UniPress* - Humboldts neue Welt - Universität Bern

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Humboldts neue Welt

* Gespräch – Heike Mayer hat Ideen für ein starkes Bern 32
* Begegnung – Chantal Camenisch auf Forschungsreise mit Familie       36
                                                                           Mai 2018   174
* Forschung – Auf heisser Spur bei der Suche nach Leben im All   26

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Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern
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                                                                                  Wissenschaftlich fundiert und praxisorientiert:
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* Meine Work-Life-Balance stimmt.
  Ich lebe und arbeite im Haslital…
  Dort, wo andere Ferien machen!
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H U M B O L D T S N E U E W E LT

Wir zelebrieren gerne das Neue, wähnen uns in einer
einzigartigen Zeit des Umbruchs. Doch ist das wirklich so?
Oft erschöpft sich das Neue in einem weiteren iPhone-
Modell oder dem x-ten 80er Jahre-Revival.

Der Naturforscher und Forschungsreisende Alexander von
Humboldt (1769–1859) hingegen lebte zweifellos in einer
neuen Welt – und er prägte sie stark mit. Nach dem
Studium machte er nicht etwa ein Praktikum, er erneuerte
mal kurz die preussischen Bergwerke von Grund auf. Nach
Paris ging er nicht, um den Louvre zu besuchen, sondern
weil er sich für die Menschen- und Bürgerrechte begeis-
terte, die dort gerade im Zuge der Französischen Revolu-
tion proklamiert worden waren. Seine abenteuerliche
Reise in die «neue Welt», wie Amerika damals von den
Europäern genannt wurde, konnte er nicht im Internet
buchen – dafür erkannte er beim Reisen als Erster, dass die
Umwelt ein global zusammenhängendes Ganzes ist.

Jetzt wird Alexander von Humboldt wiederentdeckt: als
Querdenker und Grenzgänger, der uns auch heute inspi-
rieren kann, die Welt neu zu sehen. Berner Forschende um
Oliver Lubrich, Professor für Komparatistik, haben erstmals
die über 1000 Aufsätze und Artikel weltweit zusammenge-
tragen, die Humboldt zeit seines Lebens veröffentlicht
hatte – unter anderem im Economist, der NZZ oder der
Bombay Times. Pünktlich zu seinem 250. Geburtstag wird
2019 die «Berner Ausgabe» von Humboldts verstreuten
Schriften erscheinen. Hier in UniPress gibt das Editionsteam
einen ersten Einblick.

Diesen Sommer laden wir Sie ein, sich selber auf die
Spuren von Humboldts Expeditionen zu begeben: in der
Ausstellung «Botanik in Bewegung» im Botanischen
Garten der Universität Bern. Das Programm liegt diesem
Heft bei.

Timm Eugster

                                                               UniPress   174/2018   1
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Inhalt

                                                           H U M B O L D T S N E U E W E LT

                                                       5   Die Entdeckung des Entdeckers
                                                           Von Oliver Lubrich

                                                       8   Humboldts Lebens-Reise

                                                      10   Wie das Reisen das Denken verändert
     FORSCHUNG UND RUBRIKEN                                Von Oliver Lubrich

                                                      14   Der Klima-Visionär
     Forschung                                             Von Stefan Brönnimann und Michael Strobl

 26 Weltraum: Sie fahnden nach Leben im All           15   Mit Pflanzen die Welt vermessen
    Von Barbara Vonarburg                                  Von Markus Fischer

 28 Anthropologie: Sandra Lösch liest das Leben in    16   Humboldts Denken war politischer Zündstoff
    den Knochen                                            Von Michael Strobl
    Von Bettina Jakob
                                                      19   Humboldtsche Bildung – aktueller denn je
 31 Nachhaltigkeit: Claude Messner –                       Von Oliver Lubrich
    «Dort anfangen, wo es leichtfällt»
    Von Christian Degen                               20   Humboldt als Filmheld
                                                           Von Oliver Lubrich

     Rubriken                                         22   Humboldts Schatten
                                                           Von Oliver Lubrich
  1 Editorial
                                                      24   Berner Humboldt-Ausgabe:
 32 Gespräch                                               Die ganze Welt in 1000 Schriften
    Heike Mayer – «Wir brauchen mehr Pioniere»             Von Thomas Nehrlich
    Von Timm Eugster
                                                      25   Wie lassen sich 1000 Texte messen?
 36 Begegnung                                              Von Sarah Bärtschi
    Chantal Camenisch – Doppelte Herausforderung
    für eine Unerschrockene
    Von Kaspar Meuli

 38 Meinung
    Bedingte Entlassung: Ein Risiko, das Sicherheit
    schafft
    Von Christoph Urwyler

 39 Bücher

 40 Impressum

                                                                                              UniPress   174/2018   3
UniPress* - Humboldts neue Welt - Universität Bern
4   UniPress   174/2018
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Die Entdeckung des Entdeckers
          Alexander von Humboldt wird heute wieder-
          entdeckt: als kreativer Grenzgänger der Wissen-
          schaften und als Pionier einer nachhaltigen
          Globalisierung.

          Von Oliver Lubrich

          Wer Venezuela, Mexiko oder Kuba bereist,      einem der grössten deutschsprachigen Best-     sivsten mit dem Kolonialismus und mit
          dem begegnet dort, in Form von Statuen        seller der letzten Jahrzehnte wurde. Wie       fremden Kulturen auseinandergesetzt
          oder Strassennamen, ein europäischer          ist diese plötzliche «Wiederentdeckung» zu     hat – als Feldforscher, Ethnograph und
          Wissenschaftler, der diese Länder zwischen    erklären? Vier Faktoren haben zu ihr bei-      Anthropologe ebenso wie als Historiker
          1799 und 1804 erforschte: Alexander           getragen.                                      und Kulturtheoretiker. Indem er die
          von Humboldt, der «zweite Entdecker                                                          Monumente der Azteken und Inka mit
          Amerikas». Auch in Europa hat man den         1. Der «gute Deutsche»                         jenen der Griechen und Römer verglich,
          Namen Humboldt nie vergessen, man miss-       Das wiedervereinigte Deutschland, das          entwickelte er eine globale Komparatistik.
          brauchte ihn im deutschen Kaiserreich, im     seinen Platz in Europa und in der Welt         Und er publizierte seine Forschung welt-
          «Dritten Reich» und in der DDR.               suchte, fand in Humboldt eine liberale         weit. Humboldt war, allem Anschein nach,
             Allerdings war in Humboldts Heimat         Orientierung und einen kosmopolitischen        der internationalste Publizist seiner Zeit.
          noch in den 1990er Jahren kaum eines          Repräsentanten. Der Forschungsreisende,        Geschrieben auf Deutsch, Französisch und
          seiner Werke in einer vollständigen Neu-      der den Kolonialismus kritisierte, die Skla-   Latein und übersetzt in ein Dutzend weitere
          ausgabe erhältlich. Bei keinem anderen        verei verurteilte und sich für die Emanzipa-   Sprachen, erschienen seine Aufsätze,
          Klassiker stand die Bekanntheit des Autors    tion der Juden einsetzte, wurde für das        Artikel und Essays an mehr als 250 Orten
          in einem derartigen Missverhältnis zu jener   deutsche Selbstverständnis ebenso wie für      auf allen Kontinenten. Die «Berner
          seiner Werke. Das änderte sich nach der       die kulturelle Aussenpolitik zu einer welt-    Ausgabe» seiner Sämtlichen Schriften
          Jahrtausendwende. «DER SPIEGEL» rief          offenen Leitfigur: Alexander von Humboldt      im dtv wird sie zu seinem 250. Geburtstag
          2004 in einer Titelgeschichte Alexander von   ist der «gute Deutsche».                       2019 zum ersten Mal gesammelt zugäng-
          Humboldts «Wiederentdeckung» aus.                                                            lich machen (siehe Seite 24).
          Anlass war die Neuausgabe von Humboldts       2. Der interkulturelle Vermittler
          Kosmos und die erste deutsche Ausgabe         Aber nicht nur in Deutschland wurde Hum-       3. Der interdisziplinäre Forscher
          der Ansichten der Kordilleren und Monu-       boldts Denken wieder aktuell. Im Zeitalter     Humboldt gelang es nicht nur, ferne
          mente der eingeborenen Völker Amerikas.       der Globalisierung und der Migration, der      Kulturen, sondern auch verschiedene Diszi-
          Ein Jahr später erschien Daniel Kehlmanns     zunehmenden Verflechtung, aber auch der        plinen zusammenzuführen. Er ist keines-
          Roman Die Vermessung der Welt, eine           Auseinandersetzung mit fremden Kulturen        wegs der «letzte Universalgelehrte», als der
          Gelehrtensatire auf Humboldt und den          bietet er ein Vorbild als interkultureller     er lange Zeit missverstanden wurde,
          Mathematiker Carl Friedrich Gauß, die zu      Vermittler und als postkolonialer Intellek-    sondern im Gegenteil ein früher inter- und
                                                        tueller. Humboldt ist wahrscheinlich der       transdisziplinärer Forscher. Zwar hatte er
Alexander von Humboldt – Selbstporträt in Paris, 1814   deutschsprachige Autor, der sich am inten-     sich in seiner Jugend zunächst durchaus in

                                                                   Humboldts neue Welt                                       UniPress   174/2018   5
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bestimmten Fachgebieten «qualifiziert»,       Zwei Selbstporträts
etwa als Botaniker oder als Geologe, und in   Humboldt ist bekannt als Wissenschaftler          Im Vordergrund sind Figuren zu
entsprechenden Fachjournalen veröffent-       und Schriftsteller, aber er war auch Zeich-   erkennen, die eine im kolonialen
licht. Die Vielfalt der Tropen und ihrer      ner und Grafiker. In Paris zeichnete er       Amerika übliche Art des Reisens zeigen:
Kulturen jedoch konnte er nur bewältigen,     1814 «im Spiegel» ein detailgenaues           Halbnackte Träger schleppen europäisch
indem er scheinbar unvereinbare Wissens-      Selbstporträt (Bild Seite 4). Seine Werke     gekleidete Personen in Stühlen durch
formen zusammenführte. So studierte er        enthalten mehr als 1500 Abbildungen,          das Gebirge. Der erste Reisende schaut
mexikanische Bilderhandschriften aus          von denen viele auf seine Entwürfe zu-        nicht auf die Landschaft, sondern in
vorspanischer Zeit nicht nur als Religions-   rückgehen. Humboldts Bilder machen die        ein Buch, so als würde er vorgegebene
wissenschaftler, der die Darstellung eines    Wissenschaft zu einer Kunst. Sie sind         Vorstellungen der Wirklichkeit vor-
Sintflut-Mythos mit hebräischen und grie-     ästhetisch und funktionieren zugleich als     ziehen. Der zweite Stuhl hingegen ist
chischen Überlieferungen verbindet,           Datenträger – wie ein Beispiel veranschau-    leer, sein Träger blickt als einziger aus
sondern auch als Zoologe, der nach der        licht. Die Tafel, die den «Quindío-Pass in    dem Bild heraus auf den Betrachter
Herkunft der abgebildeten Tiere fragt.        der Kordillere der Anden» darstellt (Bild     beziehungsweise auf den Zeichner, der
Dadurch fand er wiederum Material für         rechts), dokumentiert eine Landschaft aus     sich dieser Art zu reisen erklärtermassen
die Geschichtswissenschaft, indem er zur      mehreren Perspektiven. Eine Geologin          verweigerte. Die Darstellung wird so zu
Hypothese einer Migration aus Asien über      kann die Gebirgsbildung betrachten, ein       einem subtilen Selbstbildnis: Humboldt
die Beringstrasse gelangte. Dieses fächer-    Klimaforscher die Wolkenbildung               ist hier abwesend anwesend. Wir sehen
übergreifende Denken fanden bereits           beachten, während Botaniker bestimmte         nicht nur mit humboldtschem Blick eine
Humboldts Zeitgenossen originell und inno-    Gewächse studieren, etwa eine Agave           Landschaft, sondern in ihr als Leerstelle
vativ, wie sein Eintrag in der Brockhaus-     oder die Wachspalme.                          auch den Reisenden selbst.
Enzyklopädie von 1853 belegt. Im Zuge
einer fortschreitenden Disziplinierung
der Wissenschaften geriet es dann in Ver-
gessenheit. Heute entdecken wir es wieder,
da eine problemorientierte Forschung, die
vor Fächergrenzen nicht zurückscheut, not-
wendiger denn je geworden ist.

4. Der Pionier der Ökologie
Eine besondere Dringlichkeit hat eine
solche Forschung in der Ökologie. Und
gerade hier leistete Humboldt Pionier-
arbeit. Er entwickelte das Programm einer
«Pflanzengeographie», indem er die
einzelnen Arten nicht mehr nur klassifi-
zierte, sondern in ihrer Verbreitung und in
ihrer Umwelt, unter den Bedingungen
zahlreicher Zusammenhänge, studierte.
Humboldt wusste: «Alles ist Wechsel-
wirkung.» Auf seinen Reisen erkannte er,
dass der Mensch durch seine Eingriffe in
die Natur, durch Entwaldung und Emis-
sionen, das Klima verändert.

Kontakt: Prof. Dr. Oliver Lubrich,                                                          Der Quindío-Pass in der Kordillere der Anden, nach
                                                                                            einer Zeichnung von Alexander von Humboldt. Die
Institut für Germanistik,                                                                   Abbildung kann zugleich als indirektes Selbstbildnis
oliver.lubrich@germ.unibe.ch                                                                Humboldts gelesen werden (siehe Text oben).

6   UniPress   174/2018                                  Humboldts neue Welt
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UniPress 174/2018
         174/2018   77
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Humboldts Lebens-Reise

                         1799–1804
                         Humboldt gelingt es, vom spani-
                         schen König die Erlaubnis für eine
                         Forschungsreise in die spanischen
                         Kolonien in Amerika zu erhalten.
                         Fünf Jahre ist er gemeinsam mit
                         dem französischen Arzt und                                                    1804
                         Botaniker Aimé Bonpland unter-
                         wegs: von Venezuela über Kuba,
                         Kolumbien, Ecuador und Peru
                         nach Mexiko und schliesslich über
                         die USA zurück nach Europa. Sie
                         befahren den Orinoco, den Río
                         Negro und den Casiquiare und
                         erreichen beinahe den Gipfel
                                                                                                     1799
                         des Chimborazo, der als höchster
                         Berg der Erde galt.

                    Vize-Königreich
                     Neu-Spanien
                                                                     Kuba
                                                                  (spanisch)

                                                                                           Orinoco
                                                                     Vize-Königreich
                                                                      Neu-Granada
                                                                        (spanisch)
                                                                                      Casiquiare

                                                                               Río Negro
                                                  Chimborazo
                                                  6310 m ü. M.

                                                                                       Amazonas

                                                                   Vize-Königreich-Peru
                                                                        (spanisch)

88   UniPress
     UniPress 174/2018
              174/2018                                        Humboldts neue Welt
1829
                                                                Forschungsreise nach Russland und
                                                                Sibirien (April bis Dezember), auf
                                                                Einladung und finanziert durch den
                                                                russischen Zar Nikolaus I. Entgegen
                                                                dem offiziell genehmigten Plan weitet
                                                                Humboldt die Reiseroute eigen-
                                                                mächtig aus: Er stösst bis zur chine-
                                                                sischen Grenze und zum Kaspischen
                                                                Meer vor.

                                    Berlin                    Kaiserreich Russland

                    Paris

                                                                                      Ka
                                                                                        sp
                                                                                         sci
                                                                                           he
                                                                                             sM
                                                                                               ee
                                                                                                 r
             14. September 1769
             Alexander von Humboldt wird in Berlin geboren. Der Vater ist preussischer
             Offizier und gehört zum Hofadel, die Mutter stammt aus einer südfranzö-
             sischen Hugenotten- und Kaufmannsfamilie. Er wird zusammen mit seinem
             Bruder Wilhelm, dem späteren Bildungsreformer, auf dem Familiensitz im
             Schloss Tegel von Privatlehrern unterrichtet.

             1792–1796
             Nach Studien in Frankfurt/Oder, Göttingen, Hamburg und Freiberg und
             ersten Reisen in Europa wird Humboldt preussischer Bergbeamter. Er
             modernisiert die Abbauverfahren und verbessert die Arbeitsbedingungen
             im Bergbau.

             1796
             Tod der Mutter. Humboldt erbt ein beträchtliches Vermögen, das ihm die
             Finanzierung seines Lebenstraums ermöglicht: die Erforschung der Tropen.
             Umzug nach Paris – die Metropole der Wissenschaft und der Revolution –,
             wo er die Reise vorbereitet.

1804–1827
Humboldt hat seinen Lebensmittelpunkt in Paris und
unternimmt zahlreiche Reisen in ganz Europa. Pläne
für eine mehrjährige Forschungsreise nach Asien
scheitern.

1827
Die Forschungsreise und die Herausgabe seiner
aufwendig gestalteten Reisewerke haben Humboldts
Vermögen verbraucht. Rückkehr nach Berlin, wo er
als Kammerherr von König Friedrich Wilhelm III.
dient. Er ist jetzt auf die finanzielle Unterstützung
Preussens angewiesen.

                                                                6. Mai 1859 Alexander von Humboldt stirbt, fast
                                                                neunzigjährig, in Berlin. Der Leichenzug zum Ehrengrab
                                                                wird von einer riesigen Volksmasse begleitet.

                                                  Humboldts neue Welt                                   UniPress
                                                                                                        UniPress 174/2018
                                                                                                                 174/2018   99
Wie das Reisen das Denken verändert
Wie beeinflusst der Mensch das Klima?
Wie verbreiten sich Pflanzen über die Erde?
Wie erzeugt Zivilisation Barbarei? Und
wie verhält sich aztekische zu griechischer Kunst?
Humboldts Fragen und Erkenntnisse waren
für seine Zeit hochoriginell. Ohne seine Reisen
sind sie undenkbar.

Von Oliver Lubrich

Alexander von Humboldt wurde gefeiert als      Anden, den man für den höchsten Berg            ihn zur Umkehr zwang, im Text vorgeführt.
Weltbürger und als Vordenker der Umwelt-       der Welt hielt, bis auf rund 5600 Meter         Und er hat sie zugleich ausgefüllt, nämlich
bewegung, man benannte Schulen und             bestieg, gelangte Humboldt höher als            mit seinen Forschungsergebnissen. Das
eine Stiftung nach ihm und zuletzt sogar       jemals ein Mensch zuvor. Die Öffentlichkeit     heisst, er hat das Scheitern wissenschaftlich
ein neu errichtetes Schloss in Berlin. Aber    erwartete, dass er eine abenteuerliche          und künstlerisch kompensiert.
er wurde auch abgewertet. Der Schrift-         Erzählung vorlegen würde. Aber diese
steller Daniel Kehlmann bezeichnete ihn als    Erwartung enttäuschte er. Einen Bericht         Kunst können auch die anderen
eine «Kreuzung aus Don Quixote und             publizierte er erst 35 Jahre später (1837).     Ein zweites Beispiel: Wie bewertet Hum-
Hindenburg». Zwischen Verehrung und            Der Titel, «Ueber zwei Versuche den Chim-       boldt die Ästhetik indigener Kunstwerke?
Verurteilung scheint ein dritter Weg ange-     borazo zu besteigen», deutet an, dass sein      In seinem illustrierten Reisewerk Vues des
messen zu sein. Humboldts Schriften sind       Rekord inzwischen übertroffen worden            Cordillères et monumens des peuples
keineswegs frei von zeitgenössischen           war. In seinem Text bedient er sich einer       indigènes de l’Amérique geht er der Frage
Vorstellungen, die wir heute «kolonial»        Rhetorik ironischer Herabsetzung: Die           nach: Sind indigene Artefakte Kunst,
nennen. Aber Denkmuster sind nicht stabil,     Episode habe eigentlich «wenig drama-           sind sie ästhetisch? In seiner Einführung
sie werden herausgefordert. Die Auseinan-      tisches Interesse», auch sei sie nur «von       beantwortet er diese Frage negativ. Es
dersetzung mit exotischer Natur und Kultur     geringem wissenschaftlichen Interesse»,         gebe «zwei sehr unterschiedliche Weisen»,
in Amerika und Asien führte Humboldt zu        denn es habe kaum etwas zu sehen                archäologische Funde zu betrachten: als
ungeahnten Erkenntnissen. Wie verändert        gegeben, und die Temperatur habe jener          «Kunstwerke» oder als «historische Zeug-
das Reisen das Denken?                         von Lüneburg entsprochen. Der wissen-           nisse». Kunst sind für ihn die griechischen
    Dass Humboldts Denken nicht fest-          schaftliche Ertrag war hauptsächlich            «Meisterwerke», die er mit den Begriffen
gelegt war, liegt bereits biographisch und     schmerzhaft: Humboldt beschreibt die            «Harmonie», «Schönheit» und «Genie»
historisch nahe. Er wurde fast 90 Jahre        Symptome der Höhenkrankheit.                    beschreibt. Bloss historische Zeugnisse seien
alt (1769–1859). Er erlebte drei Revolu-           Schon das Reisetagebuch zeigt, wie          hingegen die «unförmigen» und «bizarren»
tionen: die Französische (1789), die his-      originell Humboldt damit umging, dass er        Werke der eingeborenen Völker. Johann
panoamerikanische (1809–1825) und die          den Aufstieg abbrechen musste. «Wir             Joachim Winckelmanns klassizistische
deutsche (1848). Er unternahm zwei grosse      stiegen sehr hoch», schreibt er hier auf        Theorie von der Überlegenheit griechischer
Expeditionen: nach Amerika (1799–1804)         Französisch, «höher als ich erwartet hätte.»    Kunst scheint einen eurozentrischen
und nach Asien (1829). Aber auch in            Ein Erfolg erschien möglich. «Es kam uns        Massstab zu bilden, mit dem sich ausser-
Europa war er unentwegt unterwegs: auf         ein Schimmer der Hoffnung, dass wir den         europäische Zeugnisse abwerten lassen.
Forschungsreisen, unter Tage oder in diplo-    Gipfel erreichen könnten. Aber eine grosse          In der Einleitung jedoch («Introduc-
matischer Mission (siehe Karte Seiten 8/9).    Spal-». Im spannendsten Augenblick wird         tion»), die er dieser Einführung vorange-
Seine Mobilität war für seine Zeit ausser-     die Schilderung ausgesetzt: «Fortsetzung        stellt hat, bezeichnet Humboldt die Werke
gewöhnlich – und sie war nicht nur eine        auf S. 45». Es folgen einige Seiten mit         der Indigenen von vornherein als «Kunst»,
physische, sondern auch eine intellektuelle.   wissenschaftlichen Beobachtungen und das        er stellt «Analogien zwischen den Bewoh-
Entsprechend beweglich sind auch seine         Interview mit einem lokalen Häuptling. Erst     nern beider Hemisphären» fest und ent-
Werke. In ihnen können wir den Verände-        dann geht die Geschichte als «Fortsetzung       faltet eine polyzentrische Kulturtheorie. Er
rungen folgen, die das Reisen in Humboldts     der Reise vom Chimborazo» weiter: «-te          bekennt, «überrascht» zu sein, dass er «in
Denken und Schreiben ausgelöst hat.            setzte unseren Versuchen ein Ende.» Den         einer Welt, die wir die neue nennen», eige-
                                               entscheidenden Satz, der den Abbruch des        ne «antike Einrichtungen» gesehen habe.
Die Kunst des Scheiterns                       Aufstiegs bedeutet, hat Humboldt also           Keineswegs sei «der Aufmerksamkeit
Ein erstes Beispiel: Wie ging Humboldt         unterbrochen: «Mais une grande Cre-…»           unwürdig, was von dem Stil abweicht, von
mit dem Mythos um, der seine berühmteste       «…-vasse mit fin à nos tentatives.» So
Episode umgab, die Besteigung des Chim-        hat er nicht nur fast buchstäblich einen        Das alte Denken: Jede Pflanze wird isoliert betrachtet und
borazo (1802)? Als er den Vulkan in den        Cliffhanger erzeugt. Er hat die «Spalte», die   dokumentiert. Hier die Rhexia speciosa (Schöne Rherie).

10   UniPress   174/2018                                    Humboldts neue Welt
Humboldts neue Welt   UniPress   174/2018   11
dem die Griechen uns unnachahmliche             tektur an Spanien und Italien erinnert,         Denken im «Naturgemälde der Tropen-
Vorbilder hinterlassen haben». Schliesslich     werden in aller Öffentlichkeit Menschen         länder» (1807), Humboldts bekanntester
zieht er eine selbstkritische Schlussfolge-     verkauft. Als Konsequenz dieser Erfahrung       Abbildung – ein Ausschnitt ist auf der Seite
rung: «Die Mexikaner und die Peruaner           wird Humboldts Sprache doppelsinnig. Die        rechts unten abgebildet. Auf einem Quer-
dürfen keinesfalls» – wie er selbst es getan    Schlüsselbegriffe seines aufklärerischen und    schnitt der Anden sind hier die Namen der
hat – «nach Prinzipien aus der Geschichte       ästhetischen Denkens nehmen neue Bedeu-         Pflanzen in ihrer jeweiligen Höhe und
der Völker, die unsere Bildung unablässig       tungen an: Ein «tableau» ist nicht mehr ein     Nachbarschaft eingetragen. Eine Reihe von
in uns wachruft, beurteilt werden.»             «Naturgemälde», sondern eine «Tabelle»,         Skalen am Rand informiert über die Um-
   Wie ist dieser Widerspruch zwischen          in der die Anzahl der eingeführten Sklaven      weltbedingungen: Temperatur, Nieder-
Einführung und Einleitung zu erklären? Die      verzeichnet wird; «liberté» nicht mehr          schlag, Tiere, Landwirtschaft und so weiter.
Lösung liegt in der Chronologie. Die Einfüh-    die Freiheit der Individuen, sondern die        Diese Technik des pflanzengeographischen
rung ist datiert auf 1810, die Einleitung auf   des Sklavenhandels; «droit» nicht mehr          Gebirgsprofils hat Humboldt noch mehr-
1813. Die beiden Texte entstanden am            das Recht, sondern der Einfuhrzoll;             fach variiert, unter anderem im Frontispiz
Beginn und am Ende der Arbeit an diesem         «intérêt» nicht mehr das wissenschaftliche      der Nova genera et species plantarum,
Reisewerk. Eigentlich handelt es sich also      Interesse, sondern die Rendite; «progrès»       «Geographiæ plantarum lineamenta»
um Vorwort und Nachwort – oder, natur-          nicht mehr der Fortschritt, sondern der         (1815/1816), wo er den Chimborazo und
wissenschaftlich betrachtet, um die Anlage      Anstieg der Zinsen. Kuba ist Humboldts          den Montblanc nebeneinanderstellt, um
und die Auswertung eines Experiments.           Reich der Ambivalenz. Der Schock der            die unterschiedliche Höhe der Vegetations-
Durch die Untersuchung, die den Hauptteil       Sklaverei lässt ihn die Dialektik der Aufklä-   stufen und der Schneegrenze vergleichbar
bildet, hat Humboldt seine eigene Hypo-         rung erkennen: Zivilisation erzeugt Barbarei.   zu machen (Bild rechts oben).
these falsifiziert. Das Reisen hat sein                                                            Mit seiner Pflanzengeographie vollzieht
Denken verändert. Dieser Prozess scheint        Botanik in Bewegung                             Humboldt einen Paradigmenwechsel: von
ihm jedoch nicht vollends bewusst ge-           Das vierte Beispiel: Wie verändert das Er-      der statischen Beschreibung zur dynami-
worden zu sein, denn sonst hätte er den         lebnis tropischer Natur die Pflanzenwissen-     schen Entwicklung, von der Naturge-
abschliessenden Text dem einführenden           schaft? Als Botaniker stand Humboldt zwi-       schichte zur Geschichte der Natur. Goethe
wohl nicht so widersprüchlich vorangestellt.    schen Carl von Linné und Charles Darwin,        erkannte die Tragweite des neuen Ansatzes
                                                zwischen Klassifikation und Evolution. Zur      sofort: «Nachdem Linnée ein Alphabet der
Zivilisation erzeugt Barbarei                   Botanik klassischen Typs, dem Linnéschen        Pflanzengestalten ausgebildet, und uns ein
Ein drittes Beispiel des Umdenkens: Wie         System, trugen er und seine Mitarbeiter         bequem zu benutzendes Verzeichniß hinter-
reagiert Humboldt auf die Sklaverei? In         durchaus noch bei, indem sie zahlreiche         lassen», schrieb er in der Besprechung eines
seinem Essai politique sur l’Île de Cuba        «neue» Arten dokumentierten – jede für          Vortrags von Humboldt bereits 1806, «so
(1826) gibt er zwei gegensätzliche Be-          sich, ohne Kontext. Seine Werke ent-            thut hier der Mann, dem die über die
schreibungen seiner Ankunft in Havanna.         halten mehr als 1200 Abbildungen ein-           Erdfläche vertheilten Pflanzengestalten in
Zunächst lesen wir: «Der Anblick von            zelner Pflanzen, wie zum Beispiel die Rhexia    lebendigen Gruppen und Massen gegen-
Havanna, an der Einfahrt des Hafens, ist        speciosa auf Tafel 4 des zweiten Bandes der     wärtig sind, schon vorauseilend den letzten
einer der heitersten und malerischsten,         Monographie des Melastomacées (1806             Schritt.» Vorauseilend den letzten Schritt zu
deren man sich an den Küsten des äquinok-       bis 1823) – in diesem Heft abgebildet auf       einer neuen Wissenschaft, die Ernst Haeckel
tialen Amerika nördlich des Äquators er-        Seite 11. Im Verlauf der Reise jedoch ent-      später mit dem Begriff «Ökologie» be-
freuen kann.» Eine Seite weiter heisst es       wickelte Humboldt ein neues Paradigma,          zeichnen wird.
dann: «Zur Zeit meines Aufenthaltes boten       das er in seinem Essai sur la géographie
wenige Städte des spanischen Amerika            des plantes (1807) programmatisch ent-          Kontakt: Prof. Dr. Oliver Lubrich,
aus Mangel an guter Ordnung einen               faltete: Pflanzen sollten nicht mehr isoliert   Institut für Germanistik,
widerwärtigeren Anblick.» Wie ist dieser        betrachtet, sondern in ihrer natürlichen        oliver.lubrich@germ.unibe.ch
Widerspruch zu erklären? Die begeisterte        Umwelt aufgefasst werden.
Schilderung bezieht sich auf die Natur              Humboldt setzte die Botanik in Be-
des «äquinoktialen», die angewiderte Be-        wegung: indem er die Pflanzen als Feld-
schreibung auf die Politik des «spanischen»     forscher studierte und indem er nach
Amerika. Was zwischen beiden liegt, ist die     ihrer Verteilung über die Erde fragte. Er
Erfahrung der Sklaverei: Ausgerechnet in        machte die Botanik zur Migrationslehre
                                                                                                Das neue Denken: Pflanzen werden in ihrer natürlichen
Havanna, einer besonders «zivilisierten»        und zur Umweltwissenschaft. Seinen info-        Umwelt verstanden. Hier dargestellt in pflanzen-
Stadt der spanischen Kolonien, deren Archi-     grafischen Ausdruck fand dieses neue            geographischen Gebirgsprofilen.

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       Bild: © Adrian Moser
Der Klima-Visionär
Alexander von Humboldt untersuchte die Wechsel-
wirkungen zwischen Mensch und Klima. Sein ver-
netztes Denken ist heute wieder aktuell, sagen der
Klimaforscher Stefan Brönnimann und der Germa-
nist Michael Strobl. Die beiden geben gemeinsam
Humboldts Klima-Schriften neu heraus.

Hat Alexander von Humboldt das                   Brönnimann: Wir können von Humboldt               Muttersprachen Französisch und Deutsch
Konzept «Klima» erfunden?                        lernen, sich nicht zufrieden zu geben mit         konnte Humboldt Spanisch und Englisch.
Stefan Brönnimann: Nein, das hat er              scheinbar plausiblen, aber oberflächlichen        Ein Germanist im engen Sinne wäre er
nicht. Aber er näherte sich dem Gegen-           Erklärungen. Er fragte stets nach den             wohl nicht – ein sehr guter Komparatist,
stand «Klima» auf eine Weise, die uns            zugrunde liegenden Prozessen, liess nicht         der verschiedene Kulturen miteinander ver-
heute als visionär erscheint. Er begriff Klima   locker. Wir können von ihm auch lernen,           gleicht, allerdings sehr wohl.
als das Ergebnis aller Vorgänge in Atmo-         wie wichtig die disziplinäre Tiefe ist, ohne      Brönnimann: Humboldt wäre heute ein
sphäre und Ozean, auf der Landoberfläche         die man bei interdisziplinären Fragen             Netzwerk von Wissenschaftlerinnen und
und in der Pflanzenwelt sowie der viel-          schnell Irrtümern unterliegen kann.               Wissenschaftlern mit ganz unterschied-
fältigen Wechselwirkungen untereinander.                                                           lichen Expertisen, die sich vom Nachdenken
Das ist doch sehr modern. Im Zentrum             Wenn Humboldt heute leben würde –                 über Natur und Mensch begeistern lassen
stand für ihn der Mensch, auf den das            wäre er Klimaforscher oder Germanist?             und global denken. Wer Wissenschaft aus
Klima wirkt. Ein direkter Vorläufer unserer      Strobl: Er war und wäre Klimaforscher und         Leidenschaft betreibt, trägt einen Funken
heutigen Sichtweise war er aber nicht –          Literaturwissenschaftler. Humboldt hat für        Humboldts in sich, das gilt für Klimafor-
anschliessend dominierte ein Jahrhundert         seine Erkenntnisse auch philologisch ge-          scher wie für Germanisten.
lang eine statistische Sichtweise. Unsere        forscht. Indigene Erzählungen und Mythen
heutige Systemsicht ist viel jünger und          dienten ihm zur Rekonstruktion geologi-           Die meteorologischen und klimatologischen
wurde nicht aus Humboldts Arbeiten               scher und klimatologischer Vorgänge. Er           Schriften erscheinen demnächst im Wehr-
heraus entwickelt.                               betrieb Archiv- und Bibliotheksstudien und        hahn Verlag.
Michael Strobl: In seinen Büchern be-            entschlüsselte Bilder und Schriften der Az-
schrieb Humboldt Eingriffe des Menschen          teken. So konnte er etwa durch historisches       Kontakte: Prof. Dr. Stefan Brönnimann,
in Ökosysteme und deren Veränderungen.           Quellenstudium die erste Karte Amerikas           Geographisches Institut,
Er erkannte auf seinen Reisen durch eigene       (1507) ihrem Urheber Martin Waldsee-              stefan.broennimann@giub.unibe.ch
Beobachtung die Faktoren eines menschen-         müller zuschreiben. Diese Forschung kam           Dr. des. Michael Strobl,
gemachten Klimawandels. Wenn er das              nicht ohne profunde Sprachkenntnisse aus,         Institut für Germanistik,
Konzept des Klimas schon nicht erfunden          neben Latein und Griechisch sowie seinen          michael.strobl@germ.unibe.ch
hat, hat er doch viele bleibende Einflüsse
hinterlassen. So bezog er stets lokale,
regionale und globale Vorgänge in klima-
tologische Überlegungen ein und hatte
immer die Wechselwirkung von Mensch
und Umwelt im Blick.

Sie publizieren gemeinsam Humboldts
Klima-Schriften. Was haben sie uns
heute noch zu sagen?
Strobl: Bei den Klima-Schriften handelt
es sich um hochinteressante wissenschaft-
liche Einzelbeiträge. Es geht darin weniger
um die grossen Klimadefinitionen aus dem
Kosmos, für die er heute noch berühmt
ist. Vielmehr sind es Beiträge aus eigener
Hochgebirgsforschung, zu unterschied-
lichen Schneehöhen oder zum Klima
Asiens. In einer Schrift definierte er bei-
spielsweise den heute nach ihm benannten
Humboldt-Effekt: In den Tropen war ihm
aufgefallen, dass der Urwald nachts lauter,
das heisst der Schall schneller war. Das hat
er wissenschaftlich belegen können. In
einer anderen Schrift skizzierte er das info-
grafische Modell der isothermen Linien, die
heute jeder aus Wetterberichten kennt            Humboldt entwickelte die Isothermen – Linien gleicher Temperatur –, wie wir sie heute von jeder
(siehe Bild).                                    Wetterkarte kennen. Hier die Isotherm-Kurven der nördlichen Halbkugel.

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Mit Pflanzen die Welt vermessen
Pflanzen sagen viel aus über den Ort, an dem
sie gedeihen. Indem Alexander von Humboldt
Pflanzen in ihrer Umwelt betrachtete, nutzte
er sie für das Projekt einer umfassenden Welt-
vermessung, sagt Markus Fischer, Direktor des
Instituts für Pflanzenwissenschaften.

Alexander von Humboldt hat auf
seinen Reisen unzählige Pflanzen
gesammelt, gezeichnet und
beschrieben. Warum eigentlich?
Markus Fischer: Er hat in der Tat einen
unglaublichen Sammeleifer entwickelt. Zu
seiner Zeit war über das weltweite Arten-
vorkommen viel weniger bekannt als heute,
seine Sammlungen brauchte er deshalb als
unabdingbaren Grundstock an Information.
Er wusste genau, dass eine gut dokumen-
tierte Sammlung für die Forschung wichtig
ist. Deshalb ist er mit grosser Sorgfalt ans
Werk gegangen, was auf einer solch aben-
teuerlichen Reise eine grosse Leistung ist.
Auch Steine und Tiere wurden mitge-
nommen und dokumentiert. Pflanzen
haben aber den grossen Vorteil, dass
sie sich viel besser konservieren und
transportieren lassen. Zudem wurde er
beim Aufsammeln von Pflanzen stets                                         Nach Humboldt wurden zahlreiche Pflanzenarten benannt. Hier ein
von seinem Weggefährten, dem Botaniker                                     Zweig der Quercus humboldtii, der Humboldt-Eiche.

Aimé Bonpland, unterstützt. Humboldt
hat seit seiner Jugend eine grosse Vorliebe
für die Pflanzenwelt gehabt. Später wurde
ihm auch bewusst, dass Pflanzen als fest-
gewachsene Organismen mehr über die            lokalen Gesellschaften mit ihren Nutz-         untersucht, warum, wie und mit welchen
Bedingungen eines Ortes aussagen als           pflanzen bei, was viele nachfolgende           Auswirkungen Pflanzenarten als Folge des
bewegliche Lebewesen. Insofern reiht sich      Forscher inspirierte.                          weltweiten Transports durch den Menschen
seine Pflanzensammlung in die Idee einer                                                      neue Gebiete erobern können. Angesichts
umfassenden Weltvermessung ein.                Wenn Humboldt heute leben würde –              seines ganzheitlichen Blicks ist auch sehr zu
                                               welche Fragen der Pflanzenwissen-              vermuten, dass ihn die Aufklärung der ganz
Was war neu an Humboldts Sicht auf             schaft könnten ihn interessieren?              wesentlichen Rolle der Pflanzen und der
Pflanzen?                                      Mit seinen unglaublich breiten Interessen      gesamten Biodiversität für die nachhaltige
Alexander von Humboldt hat als einer der       und seiner schier unstillbaren Neugierde       Entwicklung begeistern würde, in Europa
Ersten Wildpflanzen in ihrem ökologischen      wäre er sicher beides: ein begeisterter        und allen anderen Regionen der Erde.
Kontext betrachtet, also im Kontext ihrer      Grundlagenforscher der Evolutionsbiologie
Umwelt: Welche Arten sind wo dominant          und der Ökologie der Pflanzen – und ein        Mitarbeit: Adrian Möhl
und welche Standortbedingungen und             begeisterter angewandter Forscher der
Pflanzeneigenschaften ermöglichen das?         Naturschutzbiologie, der nachhaltigen          Kontakt: Prof. Dr. Markus Fischer,
Welche Gattungen bilden je nach Standort       Land- und Forstwirtschaft und der Biologie     Institut für Pflanzenwissenschaften (IPS),
unterschiedliche Arten aus? Warum sind         des globalen Wandels. Humboldt hatte sich      Direktor Botanischer Garten,
gewisse Familien in bestimmten Breiten-        stets die neuesten Instrumente zunutze         markus.fischer@ips.unibe.ch
graden stärker vertreten als andere? Solche    gemacht. Deshalb wäre er bestimmt von
und ähnliche Fragen hat Humboldt aufge-        den heutigen molekularen Sequenzierme-
worfen und beantwortet. Damit hat er ei-       thoden und geographischen Vermessungs-         Vorlesungsreihe zu Humboldt
nen neuen Blick auf die Botanik geworfen,      methoden begeistert, weil sie zusammen         Zum Abschluss der Vorlesungsreihe
die sich zuvor thematisch enger vor allem      einen ganz neuen Blick auf die Biogeo-         «Alexander von Humboldt – Wissen-
für die verwandtschaftliche Zusammenge-        graphie als Beobachtung der dynamischen        schaften zusammendenken» des
hörigkeit interessiert hatte. Ausserdem        Evolution ermöglichen. Sicher würde er sich    Collegium generale referiert Markus
beobachtete er, welche Pflanzenarten wo        auch sehr für die Reaktion der Vegetation      Fischer am 30. Mai im Botanischen Garten
und wie genutzt wurden. Damit trug er          auf den Klimawandel und auf die omniprä-       Bern, Altenbergrain 21.
wesentlich zu einem besseren Verständnis       sente Landnutzung interessieren. Er wäre       Podcasts aller Veranstaltungen unter
des Zusammenlebens von Kulturen und            fasziniert von der Invasionsbiologie, die      www.collegiumgenerale.unibe.ch

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Humboldts Denken
war politischer Zündstoff
Alexander von Humboldt war ein durch und durch
politischer Mensch, der polarisierte und Partei er-
griff. Trotz adliger Herkunft zeigte er Sympathien
für die Französische Revolution. In den USA kämpfte
er für die Abschaffung der Sklaverei und in Preussen
setzte er sich für die Gleichstellung der Juden ein.

Von Michael Strobl

Humboldt war nie der linientreue Preusse,        affligé l’humanité»). Die East India Com-       Leistungen enthielt das Schreiben eine klare
als den ihn beispielsweise der Schriftsteller    pany verweigerte Humboldt zeitlebens eine       Botschaft an den damaligen Gouverneur
Daniel Kehlmann karikierte. Seine beacht-        Reisegenehmigung für Britisch-Indien.           Kaliforniens: «Kalifornien, das so hoch-
liche Karriere als Oberbergrat im preus-                                                         herzig der Einführung der Sklaverei wider-
sischen Staatsdienst (1791–1796) schmiss         Der unbequeme Greis:                            standen hat, wird durch einen Freund der
er ohne Zögern bei der ersten Gelegenheit,       Politische Einmischung in den USA               Freiheit und des Fortschritts der Wissen-
die sich ihm bot – der Erbschaft nach            Auch für Humboldts letztes Lebensjahr-          schaft würdig vertreten sein.» Der Bundes-
dem Tod seiner Mutter. Humboldt zog              zehnt stimmt die Aussage des deutschen          staat war erst 1850 als «free state» in
umgehend nach Paris. Berlin sollte ihn           Intellektuellen Hans Magnus Enzensberger        die Union aufgenommen worden, die in
bis zu seiner Rente nicht mehr dauerhaft         nicht, wonach Humboldt vermieden habe,          einem heiklen Gleichgewicht paritätisch aus
wiedersehen.                                     frontal gegen die politischen Verhältnisse      «slave states» und «ree states» bestand.
                                                 anzugehen. Nachdem er sein Vermögen auf         Humboldt verfügte in den USA über er-
Haftbefehl und Einreisesperre                    seinen Expeditionen und für die darauf-         hebliches Renommee – nicht nur bei den
In der damaligen Weltwissenschaftsmetro-         folgenden Publikationen verausgabt hatte,       zahlreichen Deutschamerikanern. Sein
pole Paris knüpfte er Kontakte zur Akade-        musste er in Berlin und Potsdam am Hof          Bekenntnis gegen die Sklaverei war im
mie und beschaffte sich die neuesten und         den Kammerherrn geben. Jedoch belegen           Wahlkampf eine gewichtige Aussage.
genauesten Messgeräte für seine geplante         zahlreiche offene Briefe und Eingaben in
Expedition nach Amerika (1799–1804).             internationalen Tageszeitungen, die die         Für Menschen- und Bürgerrechte
Doch Humboldt reiste nicht als Kolonialist       «Berner Ausgabe» von Humboldts Schriften        Als der erwähnte Kuba-Essay in einer
in die «Neue Welt»: In seinem Reisetage-         nun versammelt, dass sich Humboldt              englischen Übersetzung ohne das Kapitel
buch beschrieb er die menschenverach-            weiterhin politisch engagierte. Er richtete     gegen die Sklaverei erschien, schickte
tende Behandlung der Indigenen und Skla-         seinen politischen Einfluss auf die Ver-        Humboldt 1856 eine scharfe Richtigstellung
ven in den spanischen Kolonien, und er er-       einigten Staaten, die sich – kurz vor           an die New York Times. Auf den gestriche-
klärte, dass er die Idee einer Kolonie prinzi-   dem Sezessionskrieg – in einer politisch        nen Teil lege er eine «weit größere Wichtig-
piell für «unmoralisch» halte. Die portugie-     brisanten Phase befanden.                       keit als auf die mühevollen Arbeiten astro-
sische Regierung stellte vorsorglich einen           Durch einen Brief an den liberalen Präsi-   nomischer Ortsbestimmungen, magneti-
Haftbefehl für den Fall aus, dass der sus-       dentschaftskandidaten John C. Frémont           scher Intensitätsversuche oder statistischer
pekte Aufklärer nach Brasilien gereist wäre.     (1813–1890) wurde er im Wahlkampf von           Angaben.» Die Richtigstellung erschien
    Humboldts jahrelange Auswertung              1856 zu dessen Gewährsmann – heute              über 30 Mal in verschiedenen Zeitungen,
seiner Amerika-Reise in seinem umfas-            würde man von «Endorsement» sprechen.           unter anderem unter dem programmati-
senden Reisewerk geriet neben allen natur-       1850 hatte Humboldt für ihn die «Große          schen Titel «Humboldt on Slavery». Hum-
wissenschaftlichen Erkenntnissen durchaus        goldene Preismedaille für Wissenschaft»         boldt wurde zur politischen Ikone der
politisch: In den grossen landeskundlichen       arrangiert. Frémont hatte mehrere Expedi-       Abolitionisten, die sich für die Abschaffung
Werken über die spanischen Kolonien, Essai       tionen in den noch unbekannten Westen           der Sklaverei einsetzten. Trotzdem verlor
politique sur le royaume de la Nouvelle-         der USA unternommen, Kalifornien und            «sein» Kandidat die Wahl. An seinen
Espagne (1808–1811) und Essai politique          die Rocky Mountains kartographiert.             Vertrauten Varnhagen von Ense schrieb er
sur l’Île de Cuba (1826), beleuchtete er         Humboldts Begleitschreiben für die Aus-         danach: «Und die schändliche Parthei,
wirtschaftliche Zusammenhänge der Kolo-          zeichnung wurde im Wahlkampf weltweit           die 50pfündige Negerkinder verkauft, […]
nialökonomien («Le Mexique est le pays de        über 40 Mal abgedruckt: darunter in der         hat gesiegt. Welche Unthat!»
l’inégalité») und verurteilte die Sklaverei      Chicago Tribune, der New York Tribune,
aufs Schärfste («L’esclavage est sans doute      aber auch in Europa in der NZZ. Neben           Humboldt publizierte seine Beiträge in renommierten
le plus grand de tous les maux qui ont           allem Lob für Frémonts wissenschaftliche        Blättern auf fünf Kontinenten.

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Auch nach der Wahl engagierte sich           matiker Chaim Seligman Slonimski erschien     «Seit [dem Erdbeben von] 1797 ist dieser
Humboldt weiter. Ein Brief an den exilierten    eine öffentliche Solidaritätsbekundung        ganze Welttheil in Bewegung: alle Augen-
deutschen Demokraten Julius Fröbel (1805        Humboldts (auch auf Hebräisch). Darin         blicke erleiden wir fürchterliche Erschütte-
bis 1893) wurde in den USA mit seinem           beschrieb sich Humboldt als «von früher       rungen.»
Wissen wiederum zum politischen Instru-         Jugend an mit den edelsten Ihrer Glaubens-        Auch späteren Schriften ist eine poli-
ment im Kampf gegen die Sklaverei – dut-        genossen innigst verbunden, ein lebhafter     tische Aussage eingeschrieben: In Asie
zende Male in Tageszeitungen nachge-            und ausdauernder Verfechter der Ihnen ge-     centrale (1843) etwa beschreibt Humboldt
druckt, unter anderem unter dem Titel           bührenden und so vielfach noch immer ent-     in der Einleitung geologische Formationen
«Baron Humboldt and American Slavery».          zogenen Rechte.» Acht Jahre bevor 1866        und spricht vom «soulèvement des
Fröbel war zuvor Mitglied der Frankfurter       die Gleichberechtigung in der Schweiz be-     masses». Den zaristischen Polizeistaat im
Nationalversammlung (1848) gewesen und          schlossen wurde, nahm Humboldt eindeutig      Blick, den Humboldt auf seiner Russland-
wurde später Diplomat des Deutschen             Stellung für die Emanzipation der Juden.      reise hautnah kennenlernte, und mit dem
Reiches. Auch dieser Brief enthält eine            Schon 1842, als Friedrich Wilhelm IV.      Wissen, dass er sich anders als wissen-
ermutigende Stellungnahme: «Fahren Sie          plante, die preussische Judenemanzipation     schaftlich nicht äussern durfte, gewinnt
fort, die schändliche Vorliebe für Sklaverei    von 1812 teilweise rückgängig zu machen,      diese Formulierung eine brisante politische
[…] zu brandmarken. Welche Gräuel man           protestierte Humboldt an Minister Graf        Dimension.
erlebt, wenn man das Unglück hat, von           Stolberg-Wernigerode: «Es ist eine gefahr-        Der grosse Vordenker einer umfassenden
1789 bis 1858 zu leben!» Humboldt nennt         volle Anmaßung der schwachen Mensch-          Naturwissenschaft und dynamischen Öko-
nicht sein Geburtsjahr 1769, sondern            heit, die alten Gesetze Gottes auslegen zu    logie bleibt als politisches Schwergewicht
bezieht sich auf die Französische Revolution    wollen. Die Geschichte finsterer Jahrhun-     seiner Zeit noch wiederzuentdecken.
und die Erklärung der Menschen- und             derte lehrt, zu welchen Abwegen solche
Bürgerrechte, für die er hier als 89-Jähriger   Deutungen den Mut geben. Das Besorgnis,       Kontakt: Dr. des. Michael Strobl,
eintritt. Anscheinend konnte Humboldt           mir zu schaden, muss Sie nicht abhalten,      Institut für Germanistik,
auch in Preussen beim protestantisch-           von diesen Zeilen Gebrauch zu machen;         michael.strobl@germ.unibe.ch
reaktionären Friedrich Wilhelm IV. etwas        man muss vor allen Dingen den Mut haben,
ausrichten. 1857 erreichte er die Ver-          seine Meinung zu sagen.»
abschiedung eines eher symbolischen
Gesetzes, das jedem Versklavten, der            Revolutionäre Erdbeben
preussischen Boden betrat, die Freiheit         und Vulkanausbrüche
zusicherte.                                     Schliesslich nutzte Humboldt auch seine
                                                naturwissenschaftlichen Schriften für poli-
Innenpolitischer Querulant:                     tische Subtexte. Die Leitwissenschaften der
Engagement für das Judentum                     Geologie und der Vulkanologie boten sich
Humboldt blieb in Preussen auch ansonsten       dafür besonders an: Seit der Französischen
nicht still. Unter einem zunehmend reak-        Revolution waren Vulkan-Metaphern zum
tionär agierenden Monarchen engagierte er       festen Bestandteil politischer Rhetorik
sich für die gesellschaftliche Gleichstellung   geworden. Die radikalen Jakobiner verwen-
der Juden. Bereits in seiner Jugend war er      deten das Bild des Vulkanausbruchs zur
den Salons von Henriette Hertz und Rahel        Rechtfertigung der gewalttätigen Revolu-
Varnhagen verbunden. Später verhalf er          tion. Humboldt formulierte seine auf der
Peter Theophil Rieß als erstem jüdischen        Amerika-Reise gewonnenen Erkenntnisse
Mitglied in die Preussische Akademie der        so, dass sie gleichzeitig auf die von ihm
Wissenschaften und sorgte dafür, dass           beobachteten Unabhängigkeitsbestre-
Giacomo Meyerbeer den Orden «Pour le            bungen der spanischen Kolonien bezogen
Mérite» erhielt, obwohl dieser nicht konver-    werden konnten. Erdbeben und Erschütte-
tierte wie etwa Felix Mendelssohn-Bart-         rungen waren zugleich Hinweise auf die vor
holdy. Für den polnisch-hebräischen Mathe-      dem «Ausbruch» stehende Revolution:

18   UniPress   174/2018                                   Humboldts neue Welt
Humboldtsche Bildung – aktueller denn je
Bildung und Humboldt: Da denken viele zuerst an
Wilhelm von Humboldt, den Begründer der Berli-
ner Universität. Aber auch sein jüngerer Bruder
Alexander vertrat Positionen, die bildungspolitisch
und forschungsethisch erstaunlich aktuell sind.

Von Oliver Lubrich

Mobilität                                       Wissen für alle                                Akademische Selbstverwaltung
1799 brach Alexander von Humboldt auf           Humboldts Anliegen war die Demokratisie-       In seinem letzten Artikel, der 1859 kurz
nach Amerika, 1827 kehrte er von Paris          rung des Wissens. Bereits als junger Mann      vor seinem Tod in zahlreichen Zeitungen
zurück nach Berlin. Mit knapp 30 ins Aus-       hatte er eine Schule für Bergarbeiter ge-      erschien, formulierte Humboldt einen
land, mit fast 60 zurück – diese Laufbahn       gründet. Mit seinen Ansichten der Natur        launigen «Ruf um Hülfe» (siehe unten).
entspricht der Karriere einer heutigen Nach-    (1808, 1826, 1849) und dem Kosmos              «Leidend» unter der Vielzahl von Zu-
wuchswissenschaftlerin, die zur Promotion       (1845–1862) wandte er sich in eleganter        schriften, insbesondere Gutachteranfragen,
nach Berkeley oder Stanford geht, dann          Prosa an ein breites Publikum. Beide Bücher    verteidigte der fast Neunzigjährige hier
jahrzehntelang als Professorin in New York      wurden überaus populär. Das Projekt des        beinahe verzweifelt die Zeit, die ihm
oder Harvard lehrt, bevor sie schliesslich      Kosmos präsentierte Humboldt vorab vor         neben der ganzen Administration und
nach Berlin oder Bern zurückkehrt. For-         verschiedenen Publika: in Vorlesungen an       Korrespondenz zum Forschen und
schung ist international. Sie erfordert         der Berliner Universität und in Vorträgen      Schreiben noch blieb.
Mobilität. Das kann abenteuerlich sein –        für die Öffentlichkeit in der Singakademie
und ist nicht unbedingt einfach. Mobilität      (dem heutigen Maxim Gorki Theater), die        Kontakt: Prof. Dr. Oliver Lubrich,
braucht intellektuelle, finanzielle und poli-   zu gesellschaftlichen Ereignissen wurden.      Institut für Germanistik,
tische Unterstützung.                           In einem Zeitungsbeitrag erklärte er die       oliver.lubrich@germ.unibe.ch
                                                Wichtigkeit freier Vorlesungen und kosten-
Nachwuchsförderung                              loser Bildung.
In seine Heimat zurückgekehrt, stimulierte
Humboldt die Berliner, die preussische und      Problemorientierte Forschung
die deutschsprachige Wissenschaft. Er tat       Die Wanderungen der Pflanzen und die
dies nicht zuletzt durch eine engagierte        Veränderungen des Klimas, die Zeugnisse
Nachwuchsförderung. In einer systemati-         indigener Völker oder die «künftigen Ver-
schen Auswertung des Netzwerks seiner           hältnisse von Europa und Amerika» – die
Korrespondenz haben Jutta Weber und Toni        Probleme, die sich ihm stellten, konnte
Bernhart festgestellt, dass Humboldt den        Humboldt nur angehen, indem er seinen
Kontakt besonders zu jüngeren und zu            Fragen über die Grenzen der Fächer hinweg
weiblichen Adressaten pflegte. Er förderte      folgte. Seine Wissenschaft ist nicht konven-
Künstler (wie Rugendas) und setzte sich für     tionell fach-, sondern konsequent problem-
jüdische Musiker (wie Mendelssohn und           orientiert. Mit der Bologna-Reform, die das
Meyerbeer) ein. Er unterstützte vielverspre-    Wissen disziplinär portioniert und seine
chende junge Forschungsreisende wie             Vermittlung von innovativer Forschung
Balduin Möllhausen und Robert Hermann           ablöst, wäre Humboldt sicher nicht ein-
Schomburgk durch Geleitworte für ihre           verstanden.
Publikationen.
                                                Interdisziplinäre Kooperation
Internationalität                               Fächerübergreifende Forschung bedeutet
Als Deutscher, der spanische Kolonien be-       Zusammenarbeit – mit Experten verschie-
reist und auf Französisch über indigene         dener Gebiete, in aller Welt. Zahlreiche
Völker schreibt, entzieht sich Humboldt         Arbeiten Humboldts entstanden in
nationaler Vereinnahmung. Als 1806              Co-Autorschaft. In der Rede, die er zum
die Franzosen Berlin besetzen, zieht er in      Abschluss seiner asiatischen Expedition an
die Hauptstadt des «Feindes» – und dort         der Akademie von Sankt Petersburg hielt,
lebt er 1814 und 1815, als die Alliierten       forderte er von den Weltmächten die
Napoleon besiegen. Später erwägt er, nach       Einrichtung eines globalen Netzes von
Mexiko auszuwandern und zum Ameri-              Beobachtungsstationen. Denn nur im
kaner zu werden. Humboldtsche Wissen-           Verbund lassen sich globale Forschungs-
schaft ist das Gegenteil von provinziell: sie   fragen beantworten: vom Erdmagnetismus         Humboldts letzter Artikel, veröffentlicht wenige
ist kosmopolitisch.                             bis zum Klimawandel.                           Wochen vor seinem Tod.

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Humboldt als Filmheld
Alexander von Humboldt begegnet uns auf Briefmarken und Geldscheinen, in der Werbung für Uhren
oder Düngemittel und sogar auf einem Rap-Album. Und er tritt in vier Spielfilmen auf. Diese sind
demnächst in Bern im Kino Rex zu sehen – siehe Infobox.

                 Reisefreiheit
                 Die Besteigung des Chimborazo von Rainer Simon (1989)
                 ist einer der letzten Filme der DDR. Er kam nur wenige
                 Wochen vor dem Mauerfall in die Kinos. Als er am
                 spanischen Hof ein Visum erbitten soll, ruft der jugendlich-
                 rebellische Alexander von Humboldt hier aus: «Warum
                 muss ich einen König fragen, wohin ich reisen darf?» Sein
                 Leiden in der preussischen Enge und seine Flucht nach
                 Amerika sind vor dem Hintergrund der Diktatur zu
                 verstehen. Diese politische Dimension ist jedoch nur eine
                 von mehreren in diesem vieldeutigen Kunstwerk. Im
                 Wechsel zwischen der Bergbesteigung und biographischen
                 Rückblenden, die zum Teil in nostalgisches Sepia getönt
                 sind, wird der alpinistische Rekord zu einer existentiellen
                 Metapher. Der strapaziöse Anstieg steht für die Selbstüber-
                 windung im Streben nach Höherem. Die Interaktion
                 zwischen Humboldt (gespielt von Jan Josef Liefers) und
                 indigenen Laiendarstellern spiegelt dabei seine Begegnung
                 mit ihren Vorfahren wie eine ethnographische Dokumenta-
                 tion. Und schliesslich ist die Besteigung des höchsten
                 Berges der Neuen Welt auch ein Symbol der Befreiung.
                 Humboldt und sein Begleiter Aimé Bonpland unternehmen
                 den Aufstieg zusammen mit Carlos Montúfar, der später im
                 Kampf für die Unabhängigkeit erschossen wird.

                                                             Unabhängigkeit
                                                             Humboldts Expedition durch das heutige Venezuela hat
                                                             Luis Armando Roche in Aire libre (1996) aus französischer
                                                             und lateinamerikanischer Sicht inszeniert. Zum Helden wird
                                                             hier Aimé Bonpland (dargestellt von Roy Dupuis), während
                                                             Humboldt (gespielt von Christian Vadim) eher unbeholfen
                                                             wirkt. Die berühmte Reise wird keineswegs als Erschlies-
                                                             sung einer terra incognita in Szene gesetzt, sondern als
                                                             Begegnung zwischen europäischen Forschern und amerika-
                                                             nischen Intellektuellen, aus der die Revolution ihren Anfang
                                                             nimmt. Der Abenteuerfilm ist bis ins Detail symbolisch.
                                                             Das zeigt sich bereits, als Humboldt und Bonpland 1799
                                                             in Cumaná amerikanischen Boden betreten. Ein Lehrer, der
                                                             seinen Unterricht «im Freien» durchführt und den Strand
                                                             als Tafel benutzt, hat den Sand längst beschrieben, als die
                                                             Europäer ihren Fuss auf ihn setzen, um die Temperatur der
                                                             Erde zu messen, die sich nicht nur buchstäblich erhitzt. Der
                                                             schwangeren Frau des Pädagogen, die unter Schmerzen
                                                             gleichsam das neue Amerika zur Welt bringen wird, muss
                                                             Bonpland durch Kaiserschnitt Geburtshilfe leisten – so wie
                                                             Humboldt die Unabhängigkeitsrevolution inspiriert und
                                                             dem «Befreier» Simón Bolívar, in den Worten von Gabriel
                                                             García Márquez, «die Augen geöffnet» haben soll.

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