommen erst gegen 20 Uhr ausgehungert vom Training
Schichtwechsel                                                    zurück. Zum Glück ist die Küche heute bis 21 Uhr offen und
Um 12 Uhr hört man, wie das Türschloss geht, Dienstbeginn         es gibt je ein riesiges Sandwich für
für die Kollegin, die heute Nachtdienst hat. Sie ist ab jetzt     die drei. Um 21.30 Uhr kommen
die neue Ansprechpartnerin für alle und bis morgen früh im        zwei andere Jugendliche zurück,
Dienst. Erstmal ankommen und in der Übergabe lesen, was           die nach dem Essen noch eine Run-
gestern los war, Mails checken, Anrufbeantworter abhören          de in Herrenberg unterwegs waren.
und nach der heutigen „To-do“-Liste schauen.                      Da heute ein Wochentag ist, ist um
                                                                  22 Uhr Schlafenszeit und somit eine
Mittagessen & Hausaufgaben                                        Stunde später Feierabend für mich.
Währenddessen geht immer wieder die Haustüre. Die ersten          Am Freitag und am Samstag heißt
Jugendlichen kommen nach Hause und schon ist es 13 Uhr            es dagegen durchhalten bis 24 Uhr!

                                                                   Die „Zentrale“ der WG Steingraben
Stationäre erzieherische Hilfen | 22

                                     Tagesablauf in der Außenwohngruppe                           Wir Betreuer/innen haben dabei nicht den Anspruch, die Her-
                                     „Eichenhof“                                                  kunftsfamilie zu ersetzen. Ein solcher Ansatz wäre zum Schei-
                                                                                                  tern verurteilt. Wir können jedoch Schritt für Schritt Vertrauen
                                   „Morgens frühstücken wir zusammen, danach werden wir           aufbauen und stabile, verlässliche Beziehungen anbieten. Ge-
                                   an den Bahnhof gefahren. Von dort aus gehe ich in die          nau das machen wir täglich.
                                              Schule. Wenn es bei mir gut läuft, so wie heute,
                                              kann ich danach noch etwas raus und Zeit mit        Sichtbar wird dies unter anderem dann, wenn die Jugend-
                                              meinen Freunden verbringen. Das bespreche           lichen sich über den Eichenhof unterhalten und sagen, dass
                                              ich natürlich zuvor. Wenn ich dann zurück von       der Eichenhof ihr „Zuhause“ oder ihr „zweites Zuhause“ ist.
                                              meinen Freunden komme, steht das Mittagessen        Es verwundert in diesem Zusammenhang auch nicht, dass die
                                               bereits auf dem Herd. Ich esse was und erzäh-      Jugendlichen im Eichenhof überdurchschnittlich freiwillig lan-
                                               le dabei von meinem Tag. Im Anschluss muss         ge in unserer Wohngruppe leben. In den allermeisten Fällen
                                               ich Hausaufgaben machen. Das nervt mich ab         folgt der Auszug nach erfolgreicher Beendigung der Schullauf-
                                               und an schon. Ich versuche, das selbstständig      bahn oder nach einer beständigen Phase in der Ausbildung.
                                                zu erledigen, aber wenn es schwierig ist, kann    Zu diesem Zeitpunkt hat man einen weiten gemeinsamen Weg
                                                ich immer nachfragen und mir wird geholfen.
                                                Ist das mal erledigt, gehe ich mit den anderen
                                                Jungs raus auf den Hof und wir spielen noch
                                                 Fußball. Heute kann ich nur kurz mitspielen,
Die komplette WG „Eichenhof“ im    weil ich noch ins Basketballtraining gehe. Danach ist der
Sommer 2018 – mit Bereichsleiter   Tag eigentlich schon vorbei.“
Michael Weinmann (Waldhaus),
Jugendamtsleiterin Gabriele
Schmauder (Stadt Leonberg) und     So oder so ähnlich unspektakulär hören sich die Tagesabläufe
Sozialdezernent Alfred Schmid      von vielen Jugendlichen im Alter von 14 Jahren an. Mit einem
(Landkreis Böblingen)              Unterschied: Dieser Jugendliche wohnt mit sieben anderen
                                   Jugendlichen in der Wohngruppe „Eichenhof“.
Stationäre erzieherische Hilfen | 23

zurückgelegt. Beide Seiten – Jugendliche/r und Betreuer/in –    Es gibt regelmäßig Einzelgespräche mit den Jugendlichen.
wissen, dass es nun Zeit für einen neuen Lebensabschnitt ist,   Diese werden positiv wahrgenommen. „Mit ihnen können
auf den man bestmöglich vorbereitet wurde.                      wir über alles reden. Man wird bei Krisen oder der Zukunfts-
                                                                planung unterstützt. Außerdem sagen uns die Betreuer je-
  Der Tagesablauf im „Haus Johannes“ (AWG)                      den Tag, was wir machen müssen. Und sie sind immer gut
                                                                drauf!“ – Zurzeit haben wir backbegeisterte Bewohner
Die Begrüßungen im Haus Johannes sind etwas Besonderes.         im Haus. Es macht Spaß, einen Kuchen zu backen und vor
Von einer Jugendlichen bekommt man immer zur Begrü-             allem, gemeinsam zu backen und zu essen.
ßung ein lautstarkes und fröhliches „Hiiiii“ zu hören. Man
fühlt sich dann einfach willkommen.                               Mein Tagesablauf (BJW Marienstraße)

Bei uns im Haus gibt es ein blaues Zimmer, hier finden alle     Wenn ich morgens aufstehe, dusche ich mich und esse et-
gemeinsamen Aktionen statt: Hausaufgaben erledigen, ein         was. Dann gehe ich zur Friedrich-Fröbel-Schule. Dort mache
Spiele-Abend oder wir schauen gemeinsam einen Film. „Ich        ich einen Bundesfreiwilligendienst (Bufdi). Auf der Arbeit
bekomme Vokabeln abgefragt, es ist schön, mit anderen           helfe ich den Lehrern. Ich spiele mit den Kindern und bin
lernen zu können und nicht allein zu sein.“ Im blauen Zim-      beim Essen mit dabei. Um 16 Uhr gehe ich nach Hause. Nach
mer ist man bei Schwierigkeiten nie auf sich allein gestellt.   der Arbeit gehe ich zum Fitness. Danach besuche ich das
Man hat laut unserer jugendlichen Bewohner „immer ein           Büro, wenn ich Hilfe brauche.
paar Gehirne, die mitdenken“.
                                                                Ich möchte Kinderpfleger werden. Ich
                                                                habe mir eine Praktikumstelle organisiert.
                                                                Wenn ich zu Hause bin, koche ich mir et-
                                                                was zum Essen. Das Jahr 2018 war gut für
                                                                mich, da ich den Hauptschulabschluss ge-
                                                                macht und den Bufdi begonnen habe.

                                                                               „Guten Appetit!“:
                                                                               Alle(s) bereit fürs Mittagessen
                                                                               im Haus Johannes
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                                 „Highlights“ aus den Wohngruppen
                                       Team II | Regelwohngruppe                                  VP Steingraben Herrenberg

                                 Im Jahr 2018 gab es viele Ausflüge und Aktivitäten. Dabei      „Partizipation lebendig gestalten und erfahr-
                                 war der Bodensee ein sehr beliebtes Ziel, vorne weg der        bar machen ...“
                                 Affenberg in Salem. Hier konnten wir hautnah die dort le-      Zweimal im Jahr findet in der Verselbstständigungsgruppe
                                 benden Affen bestaunen. Sportlich wurde es beim Trampo-        im Steingraben Herrenberg eine Hausversammlung für alle
                                 linspringen in der Sprungbude, beim Schwarzlicht-Minigolf,     VP-Bewohner/innen und alle Mitarbeiter/innen statt. Dieser
                                 Pitpat spielen (Mischung aus Billard und Minigolf) oder        Termin sowie die wöchentlich stattfindende Gruppenbe-
                                 beim Tretbootfahren mit anschließendem Eisessen. Auch die      sprechung sind verpflichtend für alle. Dieser Rahmen bietet
                                 Kreativität durfte nicht fehlen: Wir bastelten fleißig, mal-   den jungen Menschen eine Möglichkeit, ihren Lebensmittel-
                                 ten oder stellten Kunstwerke aus Alu-Dosen her. Im Winter      punkt und den Alltag aktiv mitzugestalten.
 Die Regelgruppe auf „Entde-     backten wir Plätzchen und liefen Schlittschuh.
 ckungstour“ im Elbsandstein-
                                                                                                Wir haben für die VP (Verselbstständigungsplätze) ein Regel-
 gebirge und im Kletterpark.
                                 Unsere Sommerfreizeit führte uns nach Dresden und in die       werk, welches das Zusammenleben der jungen Menschen in
                                 Sächsische Schweiz. Es war eine Mischung aus Kultur und        den Wohngemeinschaften sowie ihre Rechte und Pflichten
                                 Erlebnispädagogik, was allen viel Freude bereitet hat. Wir     regelt. Die Regeln sind jedoch nicht starr. Sie können in ge-
                                 erkundeten die Stadt Dresden, machten eine Tagestour im        meinsamen Aushandlungsprozessen zwischen Jugendlichen
                                 Kanu und besuchten die Tiere im Dresdner Zoo.                  und Mitarbeitern verändert werden. Denn uns geht es da-
                                                                                                rum, dass die jungen Menschen reflektieren und sich fragen:
                                 Ein Highlight des Jahres war sicherlich die Renovierung der    „Welche Regeln sind gut und sinnvoll? Was ist mir wichtig?
                                 Wohngruppe im August, während der wir auf Sommerfrei-          Kann ich tatsächlich etwas bewirken, wenn ich für meine
                                 zeit waren. Wir fühlen uns super wohl und haben uns in un-     Meinung einstehe?“
                                 serem „neuen“ Zuhause wieder gut eingelebt.
Stationäre erzieherische Hilfen | 25

                                     Schon seit Längerem           WG Steingraben Herrenberg
                                     wurde in Gruppenbe-
                                     sprechungen der leise     »   Winterfreizeit in Todtnau mit Skifahren und Rodeln
                                     Wunsch nach einem         »   Sommerfest mit Ehemaligentreffen
                                     offeneren Umgang          »   Sommerfreizeit in Falkau im Schwarzwald
                                     mit Übernachtungs-        »   Erste-Hilfe-Kurs mit den Jugendlichen und mit Folkert
                                     gästen von außer-         »   Zuckerfest
halb in der Gruppe geäußert. In der Hausversammlung            »   Schlittschuhlaufen mit Franzi
Ende 2017 wurde dieser Wunsch lauter und so wurde ein          »   Bowling
Schreiben an den Bereichsleiter gerichtet. Zusätzlich fasste   »   Schwimmbad
sich ein Mitbewohner ein Herz und sprach bei einem zufäl-      »   Adventsbasar Hilde-Domin-Schule
ligen Zusammentreffen die Bereichsleitung direkt an. Die       »   Interne Steingraben-Weihnachtsfeier
Antwort lautete ungefähr: „Es gibt keine Regel, die in VP      »   Legal sprayen als Gruppenabend in Bad Cannstatt
bei über 18-Jährigen Übernachtungsbesuche verbietet. Ihr       »   Kartbahn in Gärtringen
müsst schauen, wie ihr es umsetzen könnt, damit es keine       »   Kicken im Soccer-Park als Abschied für Amer               WG Steingraben auf Winterfreizeit
Probleme gibt.“                                                                                                              in Todtnau (Schwarzwald)

Seit Anfang 2018, nachdem wir in der Hausversammlung
gemeinsam mit den Jugendlichen überlegt haben, wie die
Übernachtungsbesuche gestaltet werden können, haben wir
fast jedes Wochenende Gäste. Wir Mitarbeiter spüren, wie
wichtig unseren Mitbewohnern dieser Freiraum ist, und des-
halb schützen sie ihn besonders und halten sich an die von
ihnen vereinbarten Regelungen. Sie haben die Erfahrung ge-
macht, dass ihre Meinung wichtig ist, dass sie mit ihrem An-
liegen ernst genommen wurden und dass sich persönlicher
Einsatz eben doch positiv auswirken kann.
Stationäre erzieherische Hilfen | 26

                                       UMA-WG Uhlandstraße                                       VP Bahnhofstraße Leonberg,
                                                                                                 BJW Herrenberg, BJW Schönaich (UMA)
                                 Mit einem runderneuerten Team um die Hausleiterin Tanja
                                 König startete die UMA-Wohngruppe Uhlandstraße in das         In beiden Betreuungsformen (BJW = Betreutes Jugendwoh-
                                 Jahr 2018. Die weiter abnehmenden Flüchtlingszahlen wirk-     nen, VP = Verselbstständigungsplätze) wohnen ehemalige
                                 ten sich auch auf die Arbeit in der Wohngruppe aus, sodass    unbegleitete minderjährige Flüchtlinge an drei Standorten
                                 sich vermehrt um die weitere Integration der Jugendlichen     im Landkreis. Der Alltag war geprägt von der Begleitung
                                 und jungen Erwachsenen in Schule, Verein und sozialem         der Jugendlichen im ersten Lehrjahr, vor allem auf der schu-
                                 Umfeld gekümmert werden konnte. Neben dem Erwerb von          lischen Seite, beim Schulabschluss und bei der Suche nach
                                 Schulabschlüssen stand auch das Finden von Ausbildungs-       Ausbildungsplätzen. Ein weiteres großes Thema ist die Woh-
                                 plätzen im Vordergrund.                                       nungssuche, die Jugendlichen werden älter und selbststän-
Im 3D-Kino des Technikmuseums                                                                  diger und können demnächst alleine wohnen. Es ist jedoch
Sinsheim ...                     Zum Abschluss des Ramadans im Mai organisierten die Ju-       sehr schwierig, geeigneten Wohnraum zu finden.
                                 gendlichen gemeinsam ein großes Buffet und feierten mit
                                 vielen Gästen das Zuckerfest. Daneben hatten alle Gäste die   Neben den ernsten Themen kam der Spaß auch nicht zu
                                 Möglichkeit, ihre Kräfte beim Tischtennisturnier und beim     kurz, wir haben immer wieder kleine Ausflüge gemacht.
Tischfußball beim Zuckerfest     Tischfußball zu messen. In den Sommerferien stand eine        Eine Gruppe hat dabei beim Tagesauflug nach Überlingen
                                         einwöchige Gruppenfreizeit nach Glückstadt an der
                                         Nordsee an. Die Gruppe unternahm viele Ausflüge
                                         – zu Fuß ins Wattenmeer, mit dem Schiff durch den
                                         Hamburger Hafen ...

                                          Veränderungen in der Gruppe durch Aus- und Ein-                                           „Keine Panik!“ beim
                                                                                                                                    Tretbootfahren auf
                                          züge führten dazu, dass der Fokus wieder mehr auf                                         dem Bodensee
                                          gemeinsame Aktivitäten gelegt wurde. Regelmäßi-
                                          ge Ausflüge an den Wochenenden gehören genau-
                                          so dazu wie das gemeinsame Kochen und wöchent-
                                          liche Gruppenbesprechungen.
Stationäre erzieherische Hilfen | 27

am Bodensee ein „Highlight der besonderen Art“ erlebt:         Die Freizeitgestaltung war geprägt vom Jahresthema un-
„Wir hatten ein Tretboot gemietet und sind auf den See         seres Auszubildenden Reza, der aufschreiben und sammeln
gefahren, dann kam sehr starker Wind auf und hat uns           sollte, was alles zur deutschen Kultur gehört. Daher waren
abgetrieben, wir konnten aus eigener Kraft nicht mehr zu-      wir im Dornier-Museum in Friedrichshafen, im Stuttgarter
                                                                                                                                UMA beim Tanz
rückstrampeln. Der Bootsverleiher musste uns mit einem         Daimler-Museum, in der Staatsgalerie, im Heimatmuseum            („Fest der Kulturen“)
Motorboot zurückschleppen. Das hat den Jungs besonders         Holzgerlingen, auf dem Cannstatter Wasen
gut gefallen.“                                                 und beim Weihnachtsmarkt in Ulm. In der
                                                               Gruppe wurden auch die Hintergründe zum
  VP Uhlandstraße Holzgerlingen (UMA)                          „Tag der Deutschen Einheit“ besprochen
                                                               und wie die Mülltrennung im Landkreis
In der VP Uhlandstraße war die Arbeit der Mitarbeiter/in-      Böblingen funktioniert. Außerdem gab es
nen in der 1. Jahreshälfte darauf ausgerichtet, die Jugend-    tolle hausinterne Veranstaltungen und Ver-
lichen bei ihren Schulabschlüssen und den Bewerbungen für      anstaltungen vom Waldhaus. Das „High-
die weitere Schullaufbahn, für eine Ausbildung oder FSJ zu     light“ war Ende Juli die dreitägige Freizeit
unterstützen, sodass die Jugendlichen in diesen lebensprak-    in Köln mit der ganzen Gruppe.
tischen Bereichen immer selbstständiger wurden. Ab Som-
mer 2018 stellten wir fest, dass unsere jugendlichen Flücht-
linge wirklich in Deutschland und „bei uns“ angekommen
sind. Es ist ein ganz großer Unterschied im Vergleich zum
Beginn unserer Arbeit 2016.

                                                                                                                                        UMA im
                                                                                                                                        Stuttgarter
                                                                                                                                        Kunstmuseum
Ambulante und teilstationäre Hilfen zur Erziehung | 29

Rückblick 2018 | Ambulante und teilstationäre Hilfen zur Erziehung

„Alltag“ – ein deutungsoffener Begriff
Der Fachbereich „Ambulante und teilstationäre Hilfen zur Erziehung“ betreut Familien und
Jugendliche in den drei Familien- und Jugendhilfeverbünden Gäu-Herrenberg, Leonberg und
Schönbuch in ihrem häuslichen Umfeld (aufsuchende Betreuung). Wir sind dabei als Schwer-
punktträger im Auftrag des Kreisjugendamtes für die Region in einer besonderen Verantwor-
tung, was die Ausgestaltung der Jugendhilfe betrifft.

„Alltag“ in den erzieherischen Hilfen, das ist die Bandbrei-    »» Die Qualifizierung weiterer Mitarbeiter/innen in entwick-
te zwischen Langeweile, ohne Besonderheiten, aber auch             lungspsychologischer Beratung und zur insoweit erfah-
Normalität und Routine. Die Routinen und Konzepte, der             renen Fachkraft im Kinderschutz.
Halt, feste Abläufe und Standards geben uns neben einer
gelingenden Bewältigung unserer Aufgaben und Herausfor-
derungen immer wieder noch Raum für die Durchführung be-
sonderer Projekte. – Drei dieser Projekte seien hier erwähnt:
                                                                  A         Alternativen
                                                                  L         Lust, Last, Leben
»» Gemeinsames Projekt des Waldhauses mit dem Kreisju-            L         Lernen, Langeweile
   gendamt, Außenstelle Herrenberg zur Partizipation von Kin-
                                                                  T       	Teilhabe, Türen öffnen
   dern, Jugendlichen und deren Eltern an der Hilfeplanung.
»» Gemeinsames Projekt mit dem Kreisjugendamt und wei-            A         Aktiv, allumfassend
   teren Trägern der Jugendhilfe zum Thema „Nachhaltig-           G         Gestalten, gemeinsam
   keit“ mit wissenschaftlicher Begleitung durch die Uni-
   versität Tübingen.
Ambulante und teilstationäre Hilfen zur Erziehung | 30

                                                                                                   die Bettdecke, die drei jüngsten Kinder weinen. Die älteste
                                                                                                   Tochter wurde vom Fahrdienst für den Kindergarten abgeholt.
                                                                                                   Mutter krümmt sich im Bett vor Schmerzen, jammert und be-
                                                                                                   tet. Der Kindsvater ist am Telefon, dies liegt neben ihr im Bett.
                                                                                                   Hole die Kinder aus dem Bett und gebe den Zwillingen einen
                                                                                                   Apfel. Sie haben noch nicht gefrühstückt. Ich spreche mit dem
                                                                                                   Vater, sage ihm, dass er sofort kommen muss, da die Mutter
                                                                                                   die Kinder nicht versorgen kann. Er antwortet, dass er erst
                                                                                                   am nächsten Tag kommt, weil er einen Termin in Karlsruhe
                         Unterwegs in Sachen „Familienhilfe“ ...
                                                                                                   wahrnehmen muss. Er meint, ich solle die Nachbarin fragen,
                                                                                                   ob sie die Kinder betreut und versorgt. Aber diese hat selbst
                                   Ein ganz „normaler“ Arbeitstag                                  drei Kinder und ist nicht zu Hause.
                                   als Familienhelfer/in ...
                                                                                                   10.30 Uhr | Ich versuche, das Jugendamt anzurufen. Alle
                                 7 Uhr, Arbeitsbeginn | Ich überprüfe das Diensthandy auf          Nummern sind besetzt. Versuche es weiter bis 11 Uhr, dann
                                 eingegangene SMS und Anrufe für den Tag.                          rufe ich im benachbarten Kindergarten an und bitte eine
  „Wir sind für Ju-                                                                                bekannte Mitarbeiterin, direkt ins Amt zu gehen und mich
 gendliche, Heran-               8 Uhr, 1. Termin | Hausbesuch in Leonberg im 4. Stock,            dann zurückzurufen. Gleichzeitig meldet sich eine Kollegin,
   wachsende und                 ohne Aufzug: Ein Antrag und drei Briefe erklären und aus-         die in der Nähe ist, und sagt zu, dass sie hinfährt, um die
   junge Familien                füllen, Schulgespräch der Mutter mit der Klassenlehrerin          Mitarbeiterin des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) zu
 da, die in Schwie-              vorbereiten. Fragen aufschreiben: „Was soll dabei gefragt         informieren. Die Mutter fällt plötzlich in Schlaf. Ich mache
 rigkeiten geraten               werden?“                                                          mir Sorgen. Plötzlich wacht sie auf. Sie steht auf und begin-
  sind oder zu ge-                                                                                 nt, eine große Tasche zu packen. Ich frage, was sie macht,
                                 10 Uhr, 2. Termin | Hausbesuch in einer Obdachlosenun-            und sie sagt, dass sie ins Krankenhaus gehen wolle. Sie
   raten drohen.“
                                 terkunft: Mutter mit vier Kindern im Alter von vier Monaten       taumelt und fällt glücklicherweise in einen nahen Sessel.
     Waldhaus-Motto              bis fünf Jahren, darunter zweijährige Zwillinge. Vater der Kin-   Ich bitte sie, dort sitzen zu bleiben, bis die Mitarbeiter vom
                                 der lebt in Karlsruhe. Mutter öffnet die Türe eingewickelt in     Jugendamt da sind.
Ambulante und teilstationäre Hilfen zur Erziehung | 31

11 Uhr | Rückruf vom Jugendamt, ASD-Mitarbeiterin wird         Mutter möglich wird. Erreiche nur einen anderen Mitarbeiter
mit einer Kollegin kommen. Ich sage meine weiteren Ter-        und bitte diesen um Rückruf.
mine ab.
                                                               14 Uhr | Rückruf, ich bitte die ASD-Mitarbeiterin darum,
11.30 Uhr | Erneuter Rückruf vom Jugendamt: Es verzögert       direkten Kontakt zum Arzt in der Klinik aufzuneh-
sich.                                                          men. Die Sozialarbeiterin sagt, dass sie persönlich
                                                               hingeht und sich später bei mir meldet.
12 Uhr | Die Mitarbeiter sind da, sie haben eine Pflege-
familie für die Zwillinge organisiert. Die Mutter geht mit     15.36 Uhr | Rückruf. Sie hatte ein Gespräch mit der
dem Säugling ins Krankenhaus. Ich begleite sie. Zurück in      Ärztin, es besteht der Verdacht auf Nierenbeckenent-
der Wohnung suchen wir Bekleidung für die restlichen drei      zündung. Die Aufnahme fand mit Säugling statt, da
Kinder zusammen. Die Zwillinge wollen sich nur von mir an-     die Mutter stillt. Wir vereinbaren, dass wir am näch-
ziehen lassen. Eine ihnen bekannte Situation hat ihnen ge-     sten Tag nochmals telefonieren.
holfen, die Inobhutnahme (ION) leichter zu überwinden. Ich
nehme die aktuellen Briefe, welche die Mutter bereitgelegt     (Ende des Arbeitstags)
hat, mit, um sie zu bearbeiten. Es ist auch Post vom Bundes-
amt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dabei.
                                                                                                                               Das Wohl der Kinder und
12.45 Uhr | Auf dem Weg ins Büro ruft mich die Mutter an,                                                                      Jugendlichen steht im
dass sie nicht stationär aufgenommen wird und zum Haus-          Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH nach                   Fokus der Sozialpädagogi-
                                                                                                                               schen Familienhilfe.
arzt gehen soll. Ich sage ihr, sie solle sich nicht wegbewe-     § 31 SGB VIII) unterstützt Familien durch intensive
gen, und versuche, alles Notwendige zu klären.                   Betreuung und Begleitung in Erziehungsaufgaben
                                                                 und bei der Bewältigung von Alltagsproblemen. Sie
13.10 Uhr | Im Büro rufe ich das Jugendamt erneut an, um         hilft bei der Lösungsfindung in Konflikt- und Krisen-
die Mitarbeiter dort zu bitten, ihrerseits Kontakt mit der       situationen sowie beim Kontakt mit Ämtern und
Klinik aufzunehmen, damit eine stationäre Behandlung der         Institutionen. Die Sozialpädagogische Familienhilfe
                                                                 gibt somit Hilfe zur Selbsthilfe für die ganze Familie.
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