UniPress* - Humboldts neue Welt - Universität Bern
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Humboldts neue Welt * Gespräch – Heike Mayer hat Ideen für ein starkes Bern 32 * Begegnung – Chantal Camenisch auf Forschungsreise mit Familie 36 Mai 2018 174 * Forschung – Auf heisser Spur bei der Suche nach Leben im All 26 UniPress* Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern
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H U M B O L D T S N E U E W E LT Wir zelebrieren gerne das Neue, wähnen uns in einer einzigartigen Zeit des Umbruchs. Doch ist das wirklich so? Oft erschöpft sich das Neue in einem weiteren iPhone- Modell oder dem x-ten 80er Jahre-Revival. Der Naturforscher und Forschungsreisende Alexander von Humboldt (1769–1859) hingegen lebte zweifellos in einer neuen Welt – und er prägte sie stark mit. Nach dem Studium machte er nicht etwa ein Praktikum, er erneuerte mal kurz die preussischen Bergwerke von Grund auf. Nach Paris ging er nicht, um den Louvre zu besuchen, sondern weil er sich für die Menschen- und Bürgerrechte begeis- terte, die dort gerade im Zuge der Französischen Revolu- tion proklamiert worden waren. Seine abenteuerliche Reise in die «neue Welt», wie Amerika damals von den Europäern genannt wurde, konnte er nicht im Internet buchen – dafür erkannte er beim Reisen als Erster, dass die Umwelt ein global zusammenhängendes Ganzes ist. Jetzt wird Alexander von Humboldt wiederentdeckt: als Querdenker und Grenzgänger, der uns auch heute inspi- rieren kann, die Welt neu zu sehen. Berner Forschende um Oliver Lubrich, Professor für Komparatistik, haben erstmals die über 1000 Aufsätze und Artikel weltweit zusammenge- tragen, die Humboldt zeit seines Lebens veröffentlicht hatte – unter anderem im Economist, der NZZ oder der Bombay Times. Pünktlich zu seinem 250. Geburtstag wird 2019 die «Berner Ausgabe» von Humboldts verstreuten Schriften erscheinen. Hier in UniPress gibt das Editionsteam einen ersten Einblick. Diesen Sommer laden wir Sie ein, sich selber auf die Spuren von Humboldts Expeditionen zu begeben: in der Ausstellung «Botanik in Bewegung» im Botanischen Garten der Universität Bern. Das Programm liegt diesem Heft bei. Timm Eugster UniPress 174/2018 1
Eine UniPress-Ausgabe verpasst? Gerne können Sie Einzelexemplare nachbestellen: unipress@staempfli.ch Tel. +41 31 631 80 44 UniPress erscheint 3 Mal jährlich und kann kostenlos abonniert werden. Abo-Bestellungen über: www.unipress.unibe.ch oder an die Vertriebsfirma Stämpfli AG Tel. +41 31 300 63 42 abonnemente@staempfli.com Universität Bern Corporate Communication Hochschulstrasse 6 CH-3012 Bern Tel. +41 31 631 80 44 kommunikation@unibe.ch www.kommunikation.unibe.ch
Inhalt H U M B O L D T S N E U E W E LT 5 Die Entdeckung des Entdeckers Von Oliver Lubrich 8 Humboldts Lebens-Reise 10 Wie das Reisen das Denken verändert FORSCHUNG UND RUBRIKEN Von Oliver Lubrich 14 Der Klima-Visionär Forschung Von Stefan Brönnimann und Michael Strobl 26 Weltraum: Sie fahnden nach Leben im All 15 Mit Pflanzen die Welt vermessen Von Barbara Vonarburg Von Markus Fischer 28 Anthropologie: Sandra Lösch liest das Leben in 16 Humboldts Denken war politischer Zündstoff den Knochen Von Michael Strobl Von Bettina Jakob 19 Humboldtsche Bildung – aktueller denn je 31 Nachhaltigkeit: Claude Messner – Von Oliver Lubrich «Dort anfangen, wo es leichtfällt» Von Christian Degen 20 Humboldt als Filmheld Von Oliver Lubrich Rubriken 22 Humboldts Schatten Von Oliver Lubrich 1 Editorial 24 Berner Humboldt-Ausgabe: 32 Gespräch Die ganze Welt in 1000 Schriften Heike Mayer – «Wir brauchen mehr Pioniere» Von Thomas Nehrlich Von Timm Eugster 25 Wie lassen sich 1000 Texte messen? 36 Begegnung Von Sarah Bärtschi Chantal Camenisch – Doppelte Herausforderung für eine Unerschrockene Von Kaspar Meuli 38 Meinung Bedingte Entlassung: Ein Risiko, das Sicherheit schafft Von Christoph Urwyler 39 Bücher 40 Impressum UniPress 174/2018 3
Die Entdeckung des Entdeckers Alexander von Humboldt wird heute wieder- entdeckt: als kreativer Grenzgänger der Wissen- schaften und als Pionier einer nachhaltigen Globalisierung. Von Oliver Lubrich Wer Venezuela, Mexiko oder Kuba bereist, einem der grössten deutschsprachigen Best- sivsten mit dem Kolonialismus und mit dem begegnet dort, in Form von Statuen seller der letzten Jahrzehnte wurde. Wie fremden Kulturen auseinandergesetzt oder Strassennamen, ein europäischer ist diese plötzliche «Wiederentdeckung» zu hat – als Feldforscher, Ethnograph und Wissenschaftler, der diese Länder zwischen erklären? Vier Faktoren haben zu ihr bei- Anthropologe ebenso wie als Historiker 1799 und 1804 erforschte: Alexander getragen. und Kulturtheoretiker. Indem er die von Humboldt, der «zweite Entdecker Monumente der Azteken und Inka mit Amerikas». Auch in Europa hat man den 1. Der «gute Deutsche» jenen der Griechen und Römer verglich, Namen Humboldt nie vergessen, man miss- Das wiedervereinigte Deutschland, das entwickelte er eine globale Komparatistik. brauchte ihn im deutschen Kaiserreich, im seinen Platz in Europa und in der Welt Und er publizierte seine Forschung welt- «Dritten Reich» und in der DDR. suchte, fand in Humboldt eine liberale weit. Humboldt war, allem Anschein nach, Allerdings war in Humboldts Heimat Orientierung und einen kosmopolitischen der internationalste Publizist seiner Zeit. noch in den 1990er Jahren kaum eines Repräsentanten. Der Forschungsreisende, Geschrieben auf Deutsch, Französisch und seiner Werke in einer vollständigen Neu- der den Kolonialismus kritisierte, die Skla- Latein und übersetzt in ein Dutzend weitere ausgabe erhältlich. Bei keinem anderen verei verurteilte und sich für die Emanzipa- Sprachen, erschienen seine Aufsätze, Klassiker stand die Bekanntheit des Autors tion der Juden einsetzte, wurde für das Artikel und Essays an mehr als 250 Orten in einem derartigen Missverhältnis zu jener deutsche Selbstverständnis ebenso wie für auf allen Kontinenten. Die «Berner seiner Werke. Das änderte sich nach der die kulturelle Aussenpolitik zu einer welt- Ausgabe» seiner Sämtlichen Schriften Jahrtausendwende. «DER SPIEGEL» rief offenen Leitfigur: Alexander von Humboldt im dtv wird sie zu seinem 250. Geburtstag 2004 in einer Titelgeschichte Alexander von ist der «gute Deutsche». 2019 zum ersten Mal gesammelt zugäng- Humboldts «Wiederentdeckung» aus. lich machen (siehe Seite 24). Anlass war die Neuausgabe von Humboldts 2. Der interkulturelle Vermittler Kosmos und die erste deutsche Ausgabe Aber nicht nur in Deutschland wurde Hum- 3. Der interdisziplinäre Forscher der Ansichten der Kordilleren und Monu- boldts Denken wieder aktuell. Im Zeitalter Humboldt gelang es nicht nur, ferne mente der eingeborenen Völker Amerikas. der Globalisierung und der Migration, der Kulturen, sondern auch verschiedene Diszi- Ein Jahr später erschien Daniel Kehlmanns zunehmenden Verflechtung, aber auch der plinen zusammenzuführen. Er ist keines- Roman Die Vermessung der Welt, eine Auseinandersetzung mit fremden Kulturen wegs der «letzte Universalgelehrte», als der Gelehrtensatire auf Humboldt und den bietet er ein Vorbild als interkultureller er lange Zeit missverstanden wurde, Mathematiker Carl Friedrich Gauß, die zu Vermittler und als postkolonialer Intellek- sondern im Gegenteil ein früher inter- und tueller. Humboldt ist wahrscheinlich der transdisziplinärer Forscher. Zwar hatte er Alexander von Humboldt – Selbstporträt in Paris, 1814 deutschsprachige Autor, der sich am inten- sich in seiner Jugend zunächst durchaus in Humboldts neue Welt UniPress 174/2018 5
bestimmten Fachgebieten «qualifiziert», Zwei Selbstporträts etwa als Botaniker oder als Geologe, und in Humboldt ist bekannt als Wissenschaftler Im Vordergrund sind Figuren zu entsprechenden Fachjournalen veröffent- und Schriftsteller, aber er war auch Zeich- erkennen, die eine im kolonialen licht. Die Vielfalt der Tropen und ihrer ner und Grafiker. In Paris zeichnete er Amerika übliche Art des Reisens zeigen: Kulturen jedoch konnte er nur bewältigen, 1814 «im Spiegel» ein detailgenaues Halbnackte Träger schleppen europäisch indem er scheinbar unvereinbare Wissens- Selbstporträt (Bild Seite 4). Seine Werke gekleidete Personen in Stühlen durch formen zusammenführte. So studierte er enthalten mehr als 1500 Abbildungen, das Gebirge. Der erste Reisende schaut mexikanische Bilderhandschriften aus von denen viele auf seine Entwürfe zu- nicht auf die Landschaft, sondern in vorspanischer Zeit nicht nur als Religions- rückgehen. Humboldts Bilder machen die ein Buch, so als würde er vorgegebene wissenschaftler, der die Darstellung eines Wissenschaft zu einer Kunst. Sie sind Vorstellungen der Wirklichkeit vor- Sintflut-Mythos mit hebräischen und grie- ästhetisch und funktionieren zugleich als ziehen. Der zweite Stuhl hingegen ist chischen Überlieferungen verbindet, Datenträger – wie ein Beispiel veranschau- leer, sein Träger blickt als einziger aus sondern auch als Zoologe, der nach der licht. Die Tafel, die den «Quindío-Pass in dem Bild heraus auf den Betrachter Herkunft der abgebildeten Tiere fragt. der Kordillere der Anden» darstellt (Bild beziehungsweise auf den Zeichner, der Dadurch fand er wiederum Material für rechts), dokumentiert eine Landschaft aus sich dieser Art zu reisen erklärtermassen die Geschichtswissenschaft, indem er zur mehreren Perspektiven. Eine Geologin verweigerte. Die Darstellung wird so zu Hypothese einer Migration aus Asien über kann die Gebirgsbildung betrachten, ein einem subtilen Selbstbildnis: Humboldt die Beringstrasse gelangte. Dieses fächer- Klimaforscher die Wolkenbildung ist hier abwesend anwesend. Wir sehen übergreifende Denken fanden bereits beachten, während Botaniker bestimmte nicht nur mit humboldtschem Blick eine Humboldts Zeitgenossen originell und inno- Gewächse studieren, etwa eine Agave Landschaft, sondern in ihr als Leerstelle vativ, wie sein Eintrag in der Brockhaus- oder die Wachspalme. auch den Reisenden selbst. Enzyklopädie von 1853 belegt. Im Zuge einer fortschreitenden Disziplinierung der Wissenschaften geriet es dann in Ver- gessenheit. Heute entdecken wir es wieder, da eine problemorientierte Forschung, die vor Fächergrenzen nicht zurückscheut, not- wendiger denn je geworden ist. 4. Der Pionier der Ökologie Eine besondere Dringlichkeit hat eine solche Forschung in der Ökologie. Und gerade hier leistete Humboldt Pionier- arbeit. Er entwickelte das Programm einer «Pflanzengeographie», indem er die einzelnen Arten nicht mehr nur klassifi- zierte, sondern in ihrer Verbreitung und in ihrer Umwelt, unter den Bedingungen zahlreicher Zusammenhänge, studierte. Humboldt wusste: «Alles ist Wechsel- wirkung.» Auf seinen Reisen erkannte er, dass der Mensch durch seine Eingriffe in die Natur, durch Entwaldung und Emis- sionen, das Klima verändert. Kontakt: Prof. Dr. Oliver Lubrich, Der Quindío-Pass in der Kordillere der Anden, nach einer Zeichnung von Alexander von Humboldt. Die Institut für Germanistik, Abbildung kann zugleich als indirektes Selbstbildnis oliver.lubrich@germ.unibe.ch Humboldts gelesen werden (siehe Text oben). 6 UniPress 174/2018 Humboldts neue Welt
Humboldts Lebens-Reise 1799–1804 Humboldt gelingt es, vom spani- schen König die Erlaubnis für eine Forschungsreise in die spanischen Kolonien in Amerika zu erhalten. Fünf Jahre ist er gemeinsam mit dem französischen Arzt und 1804 Botaniker Aimé Bonpland unter- wegs: von Venezuela über Kuba, Kolumbien, Ecuador und Peru nach Mexiko und schliesslich über die USA zurück nach Europa. Sie befahren den Orinoco, den Río Negro und den Casiquiare und erreichen beinahe den Gipfel 1799 des Chimborazo, der als höchster Berg der Erde galt. Vize-Königreich Neu-Spanien Kuba (spanisch) Orinoco Vize-Königreich Neu-Granada (spanisch) Casiquiare Río Negro Chimborazo 6310 m ü. M. Amazonas Vize-Königreich-Peru (spanisch) 88 UniPress UniPress 174/2018 174/2018 Humboldts neue Welt
1829 Forschungsreise nach Russland und Sibirien (April bis Dezember), auf Einladung und finanziert durch den russischen Zar Nikolaus I. Entgegen dem offiziell genehmigten Plan weitet Humboldt die Reiseroute eigen- mächtig aus: Er stösst bis zur chine- sischen Grenze und zum Kaspischen Meer vor. Berlin Kaiserreich Russland Paris Ka sp sci he sM ee r 14. September 1769 Alexander von Humboldt wird in Berlin geboren. Der Vater ist preussischer Offizier und gehört zum Hofadel, die Mutter stammt aus einer südfranzö- sischen Hugenotten- und Kaufmannsfamilie. Er wird zusammen mit seinem Bruder Wilhelm, dem späteren Bildungsreformer, auf dem Familiensitz im Schloss Tegel von Privatlehrern unterrichtet. 1792–1796 Nach Studien in Frankfurt/Oder, Göttingen, Hamburg und Freiberg und ersten Reisen in Europa wird Humboldt preussischer Bergbeamter. Er modernisiert die Abbauverfahren und verbessert die Arbeitsbedingungen im Bergbau. 1796 Tod der Mutter. Humboldt erbt ein beträchtliches Vermögen, das ihm die Finanzierung seines Lebenstraums ermöglicht: die Erforschung der Tropen. Umzug nach Paris – die Metropole der Wissenschaft und der Revolution –, wo er die Reise vorbereitet. 1804–1827 Humboldt hat seinen Lebensmittelpunkt in Paris und unternimmt zahlreiche Reisen in ganz Europa. Pläne für eine mehrjährige Forschungsreise nach Asien scheitern. 1827 Die Forschungsreise und die Herausgabe seiner aufwendig gestalteten Reisewerke haben Humboldts Vermögen verbraucht. Rückkehr nach Berlin, wo er als Kammerherr von König Friedrich Wilhelm III. dient. Er ist jetzt auf die finanzielle Unterstützung Preussens angewiesen. 6. Mai 1859 Alexander von Humboldt stirbt, fast neunzigjährig, in Berlin. Der Leichenzug zum Ehrengrab wird von einer riesigen Volksmasse begleitet. Humboldts neue Welt UniPress UniPress 174/2018 174/2018 99
Wie das Reisen das Denken verändert Wie beeinflusst der Mensch das Klima? Wie verbreiten sich Pflanzen über die Erde? Wie erzeugt Zivilisation Barbarei? Und wie verhält sich aztekische zu griechischer Kunst? Humboldts Fragen und Erkenntnisse waren für seine Zeit hochoriginell. Ohne seine Reisen sind sie undenkbar. Von Oliver Lubrich Alexander von Humboldt wurde gefeiert als Anden, den man für den höchsten Berg ihn zur Umkehr zwang, im Text vorgeführt. Weltbürger und als Vordenker der Umwelt- der Welt hielt, bis auf rund 5600 Meter Und er hat sie zugleich ausgefüllt, nämlich bewegung, man benannte Schulen und bestieg, gelangte Humboldt höher als mit seinen Forschungsergebnissen. Das eine Stiftung nach ihm und zuletzt sogar jemals ein Mensch zuvor. Die Öffentlichkeit heisst, er hat das Scheitern wissenschaftlich ein neu errichtetes Schloss in Berlin. Aber erwartete, dass er eine abenteuerliche und künstlerisch kompensiert. er wurde auch abgewertet. Der Schrift- Erzählung vorlegen würde. Aber diese steller Daniel Kehlmann bezeichnete ihn als Erwartung enttäuschte er. Einen Bericht Kunst können auch die anderen eine «Kreuzung aus Don Quixote und publizierte er erst 35 Jahre später (1837). Ein zweites Beispiel: Wie bewertet Hum- Hindenburg». Zwischen Verehrung und Der Titel, «Ueber zwei Versuche den Chim- boldt die Ästhetik indigener Kunstwerke? Verurteilung scheint ein dritter Weg ange- borazo zu besteigen», deutet an, dass sein In seinem illustrierten Reisewerk Vues des messen zu sein. Humboldts Schriften sind Rekord inzwischen übertroffen worden Cordillères et monumens des peuples keineswegs frei von zeitgenössischen war. In seinem Text bedient er sich einer indigènes de l’Amérique geht er der Frage Vorstellungen, die wir heute «kolonial» Rhetorik ironischer Herabsetzung: Die nach: Sind indigene Artefakte Kunst, nennen. Aber Denkmuster sind nicht stabil, Episode habe eigentlich «wenig drama- sind sie ästhetisch? In seiner Einführung sie werden herausgefordert. Die Auseinan- tisches Interesse», auch sei sie nur «von beantwortet er diese Frage negativ. Es dersetzung mit exotischer Natur und Kultur geringem wissenschaftlichen Interesse», gebe «zwei sehr unterschiedliche Weisen», in Amerika und Asien führte Humboldt zu denn es habe kaum etwas zu sehen archäologische Funde zu betrachten: als ungeahnten Erkenntnissen. Wie verändert gegeben, und die Temperatur habe jener «Kunstwerke» oder als «historische Zeug- das Reisen das Denken? von Lüneburg entsprochen. Der wissen- nisse». Kunst sind für ihn die griechischen Dass Humboldts Denken nicht fest- schaftliche Ertrag war hauptsächlich «Meisterwerke», die er mit den Begriffen gelegt war, liegt bereits biographisch und schmerzhaft: Humboldt beschreibt die «Harmonie», «Schönheit» und «Genie» historisch nahe. Er wurde fast 90 Jahre Symptome der Höhenkrankheit. beschreibt. Bloss historische Zeugnisse seien alt (1769–1859). Er erlebte drei Revolu- Schon das Reisetagebuch zeigt, wie hingegen die «unförmigen» und «bizarren» tionen: die Französische (1789), die his- originell Humboldt damit umging, dass er Werke der eingeborenen Völker. Johann panoamerikanische (1809–1825) und die den Aufstieg abbrechen musste. «Wir Joachim Winckelmanns klassizistische deutsche (1848). Er unternahm zwei grosse stiegen sehr hoch», schreibt er hier auf Theorie von der Überlegenheit griechischer Expeditionen: nach Amerika (1799–1804) Französisch, «höher als ich erwartet hätte.» Kunst scheint einen eurozentrischen und nach Asien (1829). Aber auch in Ein Erfolg erschien möglich. «Es kam uns Massstab zu bilden, mit dem sich ausser- Europa war er unentwegt unterwegs: auf ein Schimmer der Hoffnung, dass wir den europäische Zeugnisse abwerten lassen. Forschungsreisen, unter Tage oder in diplo- Gipfel erreichen könnten. Aber eine grosse In der Einleitung jedoch («Introduc- matischer Mission (siehe Karte Seiten 8/9). Spal-». Im spannendsten Augenblick wird tion»), die er dieser Einführung vorange- Seine Mobilität war für seine Zeit ausser- die Schilderung ausgesetzt: «Fortsetzung stellt hat, bezeichnet Humboldt die Werke gewöhnlich – und sie war nicht nur eine auf S. 45». Es folgen einige Seiten mit der Indigenen von vornherein als «Kunst», physische, sondern auch eine intellektuelle. wissenschaftlichen Beobachtungen und das er stellt «Analogien zwischen den Bewoh- Entsprechend beweglich sind auch seine Interview mit einem lokalen Häuptling. Erst nern beider Hemisphären» fest und ent- Werke. In ihnen können wir den Verände- dann geht die Geschichte als «Fortsetzung faltet eine polyzentrische Kulturtheorie. Er rungen folgen, die das Reisen in Humboldts der Reise vom Chimborazo» weiter: «-te bekennt, «überrascht» zu sein, dass er «in Denken und Schreiben ausgelöst hat. setzte unseren Versuchen ein Ende.» Den einer Welt, die wir die neue nennen», eige- entscheidenden Satz, der den Abbruch des ne «antike Einrichtungen» gesehen habe. Die Kunst des Scheiterns Aufstiegs bedeutet, hat Humboldt also Keineswegs sei «der Aufmerksamkeit Ein erstes Beispiel: Wie ging Humboldt unterbrochen: «Mais une grande Cre-…» unwürdig, was von dem Stil abweicht, von mit dem Mythos um, der seine berühmteste «…-vasse mit fin à nos tentatives.» So Episode umgab, die Besteigung des Chim- hat er nicht nur fast buchstäblich einen Das alte Denken: Jede Pflanze wird isoliert betrachtet und borazo (1802)? Als er den Vulkan in den Cliffhanger erzeugt. Er hat die «Spalte», die dokumentiert. Hier die Rhexia speciosa (Schöne Rherie). 10 UniPress 174/2018 Humboldts neue Welt
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dem die Griechen uns unnachahmliche tektur an Spanien und Italien erinnert, Denken im «Naturgemälde der Tropen- Vorbilder hinterlassen haben». Schliesslich werden in aller Öffentlichkeit Menschen länder» (1807), Humboldts bekanntester zieht er eine selbstkritische Schlussfolge- verkauft. Als Konsequenz dieser Erfahrung Abbildung – ein Ausschnitt ist auf der Seite rung: «Die Mexikaner und die Peruaner wird Humboldts Sprache doppelsinnig. Die rechts unten abgebildet. Auf einem Quer- dürfen keinesfalls» – wie er selbst es getan Schlüsselbegriffe seines aufklärerischen und schnitt der Anden sind hier die Namen der hat – «nach Prinzipien aus der Geschichte ästhetischen Denkens nehmen neue Bedeu- Pflanzen in ihrer jeweiligen Höhe und der Völker, die unsere Bildung unablässig tungen an: Ein «tableau» ist nicht mehr ein Nachbarschaft eingetragen. Eine Reihe von in uns wachruft, beurteilt werden.» «Naturgemälde», sondern eine «Tabelle», Skalen am Rand informiert über die Um- Wie ist dieser Widerspruch zwischen in der die Anzahl der eingeführten Sklaven weltbedingungen: Temperatur, Nieder- Einführung und Einleitung zu erklären? Die verzeichnet wird; «liberté» nicht mehr schlag, Tiere, Landwirtschaft und so weiter. Lösung liegt in der Chronologie. Die Einfüh- die Freiheit der Individuen, sondern die Diese Technik des pflanzengeographischen rung ist datiert auf 1810, die Einleitung auf des Sklavenhandels; «droit» nicht mehr Gebirgsprofils hat Humboldt noch mehr- 1813. Die beiden Texte entstanden am das Recht, sondern der Einfuhrzoll; fach variiert, unter anderem im Frontispiz Beginn und am Ende der Arbeit an diesem «intérêt» nicht mehr das wissenschaftliche der Nova genera et species plantarum, Reisewerk. Eigentlich handelt es sich also Interesse, sondern die Rendite; «progrès» «Geographiæ plantarum lineamenta» um Vorwort und Nachwort – oder, natur- nicht mehr der Fortschritt, sondern der (1815/1816), wo er den Chimborazo und wissenschaftlich betrachtet, um die Anlage Anstieg der Zinsen. Kuba ist Humboldts den Montblanc nebeneinanderstellt, um und die Auswertung eines Experiments. Reich der Ambivalenz. Der Schock der die unterschiedliche Höhe der Vegetations- Durch die Untersuchung, die den Hauptteil Sklaverei lässt ihn die Dialektik der Aufklä- stufen und der Schneegrenze vergleichbar bildet, hat Humboldt seine eigene Hypo- rung erkennen: Zivilisation erzeugt Barbarei. zu machen (Bild rechts oben). these falsifiziert. Das Reisen hat sein Mit seiner Pflanzengeographie vollzieht Denken verändert. Dieser Prozess scheint Botanik in Bewegung Humboldt einen Paradigmenwechsel: von ihm jedoch nicht vollends bewusst ge- Das vierte Beispiel: Wie verändert das Er- der statischen Beschreibung zur dynami- worden zu sein, denn sonst hätte er den lebnis tropischer Natur die Pflanzenwissen- schen Entwicklung, von der Naturge- abschliessenden Text dem einführenden schaft? Als Botaniker stand Humboldt zwi- schichte zur Geschichte der Natur. Goethe wohl nicht so widersprüchlich vorangestellt. schen Carl von Linné und Charles Darwin, erkannte die Tragweite des neuen Ansatzes zwischen Klassifikation und Evolution. Zur sofort: «Nachdem Linnée ein Alphabet der Zivilisation erzeugt Barbarei Botanik klassischen Typs, dem Linnéschen Pflanzengestalten ausgebildet, und uns ein Ein drittes Beispiel des Umdenkens: Wie System, trugen er und seine Mitarbeiter bequem zu benutzendes Verzeichniß hinter- reagiert Humboldt auf die Sklaverei? In durchaus noch bei, indem sie zahlreiche lassen», schrieb er in der Besprechung eines seinem Essai politique sur l’Île de Cuba «neue» Arten dokumentierten – jede für Vortrags von Humboldt bereits 1806, «so (1826) gibt er zwei gegensätzliche Be- sich, ohne Kontext. Seine Werke ent- thut hier der Mann, dem die über die schreibungen seiner Ankunft in Havanna. halten mehr als 1200 Abbildungen ein- Erdfläche vertheilten Pflanzengestalten in Zunächst lesen wir: «Der Anblick von zelner Pflanzen, wie zum Beispiel die Rhexia lebendigen Gruppen und Massen gegen- Havanna, an der Einfahrt des Hafens, ist speciosa auf Tafel 4 des zweiten Bandes der wärtig sind, schon vorauseilend den letzten einer der heitersten und malerischsten, Monographie des Melastomacées (1806 Schritt.» Vorauseilend den letzten Schritt zu deren man sich an den Küsten des äquinok- bis 1823) – in diesem Heft abgebildet auf einer neuen Wissenschaft, die Ernst Haeckel tialen Amerika nördlich des Äquators er- Seite 11. Im Verlauf der Reise jedoch ent- später mit dem Begriff «Ökologie» be- freuen kann.» Eine Seite weiter heisst es wickelte Humboldt ein neues Paradigma, zeichnen wird. dann: «Zur Zeit meines Aufenthaltes boten das er in seinem Essai sur la géographie wenige Städte des spanischen Amerika des plantes (1807) programmatisch ent- Kontakt: Prof. Dr. Oliver Lubrich, aus Mangel an guter Ordnung einen faltete: Pflanzen sollten nicht mehr isoliert Institut für Germanistik, widerwärtigeren Anblick.» Wie ist dieser betrachtet, sondern in ihrer natürlichen oliver.lubrich@germ.unibe.ch Widerspruch zu erklären? Die begeisterte Umwelt aufgefasst werden. Schilderung bezieht sich auf die Natur Humboldt setzte die Botanik in Be- des «äquinoktialen», die angewiderte Be- wegung: indem er die Pflanzen als Feld- schreibung auf die Politik des «spanischen» forscher studierte und indem er nach Amerika. Was zwischen beiden liegt, ist die ihrer Verteilung über die Erde fragte. Er Erfahrung der Sklaverei: Ausgerechnet in machte die Botanik zur Migrationslehre Das neue Denken: Pflanzen werden in ihrer natürlichen Havanna, einer besonders «zivilisierten» und zur Umweltwissenschaft. Seinen info- Umwelt verstanden. Hier dargestellt in pflanzen- Stadt der spanischen Kolonien, deren Archi- grafischen Ausdruck fand dieses neue geographischen Gebirgsprofilen. 12 UniPress 174/2018 Humboldts neue Welt
UniPress 174/2018 13 Bild: © Adrian Moser
Der Klima-Visionär Alexander von Humboldt untersuchte die Wechsel- wirkungen zwischen Mensch und Klima. Sein ver- netztes Denken ist heute wieder aktuell, sagen der Klimaforscher Stefan Brönnimann und der Germa- nist Michael Strobl. Die beiden geben gemeinsam Humboldts Klima-Schriften neu heraus. Hat Alexander von Humboldt das Brönnimann: Wir können von Humboldt Muttersprachen Französisch und Deutsch Konzept «Klima» erfunden? lernen, sich nicht zufrieden zu geben mit konnte Humboldt Spanisch und Englisch. Stefan Brönnimann: Nein, das hat er scheinbar plausiblen, aber oberflächlichen Ein Germanist im engen Sinne wäre er nicht. Aber er näherte sich dem Gegen- Erklärungen. Er fragte stets nach den wohl nicht – ein sehr guter Komparatist, stand «Klima» auf eine Weise, die uns zugrunde liegenden Prozessen, liess nicht der verschiedene Kulturen miteinander ver- heute als visionär erscheint. Er begriff Klima locker. Wir können von ihm auch lernen, gleicht, allerdings sehr wohl. als das Ergebnis aller Vorgänge in Atmo- wie wichtig die disziplinäre Tiefe ist, ohne Brönnimann: Humboldt wäre heute ein sphäre und Ozean, auf der Landoberfläche die man bei interdisziplinären Fragen Netzwerk von Wissenschaftlerinnen und und in der Pflanzenwelt sowie der viel- schnell Irrtümern unterliegen kann. Wissenschaftlern mit ganz unterschied- fältigen Wechselwirkungen untereinander. lichen Expertisen, die sich vom Nachdenken Das ist doch sehr modern. Im Zentrum Wenn Humboldt heute leben würde – über Natur und Mensch begeistern lassen stand für ihn der Mensch, auf den das wäre er Klimaforscher oder Germanist? und global denken. Wer Wissenschaft aus Klima wirkt. Ein direkter Vorläufer unserer Strobl: Er war und wäre Klimaforscher und Leidenschaft betreibt, trägt einen Funken heutigen Sichtweise war er aber nicht – Literaturwissenschaftler. Humboldt hat für Humboldts in sich, das gilt für Klimafor- anschliessend dominierte ein Jahrhundert seine Erkenntnisse auch philologisch ge- scher wie für Germanisten. lang eine statistische Sichtweise. Unsere forscht. Indigene Erzählungen und Mythen heutige Systemsicht ist viel jünger und dienten ihm zur Rekonstruktion geologi- Die meteorologischen und klimatologischen wurde nicht aus Humboldts Arbeiten scher und klimatologischer Vorgänge. Er Schriften erscheinen demnächst im Wehr- heraus entwickelt. betrieb Archiv- und Bibliotheksstudien und hahn Verlag. Michael Strobl: In seinen Büchern be- entschlüsselte Bilder und Schriften der Az- schrieb Humboldt Eingriffe des Menschen teken. So konnte er etwa durch historisches Kontakte: Prof. Dr. Stefan Brönnimann, in Ökosysteme und deren Veränderungen. Quellenstudium die erste Karte Amerikas Geographisches Institut, Er erkannte auf seinen Reisen durch eigene (1507) ihrem Urheber Martin Waldsee- stefan.broennimann@giub.unibe.ch Beobachtung die Faktoren eines menschen- müller zuschreiben. Diese Forschung kam Dr. des. Michael Strobl, gemachten Klimawandels. Wenn er das nicht ohne profunde Sprachkenntnisse aus, Institut für Germanistik, Konzept des Klimas schon nicht erfunden neben Latein und Griechisch sowie seinen michael.strobl@germ.unibe.ch hat, hat er doch viele bleibende Einflüsse hinterlassen. So bezog er stets lokale, regionale und globale Vorgänge in klima- tologische Überlegungen ein und hatte immer die Wechselwirkung von Mensch und Umwelt im Blick. Sie publizieren gemeinsam Humboldts Klima-Schriften. Was haben sie uns heute noch zu sagen? Strobl: Bei den Klima-Schriften handelt es sich um hochinteressante wissenschaft- liche Einzelbeiträge. Es geht darin weniger um die grossen Klimadefinitionen aus dem Kosmos, für die er heute noch berühmt ist. Vielmehr sind es Beiträge aus eigener Hochgebirgsforschung, zu unterschied- lichen Schneehöhen oder zum Klima Asiens. In einer Schrift definierte er bei- spielsweise den heute nach ihm benannten Humboldt-Effekt: In den Tropen war ihm aufgefallen, dass der Urwald nachts lauter, das heisst der Schall schneller war. Das hat er wissenschaftlich belegen können. In einer anderen Schrift skizzierte er das info- grafische Modell der isothermen Linien, die heute jeder aus Wetterberichten kennt Humboldt entwickelte die Isothermen – Linien gleicher Temperatur –, wie wir sie heute von jeder (siehe Bild). Wetterkarte kennen. Hier die Isotherm-Kurven der nördlichen Halbkugel. 14 UniPress 174/2018 Humboldts neue Welt
Mit Pflanzen die Welt vermessen Pflanzen sagen viel aus über den Ort, an dem sie gedeihen. Indem Alexander von Humboldt Pflanzen in ihrer Umwelt betrachtete, nutzte er sie für das Projekt einer umfassenden Welt- vermessung, sagt Markus Fischer, Direktor des Instituts für Pflanzenwissenschaften. Alexander von Humboldt hat auf seinen Reisen unzählige Pflanzen gesammelt, gezeichnet und beschrieben. Warum eigentlich? Markus Fischer: Er hat in der Tat einen unglaublichen Sammeleifer entwickelt. Zu seiner Zeit war über das weltweite Arten- vorkommen viel weniger bekannt als heute, seine Sammlungen brauchte er deshalb als unabdingbaren Grundstock an Information. Er wusste genau, dass eine gut dokumen- tierte Sammlung für die Forschung wichtig ist. Deshalb ist er mit grosser Sorgfalt ans Werk gegangen, was auf einer solch aben- teuerlichen Reise eine grosse Leistung ist. Auch Steine und Tiere wurden mitge- nommen und dokumentiert. Pflanzen haben aber den grossen Vorteil, dass sie sich viel besser konservieren und transportieren lassen. Zudem wurde er beim Aufsammeln von Pflanzen stets Nach Humboldt wurden zahlreiche Pflanzenarten benannt. Hier ein von seinem Weggefährten, dem Botaniker Zweig der Quercus humboldtii, der Humboldt-Eiche. Aimé Bonpland, unterstützt. Humboldt hat seit seiner Jugend eine grosse Vorliebe für die Pflanzenwelt gehabt. Später wurde ihm auch bewusst, dass Pflanzen als fest- gewachsene Organismen mehr über die lokalen Gesellschaften mit ihren Nutz- untersucht, warum, wie und mit welchen Bedingungen eines Ortes aussagen als pflanzen bei, was viele nachfolgende Auswirkungen Pflanzenarten als Folge des bewegliche Lebewesen. Insofern reiht sich Forscher inspirierte. weltweiten Transports durch den Menschen seine Pflanzensammlung in die Idee einer neue Gebiete erobern können. Angesichts umfassenden Weltvermessung ein. Wenn Humboldt heute leben würde – seines ganzheitlichen Blicks ist auch sehr zu welche Fragen der Pflanzenwissen- vermuten, dass ihn die Aufklärung der ganz Was war neu an Humboldts Sicht auf schaft könnten ihn interessieren? wesentlichen Rolle der Pflanzen und der Pflanzen? Mit seinen unglaublich breiten Interessen gesamten Biodiversität für die nachhaltige Alexander von Humboldt hat als einer der und seiner schier unstillbaren Neugierde Entwicklung begeistern würde, in Europa Ersten Wildpflanzen in ihrem ökologischen wäre er sicher beides: ein begeisterter und allen anderen Regionen der Erde. Kontext betrachtet, also im Kontext ihrer Grundlagenforscher der Evolutionsbiologie Umwelt: Welche Arten sind wo dominant und der Ökologie der Pflanzen – und ein Mitarbeit: Adrian Möhl und welche Standortbedingungen und begeisterter angewandter Forscher der Pflanzeneigenschaften ermöglichen das? Naturschutzbiologie, der nachhaltigen Kontakt: Prof. Dr. Markus Fischer, Welche Gattungen bilden je nach Standort Land- und Forstwirtschaft und der Biologie Institut für Pflanzenwissenschaften (IPS), unterschiedliche Arten aus? Warum sind des globalen Wandels. Humboldt hatte sich Direktor Botanischer Garten, gewisse Familien in bestimmten Breiten- stets die neuesten Instrumente zunutze markus.fischer@ips.unibe.ch graden stärker vertreten als andere? Solche gemacht. Deshalb wäre er bestimmt von und ähnliche Fragen hat Humboldt aufge- den heutigen molekularen Sequenzierme- worfen und beantwortet. Damit hat er ei- thoden und geographischen Vermessungs- Vorlesungsreihe zu Humboldt nen neuen Blick auf die Botanik geworfen, methoden begeistert, weil sie zusammen Zum Abschluss der Vorlesungsreihe die sich zuvor thematisch enger vor allem einen ganz neuen Blick auf die Biogeo- «Alexander von Humboldt – Wissen- für die verwandtschaftliche Zusammenge- graphie als Beobachtung der dynamischen schaften zusammendenken» des hörigkeit interessiert hatte. Ausserdem Evolution ermöglichen. Sicher würde er sich Collegium generale referiert Markus beobachtete er, welche Pflanzenarten wo auch sehr für die Reaktion der Vegetation Fischer am 30. Mai im Botanischen Garten und wie genutzt wurden. Damit trug er auf den Klimawandel und auf die omniprä- Bern, Altenbergrain 21. wesentlich zu einem besseren Verständnis sente Landnutzung interessieren. Er wäre Podcasts aller Veranstaltungen unter des Zusammenlebens von Kulturen und fasziniert von der Invasionsbiologie, die www.collegiumgenerale.unibe.ch Humboldts neue Welt UniPress 174/2018 15
Humboldts Denken war politischer Zündstoff Alexander von Humboldt war ein durch und durch politischer Mensch, der polarisierte und Partei er- griff. Trotz adliger Herkunft zeigte er Sympathien für die Französische Revolution. In den USA kämpfte er für die Abschaffung der Sklaverei und in Preussen setzte er sich für die Gleichstellung der Juden ein. Von Michael Strobl Humboldt war nie der linientreue Preusse, affligé l’humanité»). Die East India Com- Leistungen enthielt das Schreiben eine klare als den ihn beispielsweise der Schriftsteller pany verweigerte Humboldt zeitlebens eine Botschaft an den damaligen Gouverneur Daniel Kehlmann karikierte. Seine beacht- Reisegenehmigung für Britisch-Indien. Kaliforniens: «Kalifornien, das so hoch- liche Karriere als Oberbergrat im preus- herzig der Einführung der Sklaverei wider- sischen Staatsdienst (1791–1796) schmiss Der unbequeme Greis: standen hat, wird durch einen Freund der er ohne Zögern bei der ersten Gelegenheit, Politische Einmischung in den USA Freiheit und des Fortschritts der Wissen- die sich ihm bot – der Erbschaft nach Auch für Humboldts letztes Lebensjahr- schaft würdig vertreten sein.» Der Bundes- dem Tod seiner Mutter. Humboldt zog zehnt stimmt die Aussage des deutschen staat war erst 1850 als «free state» in umgehend nach Paris. Berlin sollte ihn Intellektuellen Hans Magnus Enzensberger die Union aufgenommen worden, die in bis zu seiner Rente nicht mehr dauerhaft nicht, wonach Humboldt vermieden habe, einem heiklen Gleichgewicht paritätisch aus wiedersehen. frontal gegen die politischen Verhältnisse «slave states» und «ree states» bestand. anzugehen. Nachdem er sein Vermögen auf Humboldt verfügte in den USA über er- Haftbefehl und Einreisesperre seinen Expeditionen und für die darauf- hebliches Renommee – nicht nur bei den In der damaligen Weltwissenschaftsmetro- folgenden Publikationen verausgabt hatte, zahlreichen Deutschamerikanern. Sein pole Paris knüpfte er Kontakte zur Akade- musste er in Berlin und Potsdam am Hof Bekenntnis gegen die Sklaverei war im mie und beschaffte sich die neuesten und den Kammerherrn geben. Jedoch belegen Wahlkampf eine gewichtige Aussage. genauesten Messgeräte für seine geplante zahlreiche offene Briefe und Eingaben in Expedition nach Amerika (1799–1804). internationalen Tageszeitungen, die die Für Menschen- und Bürgerrechte Doch Humboldt reiste nicht als Kolonialist «Berner Ausgabe» von Humboldts Schriften Als der erwähnte Kuba-Essay in einer in die «Neue Welt»: In seinem Reisetage- nun versammelt, dass sich Humboldt englischen Übersetzung ohne das Kapitel buch beschrieb er die menschenverach- weiterhin politisch engagierte. Er richtete gegen die Sklaverei erschien, schickte tende Behandlung der Indigenen und Skla- seinen politischen Einfluss auf die Ver- Humboldt 1856 eine scharfe Richtigstellung ven in den spanischen Kolonien, und er er- einigten Staaten, die sich – kurz vor an die New York Times. Auf den gestriche- klärte, dass er die Idee einer Kolonie prinzi- dem Sezessionskrieg – in einer politisch nen Teil lege er eine «weit größere Wichtig- piell für «unmoralisch» halte. Die portugie- brisanten Phase befanden. keit als auf die mühevollen Arbeiten astro- sische Regierung stellte vorsorglich einen Durch einen Brief an den liberalen Präsi- nomischer Ortsbestimmungen, magneti- Haftbefehl für den Fall aus, dass der sus- dentschaftskandidaten John C. Frémont scher Intensitätsversuche oder statistischer pekte Aufklärer nach Brasilien gereist wäre. (1813–1890) wurde er im Wahlkampf von Angaben.» Die Richtigstellung erschien Humboldts jahrelange Auswertung 1856 zu dessen Gewährsmann – heute über 30 Mal in verschiedenen Zeitungen, seiner Amerika-Reise in seinem umfas- würde man von «Endorsement» sprechen. unter anderem unter dem programmati- senden Reisewerk geriet neben allen natur- 1850 hatte Humboldt für ihn die «Große schen Titel «Humboldt on Slavery». Hum- wissenschaftlichen Erkenntnissen durchaus goldene Preismedaille für Wissenschaft» boldt wurde zur politischen Ikone der politisch: In den grossen landeskundlichen arrangiert. Frémont hatte mehrere Expedi- Abolitionisten, die sich für die Abschaffung Werken über die spanischen Kolonien, Essai tionen in den noch unbekannten Westen der Sklaverei einsetzten. Trotzdem verlor politique sur le royaume de la Nouvelle- der USA unternommen, Kalifornien und «sein» Kandidat die Wahl. An seinen Espagne (1808–1811) und Essai politique die Rocky Mountains kartographiert. Vertrauten Varnhagen von Ense schrieb er sur l’Île de Cuba (1826), beleuchtete er Humboldts Begleitschreiben für die Aus- danach: «Und die schändliche Parthei, wirtschaftliche Zusammenhänge der Kolo- zeichnung wurde im Wahlkampf weltweit die 50pfündige Negerkinder verkauft, […] nialökonomien («Le Mexique est le pays de über 40 Mal abgedruckt: darunter in der hat gesiegt. Welche Unthat!» l’inégalité») und verurteilte die Sklaverei Chicago Tribune, der New York Tribune, aufs Schärfste («L’esclavage est sans doute aber auch in Europa in der NZZ. Neben Humboldt publizierte seine Beiträge in renommierten le plus grand de tous les maux qui ont allem Lob für Frémonts wissenschaftliche Blättern auf fünf Kontinenten. 16 UniPress 174/2018 Humboldts neue Welt
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Auch nach der Wahl engagierte sich matiker Chaim Seligman Slonimski erschien «Seit [dem Erdbeben von] 1797 ist dieser Humboldt weiter. Ein Brief an den exilierten eine öffentliche Solidaritätsbekundung ganze Welttheil in Bewegung: alle Augen- deutschen Demokraten Julius Fröbel (1805 Humboldts (auch auf Hebräisch). Darin blicke erleiden wir fürchterliche Erschütte- bis 1893) wurde in den USA mit seinem beschrieb sich Humboldt als «von früher rungen.» Wissen wiederum zum politischen Instru- Jugend an mit den edelsten Ihrer Glaubens- Auch späteren Schriften ist eine poli- ment im Kampf gegen die Sklaverei – dut- genossen innigst verbunden, ein lebhafter tische Aussage eingeschrieben: In Asie zende Male in Tageszeitungen nachge- und ausdauernder Verfechter der Ihnen ge- centrale (1843) etwa beschreibt Humboldt druckt, unter anderem unter dem Titel bührenden und so vielfach noch immer ent- in der Einleitung geologische Formationen «Baron Humboldt and American Slavery». zogenen Rechte.» Acht Jahre bevor 1866 und spricht vom «soulèvement des Fröbel war zuvor Mitglied der Frankfurter die Gleichberechtigung in der Schweiz be- masses». Den zaristischen Polizeistaat im Nationalversammlung (1848) gewesen und schlossen wurde, nahm Humboldt eindeutig Blick, den Humboldt auf seiner Russland- wurde später Diplomat des Deutschen Stellung für die Emanzipation der Juden. reise hautnah kennenlernte, und mit dem Reiches. Auch dieser Brief enthält eine Schon 1842, als Friedrich Wilhelm IV. Wissen, dass er sich anders als wissen- ermutigende Stellungnahme: «Fahren Sie plante, die preussische Judenemanzipation schaftlich nicht äussern durfte, gewinnt fort, die schändliche Vorliebe für Sklaverei von 1812 teilweise rückgängig zu machen, diese Formulierung eine brisante politische […] zu brandmarken. Welche Gräuel man protestierte Humboldt an Minister Graf Dimension. erlebt, wenn man das Unglück hat, von Stolberg-Wernigerode: «Es ist eine gefahr- Der grosse Vordenker einer umfassenden 1789 bis 1858 zu leben!» Humboldt nennt volle Anmaßung der schwachen Mensch- Naturwissenschaft und dynamischen Öko- nicht sein Geburtsjahr 1769, sondern heit, die alten Gesetze Gottes auslegen zu logie bleibt als politisches Schwergewicht bezieht sich auf die Französische Revolution wollen. Die Geschichte finsterer Jahrhun- seiner Zeit noch wiederzuentdecken. und die Erklärung der Menschen- und derte lehrt, zu welchen Abwegen solche Bürgerrechte, für die er hier als 89-Jähriger Deutungen den Mut geben. Das Besorgnis, Kontakt: Dr. des. Michael Strobl, eintritt. Anscheinend konnte Humboldt mir zu schaden, muss Sie nicht abhalten, Institut für Germanistik, auch in Preussen beim protestantisch- von diesen Zeilen Gebrauch zu machen; michael.strobl@germ.unibe.ch reaktionären Friedrich Wilhelm IV. etwas man muss vor allen Dingen den Mut haben, ausrichten. 1857 erreichte er die Ver- seine Meinung zu sagen.» abschiedung eines eher symbolischen Gesetzes, das jedem Versklavten, der Revolutionäre Erdbeben preussischen Boden betrat, die Freiheit und Vulkanausbrüche zusicherte. Schliesslich nutzte Humboldt auch seine naturwissenschaftlichen Schriften für poli- Innenpolitischer Querulant: tische Subtexte. Die Leitwissenschaften der Engagement für das Judentum Geologie und der Vulkanologie boten sich Humboldt blieb in Preussen auch ansonsten dafür besonders an: Seit der Französischen nicht still. Unter einem zunehmend reak- Revolution waren Vulkan-Metaphern zum tionär agierenden Monarchen engagierte er festen Bestandteil politischer Rhetorik sich für die gesellschaftliche Gleichstellung geworden. Die radikalen Jakobiner verwen- der Juden. Bereits in seiner Jugend war er deten das Bild des Vulkanausbruchs zur den Salons von Henriette Hertz und Rahel Rechtfertigung der gewalttätigen Revolu- Varnhagen verbunden. Später verhalf er tion. Humboldt formulierte seine auf der Peter Theophil Rieß als erstem jüdischen Amerika-Reise gewonnenen Erkenntnisse Mitglied in die Preussische Akademie der so, dass sie gleichzeitig auf die von ihm Wissenschaften und sorgte dafür, dass beobachteten Unabhängigkeitsbestre- Giacomo Meyerbeer den Orden «Pour le bungen der spanischen Kolonien bezogen Mérite» erhielt, obwohl dieser nicht konver- werden konnten. Erdbeben und Erschütte- tierte wie etwa Felix Mendelssohn-Bart- rungen waren zugleich Hinweise auf die vor holdy. Für den polnisch-hebräischen Mathe- dem «Ausbruch» stehende Revolution: 18 UniPress 174/2018 Humboldts neue Welt
Humboldtsche Bildung – aktueller denn je Bildung und Humboldt: Da denken viele zuerst an Wilhelm von Humboldt, den Begründer der Berli- ner Universität. Aber auch sein jüngerer Bruder Alexander vertrat Positionen, die bildungspolitisch und forschungsethisch erstaunlich aktuell sind. Von Oliver Lubrich Mobilität Wissen für alle Akademische Selbstverwaltung 1799 brach Alexander von Humboldt auf Humboldts Anliegen war die Demokratisie- In seinem letzten Artikel, der 1859 kurz nach Amerika, 1827 kehrte er von Paris rung des Wissens. Bereits als junger Mann vor seinem Tod in zahlreichen Zeitungen zurück nach Berlin. Mit knapp 30 ins Aus- hatte er eine Schule für Bergarbeiter ge- erschien, formulierte Humboldt einen land, mit fast 60 zurück – diese Laufbahn gründet. Mit seinen Ansichten der Natur launigen «Ruf um Hülfe» (siehe unten). entspricht der Karriere einer heutigen Nach- (1808, 1826, 1849) und dem Kosmos «Leidend» unter der Vielzahl von Zu- wuchswissenschaftlerin, die zur Promotion (1845–1862) wandte er sich in eleganter schriften, insbesondere Gutachteranfragen, nach Berkeley oder Stanford geht, dann Prosa an ein breites Publikum. Beide Bücher verteidigte der fast Neunzigjährige hier jahrzehntelang als Professorin in New York wurden überaus populär. Das Projekt des beinahe verzweifelt die Zeit, die ihm oder Harvard lehrt, bevor sie schliesslich Kosmos präsentierte Humboldt vorab vor neben der ganzen Administration und nach Berlin oder Bern zurückkehrt. For- verschiedenen Publika: in Vorlesungen an Korrespondenz zum Forschen und schung ist international. Sie erfordert der Berliner Universität und in Vorträgen Schreiben noch blieb. Mobilität. Das kann abenteuerlich sein – für die Öffentlichkeit in der Singakademie und ist nicht unbedingt einfach. Mobilität (dem heutigen Maxim Gorki Theater), die Kontakt: Prof. Dr. Oliver Lubrich, braucht intellektuelle, finanzielle und poli- zu gesellschaftlichen Ereignissen wurden. Institut für Germanistik, tische Unterstützung. In einem Zeitungsbeitrag erklärte er die oliver.lubrich@germ.unibe.ch Wichtigkeit freier Vorlesungen und kosten- Nachwuchsförderung loser Bildung. In seine Heimat zurückgekehrt, stimulierte Humboldt die Berliner, die preussische und Problemorientierte Forschung die deutschsprachige Wissenschaft. Er tat Die Wanderungen der Pflanzen und die dies nicht zuletzt durch eine engagierte Veränderungen des Klimas, die Zeugnisse Nachwuchsförderung. In einer systemati- indigener Völker oder die «künftigen Ver- schen Auswertung des Netzwerks seiner hältnisse von Europa und Amerika» – die Korrespondenz haben Jutta Weber und Toni Probleme, die sich ihm stellten, konnte Bernhart festgestellt, dass Humboldt den Humboldt nur angehen, indem er seinen Kontakt besonders zu jüngeren und zu Fragen über die Grenzen der Fächer hinweg weiblichen Adressaten pflegte. Er förderte folgte. Seine Wissenschaft ist nicht konven- Künstler (wie Rugendas) und setzte sich für tionell fach-, sondern konsequent problem- jüdische Musiker (wie Mendelssohn und orientiert. Mit der Bologna-Reform, die das Meyerbeer) ein. Er unterstützte vielverspre- Wissen disziplinär portioniert und seine chende junge Forschungsreisende wie Vermittlung von innovativer Forschung Balduin Möllhausen und Robert Hermann ablöst, wäre Humboldt sicher nicht ein- Schomburgk durch Geleitworte für ihre verstanden. Publikationen. Interdisziplinäre Kooperation Internationalität Fächerübergreifende Forschung bedeutet Als Deutscher, der spanische Kolonien be- Zusammenarbeit – mit Experten verschie- reist und auf Französisch über indigene dener Gebiete, in aller Welt. Zahlreiche Völker schreibt, entzieht sich Humboldt Arbeiten Humboldts entstanden in nationaler Vereinnahmung. Als 1806 Co-Autorschaft. In der Rede, die er zum die Franzosen Berlin besetzen, zieht er in Abschluss seiner asiatischen Expedition an die Hauptstadt des «Feindes» – und dort der Akademie von Sankt Petersburg hielt, lebt er 1814 und 1815, als die Alliierten forderte er von den Weltmächten die Napoleon besiegen. Später erwägt er, nach Einrichtung eines globalen Netzes von Mexiko auszuwandern und zum Ameri- Beobachtungsstationen. Denn nur im kaner zu werden. Humboldtsche Wissen- Verbund lassen sich globale Forschungs- schaft ist das Gegenteil von provinziell: sie fragen beantworten: vom Erdmagnetismus Humboldts letzter Artikel, veröffentlicht wenige ist kosmopolitisch. bis zum Klimawandel. Wochen vor seinem Tod. Humboldts neue Welt UniPress 174/2018 19
Humboldt als Filmheld Alexander von Humboldt begegnet uns auf Briefmarken und Geldscheinen, in der Werbung für Uhren oder Düngemittel und sogar auf einem Rap-Album. Und er tritt in vier Spielfilmen auf. Diese sind demnächst in Bern im Kino Rex zu sehen – siehe Infobox. Reisefreiheit Die Besteigung des Chimborazo von Rainer Simon (1989) ist einer der letzten Filme der DDR. Er kam nur wenige Wochen vor dem Mauerfall in die Kinos. Als er am spanischen Hof ein Visum erbitten soll, ruft der jugendlich- rebellische Alexander von Humboldt hier aus: «Warum muss ich einen König fragen, wohin ich reisen darf?» Sein Leiden in der preussischen Enge und seine Flucht nach Amerika sind vor dem Hintergrund der Diktatur zu verstehen. Diese politische Dimension ist jedoch nur eine von mehreren in diesem vieldeutigen Kunstwerk. Im Wechsel zwischen der Bergbesteigung und biographischen Rückblenden, die zum Teil in nostalgisches Sepia getönt sind, wird der alpinistische Rekord zu einer existentiellen Metapher. Der strapaziöse Anstieg steht für die Selbstüber- windung im Streben nach Höherem. Die Interaktion zwischen Humboldt (gespielt von Jan Josef Liefers) und indigenen Laiendarstellern spiegelt dabei seine Begegnung mit ihren Vorfahren wie eine ethnographische Dokumenta- tion. Und schliesslich ist die Besteigung des höchsten Berges der Neuen Welt auch ein Symbol der Befreiung. Humboldt und sein Begleiter Aimé Bonpland unternehmen den Aufstieg zusammen mit Carlos Montúfar, der später im Kampf für die Unabhängigkeit erschossen wird. Unabhängigkeit Humboldts Expedition durch das heutige Venezuela hat Luis Armando Roche in Aire libre (1996) aus französischer und lateinamerikanischer Sicht inszeniert. Zum Helden wird hier Aimé Bonpland (dargestellt von Roy Dupuis), während Humboldt (gespielt von Christian Vadim) eher unbeholfen wirkt. Die berühmte Reise wird keineswegs als Erschlies- sung einer terra incognita in Szene gesetzt, sondern als Begegnung zwischen europäischen Forschern und amerika- nischen Intellektuellen, aus der die Revolution ihren Anfang nimmt. Der Abenteuerfilm ist bis ins Detail symbolisch. Das zeigt sich bereits, als Humboldt und Bonpland 1799 in Cumaná amerikanischen Boden betreten. Ein Lehrer, der seinen Unterricht «im Freien» durchführt und den Strand als Tafel benutzt, hat den Sand längst beschrieben, als die Europäer ihren Fuss auf ihn setzen, um die Temperatur der Erde zu messen, die sich nicht nur buchstäblich erhitzt. Der schwangeren Frau des Pädagogen, die unter Schmerzen gleichsam das neue Amerika zur Welt bringen wird, muss Bonpland durch Kaiserschnitt Geburtshilfe leisten – so wie Humboldt die Unabhängigkeitsrevolution inspiriert und dem «Befreier» Simón Bolívar, in den Worten von Gabriel García Márquez, «die Augen geöffnet» haben soll. 20 UniPress 174/2018 Humboldts neue Welt
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