Gemeinsam Warum Zusammenhalt uns so stark macht - So macht Kindern Essen richtig Spaß

 
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Gemeinsam Warum Zusammenhalt uns so stark macht - So macht Kindern Essen richtig Spaß
ERNÄHRUNG            FREUNDSCHAFT         SCHMERZ
                                                           -                    -                    -
                                                           So macht Kindern     Wenn das Alter       Hoffnung dank
                                                           Essen richtig Spaß   keine Rolle spielt   neuer Therapien
                                            BERÜHRUNG
                                             Kuscheln
Das Magazin für unsere Mitglieder 02.2021

                                             hilft gegen
                                             Stress
                                             Seite 20

                               Gemeinsam          Warum Zusammenhalt uns so stark macht
Gemeinsam Warum Zusammenhalt uns so stark macht - So macht Kindern Essen richtig Spaß
Inhalt

                                                            6

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                                                            Kuscheln gegen Stress
                                                            -
                                                            Sexualtherapeutin Melanie Büttner über                                                                    22

                                                                                                                        26
                                                            die heilsame Kraft der Berührung

                                                            21                                                          Im Einsatz für die Versicherten
                                                                                                                        -

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                                                            Symbiosen mit Sinn                                          So engagieren sich die Mitglieder des
                                                            -                                                           BARMER-Verwaltungsrats
                                                            Faktenfunde aus der Forschung zur

                                                                                                                        28
Viele Hände, ein Ziel                                       Glücksquelle Gemeinschaft
-

                                                            22
Kochen, bauen, retten – drei Gemein-
schaftsinitiativen, die uns begeistern                                                                                  Weil jede(r) anders ist
                                                                                                                        -

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                                                            Zurück in die Balance                                       Männer und Frauen reagieren
                                                            -                                                           verschieden auf Krankheit und Medizin
                                                            Neue Diagnoseverfahren

                                                                                                                        30
Roadtrip zur Freundschaft                                   helfen chronisch Schmerzgeplagten
-
Auf gemeinsamer Tour entdecken                                                                                  32
ein 93-Jähriger und ein Student, was                                                                                    Eine Medizin für alle
sie verbindet                                                                                                           -
                                                                                                                        Medizinethiker Florian Steger

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                                                                                                                        fordert mehr Rücksicht auf Geschlecht
                                                                                                                        und Alter

                                                                                                                        32
Vertraut euch doch
-
Warum Vertrauen ein lohnendes
Tauschgeschäft ist – ein Essay                                                                                          Mit Kindern kochen
                                                                                                                        -

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                                                                                                                        Tipps von Köchin Sarah Wiener

An deiner Seite                                                                                                         RUBRIKEN
-                                                                                                                       S. 3    W illkommen
Die Krebserkrankung der Mutter lässt                                                                                    S. 4    Neues von der BARM ER
eine Familie neu zueinanderfinden                                                                                       S . 35 Ko l u m n e Z u s a m m e n h a l t

Herausgeber: BARMER, Axel-Springer-Straße 44, 10969 Berlin; verantwortlich: Christian Bock, Bereichsleiter Marke und Marketing; E-Mail: redaktion@barmer.de;
Redaktion: Nerdpol – Redaktionsbüro für Medizin- und Wissenschaftsjournalismus, München; Gestaltung & Bildredaktion: Axel Lauer, Berlin; Bilder: BARMER,
Luise Aedtner, Getty Images, Dinah Hoffmann, Hubertus Huvermann, Melanie Koravitsch, Nicki Schäfer, Ozeankind e.V., Photogenika, plainpicture,
Progeno Wohnungsgenossenschaft eG, Sabrina Weniger; Illustrationen: Anton Hallmann/Sepia
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur nach vorheriger schriftlicher Einwilligung der BARMER. Die kommende Ausgabe wird voraussichtlich
im Juni 2022 verschickt.
Gemeinsam Warum Zusammenhalt uns so stark macht - So macht Kindern Essen richtig Spaß
Willkommen

Liebe Leserinnen und Leser,

wir sind nicht alle gleich. In der Medizin ist vor allem der Unterschied
zwischen Männern und Frauen wichtig. Deshalb setzt sich die BARMER
für eine geschlechtersensible Medizin ein. Eine zukunftsorientierte
Gesundheitsversorgung kann nur gewährleistet werden, wenn wir die
Unterschiede zwischen den Geschlechtern berücksichtigen, zum Bei-
spiel bei Diagnosen und der Dosierung von Medikamenten. Wir haben
dazu mit Prof. Dr. Florian Steger ein interessantes Interview geführt und
erläutern Ihnen die unterschiedlichen Krankheitssymptome in einer
aufschlussreichen Illustration. In der Gendermedizin ist eine Trennung
wichtig, in unserem Alltag wünschen wir uns aber mehr Gemeinschaft
und hoffen alle auf ein Weihnachtsfest im Kreis der Familie. Auch diesem
Gefühl widmen wir uns im aktuellen Magazin.
    Wir stellen Initiativen vor, die sich mit vereinter Tatkraft engagieren
und damit großartige Dinge erreichen. Wir erzählen von einer innigen
Freundschaft, trotz 73 Jahren Altersunterschied. Ein bekannter Life-
style-Coach erklärt uns, wie sich sein Blick auf das Leben durch man-
che Begegnung verändert hat, und eine Forscherin schreibt über die
befreiende Wirkung von Vertrauen. Unser kooperativer Leitgedanke              Wie gefällt Ihnen
                                                                              das Magazin?
und das solidarische Miteinander bilden die Grundlage, Ihnen auch im
                                                                              -
kommenden Jahr hochwertigen Versicherungsschutz zu bieten.                    Einfach scannen
                                                                              und Feedback abgeben.
                                                                              www.barmer.de/magazin-feedback
Ich wünsche Ihnen schon heute ein wundervolles Weihnachtsfest und
alles Gute für 2022.

Viele Grüße

                       Ihr Prof. Dr. Christoph Straub
                            Vorstandsvorsitzender

                                                                                                     3
Gemeinsam Warum Zusammenhalt uns so stark macht - So macht Kindern Essen richtig Spaß
Neues von der BARMER                                                                                        02.21

Simone Schwering ist
neues Vorstandsmitglied
der BARMER
-
Auf welche Aufgabe freuen
Sie sich am meisten?
Die BARMER mit meinen
Impulsen strategisch weiter-
zuentwickeln – mit viel
Verantwortungsbewusstsein
für fast neun Millionen
Versicherte.

Fassen Sie Ihre neue Rolle in
einem Satz zusammen.
Als Vorstandsmitglied
möchte ich auf vielfältige
Art und Weise eine Vorbild-
funktion für rund 16.000
Kolleginnen und Kollegen
einnehmen.
                                                                  Campus-Coach

Wo sehen Sie die größte                           Ganz entspannt an der Uni
Herausforderung für die
Zukunft?                         Vorlesungen, Klausuren, Wohnungssuche - Studieren kann ganz schön stressig
Unser Umfeld verändert           sein. Damit dabei die Gesundheit nicht auf der Strecke bleibt, hat die BARMER den
sich sehr schnell und die        Campus-Coach entwickelt – eine kostenfreie App für Studierende und Universitäten.
Digitalisierung ist eine wich-   Ihr Ziel: ein umfangreiches Präventionsprogramm, das Studierende fit und gesund
tige Komponente für eine         hält. Im Campus-Coach steckt eine Menge: Mit der Meditations-App 7Mind Study
zukunftsfähige Krankenkasse.     entspannen Studentinnen und Studenten vom stressigen Uni-Alltag, bei einer inter-
Eine große Herausforderung       aktiven Co-Cooking-Session holen sie sich Ernährungstipps und neue Rezeptideen.
wird sein, sich schnell auf      Bei Fuck-Up-Nights diskutieren sie mit spannenden Speakerinnen und Speakern
Veränderungen einzulassen        über persönliche Misserfolge und tauschen sich bei Deep Talks untereinander über
und trotz der Dynamik die        Themen aus, die bewegen.
Menschen in den Vorder-
grund zu stellen.                                         www.barmer.de/campus-coach

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Gemeinsam Warum Zusammenhalt uns so stark macht - So macht Kindern Essen richtig Spaß
02.21                                                                                       Neues von der BARMER

                                                                                Mehr Nachhaltigkeit

                                                                                Nicht nur reden,
                                                                                sondern handeln: Klima-
                                                                                und Umweltschutz sind
                                                                                Voraussetzungen für
                                                                                ein gesundes Leben.
                                                                                Die BARMER will bis
                                                                                2030 klimaneutral
                                                                                werden und die CO 2 -
                        Homöopathie                                             Emissionen systematisch
           Alternative Wege gehen                                               reduzieren: weniger
Viele Menschen schätzen die Homöopathie als alternative                         Dienstreisen, Ökostrom,
Behandlungsmethode bei Erkältungen, Verletzungen oder als
Ergänzung bei schweren Erkrankungen, um Nebenwirkungen
                                                                                Gebäude sanieren,
abzumildern. Die BARMER bietet für ihre Versicherten, die von                   mehr digitaler Service.
der Homöopathie überzeugt sind, einen Vertrag an, der mit dem
Deutschen Zentralverein homöopathischer Ärzte abgeschlossen                     www.barmer.de/nachhaltigkeit
wurde. Lediglich die verordneten homöopathischen Arzneimittel
müssen selbst bezahlt werden.

              www.barmer.de/homoeopathie

Ernährungs-Coaching

Gesünder leben, besser fühlen
-
Ihr Arzt hat Ihnen eine Ernährungsberatung
zur Unterstützung bei Ihrer Erkrankung
                                                                               Gürtelrose
verordnet? Die Ernährungs-App Oviva hilft
dabei, das Ernährungsverhalten dauerhaft                           Die Impfung schützt
umzustellen. Als BARMER-Mitglied können
Sie die App nutzen und so Ihr Essverhalten         Wer einmal an Windpocken erkrankt war, kann auch eine Gürtelrose
mithilfe zahlreicher Kochrezepte, Podcasts,        entwickeln – eine sehr schmerzhafte Hauterkrankung. Schützen
Videos und mit einem persönlichen Ernäh-           kann eine Impfung. Die BARMER bezahlt diese jedem Versicherten
rungscoach nachhaltig ändern. Aktuell ist          über 60 Jahren. Bei Personen mit einer besonderen gesundheit-
die Nutzung der Oviva-App für Versicherte          lichen Gefährdung übernimmt die BARMER sogar bereits ab einem
der BARMER bei der Anmeldung über den              Alter von 50 Jahren die Kosten für die Impfung. Dazu zählen chro-
Anmeldebutton kostenfrei.                          nisch Kranke, die unter Diabetes oder rheumatoider Arthritis leiden,
                                                   aber auch alle immungeschwächten Patientinnen und Patienten.
www.barmer.de/oviva
                                                                       www.barmer.de/guertelrose

                                                                                                                    5
Gemeinsam Warum Zusammenhalt uns so stark macht - So macht Kindern Essen richtig Spaß
Dossier Vereinte Kräfte                                                     02.21

Klar kann man auch alleine loslegen. Aber zusammen geht es leichter.
Was im Solo-Modus nicht glückt, das gelingt vielen. Auf den folgenden
Seiten erzählen wir von Menschen, die mit vereinter Tatkraft an den Start
gegangen sind und Großes in Bewegung gebracht haben. Wir erfahren,
warum Vertrauen befreiend und Berührung so heilsam sein kann.
Und wie Zusammenhalt, ob in der Familie oder in der
Nachbarschaft, Menschen über sich hinauswachsen lässt.

Gemeinsam
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Gemeinsam Warum Zusammenhalt uns so stark macht - So macht Kindern Essen richtig Spaß
02.21       Vereinte Kräfte Dossier

    stark
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Gemeinsam Warum Zusammenhalt uns so stark macht - So macht Kindern Essen richtig Spaß
Dossier Vereinte Kräfte                      02.21

Viele Hände, ein Ziel
Sie engagieren sich für bessere Nahrungs-
mittel, sammeln Plastik an Meeresstränden
oder bauen zusammen ein Dorf in der Stadt.
Drei Initiativen, die uns begeistern.

Gemeinsam aktiv werden
-
Ob Diabetes, Depression oder
Krebs – auch eine Erkrankung
lässt sich im Austausch mit
anderen ebenfalls Betroffenen
oft besser meistern. Selbst-
hilfegruppen engagieren sich
für die Interessen ihrer
Mitglieder und bieten Hilfe im
Alltag. Die BARMER fördert
gesundheitliche Selbsthilfe
mit pauschalen Fördermitteln.
Einzelne Projekte werden auch
ganz gezielt unterstützt.

www.barmer.de/gesundheitliche-selbsthilfe

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Gemeinsam Warum Zusammenhalt uns so stark macht - So macht Kindern Essen richtig Spaß
02.21                 Vereinte Kräfte Dossier

        Landwirtschaft verändert
        sich nur, wenn die Arbeit
        der Bäuerinnen und Bauern
        wieder geschätzt wird.

        Für eine nachhaltigere Landwirtschaft
        und gesünderen Genuss
        -
        In der Berliner „Gemeinschaft“ koope-
        rieren Akteurinnen und Akteure aus der
        Landwirtschaft und der Lebensmittel-
        produktion auf neue Art.

        Vielleicht ist es schon dieser Satz. „Durch
        Nähe entsteht Verbindlichkeit“, sagt Frie-
        derike Gaedke, die Leiterin der Berliner
        Initiative „Die Gemeinschaft“. Vier Jahre
        ist es her, dass sich in der Hauptstadt und
        deren Umland Menschen verbunden ha-
        ben, um Essen nachhaltiger und hoch-

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Gemeinsam Warum Zusammenhalt uns so stark macht - So macht Kindern Essen richtig Spaß
Dossier Vereinte Kräfte

wertiger zu machen. „Die Gemeinschaft“
ist ein Zusammenschluss von Akteur-
innen und Akteuren aus dem Lebensmit-
telbereich – etwa aus der Landwirtschaft,
der Gastronomie oder der ökologischen
Fleisch-, Fisch- und Käseproduktion. Von
zwei Berliner Restaurants gemeinsam
mit Partnerbetrieben gegründet, will das
Netzwerk „den Austausch entlang der ge-
samten Wertschöpfungskette verbessern“,
wie Gaedke das beschreibt. Also vom
Landwirt bis zur Köchin, vom Bäcker bis
zur Gastronomin. Anstelle von Rezepten
teilt man in der „Gemeinschaft“ lieber die
Ressourcen – und im Zweifel auch mal
eine ganze Kuh auf mehrere abnehmende
Restaurants auf. „Wenn wir in der Land-
wirtschaft etwas verändern wollen, brau-
chen wir langfristige Partnerschaften“, sagt
Gastronomiewissenschaftlerin Gaedke.
     Statt auf Konkurrenz – die in der
Gastro-Szene oft noch beherrschend ist                                                     Für weniger Plastikmüll in den
– schwört die „Gemeinschaft“ auf Kolla-                                                    Weltmeeren
boration. Gute Kontakte (etwa zu einem                                                     -
guten Produzenten von Bio-Lamm) wer-                                                       Mit „Ozeankind“ schufen zwei junge
den ebenso freigiebig geteilt wie Insider-                                                 Düsseldorfer eine tatkräftige Bewegung
Wissen (über die handwerkliche Verarbei-                                                   von Freiwilligen, die Strände von Plas-
tung von regionalem Fisch zum Beispiel).                                                   tikabfällen befreien.
Bei Hofbesuchen und auf Symposien infor-
mieren sich die Beteiligten über nachhal-                                 Micha, 41, und   Manchmal genügt ein Moment, um ein Le-
tige Herstellung, bodenschonenden An-                               Marina Schmidt, 34,    ben für immer zu verändern. Vor fünf Jah-
bau und die handwerkliche Verarbeitung.                        lieben das Leben am und     ren kreuzten Marina und Micha Schmidt
„Unser Ziel ist die Etablierung eines ande-                             auf dem Wasser.    mit einem Segelschiff vor den Malediven.
ren Lebensmittel-Know-hows und lang-                                                       „Wir waren ganz alleine unterwegs, nir-
fristig auch einer anderen Ausbildung in                                                   gendwo Menschen“, erzählt Marina. „Am
Gastronomie und Handwerk“, sagt Gaed-                                                      Morgen springst du vom Boot, tauchst ab
ke. Die Gastronomie sei ein guter Multi-                                                   und siehst die wunderschönen Korallen,
plikator. Viel Inspiration für modernes                                                    Fische – und dann plötzlich all die Plas-
Essen und Kochen kommt schließlich von                                                     tiktüten, die dort im Meer schwimmen.“
etablierten Küchenchefinnen und -chefs.                                                    Noch im Urlaub fassten Marina und ihr
     Das Konzept scheint aufzugehen. Zum                                                   Freund Micha den Entschluss, dass sie das
„Symposium für eine neue Esskultur“, der                                                   Geld, das beide eigentlich für eine Welt-
wichtigsten Veranstaltung des Vereins,                                                     reise gespart hatten, verwenden würden,
reisen 250 Menschen aus dem gesamten                                                       um gegen die Plastikflut anzukämpfen.
Bundesgebiet an. Es gibt Vorträge und                                                      Einen genauen Plan gab es nicht. Dennoch
Workshops auf verschiedenen Bauern-                                                        kündigten sie ihre Wohnung in Düsseldorf
höfen – und am Ende viele lange Tische,                                                    und ihre Jobs als Senior Online Sales Ma-
an denen gemeinsam getafelt wird. Auch         Friederike Gaedke, 30,                      nagerin und Teamleiter im Kundenservice.
Genuss multipliziert sich bekanntlich,         leitet die Berliner Initiative              Sie packten ihre Rucksäcke und schrieben
wenn man ihn gemeinsam zelebriert.             „Die Gemeinschaft“.                         auf ihren Reisen den Blog „Ozeankind“

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02.21                                                                                    Vereinte Kräfte Dossier

über die desaströse Situation der Meere                                    Für ein Mehrgenerationendorf in der
und erste Müllsammel-Aktionen. Immer                                       Millionenstadt
mehr Menschen wollten mitmachen und                                        -
begannen an den Stränden von Malaysia,                                     Eine Münchner Wohnungsbaugenos-
Bolivien, Griechenland, Südafrika, Portu-                                  senschaft trotzt überhöhten Immobi-
gal, Sansibar und Vietnam aufzuräumen.                                     lienpreisen und schafft eine engagierte
     Inzwischen ist „Ozeankind“ eine Um-                                   Nachbarschaft von Gleichgesinnten.
weltorganisation – und hat mit vereinten
Kräften von Freiwilligen viele, viele Ton-      Lena Krahl (41, li.) und   Der Traum von den eigenen vier Wän-
nen Müll an Stränden gesammelt. Einmal            Progeno-Mitgründer       den – für viele Menschen in deutschen
im Monat findet ein Plastikrebell-CleanUp     Philipp Terhorst (38, re.)   Großstädten ist er angesichts der Immo-
statt, bei dem Menschen auf dem ganzen                 engagieren sich     bilienpreise fast unerreichbar. Die zwölf
Globus mit anpacken. Auf Sansibar stehen           genossenschaftlich.     Initiatoren der privaten Baugenossenschaft
inzwischen vier sogenannte SwopShops, in                                   Progeno eG wollten das ändern. Und nicht
denen Kinder Schulmaterialien, Kleidung                                    nur das. „Mich hat gestört, dass wir in un-
und Schuhe gegen gesammelte Plastik-                                       serer Stadtwohnung die Nachbarn gar nicht
flaschen eintauschen können. Und auch                                      kennen. Unsere Kinder spielten nicht mit
für deutsche Schulen haben Marina und                                      Gleichaltrigen, gleichzeitig sah man viele
Micha ein Umwelt-Arbeitsheft geschrie-                                     ältere Menschen, die einsam waren“, sagt
ben, um den Schülerinnen und Schülern                                      Vorstand Philipp Terhorst. Gemeinsam mit
zu zeigen, wie unverzichtbar Umweltschutz                                  Freundinnen, Freunden und Bekannten
ist. Aus einer kleinen Idee beim Baden                                     gründete er 2016 die Wohnungsbaugenos-
wurde plötzlich mit der Kraft der Gemein-                                  senschaft. Unterstützt von der Stadt und
schaft eine große Bewegung. „Ohne die                                      mit dem Kapital zahlreicher Mitstreiterin-
Unterstützung von so vielen gäbe es                                        nen und Mitstreiter, erwarb die Progeno im
‚Ozeankind‘ nicht“, sagt Micha. „Du denkst,                                Stadtteil Bogenhausen ihren ersten städti-
es ist ja nur ein einzelner Strohhalm, nach                                schen Baugrund. Das Ziel: bezahlbaren, ge-
dem du dich bückst. Doch wenn es viele                                     meinschaftsorientierten Wohnraum schaf-
tun, entsteht eine enorme Macht.“                                          fen und Menschen aus unterschiedlichen
                                                                           Alters- und Berufsgruppen zusammen-
                                                                           bringen. Heute steht auf dem Baugrund
                                                                           ein nachbarschaftliches Idyll – mitten in
                                                                           der Stadt: Um einen „Dorfplatz“ gruppie-
                                                                           ren sich fünf energieeffiziente Häuser mit
                                                                           48 Wohnungen. 250 Mitglieder zählt die
                                                                           Genossenschaft inzwischen – und steht für
                                                                           einen Trend, der in allen größeren Städten
                                                                           Deutschlands Fuß fasst. „Es ist ein ganz
                                                                           neues Gefühl von Miteinander, das wir hier
                                                                           leben. Ein bisschen wie auf einem Dorf “,
                                                                           beschreibt es Lena Krahl, die mit ihrem
                                                                           Mann und ihren drei Kindern eine 5-Zim-
                                                                           mer-Wohnung bewohnt, die nicht nur
                                                                           bezahlbar, sondern auf Lebenszeit sicher
                                                                           ist. „Alleine hätten wir das nie geschafft.“
                                                                           Gemeinsam geht noch mehr: Im Westen
                                                                           von München baut die Progeno inzwischen
                                                                           das zweite Projekt mit 100 Wohnungen in
                                                                           nachhaltigen Holzgebäuden.
                                                                                B. Esser/K. Schwarze-Reiter

                                                                                                                    11
Dossier Freundschaft   02.21

Auf großer Fahrt

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Zwei Männer gehen auf Reisen. Der eine ist 20, der andere 93.
Gut 5.000 Kilometer legen die beiden in drei Wochen zurück.
Und werden unterwegs beste Freunde.

                                                                               Carlos: Ich bin schon als Kind gerne
                                                                               gereist. Im Krieg kam ich nach Frankreich
                                                                               und Spanien, lebte dort mehrere Jahre. Mit
                                                                               Torben noch einmal dorthin zu fahren,

                                             E
                                                                               fand ich eine gute Idee. Er wollte ja erst
                                                                               nicht so recht. Da habe ich ihm die Reise
                                                                               zu Weihnachten geschenkt. Er musste also
                                                                               mitmachen.
                                                                               Torben: Stimmt. Ich war erst zögerlich we-
                                                                               gen Corona. Doch ich bin sehr glücklich,
                                                                               dass wir es gemacht haben. Es gab auch
                                                                               kritische Stimmen, die meinten, mit über
                                                                               90 Jahren sei man zu alt zum Reisen und
                                                                               ich könne die Verantwortung nicht tragen.
                                                                               Carlos: Ich habe ihm gesagt, dass ich auf
                                                                               der Tour sterben kann – oder hier. Warum
                                                                               sollte man es deshalb bleiben lassen?
                                                                               Torben: So ist Carlos immer. Völlig
                                  Ein Zoom-Interview. Carlos (bürgerlich       unerschrocken. Und ein sehr spontaner
                                  Karl-Heinz) Schulz sitzt mit Torben Kro-     Typ, der mit jedem ins Gespräch kommt.
                                  ker in seiner Wohnung. Torben richtet den    Ich war, ehrlich gesagt, ein Kontrollfreak.
                                  Bildschirm aus, Carlos führt das Wort.       Die Abenteuerlust habe ich mir von Carlos
                                                                               abgeschaut.
                                  Torben, Carlos, zwischen Ihnen liegen
                                  73 Jahre – ein ungewöhnlicher Alters-        Zitat aus dem Buch:
                                  unterschied für eine Freundschaft.           Frankreich im Sonnenschein. Zum ersten
                                  Torben: Das sagen viele. Vor fünf Jahren     Mal seit unserem Aufbruch heute Morgen
                                  fing ich an, bei Carlos Rasen zu mähen, um   habe ich das Gefühl, unentrinnbar in dieses
                                  Geld zu verdienen. Aber Stück für Stück      Abenteuer verstrickt zu sein. Carlos sitzt,
                                  bin ich mehr Freund als Gartenbeauf-         wie immer erzählenderweise, als lebender
                                  tragter geworden. Irgendwann war ich fast    Podcast neben mir. Das meiste von dem,
                                  jeden Tag dort. Wir essen zusammen zu        was er erzählt, habe ich schon gehört, aber
                                  Abend und Carlos erzählt mir von seinem      allmählich kommen Farbe und Leben in
                                  Leben. Oder wir machen Ausflüge nach         die Geschichten. In den Niederlanden habe
                                  Düsseldorf. Da kommt Carlos her – ich        ich mein Autoradio abgestellt – kein Be-
                                  habe durch ihn überhaupt erst die Groß-      darf. Wann werde ich es wieder einschalten?
Einsteigen, bitte! Torben         stadt kennengelernt. Wir sind ein gutes      Knapp drei Wochen später, auf dem Rück-
Kroker (li.) chauffierte Carlos   Team, oder?                                  weg, als wir wieder in Deutschland sind.
Schulz in einem alten             Carlos: Na ja, ich werde dich halt nicht
Mercedes durch Europa.            mehr los.                                    Das heißt, Sie sind einfach so losge-
                                  Torben: Willst du mich denn loswerden?       fahren?
                                  Carlos: Nö! Wir passen ja gut.               Torben: Wie gesagt: Ich plane gerne. Wir
                                                                               haben uns deshalb vorher zusammen-
                                  Sie, Carlos, hatten auch die Idee mit        gesetzt und jeder durfte abwechselnd einen
                                  der Reise ...                                Ort nennen, wo es hingehen soll. Carlos

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Dossier Freundschaft                                                                                                    02.21

„Manche verstehen unsere Freundschaft
nicht. Wir haben uns nicht
gesucht – aber wir haben uns gefunden.“
Torben Kroker, 21, Student

Roadtrip des Lebens              wollte zu den Orten, in denen er als jun-
-                                ger Mann gelebt hat, zum Beispiel Eibar in
Der Tourverlauf: Von Emmerich    Spanien. Ich wollte unbedingt Monaco se-
(NRW) ging es über Versailles    hen. So entstand die Route. Ich habe auch
und Nantes nach Bordeaux.        Hotels rausgesucht – und dann immer ein
Das spanische Städtchen Eibar    paar Tage im Vorfeld fest gebucht.
war für Carlos ein Sehnsuchts-   Carlos: Ich war 1945 in Frankreich in
ziel, auch in San Sebastián      Kriegsgefangenschaft und lebte danach
wurde haltgemacht. Über          noch drei Jahre in Spanien. Es war eine
Toulouse und Marseille weiter    gute Zeit. Gerade die, die im Krieg gegen
nach Monaco – Torbens            die Deutschen gekämpft haben, haben uns
Must-Go auf der Liste.           am besten aufgenommen. Ich wollte gerne          heute zum ersten Mal begegnet, als würden
Nächste Station: Mailand. Von    noch mal dorthin – auch, um Torben alles         sie sich vielmehr aus alten Tagen kennen.
dort zurück nach Stuttgart,      zu zeigen.
wo beide von Medienleuten        Torben: Deine Erzählungen zu hören und           Nostalgie war Programm auf Ihrer Reise.
empfangen wurden. Inzwi-         dazu die Orte zu sehen, war ein unvergess-       Sie hatten auch ein sehr altes Auto ...
schen war das Reisegespann       liches Erlebnis. Zum Beispiel als wir in San     Torben: Ich liebe Autos – der Mercedes
so bekannt geworden, dass es     Sebastián auf dem Monte Igueldo standen          230 Coupé ist mein Sommerauto. Er passte
ein Filmteam auf der letzten     und auf die Stadt blickten. Carlos hat hier      genau für diese Reise. Carlos wollte sowie-
Autobahn-Passage eskortierte.    in Emmerich ein Poster hängen, das die-          so vor allem Landstraße fahren. Außerdem
                                 sen Ausblick zeigt – großartig, das jetzt in     war er ja selbst früher Autohändler – dieses
Nachzulesen ist die Geschichte   echt zu sehen. Oder als wir in Eibar Station     Modell kennt er. Ganz neue Wagen nicht.
von Carlos und Torben in         machten ...                                      Das Auto hat keine Klimaanlage, dafür
ihrem gerade erschienenen                                                         kann man alle Fenster runterkurbeln, das
Buch „5.000 km Freundschaft:     Zitat aus dem Buch:                              Schiebedach aufmachen. Ein superschönes
Der Roadtrip unseres Lebens“.    Carlos hat es sich auf der Terrasse des Hotels   Reisegefühl und Urlaubsfeeling.
                                 in Eibar gemütlich gemacht und plaudert
                                 mit dem Hotelbesitzer, erzählt ausgiebig von     Sie gehen sehr auf Ihren Freund ein.
                                 unserer Reise, unseren Plänen und seiner         Torben: Manche verstehen unsere Freund-
                                 Vergangenheit – auf Spanisch. Es ist ein et-     schaft nicht. Für mich ist es so: Wir haben
                                 was knarziges, etwas eingerostetes Spanisch,     uns nicht gesucht – aber wir haben uns
                                 aber die Wörter fliegen ihm zu. Ich wusste       gefunden. Fast fühlt es sich wie Schicksal
                                 ja, dass er’s kann, aber ihn so zu erleben,      an. Carlos war ja schon 89 Jahre, als ich an-
                                 wie nach langem Exil endlich heimgekehrt,        fing, bei ihm Rasen zu mähen. Inzwischen
                                 ganz in seinem Element – das geht mir nahe.      bin ich 21 und Carlos ist 94. Dass wir jetzt
                                 »Wann warst du hier?«, will die Frau des Be-     noch diese Freundschaft aufbauen können,
                                 sitzers von ihm wissen. »Vor siebzig Jahren?     dafür muss man dankbar sein.
                                 Und jetzt bist du dreiundneunzig?« Und           Carlos: Von mir aus können wir gleich
                                 nun kommt Carlos erst recht in Fahrt – es        wieder los.
                                 ist, als wären sich die beiden Männer nicht          Carola Kleinschmidt

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                                             Ein gutes Tauschgeschäft
    Vertrauen stärkt uns als Einzelne und als Gesellschaft. Und macht das Leben
         freundlicher. Ein Plädoyer für weniger Skepsis von Lisa Rosenberger

M
              Mein Professor                                                                             schen so traumatische Dinge
              sagte mal, dass                                                                            erlebt haben, dass sie ihren
              Vertrauen wie                                                                              Mitmenschen oder Institutio-
              Medizin für                                                                                nen eher misstrauisch begeg-
unsere Gesellschaft ist: Es hilft                                                                        nen. Dafür habe ich natürlich
gegen Einsamkeit und stärkt                                                                              vollstes Verständnis. Aber
unser mentales und physisches                                                                            deshalb grundsätzlich mehr
Wohlbefinden. Das ist sogar                                                                              Misstrauen zu fordern, wäre
wissenschaftlich erwiesen.                                                                               falsch. Wer mit einer Grund-
Aber was ist Vertrauen eigent-                                                                           skepsis anderen gegenüber
lich? Im Grunde ist es ein so-                                                                           durch das Leben geht, vergibt
ziales Tauschgeschäft, bei dem                                                                           die Chance auf neue Bande
wir etwas für uns Wertvolles                                                                             und tragfähige Beziehungen.
mit anderen teilen. Das für uns                                                                          Wir sind soziale Wesen und in
Wertvolle kann alles Mögliche                                                                            Gesellschaft am glücklichsten.
sein: etwas ganz Konkretes wie                                                                           Haben Sie Mut zu vertrauen!
die Heckenschere, die ich den                                                                            Damit tun Sie sich selbst und
Nachbarn im Gemeinschafts-                                                                               Ihrer Umgebung etwas Gutes.
garten leihe. Aber auch viel                                                                             Auch wenn Ihr Nachbar den
weniger greifbare Dinge – ein                                                                            Ast überm Gartentor stehen
Geheimnis zum Beispiel. Auch                                                                             gelassen hat.
wenn wir unsere Kinder in die
Obhut eines Kindergartens
entlassen, setzt das Vertrauen      den lästigen Ast vorm Garten-     schwierigen oder krisenhaften
voraus. Egal, was wir teilen,       tor kürzt. Oft wissen wir aber    Situationen wissen wir, wie toll
wir gehen immer ein gewisses        gar nicht, ob und wann es         es ist, Nachbarn zu haben, die
Risiko ein, dass unser Ver-         einen Gegendienst geben wird.     mit anpacken. Und Freundin-
trauen nicht erwidert wird.         Wenn wir jemandem ein Ge-         nen, Freunde und Familie, die
    Risikoscheue Menschen           heimnis anvertrauen, tun wir      ihre Unterstützung anbieten.
fragen sich vielleicht manch-       das schließlich nicht, weil wir       Vertrauen hält alles zusam-
mal, warum wir dann über-           eine Gegenleistung erwarten.      men. Das beginnt mit dem
haupt anderen vertrauen.            Und doch wagen wir es. Weil       Vertrauen in sich selbst und       Dr. Lisa Rosenberger
Ganz einfach gesagt: weil wir       es sich gut anfühlt. Und weil     setzt sich fort in einem Ver-      -
glauben, dass es einen Mehr-        wir damit ein Band schaffen       trauen auf das Gute und Ge-        Die 33-Jährige hat soziale
wert hat. Das kann eine ganz        mit unseren Mitmenschen.          lingende. Sie denken vielleicht,   Psychologie in Utrecht
praktische Erwägung sein, zum       Ein Band, das uns helfen          dass ich ein zu rosarotes Bild     studiert und in Wien
Beispiel die Hoffnung oder          kann, wenn es uns mal nicht       male? Weil es auch Situationen     zum Thema Vertrauen
Erwartung, dass der Nachbar         so gut geht oder wir Unter-       gibt, in denen man vorsichtig      promoviert. Sie lebt in
mit meiner Heckenschere auch        stützung brauchen. Gerade in      sein sollte. Und manche Men-       den Niederlanden.

                                                                                                                                     15
Dossier Familienbande                  02.21

                        Fotografin Luise
                        Aedtner (37, li.)
                        dokumentierte die
                        Krebserkrankung
                        ihrer Mutter Katrin
                        (re.) in Bildern.

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                                 An deiner Seite
    Katrin Aedtner hatte dreimal Brustkrebs. Halt gaben der heute 62-Jährigen
    ihr Mann und ihre beiden Töchter. Die jüngere, Luise Aedtner, ist Fotografin.
             Mit ihrer Kamera begleitete sie ihre Mutter durch die Therapie.

Nach der operativen Wieder-
herstellung der Brüste musste
Katrin Aedtner ein halbes Jahr
lang einen Spezial-BH tragen.

                                                                                      17
Dossier Familienbande                                                                                                             02.21

                                                Für die Familie begann nun das, was Luise
                                                Aedtner den „Kreislauf der Sorgen“ nennt.

                                                Luise Aedtner: „Wenn man zum Studieren
                                                weggeht, will man sich von seinen Eltern
                                                emanzipieren. Stattdessen musste ich mir so
                                                krasse Sorgen machen! Mein Vater, meine
                                                Schwester und ich hatten solche Angst um
                                                Mama. Unsere Furcht wiederum hat ihr
                                                Sorgen bereitet.“

K
          Katrin Aedtner war gerade 47          Katrin Aedtner: „Weil ich allen zur Last          Katrin und Olaf Aedtner sind
          und stand als Zahnärztin voll         fiel, hatte ich ständig ein schlechtes Gewis-     seit 41 Jahren verheiratet.
          im Berufsleben, als sie in ihrer      sen. Ich brauchte kein Mitleid. Lieber woll-      Der Gynäkologe betreute seine
          Brust einen Knoten spürte. Sie        te ich den Krebs angreifen, weitermachen.         Frau auch medizinisch.
bat ihren Mann nachzuschauen – ist sie          Fünf Jahre später galt ich als genesen, doch
doch nicht nur die Ehefrau des Gynäkolo-        leider ging 2015 alles von vorn los. Wieder
gen, sondern auch seine Patientin.              entdeckte ich einen Knoten, eine andere
                                                Art von Brustkrebs. Wieder wurden Tumor
Katrin Aedtner: „Der Tumor war klein, nur       und Lymphknoten entfernt, wieder folgten
zwei Millimeter. Trotzdem musste ich sechs-     Chemotherapie und Bestrahlung. Ich wur-
mal zur Chemotherapie und 33-mal zur            de gesund, doch als wäre das nicht genug,
Bestrahlung. Operativ wurden auch die           erkrankte ich 2019 erneut, eine dritte Art
Lymphknoten und die Eierstöcke entfernt         Krebs. Da traf ich die Entscheidung, mir die
– weil der Tumor hormonabhängig wuchs.          Brüste abnehmen zu lassen. Kurz vorher hat
Plötzlich war ich in den Wechseljahren. Da      Luise die Fotos gemacht.“
mein Mann mich behandelt hat, konnte ich
andere Fragen stellen und musste auf Ant-       Seit Jahren verbringen die Aedtners viele
worten nicht lange warten. Ich weiß noch,       Sommertage in ihrem Häuschen am See,
dass wir nach Weihnachten im Schnee spa-        nicht weit vom Zuhause der Eltern ent-                    Besser-Leben-Programm bei
zieren gingen und ich ihn fragte: ‚Muss ich     fernt. Auch 2019 kam die Familie dort zu-                 Brustkrebs
sterben?‘ Er sagte: ‚Nein!‘ Und erklärte mir,   sammen, einen Monat vor der Operation.                    -
was Ärzte alles gegen Brustkrebs tun können                                                               Das Disease-Management-
und dass es gute Überlebenschancen gebe.“       Luise Aedtner: „Ich hatte meine neue                      Programm (DMP) der BARMER
Luise Aedtner: „Als Ärzte konnten meine         Kamera dabei und fragte Mama, ob wir                      unterstützt an Brustkrebs
Eltern das pragmatisch angehen. Papa hat        Aktfotos machen wollen, damit sie sich von                erkrankte Frauen. Die Teil-
die Diagnose, glaube ich, eher als Gynäko-      ihren Brüsten verabschieden konnte – es                   nahme ist kostenlos. Zu den
loge betrachtet, weniger als Ehemann. So        waren schließlich schöne Brüste! Also haben               Leistungen gehören umfas-
konnte er das gefühlsmäßig von sich weg-        wir am See unser kleines Shooting gemacht,                sende Kontrolluntersuchungen
schieben. Ich bin da anders. 2007 studier-      meine Schwester hat assistiert. Die Fotos,                nach der Therapie, seelische
te ich in Würzburg und war gerade in der        auf denen Mama im Badeanzug auf dem                       Betreuung, individuelle
Tram, als mein Vater anrief: ‚Setz dich mal     Steg sitzt und liegt, sind meine liebsten. Da             Beratung zu Sport und
hin, Mama hat Krebs.‘ Hätte man das wirk-       sieht sie wunderschön aus.“                               Ernährung, Unterstützung bei
lich am Telefon sagen müssen? Doch auch         Katrin Aedtner: „Ich finde alle Bilder toll               der Langzeittherapie und den
Papa hatte Angst. Einmal kam er nach Hau-       und bin stolz auf Luises Arbeit. Das Shoo-                Rehabilitationsmaßnahmen.
se und verschwand direkt im Keller. Ich ging    ting war sehr einfühlsam. Dass beide Töch-                Patientinnen, die teilnehmen
ihm nach und fand ihn schluchzend, ganz         ter dabei waren, fand ich sehr anrührend –                möchten, können das DMP mit
allein. Er hatte Mamas Laborergebnisse be-      es verbindet uns bis heute. Ich wusste ja, dass           ihrem Arzt besprechen.
kommen und sagte: ‚Luise, es kann sein, dass    Luise wunderschöne Bilder macht, zweifelte
sie stirbt.‘ Nie zuvor hatte ich Papa weinen    aber, ob man einen kranken, älteren Körper                www.barmer.de/dmp-brustkrebs
sehen, das hat mir solche Angst gemacht!“       überhaupt ästhetisch darstellen kann.“

18
02.21                                                                Familienbande Dossier

                                                      Bevor ihre Brüste abgenommen
                                                      wurden, stand Katrin ihrer
                                                      Tochter noch einmal Modell (li.).
                                                      Zur Entspannung machte die
                                                      Mutter mit ihren Töchtern Yoga
                                                      am See (unten).

                                                      sich präventiv operieren lassen. Als wir auf
                                                      die Ergebnisse warteten, sagte sie: ‚Mir ist
                                                      egal, was bei mir ist. Ich will nur, dass du
                                                      es nicht hast.‘ Zum Glück stellte sich heraus,
                                                      dass wir das Gen beide nicht geerbt haben.“
                                                      Katrin Aedtner: „Bei mir bleibt die Angst,
                                                      dass der Krebs zurückkommt. Bei Vorsorge-
                                                      untersuchungen würde ich das Ergebnis
                                                      manchmal am liebsten gar nicht wissen.
                                                      Es geht mir heute gut. Aber die Narben
                                                      spannen unangenehm, als trüge ich eine zu
                                                      enge Weste.“

                                                      Drei Krebsdiagnosen, drei langwierige
                                                      Therapien und sieben Operationen liegen
                                                      hinter Katrin Aedtner – und viele Jah-
                                                      re Hoffen und Bangen hinter der ganzen
                                                      Familie. Die Krankheit der Mutter habe
                                                      ihre Beziehung verändert, sagen sie.

                                                      Luise Aedtner: „Wir sind extrem zusam-
                                                      mengewachsen. Ohne den Krebs hätten
                                                      wir uns vielleicht auseinandergelebt. Meine
        Nachdem beide Brüste abgenommen               Eltern scheinen gelernt zu haben, was wirk-
        waren, ließ sich Katrin Aedtner Implan-       lich wichtig ist im Leben: Partnerschaft,
        tate einsetzen. Doch weil ihre Haut durch     Familie. Dass Arbeit nicht alles ist. Mamas
        Chemotherapie und Bestrahlung dünn ge-        Krankheit hat unser Leben zum Guten
        worden war, heilten die Wunden monate-        verändert. Aber natürlich nur, weil es gut für
        lang nicht. Ein plastischer Chirurg trennte   sie ausgegangen ist.“
        schließlich Haut- und Muskelgewebe von        Katrin Aedtner: „Der Krebs hat uns zu-
        ihrem Rücken ab, die er nach vorn zu den      sammengeschweißt. Mir hat die Fürsorge
        Brüsten zog, damit sie dort einheilen konn-   meiner Familie in dieser Zeit viel bedeutet.
        ten. Dreimal hat Katrin Aedtner den Krebs     Meine Töchter gaben mir das Gefühl, dass
        überlebt. Weil es sich um einen erblich be-   sie mich wirklich brauchen. Dass die ganzen
        dingten Tumor handelte, haben die beiden      Therapien nicht sinnlos sind, tat so gut zu
        Töchter einen Gentest machen lassen.          wissen! Ich möchte doch Luises zukünftige
                                                      Familie kennenlernen, meine Enkelkinder
        Luise Aedtner: „Ich wollte es unbedingt       aufwachsen sehen und noch so vieles mit
        wissen, wegen der Familienplanung. Meine      meinem Mann unternehmen.“
        Schwester hat schon drei Kinder, sie hätte         Sina Horsthemke

                                                                                                19
Dossier Berührung                                                                                                             02.21

                                                             Interview

                                             Kuscheln gegen Stress
                             Warum Berührungen so heilsam sein können.

                                                                                                        Ganz zufrieden
                                                                                                        -
                                                                                                        Was macht mein Leben
                                                                                                        lebenswert? Und mich
                                                                                                        glücklich? Darüber
                                                                                                        sprechen Menschen auf:

                                                                                                        www.barmer.de/lebensrezepte

F
        Frau Büttner,             Im Mutterleib nimmt ein          Blick einher. Ein Kontakt von     Der anerkennende Schulter-
        in Ihrem Beruf            Ungeborenes seine Umwelt         Hand zu Hand oder eine            klopfer ist eine sehr wichtige
        als Sexual- und           ausschließlich durch Berüh-      Umarmung sind für jeden           Geste – in der Politik, im Job.
        Psychotherapeutin         rungen und Geräusche wahr.       Menschen bedeutsam. Ohne          Oder die herzliche Umar-
dreht sich viel um                Als Säugling erlebt es seine     diese Zuwendung verarmen          mung: Sie steht für Liebe und
Berührungen. Warum sind           Umgebung dann auch über          wir. Gerade bei Älteren,          Zuneigung, das gilt für Paar-
diese für Menschen so             das, was es körperlich fühlt     die keine Partnerin, keinen       beziehungen ebenso wie für
existenziell?                     und wie mit ihm umgegangen       Partner haben oder gepflegt       Freundschaften. Durch Berüh-
Wenn sie von den richtigen        wird. Zärtliche Berührun-        werden müssen, wird häufig        rung entsteht Gemeinschaft.
Menschen und im richtigen         gen vermitteln Wohlwollen,       vergessen, dass sie ein Bedürf-   Wenn sie fehlt, empfinden wir
Moment kommen, können wir         sie symbolisieren: Da ist ein    nis nach Zärtlichkeit und viel-   das als Belastung.
durch sie Sicherheit, Gehalten-   Mensch, der auf mich eingeht.    leicht auch nach Erotik haben.        Interview: Kira Brück
sein und Gemeinschaft emp-        Studien zeigen sogar, dass       Wenn für einen Menschen
finden. Ganz tiefe Bedürfnisse    langsames Streicheln bei Babys   Intimität eine wichtige Res-
werden da angesprochen.           schmerzlindernd wirken kann.     source im Leben ist und diese
Umgekehrt können Berührun-        Umgekehrt fühlt sich ein Kind    wegbricht, kann viel Lebens-
gen aber auch Unsicherheit,       ohne Körperkontakt mutter-       energie abhandenkommen.
Ohnmacht und Ausgeliefert-        seelenallein – das kann den
sein auslösen, wenn wir im        Boden für spätere psychische     Studien zeigen, dass
falschen Moment von einer         Erkrankungen bereiten.           sich Umarmungen positiv
nicht passenden Person an-                                         auf den Umgang mit                Dr. Melanie Büttner
gefasst werden. Der Kontext ist   Was macht es mit Men-            Konflikten auswirken,             -
sehr entscheidend.                schen, wenn keiner mehr          wir Stress abbauen und            Die Sexual- und Psychothe-
                                  ihre Hand hält oder sie mal      sich unsere Herzfrequenz          rapeutin praktiziert in Mün-
Berührt werden ist auch           in den Arm nimmt?                verlangsamt. Welche               chen. Ihr Buch heißt „Ist das
eines der Grundbedürfnis-         Oft gehen Berührungen mit        Berührungen sind im               normal? Sprechen wir über
se von Babys.                     einem liebevollen Wort oder      Alltag wichtig?                   Sex, wie du ihn willst".

20
Zahlen & Fakten Dossier

                                         Symbiosen mit Sinn

                                             4
                   Von der Seeanemonen-WG bis zur Glücksquelle Ehrenamt –
                             überraschende Faktenfunde aus der Forschung.

       87                                                                             1.200
                  Ehrenamt                            Freundschaften                               Symbiosen

                                                                                        verschiedene Seeanemonen-Arten
                                                                                      gibt es in den Weltmeeren. Sie gehen
                                                                                         gerne Wohngemeinschaften mit
     Studien zu den Auswirkungen                                                        Clownfischen ein, denen sie durch

                                                                                       58
    eines Ehrenamts verglichen vier                                                    ihre giftigen Tentakel Schutz bieten.
 Forscherinnen. Ergebnis: Ehrenamt-
   lichen geht es psychisch besser,
                                                                                                    Jobwelt
sie pflegen einen gesünderen Lebens-
        stil und sterben später.

           Tierisches Miteinander

     6.000
     Kilometer lang ist die größte Amei-     enge Freunde haben die Deutschen           Studien über Bürogemeinschaften
    senkolonie der Welt. Sie verläuft von     im Schnitt. Der erweiterte Freun-       werteten Forschende aus. Sie fanden
    Spanien bis zur italienischen Riviera.    deskreis besteht aus elf Personen.      heraus: Wer sich mit dem Arbeitgeber
                                               Eine beste Freundin oder einen         oder dem Team im Büro identifizieren
                                             besten Freund haben zwei von drei.        kann, ist glücklicher und gesünder.

88% 65.706.000
           Vertrauen in die Profis

                                                                              Lebensform

    der Deutschen vertrauen Ärztinnen
        und Ärzten, Pflegenden und                  Menschen in Deutschland leben nicht alleine, sondern mit jemand
     anderem medizinischen Personal.                 anderem zusammen. Das sind gut 79,9 Prozent der Bevölkerung.

                                                                                                                         21
Gesund bleiben Schmerztherapie   02.21

Zurück in
die Balance

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02.21                                                Schmerztherapie Gesund bleiben

Viele Schmerzgeplagte ziehen von Praxis zu Praxis auf der Suche nach der
richtigen Diagnose. Die Gefahr, dass Schmerzen chronisch werden, erhöht sich
durch die Odyssee. Das IMA-Verfahren, bei dem Profis aus verschiedenen
Fachdisziplinen ihre Befunde zusammenführen, soll den Weg zur richtigen
Therapie beschleunigen und so chronisches Leiden verhindern.

                                                                               23
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           D
Der Schmerz kommt aus dem Nichts. Er
beginnt mit einem Ziehen, kriecht den
Nacken hoch, spannt sich über die rechte           Aktiv dagegenhalten:
oder linke Seite des Kopfes. Dann schlägt          Bewegung und Entspannung
er mit voller Wucht zu. „Wenn ich nichts           können den Teufelskreis
gegen die Migräne nehme, bin ich für               Schmerz durchbrechen.
ein bis drei Tage völlig ausgeknockt. Ich                                                   Sie wollen jene Schmerzgeplagten heraus-
muss mich übergeben, kann nichts essen                                                      filtern, bei denen die Gefahr der Chroni-
und nicht arbeiten“, erzählt die Geografin                                                  fizierung besteht. „Wir haben deutliche
Claudia Huthmann (Name von der Re-                                                          Hinweise darauf, dass sogar Menschen,
daktion geändert). Bei einem Reiseanbie-                                                    die bereits wiederkehrende Schmerzen
ter berät sie Abenteuerlustige, die in den                                                  haben, von der berufsgruppenübergreifen-
Polargebieten oder Nordeuropa Urlaub                                                        den Untersuchung profitieren“, sagt Ursula
machen wollen. Sie ist selbst leidenschaft-   psychische oder soziale Umstände das Lei-     Marschall, Schmerzmedizinerin und Ab-
liche Weltenbummlerin. Doch in den            den. „Das ist vor allem dann der Fall, wenn   teilungsleiterin Medizin und Versorgungs-
letzten Jahren musste sie ihre Reisepläne     Erkrankte Risikofaktoren aufweisen, wenn      forschung bei der BARMER. „Häufig hilft
manchmal auf Eis legen, zu häufig plag-       sie etwa eine Depression haben oder auf       es schon, die Betroffenen über die Verbin-
te sie ihre starke Migräne. Dabei hatte       Lebensumstände sehr sorgenvoll reagie-        dung von Körper und Seele im Zusammen-
Huthmann einiges versucht – Biofeedback,      ren“, sagt Anke Preißler, Schmerzmedizi-      hang mit ihren Schmerzen aufzuklären.“
Entspannungsübungen, Schmerzmittel.           nerin am Universitäts SchmerzCentrum               Das war auch bei der Migränepatien-
Nichts half dauerhaft.                        Dresden. Dauern Schmerzen mehrere             tin Claudia Huthmann nicht anders: Ein
                                              Wochen an, hinterlassen sie Spuren im Ge-     Schmerzmediziner, ein Psychologe und
      Auch die Seele spielt mit               hirn. Dieses Schmerzgedächtnis erschwert      ein Physiotherapeut untersuchten die
                                              die Behandlung.                               32-Jährige jeweils eine Stunde lang und
Zehn bis 20 Prozent der Deutschen lei-            Das ließe sich meist verhindern –         besprachen die Befunde mit ihr in einer
den unter chronischen Schmerzen. Die          durch eine frühe Diagnose und eine ge-        interdisziplinären Runde. „Am wichtigs-
häufigsten Beschwerden sind Kopf- und         zielte Behandlung. Zusammen mit der           ten war für mich zu verstehen, wie viel ich
Rückenschmerzen, gefolgt von Schmerzen        Deutschen Schmerzgesellschaft (DSG)           selbst tun kann, um die Migräne zu lindern,
durch Osteoporose, Rheuma und Krebs.          startete die BARMER im Jahr 2018 daher        und dass ich den Schmerzen nicht hilflos
Schmerz gilt als chronisch, wenn er länger    ein Projekt im Innovationsfond mit einem      ausgeliefert bin“, erzählt die Dresdnerin.
als sechs Monate besteht oder wie bei der     speziellen diagnostischen Verfahren: IMA.
Migräne häufig wiederkehrt.                   Die Abkürzung steht für interdisziplinäres       Rasche Hilfe ist geboten
    Wenn aus akuten dauerhafte Schmer-        multimodales Assessment. Spezialistinnen
zen werden, hat das nicht nur eine Ursache.   und Spezialisten verschiedener Fachrich-      Bundesweit bieten derzeit 31 Einrichtungen
Meist befeuern sowohl körperliche als auch    tungen suchen dabei nach Risikofaktoren.      das Programm für BARMER-Versicherte

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                                                                                20
                        Apps und Initiativen
                   Die BARMER macht sich
          stark gegen chronische Schmerzen –
                        erfolgreiche Beispiele.

                                                                                Prozent der Deutschen leiden unter
Pain 2.0                    POET-Pain                 Feed-bApp                 dauerhaften Schmerzen.
-                           -                         -
Gemeinsames Pro-            Das Programm dient        Kinder mit chroni-
jekt von Deutscher          der Prävention von        schen Schmerzen
Schmerzgesellschaft         postoperativen chro-      erlernen während des
und BARMER: Ein             nischen Schmerzen.        Klinikaufenthalts
multimodales The-           Ein interdisziplinäres    Strategien und Verhal-    an. Schon bald werden es mehr sein.
rapieprogramm für           Team untersucht           tensweisen, um besser     Interessierte Kliniken können sich über die
Gruppen von drei            Patientinnen und          mit dem Schmerz           Deutsche Schmerzgesellschaft dafür an-
Stunden pro Woche           Patienten vor OPs,        umzugehen. Nach der       melden. Wer unter Schmerzen leidet,
(plus Einzelsitzungen)      nach denen gehäuft        Entlassung schaffen       sollte sich rasch Hilfe suchen. Erste Anlauf-
über zehn Wochen            Schmerzen auftreten,      es allerdings viele       stelle ist die Hausärztin oder der Hausarzt.
durch ein interdiszi-       und die Personen,         nicht, diese Strategien   Auf der Internetseite (www.pain2020.de)
plinäres Team (Me-          die mögliche Risiko-      im Alltag dauerhaft       sind sämtliche IMA-Zentren in Deutsch-
dizin, Psychologie          faktoren wie Ängste       anzuwenden.               land aufgelistet.
und Physiotherapie)         und Depressionen          Die Feed-bApp will
entwickelt und evi-         oder Vorerkrankungen      Kinder mit chroni-           Wissen schafft Veränderung
denzbasiert evaluiert.      wie Diabetes auf-         schen Schmerzen und
6.000 Patientinnen          weisen. Sie erhalten      ihre Eltern über          Für Migräne-Patientin Huthmann brach-
und Patienten an 26         einen individuellen       verschiedene Feed-        te die IMA einen Perspektivwechsel. „Ich
Schmerzzentren sollen       Behandlungsplan,          back-Funktionen bei       werde nicht einfach weiter abwarten und
mitmachen. Ziel ist,        werden postoperativ       der Schmerzbewälti-       den Schmerzen die Kontrolle über mein
die Vorteile des fach-      psychologisch betreut     gung im Alltag unter-     Leben überlassen“, entschied sie. Die
übergreifenden Ansat-       und bekommen ein          stützen. Eine Studie      Geografin begann eine interdisziplinäre
zes zu zeigen, sodass       individuell abgestimm-    mit 400 Kindern und       multimodale Schmerztherapie. Die mo-
Krankenkassen diese         tes Physiotherapie-       Jugendlichen sowie        derne Behandlung setzt an allen Hebeln
Therapieform flächen-       programm.                 ihren Eltern evaluiert    an, die beim Schmerz eine Rolle spielen:
deckend übernehmen.                                   die App.                  Bewegung, Psyche, Medikamente und Ent-
                            www.barmer.de/poet-pain                             spannung. Huthmanns Leben ist dadurch
www.barmer.de/pain2.0                                 www.barmer.de/feed-bApp   ein großes Stück leichter geworden. „Die
                                                                                Anzahl meiner Anfälle hat sich halbiert“,
                                                                                erzählt sie. „Jetzt mache ich auch wieder
                                                                                Reisepläne.“ Nächstes Frühjahr möchte sie
                                                                                nach Island fahren.
                                                                                    Constanze Löffler

                                                                                                                         25
Gesund bleiben Engagement                                                                                           02.21

Im Einsatz für
die Versicherten
                         Die Frauen und Männer des BARMER-Verwaltungsrats
                         arbeiten ehrenamtlich – neben Beruf und Familie. Ihr Antrieb
                         sind die Belange und Bedürfnisse der Versicherten.

                                   S
                                              Sie führen Hunde aus, bringen     Menschen, die sich dort ehrenamtlich
                                              alten Menschen die Einkäu-        einbringen, ebenfalls damit beauftragt,
                                              fe nach Hause, sammeln Müll       in Krisen beizustehen und – im übertra-
                                              im Wald oder lassen alles lie-    genen Sinn – Brände zu löschen. Bei der
       Andrea Wiedemann, 60,       gen und stehen, um mit der freiwilligen      BARMER bilden 30 Frauen und Männer
       Sekretärin im               Feuerwehr Brände zu löschen. Rund 17         den Verwaltungsrat. Sie rekrutieren sich
       Medizinischen Dienst        Millionen Menschen in Deutschland en-        aus allen Altersgruppen, gesellschaftlichen
                                   gagieren sich ehrenamtlich – vor allem in    Schichten und Berufen. Leitende Ange-
                                   Sportvereinen, kirchlichen Einrichtun-       stellte der Post und einer Arbeitsagentur
                                   gen oder Hilfsorganisationen. Wer glaubt,    sind darunter, eine Ärztin, ein selbst-
                                   es sei um den Gemeinsinn in unserem          ständiger Trainer und Kommunikations-
                                   Land schlecht bestellt, wird eines Besse-    berater sowie ein Personalbereichsleiter.
                                   ren belehrt: Jeder vierte Deutsche bringt    Viermal im Jahr lassen sie sich für jeweils
                                   sich selbstlos für andere ein, ohne dafür    drei Tage von ihren regulären Berufen be-
                                   Entlohnung zu erwarten. Das Ehrenamt         freien, reisen oft quer durch die Republik
                                   hat eine lange Tradition und ist einer der   nach Berlin oder in eine andere Stadt und
                                   Grundpfeiler unserer demokratischen Ge-      beraten von früh bis spät in verschiede-
                                   sellschaft. Ohne ehrenamtliches Engage-      nen Gremien und Ausschüssen. Ihre Ver-
                                   ment würde das gesellschaftliche Leben in    antwortung: Sie vertreten die Belange der
                                   vielen Bereichen zum Erliegen kommen.        Versicherten gegenüber der Krankenkasse
Wie ist der Verwaltungsrat der         Nicht jedes Engagement ist so offen-     und treffen alle Entscheidungen der Kasse
BARMER organisiert, wie laufen     sichtlich wie etwa ein Einsatz der frei-     von grundsätzlicher Bedeutung. „Wir sind
die Sitzungen ab?                  willigen Feuerwehr. Den Verwaltungsrat       eine Art Kontrollinstanz, die im Blick hat,
                                   der eigenen Krankenkasse zum Beispiel        wofür die Gelder der Mitglieder verwendet
www.barmer.de/verwaltungsrat       kennen manche gar nicht. Dabei sind die      werden“, sagt Jochen Berking. Der pensio-

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02.21                                                                                       Engagement Gesund bleiben

                                                  „Mein Sohn findet es toll, dass ich mich
                                                  dafür einsetze, dass alle Kinder
nierte Gewerkschaftssekretär sitzt seit 13
Jahren im Verwaltungsrat und ist damit ein        wichtige Untersuchungen bekommen.“
langjähriges Mitglied. „Ich empfinde es als
eine wirklich wichtige Aufgabe“, sagt der
67-Jährige. „In unseren Diskussionen und
Entscheidungen geht es um die Festlegung
der Versichertenbeiträge, um die Erweite-
rung von Präventionsleistungen oder um
die Wahl des hauptamtlichen Vorstands.“

    Wichtiges Kontrollgremium                     Katrin von Löwenstein, 42,
                                                  leitende Angestellte
In den monatlich stattfindenden Wider-            bei der Agentur für Arbeit
spruchsausschüssen sind die Mitglieder                                                      Neues zur Sozialwahl 2023
sogar mit ganz individuellen Schicksalen                                                    -
konfrontiert. „Legt eine Versicherte oder                                                   In Deutschland können
ein Versicherter bei der Krankenkasse         Versicherten einsetze“, sagt die 60-Jähri-    Versicherte und Arbeitgeber
Widerspruch ein, weil eine bestimmte          ge. „Und ich lerne jedes Mal viel Neues.“     alle sechs Jahre ihre eigenen
Behandlung abgelehnt wurde, berät der         Auch schon in der Vorbereitung: Für jede      Vertreterinnen und Vertreter
Ausschuss, ob die spezielle Therapie doch     Sitzung müssen sich die Mitglieder der Wi-    in die Gremien der Sozialversi-
genehmigt werden kann“, erklärt Andrea        derspruchsausschüsse durch bis zu 1.000       cherungsträger wählen. Bei
Wiedemann. „Für manche Menschen kann          Aktenseiten arbeiten.                         den Ersatzkassen, zu denen
die Arbeit der ehrenamtlichen Ausschuss-          Katrin von Löwenstein, mit 42 Jah-        auch die BARMER zählt, sind
mitglieder also einen großen Unterschied      ren ein mitten im Berufsleben stehendes       dies die sogenannten Ver-
machen.“ Andrea Wiedemann arbeitet als        Mitglied, hat zwei Stunden in der Woche       waltungsräte. Die nächsten
Sekretärin im Medizinischen Dienst Ber-       fest für den BARMER-Verwaltungsrat re-        Sozialwahlen finden am 31. Mai
lin-Brandenburg und ist als Mitglied im       serviert, die Nachtschichten vor den Sit-     2023 statt. Dabei wird es einen
BARMER-Verwaltungsrat stellvertreten-         zungen nicht eingerechnet. Sie geht ihr En-   Modellversuch geben: Zum
de Vorsitzende eines Widerspruchsaus-         gagement im Finanzausschuss strukturiert      ersten Mal kann die Stimm-
schusses. Eine Freundin hatte sie vor zwölf   an – und ist froh, dass sie sich für dieses   abgabe nicht nur traditionell
Jahren in dieses Ehrenamt gebracht. „Mir      Kontrollgremium entschieden hat. „Mein        per Brief, sondern wahlweise
gefiel, dass ich mich für die Belange der     achtjähriger Sohn findet es toll, dass ich    auch online erfolgen. Damit
                                              mich dafür einsetze, dass alle Kinder wich-   soll die Sozialwahl attraktiver
                                              tige Untersuchungen bekommen.“ Weil           und die Wahlbeteiligung
                                              sie, wie alle Mitglieder des Verwaltungs-     gesteigert werden. Auch die
                                              rats, selbst bei der BARMER versichert ist,   BARMER räumt ihren
                                              kann sich Katrin von Löwenstein gut in        Mitgliedern die Möglichkeit
                                              die Bedürfnisse der Versicherten hinein-      der Online-Abstimmung ein.
                                              fühlen. „Es ist ein einmaliges System in      Begleitet werden die Sozial-
                                              Deutschland, das die Arbeit der Kranken-      wahlen im Jahr 2023 durch den
                                              kassen überprüft“, sagt sie. „Viele Länder    neuen Bundeswahlbeauftrag-
                                              beneiden uns darum.“ Sie würde sich noch      ten Peter Weiß. Seit Oktober
                                              mehr junge Mitglieder im Verwaltungsrat       2021 koordiniert er die Wahlen
     Jochen Berking, 67,                      wünschen – um auch deren Interessen wei-      gemeinsam mit seiner Stellver-
     ehemaliger                               terhin gut vertreten zu wissen.               treterin Daniela Kolbe.
     Gewerkschaftssekretär                        Kathrin Schwarze-Reiter

                                                                                                                         27
Gesund bleiben Gendermedizin                                                                                         02.21

                                                      Ungleichbehandlung

                                   Weil jede(r) anders ist
       Auf die Unterschiede zwischen Mann und Frau nahm die Medizin in der
      Vergangenheit wenig Rücksicht – oft zulasten der Frauen. Das ändert sich
          gerade. In der Forschung ebenso wie in der therapeutischen Praxis.

                                  Kleiner, leichter, zarter
                                                          -
    Weibliche Körper unterscheiden sich von männlichen
    nicht nur darin, dass sie im Schnitt etwas kleiner und
           leichter sind. Der Hormonhaushalt und dessen
    tägliche Schwankungen sind anders als bei Männern.
      Auch im Stoffwechsel, Herz-Kreislauf- und Immun-
     system gibt es Unterschiede. Neuere Studien zeigen
sogar, dass Schmerzen bei Männern und Frauen anders-
      artig entstehen und bei der Verarbeitung im Gehirn
 andere Zelltypen beteiligt sind. Und auch Kinder sollten
  nicht als kleine Erwachsene behandelt werden, da sich
                ihre Organe zum Beispiel noch entwickeln.

                                                                    Gleiche Krankheit, unterschiedliche Symptome
                                                                    -
                                                                    Manche Erkrankungen zeigen sich bei Männern und
                                                                    Frauen auf verschiedene Art und Weise: Beim Herzinfarkt
                                                                    etwa verspüren Männer häufig starken Brustschmerz,
                                                                    Frauen oft nur ein Druck- oder Engegefühl in der Brust.
                                                                    Bei Schlaganfällen haben Frauen untypische Symptome:
                                                                    Kopf- oder Gliederschmerzen, Übelkeit oder Verwirrt-
                                                                    heit. Die Symptome bei Asthma bronchiale sind beim
                                                                    weiblichen Geschlecht stärker – sie husten mehr. An
                                                                    Alzheimer erkranken Frauen häufiger, Männer hingegen
                                                                    schwerer. Und bei Depressionen dominieren bei Frauen
                                                                    Interessenverlust und Antriebslosigkeit, Männer sind
                                                                    hingegen öfter auch gereizt und aggressiv.

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                                                          Unterschiedliche Tablettenwirkung
                                                          -
                                                          Medikamente werden verschieden schnell aufgenommen und ver-
                                                          teilt, denn einige Medikamente bleiben eher im Blut und in der
                                                          Flüssigkeit, die um die Zellen herumfließt. Andere dringen leichter in
                                                          die Zellen ein, besonders in die des Fettgewebes. Das macht einen
                                                          Unterschied, denn: Frauenkörper haben mehr Fett, Männerkörper
                                                          mehr Muskeln und Wasser. Dazu kommt, dass bestimmte Leber-
                                                          enzyme, die Medikamente abbauen, bei Mann und Frau verschieden
                                                          arbeiten. So braucht eine Tablette für den Weg durch den Körper
                                                          bei Frauen doppelt so lange. Und bei Kindern muss die Dosierung
                                                          der Medikamente ganz neu berechnet werden.

                                Differenziertere Forschung
                                                          -
 Lange fiel nicht auf, dass Frauen anders auf Medikamente
    reagieren oder andere Nebenwirkungen bekommen. An
    klinischen Studien nahmen nur Männer (und männliche
Kinder) teil – eine Folge des Contergan-Skandals. Seit den
  1990ern ändert sich das allmählich. In Deutschland ist es
     seit 2004 gesetzlich gefordert, Unterschiede zwischen
 Männern und Frauen zu untersuchen. Und für die USA er-
gab eine Analyse, dass in den Studien für die im Jahr 2020
neu zugelassenen Medikamente 56 Prozent der Teilnehmer
    weiblich waren. Aber: In den präklinischen Studien sind
         immer noch vier von fünf Versuchstieren männlich.

                                                              Stärkere Schmerzen, weniger Vorsorge
                                                              -
                                                              Sucht eine Patientin oder ein Patient ärztlichen Rat, ist das Ge-
                                                              schlecht neben Alter, Gewicht und Lebensstil nur eine von vielen
                                                              Informationen, die in die Diagnose einfließen. Es verrät dennoch
                                                              viel: Zum Beispiel spüren Frauen Schmerzen stärker, auch
                                                              an chronischen Schmerzen leiden sie deutlich häufiger. Männer
                                                              gehen hingegen seltener zur Vorsorge und zur Psychotherapie.
                                                              Sie könnten also unentdeckte Krankheiten haben. Auch ob eine
                                                              Frau oder ein Mann im weißen Kittel steckt, macht einen Unter-
                                                              schied: Ärztinnen kommunizieren empathischer, bieten mehr
                                                              emotionale und psychosoziale Unterstützung an. Ärzte erklären
                                                              hingegen Details der Untersuchung genauer.

                                                              Weitere Infos: www.barmer.de/ungleichbehandlung

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