JOURNAL VHD - DER NAHE OSTEN ALS HISTORISCHER RAUM

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JOURNAL VHD - DER NAHE OSTEN ALS HISTORISCHER RAUM
Das VHD Journal ist die Mitgliederzeitschrift des Verbandes
                                                                                                   # 10

                          der Historiker und Historikerinnen Deutschlands e. V.
                          ISSN 2197­6317
                                                                                                   JUL I 202 1

                                                                                             VHD
                                                                                        JOURNAL

AUSSERDEM IM HEF T
53. Deutscher Historikertag in München
                                         DER NAHE OSTEN ALS HISTORISCHER RAUM
JOURNAL VHD - DER NAHE OSTEN ALS HISTORISCHER RAUM
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JOURNAL VHD - DER NAHE OSTEN ALS HISTORISCHER RAUM
EDI TORI A L

       LIEBE MITGLIEDER DE S VERBANDE S,                          organisation in Pandemiezeiten inklusive eines ersten Ein­
                                                                  druckes von der digitalen Kongressplattform. Zum Motto
   stets ist umkämpft, was in Gesellschaften als wahr, gerecht    »Deutungskämpfe«, aber auch zu anderen Themen haben uns
   oder legitim gilt. Deutungskämpfe treiben historische Pro­     eine Vielzahl von Sektionsvorschlägen erreicht. Das umfang­
   zesse voran und bestimmen gegenwärtige Debatten. Die           reiche Programm ist seit einigen Wochen auf der Web­site
Konflikte im Nahen Osten sind wohl wie wenige andere              des Historikertags freigeschaltet: https://www.historikertag.de/
 durch eine Jahrhunderte zurückreichende Geschichte ge­           Muenchen2021/. Dort finden Sie auch ein Media Toolkit, das
   prägt. Das Partnerland des 53. Deutschen Historikertages,      Ihnen die Möglichkeit bietet, in Ihren digitalen Netzwerken
Israel, steht seit langer Zeit im Zentrum existenzieller histo­   für den Historikertag zu werben. In dieser Ausgabe des
 rischer und politischer Deutungskämpfe. Besonders in pola­       Journals haben wir für Sie ab Seite 47 alle wichtigen Infor­
 risierenden Situationen sind die verschiedenen Perspektiven      mation zur Anmeldung und Registrierung, zu Sektionen
   auf die komplexen Ursachen unverzichtbar. Die Geschichts­      des VHD, zum hybriden Sonderprogramm sowie zu den
wissenschaft kann konkurrierende Narrative offenlegen und         Fest ­veranstaltungen zusammengefasst.
   ein tiefer gehendes Verständnis für die Komplexität histo­
 rischer Entwicklungen ermöglichen.                               Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und freue mich
       Diese Ausgabe des VHD Journals widmet sich mit einem       schon jetzt, Sie bald wenigstens im virtuellen Raum auf dem
  Schwerpunktthema dem »Nahen Osten als historischer              53. Deutschen Historikertag begrüßen zu können.
Raum« und gibt damit einen Ausblick auf den Historikertag.
Yfaat Weiss beleuchtet in ihrem Beitrag Israels Gründungs­
   zeit und den Beginn des Zeitalters selbstbestimmter Natio­
 nen im Nahen Osten. Wolfram Drews erkundet die Region
   als Zentrum vielfältiger historischer Austauschprozesse seit
 der Antike. Werner Eck beschreibt die Genese der Alten Ge­
   schichte als akademische Disziplin in Israel und Ole Johann­
   sen wirft einen kurzen Blick auf die Namensgeschichte
  ­Syriens. Den Korrespondenten Thomas Aders haben wir
 ­gefragt, welche Bedeutung historisches Wissen für die jour­
  nalistische Berichterstattung aus dem Nahen Osten hat.
Moshe Zimmermann setzt sich in seinem Artikel mit den
   aktuellen Debatten über Antisemitismusdefinitionen aus­
   einander. Ulrike Freitag, Noël van den Heuvel und Birgit          Ihre Eva Schlotheuber
   Schäbler eröffnen in Ihren Beiträgen ein vielfältiges Pano­       Vorsitzende des VHD
 rama über Entwicklungen und Trends der historischen For­
   schung in und über den Nahen Osten. Schließlich berichtet
   Shmuel Feiner in einem Interview über die Arbeit der Histo­
 rical Society of Israel.
       In wenigen Monaten wird in München der 53. Deutsche
Historikertag eröffnet. Es wird, so viel steht schon fest, »ein
Historikertag ohne Beispiel« werden: Erstmals wird der
Kongress überwiegend digital stattfinden, nachdem wir ihn
   bereits im vergangenen Jahr verlegen mussten. Das Münch­
  ner Ortskomitee um Martin Zimmermann und Denise
­Reitzenstein gibt Ihnen einen Einblick in die Kongress­
JOURNAL VHD - DER NAHE OSTEN ALS HISTORISCHER RAUM
Katharina Wolff

                                                            Die Theorie der Seuche
                                                            Krankheitskonzepte und Pestbewältigung im Mittelalter

                                                            2021. 445 Seiten
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                                                            Krankheiten befallen Individuen, Seuchen befallen
                                                            Gesellschaften. Epidemien wirkten schon in der
                                                            Vergangenheit als Katalysatoren der Differenzierung.
                                                            Zu Beginn einer Seuchenkatastrophe stand zunächst
                                                            die Frage nach der Natur der Seuche, etwa „Was ist
                                                            die Pest?“. Aus den Antworten leitete man schließlich
                                                            Strategien zu Prophylaxe und Therapie ab. Vergleicht
                                                            man mittelalterliche Texte mit aktuellen Schriften zur
                                                            Ursache einer Seuche, so fällt die Vielfalt der gleich-
                                                            zeitig gültigen Theorien über die Natur der Krankheit
                                                            ins Auge. Den vormodernen Zeitgenossen boten sich
                                                            mehrere Fachgebiete, die eine Erklärung oder Abhilfe
                                                            versprachen. Anhand von 30 süddeutschen Pestschrif-
                                                            ten sowie Quellen der Städte Nürnberg, Augsburg und
                                                            München untersucht Katharina Wolff die praktische
                                                            Umsetzung dieser Krankheitstheorien im individuel-
                                                            len Lebensbereich bzw. im städtischen Kollektiv.

                          Marianne Taatz-Jacobi /                                     Elke Seefried / Ernst Wolf-
                          Andreas Pecar                                               gang Becker / Frank Bajohr /
                                                                                      Johannes Hürter (Hg.)
                          Die Universität Halle
                          und der Berliner Hof                                        Liberalismus und
                          (1691–1740)                                                 Nationalsozialismus
                          Eine höfisch-akademische                                    Eine Beziehungsgeschichte
                          Beziehungsgeschichte

Drei Universitätsgründungen gelten in der Universi-        Auf den ersten Blick erscheinen Liberalismus und
tätsgeschichte als Meilensteine für die Entstehung der     Nationalsozialismus als politische Gegensätze, doch
modernen Forschungsuniversität in Deutschland: Halle       war ihr Verhältnis vielschichtiger als lange gedacht. Die
(1691), Göttingen (1734) und Berlin (1810). Am Beispiel    Autorinnen und Autoren untersuchen diese ambivalente
der Universität Halle wird diese Meistererzählung auf      Beziehungsgeschichte.
den Prüfstand gestellt.

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JOURNAL VHD - DER NAHE OSTEN ALS HISTORISCHER RAUM
INH A LT S V ER ZEICHNIS

         K APITEL 1                          Birgit Schäbler                     K APITEL 3
      DER NAHE OSTEN                    Geschichtswissenschaft                   VERBANDS ­
 AL S HISTORISCHER R AUM                in der ­arabischen Welt:              ANGELEGENHEITEN
                                              der ­L ibanon
          Yfaat Weiss                                                                 Frank Kell
                                                Seite 32
         Landmarken.                                                           Impfen und Vertrauen.
    Israels Gründungszeit            Ein Interview mit Thomas Aders       Bericht zur virtuellen Podiums­
            Seite 6                       Über Geschichte und                diskussion »Vaccines and
                                      ­Auslandsberichterstattung           (Dis-)trust in Medical Science
        Wolfram Drews
                                                 Seite 36                        in Times of Crisis«
  Das Heilige Land zwischen
                                                                                     Seite 66
  Zentrum und Peripherie —
    ­imperiale Ambitionen                       K APITEL 2                     Die Geschäftsstelle
 und lokale Selbstbehauptung                53. DEUTSCHER                         stellt sich vor
            Seite 11                       ­H ISTORIKERTAG                           Seite 70

          Werner Eck               Ortskomitee des Historikertages 2021     Aus den Arbeitsgruppen:
   Alte Geschichte in Israel          Historikertag ohne Beispiel:          Die AG Landesgeschichte
            Seite 16                Ein digitaler Besuch in München                  Seite 73
                                                Seite 42
          Ole Johannsen                                                       Ausschussmitglieder
  Ein kurzer Blick auf Syrien            Historikertag 2021 —                   stellen sich vor
aus ­althistorischer Perspektive        Organisatorisches und                        Seite 76
            Seite 18                          ­Programm
                                                 Seite 47
     Moshe Zimmermann
   Vom Nutzen und Nachteil         Ein Interview mit Eva Schlotheuber              Impressum
     neuer ­D efinitionen               Der Historikertag 2021                       Seite 80
     des Antisemitismus                        in ­München
            Seite 21                            Seite 52

       Ulrike Freitag und           An Interview with Shmuel Feiner
      Noël van den Heuvel            Israel: Guest of Honor at the
Die Geschichte des Vorderen           53rd C
                                           ­ onvention of German
   ­Orients und Nordafrikas                    Historians
an ­deutschen ­Einrichtungen —                  Seite 56
 Entwicklungen und Trends
                                              Einladungen
            Seite 27
                                                Seite 60

                                      Promotionsstipendiat:innen
                                                Seite 62
JOURNAL VHD - DER NAHE OSTEN ALS HISTORISCHER RAUM
4

                    K apitel 1
    DER N A HE OS T EN A L S
    HIS TORISCHER R AUM

    Israel ist das Partnerland des 53. Deutschen Historiker­
    tages. Mit dieser Wahl soll die besondere Bedeutung der
    Geschichte Israels und des Nahen Ostens insgesamt für
    die deutsche und europäische Wissenschaftslandschaft
    unterstrichen werden. Seit der Antike ist diese Welt­region
    in vielfältigen Verflechtungen mit der europäischen und
    nahöstlichen Kultur verbunden. Inwiefern kann der Nahe
    Osten als historischer Raum beschrieben werden und
    wie ist die Geschichte Israels in diese Konstellation ein­
                           geschrieben?
JOURNAL VHD - DER NAHE OSTEN ALS HISTORISCHER RAUM
5

Moderne Nation und Heiliges Land: Der
Felsendom auf dem Tempelberg in der Jeru­
salemer Altstadt zählt zu den islamischen                         Yfaat Weiss
Hauptheiligtümern. Das Haus am Tel Aviver               Landmarken. Israels Gründungszeit
Rothschild-Boulevard 16 – Ort der israeli­
schen Unabhängigkeitserklärung – wurde
                                                                        Seite 6
2010 zum Nationalmuseum erklärt.
                                                                 Wolfram Drews
                                               Das Heilige Land zwischen Zentrum und Peripherie
                                                                       Seite 11

                                                                     Werner Eck
                                                              Alte Geschichte in Israel
                                                                       Seite 16

                                                                    Ole Johannsen
                                             Ein kurzer Blick auf Syrien aus a
                                                                             ­ lthistorischer P
                                                                                              ­ erspektive
                                                                       Seite 19

                                                              Moshe Zimmermann
                                                   Vom Nutzen und Nachteil neuer D
                                                                                 ­ efinitionen
                                                              des Antisemitismus
                                                                       Seite 21

                                                      Ulrike Freitag und Noël van den Heuvel
                                              Die Geschichte des Vorderen O ­ rients und Nordafrikas
                                                          an ­deutschen ­Einrichtungen
                                                                       Seite 27

                                                                Birgit Schäbler
                                                 Geschichtswissenschaft in der a­ rabischen Welt:
                                                                 der ­L ibanon
                                                                       Seite 32

                                                         Ein Interview mit Thomas Aders
                                                 Über Geschichte und A­ uslandsberichterstattung
                                                                       Seite 36
JOURNAL VHD - DER NAHE OSTEN ALS HISTORISCHER RAUM
L A NDM A RK EN.
                            ISR A EL S GRÜNDUNGS ZEI T

   Am südlichen Ende des Rothschild-­           Ohnehin war die Proklamation der
Boulevards, Tel Avivs Prachtstraße, be­     Staatsgründung umstritten. So zöger­
findet sich derzeit eine Baustelle. Das    ten die Vereinigten Staaten, einer jü­
dort noch verhüllte Gebäude soll dem­      dischen Staatlichkeit in Palästina zu­
nächst als instand gesetzte Besichti­       zu­s timmen: Sie wichen von ihrer
gungsstätte neu eröffnet werden. Es         ursprüng­lichen Unterstützung des Tei­
handelt sich um jenen Ort, an dem am        lungsplans ab und waren bemüht, die
Freitag, dem 14. Mai 1948, abends, kurz    Vertretung der Juden Palästinas dazu
vor Beginn des Sabbats, acht Stunden        zu bewegen, auf eine eigene Staatlich­
vor Ablauf des britischen Mandats für       keit zugunsten einer U N-Treuhand­
Palästina, David Ben-Gurion die Grün­       schaft zu verzichten. Vor diesem Hin­
dung des Staates Israels verkündete.       tergrund fiel das Votum für die Staats­
Meir Dizengoff, Tel Avivs erster Bürger­    gründung im Exekutivrat unter dem
meister, hatte das Haus Anfang der         Vorsitz von Ben-Gurion überaus knapp
1930er-Jahre der Tel Aviver Kommune         aus.
als Stadtmuseum vermacht. 1909 hat­             Ähnlich knapp fiel die Entschei­
ten er und seine Ehefrau als eine von      dung aus, die Grenzen des zukünftigen
60 Familien, die an der mittlerweile       jüdischen Staates in der Unabhängig­         Dass Tel Aviv und nicht Jerusalem
ikonisch gewordenen Gründung Tel            keitsdeklaration unbestimmt zu belas­      der Ort war, an dem der Staat Israel
Avivs aus dem Nichts teilgehabt hatten,     sen. Zwar war der designierte Justiz­       ausgerufen wurde, hing vor allem
das Grundstück an den Sanddünen             minister Felix Rosenblüth (Pinchas         mit dem Verlauf des Kriegsgeschehens
nördlich von Jaffa bei der legendären      Rosen), der ehemals an den Juristischen                  zusammen.
Parzellierungsaktion erstanden.            Fakultäten in Freiburg und Berlin stu­
    Dass Tel Aviv und nicht Jerusalem      diert und bei dem Heidelberger Staats­
der Ort war, an dem der Staat Israel       rechtler Georg Jellinek promoviert hat­
ausgerufen wurde, hing vor allem mit       ­te, der Meinung, die Frage der Grenzen
dem Verlauf des Kriegsgeschehens zu­        könne schließlich nicht ignoriert wer­
sammen. In Tel Aviv befand sich die        den, da es sich doch um eine »Rechts­
überwiegende Zahl vorstaatlicher jüdi­      frage« handele. »Recht«, hielt ihm Ben-­
scher Institutionen. Ebenso hatte sich     ­­Gurion entgegen, sei »eine Sache, die
dort die Mehrheit der politischen Per­     durch Menschen bestimmt« werde.
sönlichkeiten versammelt. Zudem war        Auch in der amerikanischen Unabhän­
Jerusalem seit der Bestätigung des UN-­     gigkeitserklärung, so Ben-Gurion, sei
Teilungsplans mehrfach der arabischen      davon abgesehen worden, Grenzen zu
Blockade ausgesetzt. Eines der 13 Mit­     fixieren. Er wolle nicht die Möglichkeit
glieder des Exekutivrats und zehn der       ausschließen, dass die Grenzen des
24 Staatsräte konnten so an der Zere­       zukünf­tigen Staates militärisch ausge­
monie nicht teilnehmen.                    dehnt würden.
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D er N ahe O sten als historischer R aum                                                       7

          In der Tat sollte sich das im UN- Kämpfe im April 1948, wie in zuvor
Teilungs­plan vom 29. November 1947 ­gemischten arabisch-­jüdischen Städ­
vorgesehene jüdische Territorium her­ ten wie Haifa und Jaffa, die Lage grund­
   nach, als mit dem Abzug der Briten legend. Im Juni versuch­­te Israels Außen­
   und durch die Intervention der umlie­ minister Moshe Sharett in Gesprächen
   genden arabischen Staaten die Schwelle mit dem UN-Verhandlungsführer für
vom inter-­ethnischen Bürgerkrieg in Palästina, dem schwedischen Graf Folke
Palästina zum ersten Arabisch-Israeli­ Bernadotte, der wenige Monate darauf
      schen Krieg überschritten wurde, auf­ einem Anschlag der rechten militanten
   grund der militärischen Erfolge der jüdischen Gruppierung Lehi zum Op­
  ­israelischen Streit­k räfte vergrößern. Die fer fiel, zu erkunden, inwieweit Israel
Gründung eines arabischen Staates in mit internationaler Zustimmung rech­
Palästina an der Seite Israels, der, eben­ nen könne, würde es eine Rückkehr der
      ­so wie die Internationalisierung Jeru­ geflüchteten Araber ablehnen. Noch
       salems, nach dem UN-Teilungs­beschluss bevor Israel im Spätsommer 1949 seine
vorgesehen war, fand nicht statt. Das Weigerung verkündete, ebendiese zu                           Auch später sollte so mancher
   für den arabischen Staat vorbestimmte gewähren, war dies bereits angewandte                        Friedens­makler mit dem
Gebiet im Süden mit Gaza wurde von Politik geworden. Mo­ti­viert war die Ent­                  ­Friedensnobelpreis für einen Frieden
   ägyptischen Streitkräften eingenom­ scheidung auch davon, den nunmehr                            in der Region gekürt werden,
   men, die Westbank von den Truppen ins Land strömenden jüdischen Ein­ der ­offenbar aber nicht eintreten wollte.
Transjordaniens. Als Ergebnis der Feind­ wanderern, darunter viele Holocaust­
    ­­seligkeiten wurde Jeru­salem zwischen überlebende, Obdach zu bieten. Diese
Israel und Jordanien aufgeteilt.               Praxis wurde seit dem Früh­sommer
          Dies war ein Resultat, das zwar de 1948 in Notstandsverordnungen ver­
 jure dem UN-Beschluss widersprach, ankert und ab März 1950 mit dem Ab­
       sich indes de facto etablierte. Aus dem sentees’ Property Law recht­      l ich be­
Krieg ging zwar eine international gründet. Dadurch schuf der Staat Israel
   ­a nerkannte Grenze nicht hervor, aber das juristische Instrumentarium für
    eine 1949 durch separate, mit den vier die Enteignung der Liegenschaften der
    arabischen Staaten Ägypten, Libanon, vormaligen arabischen Eigentümer.
Jordanien und Syrien geschlossene und              Durch die Kriegsfolgen und durch
   in Waffenstillstandverträgen fixierte den massenhaften Zustrom von jüdi­
»Grüne Linie«. Zwar wurde durch schen Einwanderern änderte sich die
diese Verträge zwischen Israel und Demografie des Staates Israel rasant.
 ­jenen arabischen Staaten kein Frieden Lebten im britischen Mandatsgebiet
   gestiftet; dennoch erhielt der dabei Pa­­      lästina im Mai 1948 insgesamt
­tätige UN-Vermittler, der Amerikaner 650.000 Juden, so immigrierten in den
Ralph J. Bunche, 1950 hierfür einen
Friedensnobelpreis. Auch später sollte
                                                                      Y FA AT W EIS S
       so mancher Friedens­makler mit dieser
Auszeichnung für einen Frieden in der                                 Yfaat Weiss ist Historikerin mit einer Professur an der Hebrä­
Region gekürt werden, der offenbar                                    ischen Universität Jerusalem, Direktorin des Leibniz-Instituts
    aber nicht eintreten wollte.                                      für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow sowie
          Wäre es zu den vorgesehenen zwei                            Professorin an der Universität Leipzig. Sie leitete das Bucerius
   Staatsgründungen in Palästina – zu ei­                             Institute for Research of Contemporary German History and
   ner jüdischen und zu einer arabischen –                            Society an der Universität Haifa und stand von 2010 bis 2017
   gekommen, so hätte der jüdische Staat                              sie dem Franz Rosenzweig Minerva Research Centre for
    eine arabische Minderheit von etwa                                German-­Jewish Literature and Cultural History an der Hebrä­
40 Prozent aufgewiesen: ein durchaus                                  ischen Universität Jerusalem vor. Sie ist Mitherausgeberin
     hoher Anteil in einem als Nationalstaat                          der Geschichte der Hebräischen Universität Jerusalems ab der
   geplanten Gemeinwesen. Allerdings                                  Staatsgründung Israels. Diesem Thema ist auch ihr neuestes
    änderten Flucht und Vertreibung der                               Buch gewidmet, das unter dem Titel »Niemandsland. Hader am
    arabischen Bevölkerung während der                                Berg Scopus« im Herbst bei Vandenhoeck & Ruprecht erscheint.
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                                                   David Ben-Gurion verliest die israelische Unabhängigkeitserklärung
                                                   am 14. Mai 1948 im Großen Saal des Tel Aviver Kunstmuseums.

                                                    ersten zwei Jahren nach der israelischen Staat vor erhebliche Herausforderun­
                                                    Staatsgründung weitere 450.000 Juden. gen. Schließlich garantierte der Staat
                                                   Ende 1951 war insgesamt eine Zahl von Israel in seiner Unabhängigkeitserklä­
                                                   rund 700.000 Neueinwanderern zu ver­ rung die Gleichheit aller seiner Bür­ger.
                                                    zeichnen. Als Auftakt dieser als Massen­ Das Rückkehrgesetz, so jedenfalls Ben-­
                                                    einwanderung bezeichneten Entwick­ Gurion in seiner Entgegnung auf Ein­
                                                    lung kann der Satz »Der Staat Israel ist wände, gewähre Juden nicht etwa ein
                                                    für jeden Juden offen« gelten, der bei besonderes Recht auf Einwanderung,
                                                   der Verkündung der Unab­hängig­keits­ sondern bestätige lediglich ein solches,
                                                    erklärung verlesen wurde. Dennoch sei einem jeden Juden ohnehin inhärentes
                                                   die Erklärung lediglich, wie der in Lü­ Recht.
                                                    beck geborene, erste israelische General­    Um der Kritik einer Ungleich­b e­
                                                    staatsanwalt Chaim Cohn kommentier­ hand­­lung zu begegnen, war entschieden
                                                   ­te, eine Deklaration, die für den Gesetz­ worden, die Maßgaben des Einwan­de­
                                                    geber gleichwohl richtungsgebend sein rungsrechtes von denen des Ein­bürge­
    Aus dem Krieg ging zwar eine international      solle. Das Gleiche galt für die am Tag rungsrechtes zu trennen. Das Rückkehr­
    anerkannte Grenze nicht hervor, aber eine       nach der Staatsgründung er­lassene An­ gesetz von 1950 legte mithin fest, dass
    1949 durch separate, mit den vier arabischen
    Staaten Ägypten, Libanon, Jordanien und         ordnung, die die unter dem britischen alle Juden, die vor dem Inkrafttreten
    Syrien geschlossene in Waffenstillstand­       Mandat geltenden Einschrän­k ungen dieses Gesetzes eingewandert bzw. da­
    verträgen fixierte »Grüne Linie«.               für eine jü­d ische Einwanderung auf­ vor oder danach im Land geboren wor­
                                                    hob. Sowohl die Unabhängigkeitserklä­ den waren, den gleichen Status inne­
                                                   rung als auch diese Anordnung konn­ haben wie jene, die später und auf
                                                    ten eine verfassungsrechtliche Grund­ Grundlage jenes Gesetzes immigriert
                                                    legung dieses fundamentalen Prinzips waren und noch immigrieren würden.
                                                    nicht ersetzen. Ein entsprechen­des Ge­ Obwohl damit beabsichtigt gewesen
                                                    setz folgte zwei Jahre darauf mit dem war, lediglich den Status der Altein­
                                                   Rückkehrgesetz vom Juli 1950, das dem gesessenen und der Neueinwanderer
                                                   jüdischen Kalender nach symbolisch ­anzugleichen, beeinträchtigte es das
                                                    auf den Todestag Theodor Herzls, dem Gleich­heitsprinzip zwischen Juden und
                                                   Begründer des politischen Zionismus, Arabern. Das Staatsbürgerschaftsgesetz
                                                    gelegt und verabschiedet wurde.           von 1952 knüpft das Recht von Arabern,
                                                        Obgleich die rechtliche Veran­ke­rung israelische Staatsbürger zu werden, an
                                                   der jüdischen Einwanderung nach Is­ solche Bedingungen, die letztendlich
                                                   rael gewollt gewesen war, stellte sie den eine Rückkehr der arabischen Flücht­
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    linge von 1948 ausschloss. Somit ge­ nem Zeitpunkt wie auch später ab.                 Bevölkerungstransfers eine naive Idee,
    währ­­te der junge Staat seinen arabi­ Nach sechs Monaten kam Schitrit er­             solange der Irak, der mit Israel zwar
    schen Staatsbürgern zwar formell de­ neut auf das Thema zu sprechen und                keine gemeinsame Grenze hatte, gleich­
    mokratische Rechte, beabsichtigte aber empfahl, die Juden des Irak samt Ei­            wohl der arabischen Kriegskoalition
    gleichzeitig, ihren Anteil an der Gesamt­ gentum mithilfe der Vereinten Natio­         von 1948 zugehörte, keinen Friedens­
    bevölkerung möglichst gering zu halten. nen nach Israel zu überführen. Ein             vertrag mit Israel abgeschlossen hätte.
       Vom Ausmaß der im Krieg von ähnlicher Vorschlag war bereits zu                          Kurz danach entzog die irakische
    1948 / 49 angestoßenen Flucht und Ver­ ­einem früheren Zeitpunkt ventiliert            Regierung den dort einheimischen Ju­
    treibung konnte das Los der jüdischen worden, als Joseph B. Schechtman,                den die Staatsbürgerschaft und kon­
    Bevölkerung in den arabischen Län­ ­bekannt durch sein Buch »European                  fiszierte ihr Eigentum. So wurde eine
    dern nicht unbeeinflusst bleiben. Auf ­Population Transfers 1939 – 1945« (1946),       der ältesten, auf die Zeit des Ersten
    deren Gefährdung wies Bechor-Scha­ während des Krieges 1948 ein Memo­                  Tempels zurückgehende jüdische Dias­
    lom Schitrit, das einzige sephardische randum mit dem Titel »The Case for              pora mittellos aus dem Land gewiesen
    Mitglied des Exekutivrats und baldiger Arab-Jewish Exchange of Population«             und endete mehrheitlich im Staat Is­
    Minister für Minderheiten in der ers­ unterbreitete, das vor dem Hinter­               rael. In den kommenden Jahren folgten
    ten israelischen Regierung, schon im grund anderer historischer Vorgänge               im Zuge der Dekolonisierung ähnliche
    Mai 1948 hin. Seine Warnung wurde einen Bevölkerungsaustausch zwischen                 Prozesse ethnischer Homogenisierung
    eindringlicher, als er aufgrund der be­ den Arabern Israels und den Juden des          im arabischen Raum. Eine Epoche der
    drohlichen Lage der irakischen Juden Irak vorsah. Schechtman verschaffte               Vielfalt, wie sie im Rahmen der Viel­
    im März 1949 vorschlug, arabisches sich zwar bei der politischen Führung               völkerreiche und Imperien bestanden
    Eigen­t um in Israel als Unterpfand für Gehör, allerdings wurde sein Vorschlag         hatte, ging zu Ende. Ersetzt hat sie ein
    das Eigentum der Juden im Irak einzu­ genauso wie der Schitrits im Septem­             Zeitalter selbstbestimmter Nationen. 
    behalten. Diesen Vorschlag lehnte das ber 1949 abgelehnt. Israels Außenmi­
    israelische Außenministerium zu je­ nister Moshe Sharett sah im Plan eines

                                                                 20 Jahre danach:
                                                                 Die Wehrmachtsausstellungen und ihre Folgen

                                                                                    Es ist an der Zeit, den historischen Ort der Aus-
                                                                                    stellung »Verbrechen der Wehrmacht« genauer zu
                                                                                    beschreiben, ohne Selbstzufriedenheit. Welche
                                                                                    der Fragen von damals sind heute wieder aktuell?
                                                                                    Was wäre aus der Geschichte der Ausstellung
                                                                                    und der Eskalation des Streits für die Aufarbeitung
                                                                                    der Vergangenheit zu lernen?

                                                                                    Erhältlich ab Oktober 2021

▶   Neuauflage des Ausstellungskatalogs
▶   Jetzt auch als E-Book erhältlich

765 S., 961 Abb., 46 Karten, farbig, Großformat   Print 12 € | E-Journal 7,99 €
30 € | 978-3-930908-74-5 | E-Book 23,99 €         Print 978-3-86854-763-4
BIOGRAFIEN HISTORISCH-BEDEUTSAMER
PERSONEN BEI V&R UND BÖHLAU

Manfred Hettling | Wolfgang Schieder (Hg.)   Hans-Peter Müller                                Robert-Tarek Fischer
Reinhart Koselleck als Historiker            Max Weber                                        Wilhelm I.
Zu den Bedingungen möglicher                 Werk und Wirkung                                 Vom preußischen König zum ersten
Geschichten                                  2., aktualisierte und erweiterte Au��age 2020.   Deutschen Kaiser
2021. 461 Seiten mit 33 Abb., gebunden       301 Seiten mit 25 s/w-Abb., gebunden             2020. 404 Seiten mit 12 farb. und 13 s/w Abb.,
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ISBN 978-3-525-31729-7                       ISBN 978-3-412-51855-4                           € 35,00 D | € 36,00 A
                                             E-Book € 27,99 D | € 28,80 A                     ISBN 978-3-412-51926-1
E-Book € 54,99 D | € 56,60 A
ISBN 978-3-647-31729-8                       ISBN 978-3-412-51856-1                           E-Book | E-Pub € 27,99 D | € 28,80 A
                                                                                              ISBN 978-3-412-51927-8
Reinhart Koselleck prägte die Begri�fs-      Neben politischer und sozialer Theorie
geschichte entscheidend, er hat die          inspirierte Max Weber die ökonomische            Wilhelm I. (1797–1888) herrschte 30 Jahre
Analyse des politischen Totenkults als       und politische Soziologie, die Soziologie        über Preußen, davon 17 Jahre über ganz
Forschungsgebiet etabliert und sich in       des Staates und des Rechts sowie die Kul-        Deutschland – und hinterließ in der
den erinnerungspolitischen Debatten seit     tur- und Religionssoziologie. Max Weber          Geschichte tiefere Fußspuren als weithin
den 1990er Jahren engagiert. Vor allem       gilt heute als der wichtigste soziologische      angenommen. Wilhelm, dessen Populari-
aber hat er innovative und wegweisende       Klassiker weltweit.                              tät im Lauf seines Lebens heftig schwank-
Beiträge zur Geschichtstheorie und zur       Die leitende Problemstellung wie die Ein-        te, bewirkte bei seinem Machtantritt
Frage ‚historischer Zeiten‘ verfasst. Der    heit seines Werkes sind indes nicht leicht       einen tiefgreifenden politischen Um-
Band bietet einen umfassenden Überblick      auszumachen. Hans-Peter Müller arbeitet          bruch in Preußen. Er stürzte sein Land in
über das gesamte, breit di�ferenzierte       das Charakteristische in Max Webers              den Verfassungskon��ikt und machte mit
Spektrum von Kosellecks Arbeiten, seine      Werk anschaulich heraus und zeigt den            seinen Armeereformen Preußens Siege in
Art des Denkens und Fragens, des heuris-     Zusammenhang zwischen Theorie, Me-               den deutschen Einigungskriegen möglich.
tischen Herangehens an Probleme und          thode, Analyse und Gesellschaftskritik.          Bislang kaum bekannt: Wilhelm I. ent-
des Analysierens von Zusammenhängen.         Die 2. Au��age ist ergänzt um die Beschäf-       faltete zunächst als Oberster Kriegsherr
Er analysiert Kosellecks »essayistische      tigung mit seiner Wirtschaftssoziologie.         und dann als Deutscher Kaiser beträcht-
Historik« und zeigt die Besonderheit wie     Damit liegt eine Gesamtschau auf Max             liche Wirkungsmacht. Einigen Ein��uss
das fortwirkende Potential seiner Ge-        Weber vor, die die komplexen Wechsel-            nahm er auch auf die »Judenfrage«. Die
schichtsschreibung.                          beziehungen zwischen Leben und Werk              Biographie zeigt: Ohne das Vorgehen
                                             verständlich macht.                              Wilhelms I. wäre die preußisch-deutsche
                                                                                              Geschichte in mancherlei Hinsicht anders
                                                                                              verlaufen.
DA S HEILIGE L A ND Z W ISCHEN ZENTRUM
      UND PERIPHERIE — IMPERIA LE A MBITIONEN
         UND LOK A L E SEL B S T BEH AUP T UNG

   Der Nahe Osten stand als Teil des den im Zuge der Missionsreisen des
sogenannten Fruchtbaren Halbmonds Apostels Paulus außerhalb des Nahen
seit der Antike im Zentrum vielfältiger Ostens gegründet worden, doch behielt
historischer Austauschprozesse, oftmals Jerusalem eine herausragende Stellung
war er zwischen rivalisierenden Groß­ als Ziel frommer Pilger. Kaiser Konstan­
reichen umkämpft. Nur die Israeliten tin ließ mit der Bethlehemer Geburts­
machten das Territorium mit der Haupt­ kirche sowie der Jerusalemer Grabes-
stadt Jerusalem allerdings zum Zentrum (bzw. Auferstehungs-)Kirche zentrale
eines politischen Herrschafts­gebildes; Kultbauten errichten. Zu den Besuche­              Der Nahe Osten stand als Teil
alle Großreiche behandelten das Gebiet rinnen zählten die römischen Aristo­             des ­sogenannten Fruchtbaren Halb­
hingegen als peripheren Raum.            kratinnen Paula und Eustochium, die             monds seit der Antike im Zentrum
    Religionsgeschichtlich erlangte die im Umfeld des Kirchenvaters Hierony­             vielfältiger historischer Austausch­
Region eine unvergleichliche Stellung. mus ins Heilige Land zogen, wo er sich             prozesse, oftmals war er zwischen
Zunächst war Jerusalem als Standort in Bethlehem niederließ und mithilfe rivalisierenden Großreichen umkämpft.
des jüdischen Tempels Ziel der alljähr­ sprachkundiger Juden die Hebräische
lichen Wallfahrtsfeste. Auch nachdem Bibel ins Lateinische übersetzte. Die
der Zweite Tempel im Jahr 70 von den Spanierin Egeria berichtete Ende des
Römern zerstört worden war, behielt 4. Jahr­hunderts von ihren Reisen durch
das Land Israel seine Bedeutung als verschiedene Gebiete des Nahen Ostens;
zentraler Bezugspunkt jüdischer Glau­ im frühen Mittelalter folgte ihr unter
benspraxis. An den rabbinischen Aka­ anderen der Angelsachse Willibald von
demien, die sich in anderen Städten Eichstätt.
Judäas und Galiläas konstituierten,        Auch für die Anhänger des Islams
wurde die mündliche Tora in Gestalt hat Jerusalem, als Stadt der ersten
der rabbinischen Literatur verschrift­
licht. Das wichtigste jüdische Zentrum
                                                              WOL FR A M DRE WS
der Spätantike befand sich allerdings
in Mesopotamien, wo der Babylonische                          Wolfram Drews ist seit 2011 Professor für transkulturelle
Talmud kodifiziert wurde. Dennoch                             Geschichte des Mittelalters an der W WU Münster. Nach dem
blieb Jerusalem für die Juden ein Sehn­                       Studium der Geschichte, Judaistik, Theologie, Anglistik und
suchtsort; der Wunsch »nächstes Jahr                          Romanistik an der HU und FU Berlin sowie in Jerusalem und
in Jerusalem« bildet traditionell einen                       Córdoba war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni­
festen Bestandteil des Sederabends zum                        versität Bonn; außerdem hatte er Lehrstuhlvertretungen an
Passahfest sowie am Versöhnungstag.                           den Universitäten Bochum und Köln sowie an der HU Berlin
    Für die Christen hatte Jerusalem als                      inne. Er ist Mitglied des Konstanzer Arbeitskreises für mittel­
Ort des Leidens und der Auferstehung                          alterliche Geschichte und der Academia Europaea. Seit 2017
Jesu zentrale Bedeutung. Zwar waren                           ist er Präsident des interdisziplinären Mediävistenverbandes,
die wichtigsten christlichen Gemein­                          seit 2016 Mitglied im Ausschuss des VHD.
12                                                 VHD JOURNAL       # 10   JULI 2021

                                                 ­ ebetsrichtung, zentrale Bedeutung. ten. In Qusayr ‘Amra ist die berühmte
                                                 G
                                                 Erst als Mohammed erkannte, dass die Darstellung der sechs Könige erhalten,
                                                 Juden das von ihm beanspruchte Pro­ die in einer Gruppe dem umayyadi­
                                                 phetenamt nicht anerkannten, legte er schen Weltherrscher gegenübertreten.
                                                 seine Geburtsstadt Mekka als Orientie­ Es ist bemerkenswert, dass die sechs
                                                 rungspunkt für das islamische Gebet Herrscher durch Inschriften in arabi­
                                                 fest, das zuvor nach Jerusalem ausge­ scher und griechischer Sprache iden­
                                                 richtet gewesen war. Nach islamischer tifiziert werden. Die vier noch lesbaren
                                                 Überlieferung war Jerusalem das Ziel Bezeichnungen wurden entziffert als
                                                 einer nächtlichen Reise Mohammeds, Kaisar, Rodorikos, Chosroes und Ne­
                                                 der vom Plateau des Tempelberges aus gus, sie beziehen sich also auf die Herr­
                                                 seine Himmelsreise unternommen ha­ scher von Byzanz, Spanien, Iran und
     Das beträchtlich zerstörte Fresko von den   ben soll. Als die Muslime im 7. Jahr­ Abessinien. Die zwei nicht mehr les­
     sechs Königen in Qusayr ‘Amra stammt       hundert den gesamten Nahen Osten baren Inschriften könnten sich auf den
     von einem unbekannten Künstler aus dem
     8. Jahr­hundert.                            eroberten und die umayyadischen Ka­ Khagan, das Oberhaupt der Turkvölker,
                                                 lifen ihre Hauptstadt in Damaskus etab­ oder den Kaiser von China bezogen
                                                 lierten, ließen sie auf dem Tempelberg ­haben, oder auch auf einen indischen
                                                 über dem heiligen Felsen, auf dem Abra­ Fürsten. Chosroes, der in der Mitte er­
                                                 ham zur Opferung seines Sohnes an­ scheint, nimmt als Primus inter Pares
                                                 gesetzt haben soll, den Felsendom er­ die Stellung des Anführers der huldi­
                                                 richten, ebenso unweit davon die al- genden Delegation ein; er symbolisiert
                                                 Aqsā-Moschee. Der H    aram al-Scharīf das persische Weltreich der Sassaniden,
                                                 bildet bis heute nach Mekka und Me­ das die Muslime, anders als das Ost­
                                                 dina die drittheiligste Stätte im Islam. römische Reich, vollständig erobert
                                                 Die Umayyaden mussten sich zum Zeit­ hatten. Mit der Errichtung des Felsen­
                                                 punkt der Errichtung der Bauwerke domes in Jerusalem hatten sich die
                                                 mit einem Gegenkalifat auf der Arabi­ Umayyaden durch Nachahmung by­
                                                 schen Halbinsel auseinandersetzen, wes­ zantinischer Vorbilder allerdings un­
                                                 halb die Vermutung besteht, dass sie in übersehbar zu ihrem Herrschafts­
                                                 Jerusalem ein neues Pilgerziel als Alter­ anspruch bekannt: Sie wollten auch
                                                 native zur Kaaba in Mekka etablieren das Byzantinische Reich erobern. Nie
                                                 wollten. Aber noch nicht einmal die zuvor war die Zentralität des Nahen
                                                 Umay­­yaden machten Jerusalem zu ih­ Ostens mit solch imperialem Gestus
      In Qusayr ‘Amra ist die berühmte          rer Hauptstadt, ebenso wenig wie nach­ zum Ausdruck gebracht worden.
         Darstellung der sechs Könige            folgende islamische Herrscher, die al­       Ähnlich zentral war die Stellung des
      erhalten, die in einer Gruppe dem          lenfalls für Bauten in der heiligen Stadt Heiligen Landes auf den mittelalter­
        umayyadischen Weltherrscher              sorgten: So ließen die osmanischen Sul­ lichen Weltkarten. Sowohl auf den
      gegenübertreten. Es ist bemerkens­         tane im 16. Jahr­hundert die noch heute ­einfachen, schematischen TO-Karten
        wert, dass die sechs Herrscher           bestehende Stadtmauer errichten, und als auch auf den darauf beruhenden,
      durch Inschriften in arabischer und        im 20. Jahr­hundert ließ der König von elaborierten Weltkarten des hohen Mit­
       griechischer Sprache iden­tifiziert       Jordanien, dessen Vorfahren jahrhun­ tel­a lters, wie der Ebstorfer Weltkarte
                    werden.                      dertelang als Scherifen die Schutzherr­ und dem Hereford Map, nimmt Jeru­
                                                 schaft über Mekka und Medina ausge­ salem die zentrale Position ein; der
                                                 übt hatten, nach der Vertreibung seiner Nahe Osten erscheint als Mittelpunkt
                                                 Familie durch das saudische Herrscher­ der Welt, wo sich die zentralen Ereig­
                                                 haus die Kuppel des Felsendoms neu nisse der Heilsgeschichte zugetragen
                                                 vergolden, womit er sich immerhin haben. In dieser Tradition stand auch
                                                 als Schutzherr der drittheiligsten Stätte der jüdische Gelehrte Abraham Cres­
                                                 des Islams in Szene zu setzen wusste.     ques, der im 14. Jahr­hundert auf Mal­
                                                     Die in Damaskus residierenden lorca für christliche Auftraggeber den
                                                 Umay­yaden ließen in der jordanischen Katalanischen Weltatlas gestaltete, der
                                                 Wüste in der ersten Hälfte des 8. Jahr­ den Raum von Westeuropa bis China
                                                 hunderts mehrere Jagdschlösser errich­ umfasst.
D er N ahe O sten als historischer R aum                                                   13

   An der zentralen religiösen Stellung
Jerusalems entzündeten sich vielfältige
Konflikte. In der Zeit Karls des Großen
stritten fränkische und orientchrist­
liche Mönche in Jerusalem über die
rechtgläubige Formulierung des Glau­
bensbekenntnisses. Bevor Karl den dor­
tigen Christen materielle Unterstützung
zukommen ließ, erteilte er den Auftrag,
den baulichen Zustand der Kirchen
und Klöster im Heiligen Land zu er­
heben; auf diese Weise brachte er sei­
nen Anspruch auf Schutzherrschaft
über die dortigen Christen zum Aus­       1099 Jerusalem erobern konnten. Zum        Die Ebstorfer Weltkarte war eine mittel­
druck. Vermutungen, er sei womöglich       ersten Mal seit biblischer Zeit wurde     alterliche Radkarte von ca. 3,57 m Durch­
                                                                                     messer mit Jerusalem als Mittelpunkt.
vom Kalifen Hārūn al-Raschīd mit die­      die Stadt wieder zur Hauptstadt eines     Das Original verbrannte während des
ser Position betraut wurden, entbehren     Herrschaftsgebietes, des bis 1291 be­     Zweiten Weltkriegs im Oktober 1943
allerdings jeder Grundlage. Für den        stehenden Königreichs Jerusalem. Für      bei einem Luftangriff auf Hannover.
Kalifen von Bagdad war der Karolinger      kulturelle Verflechtungsprozesse zwi­
nur ein untergeordneter Herrscher an       schen dem lateinischen Europa und der
der fernen Peripherie, dem er mit ei­      arabisch-islamischen Welt hatte der
nem indischen Elefanten ein impe­riales    Nahe Osten aber nur untergeordnete
Ehren­geschenk zukommen ließ, das          Bedeutung; Spanien und Sizilien waren
womöglich von einem Ehrengewand            in dieser Hinsicht wesentlich wirk­
begleitet war, mit dessen Überreichung     mäch­t iger, denn das Heilige Land war,
typischerweise ein hierarchisches Ver­     abgesehen von der kurzen Blüte unter
hältnis der Unterordnung zum Aus­          den Umayyaden, kein intellektuelles
druck gebracht wurde.                      und kulturelles Zentrum. Nur der Bet­
    Zu militärischer Gewaltanwendung       tel­orden der Karmeliter leitete seinen
kam es zwischen den Nachkommen            Ursprung von Eremiten am Berge Kar­
Hārūn al-Raschīds und den von ihnen        mel (und vom alttestamentlichen Pro­
eingesetzten seldschukischen Sultanen      phe­ten Elia) her; die Chorherren vom
sowie den schiitischen Fatimiden, die      Heiligen Grab gingen auf das Jerusa­
nicht nur vorübergehend die heiligen       lemer Kathedralkapitel zurück. Das
Stätten Mekka und Medina erobern           Heilige Land war zudem Ursprung
konnten, sondern auch Palästina. Die­      der lateinischen Ritterorden (Templer,
sen innerislamischen Auseinander­         ­Johanniter, Deutscher Orden), die zum
setzungen ist es vermutlich zuzuschrei­   Teil aus dortigen Hospitälern hervor­
ben, dass die lateinischen Kreuzfahrer     gegangen waren und eine institutio­
14                                                 VHD JOURNAL        # 10   JULI 2021

     nelle Innovation im Ordenswesen an­         sammenlebten. Jüdische Zentren waren
      stießen.                                   außerdem namentlich in Galiläa zu
          Erst durch den Ägyptenfeldzug Na­      finden, etwa in Safed, einem Zentrum
      po­léon Bonapartes 1798 rückte der         der Kabbala, aber auch am See Geneza­
     Nahe Osten wieder ins Blickfeld Euro­       reth, wo in Tiberias das Grab des Mai­
      pas. Nachdem 1830 Algerien erobert         monides besucht werden kann, des
     worden war, begannen französische           ­bedeutendsten jüdischen Philosophen
     Forscher 1841 mit der Edition der la­       des Mittelalters, der, aus Spanien stam­
     teinischen, griechischen und orientali­     mend, seine philosophischen Werke in
      schen Quellen zu den Kreuzzügen, zu­       arabischer Sprache verfasste, die ins
      sammengestellt im Monumentalwerk           Hebräische und Lateinische übersetzt
     des Recueil des Historiens des Croi­        wurden; sic dicit rabbi Moyses war die
      sades. Dem zeitbedingten orientalis­       Formel, mit der scholastische Philoso­
     tischen Blick entsprechend, richtete        phen sich auf ihn bezogen.
     die römisch-katholische Kirche 1847             Gewaltsame Konflikte wurden in
      ein eigenes, lateinisches Patriarchat      aller Regel von außen in die Region
     in Jerusalem ein, das den dortigen au­      hin­eingetragen. Dies zeigte sich beson­
     toch­t honen Patriarchaten Konkurrenz       ders nach dem Ersten Weltkrieg, als
     machte. Im Zuge antijüdischer Pogro­        semikoloniale Mandatsgebiete etab­
     ­me im Zarenreich kam es seit dem aus­      liert wurden, die häufig ohne Sach­
     gehenden 19. Jahr­hundert zu mehreren       kenntnis auf dem Reißbrett entworfen
     jüdischen Einwanderungswellen. 1898         worden waren. Als nach dem Holo­
     unternahm Wilhelm II. eine Pilger­          caust auf Beschluss der Vereinten Na­          Gewaltsame Konflikte wurden in
      fahrt ins Heilige Land, die ihn auch       tionen das britische Mandatsgebiet Pa­        aller Regel von außen in die Region
     nach Konstantinopel und Damaskus            lästina zwischen Juden und Arabern              ­hineingetragen. Dies zeigte sich
      führte, wo er das Grab Saladins be­        geteilt werden sollte, nahm die jüdi­        besonders nach dem Ersten Weltkrieg,
      suchte, der als vermeintlicher muslimi­    sche Seite den Vorschlag an, wohinge­          als semikoloniale Mandatsgebiete
      scher Ritter vereinnahmt wurde. Für        gen die arabischen Staaten Israel um­              etabliert wurden, die häufig
      seinen Einzug in Jerusalem, den der        gehend den Krieg erklärten. Schon 1917       ohne Sachkenntnis auf dem Reißbrett
     Kaiser hoch zu Ross vollziehen wollte,      hatte der britische Außenminister Bal­               entworfen worden waren.
      ließ man die osmanische Stadtmauer         four den Juden in Palästina eine
     neben dem Jaffator an einer Stelle ein­     »Heimstatt« in Aussicht gestellt, die
     reißen. In Jerusalem weihte der deut­       aber erst mit der israelischen Unab­
      sche Kaiser in der Nähe der Grabes­        hängigkeitserklärung 1948 Wirklich­
      kirche die evangelische Erlöserkirche      keit wurde. Von israelischer Seite wird
      ein, die exakt auf den Grundmauern         immer wieder darauf hingewiesen,
      einer mittelalterlichen Kirche errichtet   dass erst die Juden Jerusalem wieder
     worden war, die mit den Ursprüngen          zur politischen Hauptstadt eines Ge­
     des Johan­n iterordens in Verbindung        meinwesens machten, was während
     gebracht wird. Auf dem Ölberg ließ          der jahrhundertelangen muslimischen
      er die Auguste Victoria-Stiftung mit       Herrschaft nie erfolgt war. Die Tat­sache,
     Himmel­fahrtskirche errichten, in der       dass auch die arabischen Einwohner
     das Kai­ser­paar bis heute auf Bildern      Palästinas mittlerweile den Anspruch
      präsent ist, umringt von Kreuzfahrer­      erhoben, eine Nation zu sein, verdeut­
      herrschern des Mittelalters.               licht einmal mehr, zu welchen Konflik­
          Jahrhundertelang waren Jerusalem       ten und Spannungen die Übernahme
     und der Nahe Osten Spielball und Pro­       europäischer Ordnungsvorstellungen
     jektionsfläche auswärtiger Interessen.      geführt hat, die seit dem Anfang des
     Tatsächlich gab es über alle Jahrhun­       19. Jahr­hunderts von verschiedenen Sei­
     derte jüdische, christliche und mus­        ten in den Nahen Osten hineingetra­
      limische Einwohner, die im Alltag in       gen wurden. 
      arabischer Sprache miteinander ver­
      kehrten und auch zumeist friedlich zu­
Neue Titel aus dem Wallstein Verlag!
                        Wie nahe kamen die Hohen-                                       »Herfs detaillierte und material-
                        zollern der NS-Bewegung? –                                      reiche Studie ist ein wichtiger
                        Neue Fakten zu einer aktuellen                                  Beitrag zur Diskussion über
                        Debatte.                                                        Antisemitismus in der Linken.«
                                                                                                    Stephan Grigat, taz
                        Jacco Pekelder, Joep Schenk
                        und Cornelis van der Bas                                        Jeffrey Herf
                        Der Kaiser und das »Dritte Reich«                               Unerklärte Kriege gegen Israel
                        Die Hohenzollern zwischen Restau-                               Die DDR und die westdeutsche
                        ration und Nationalsozialismus                                  radikale Linke, 1967-1989
                        136 S., 61 Abb., geb.                                           518 S., 19 Abb., geb., Schutzumschlag
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                 2.     ISBN 978-3-8353-3956-9                                   2.     ISBN 978-3-8353-3484-7
                Aufl.                                                           Aufl.

                        Die Bedeutung von Emotionen                                     Sind Gedenkstättenbesuche von
                        in der katalanischen                                            Schülerinnen und Schülern in
                        Unabhängigkeitsbewegung.                                        Auschwitz-Birkenau zielführend?

                        Birgit Aschmann                                                 Christian Kuchler
                        Beziehungskrisen                                                Lernort Auschwitz
                        Eine Emotionsgeschichte                                         Geschichte und Rezeption
                        des katalanischen Separatismus                                  schulischer Gedenkstättenfahrten
                        264 S., 10 Abb.,                                                1980 – 2019
                        geb., Schutzumschlag                                            275 S., 13 Abb., brosch.
                        24,00 € (D); 24,70 € (A)                                        26,00 € (D); 26,80 € (A)
                        ISBN 978-3-8353-3840-1                                          ISBN 978-3-8353-3897-5

                        Ein Beitrag zur Etablierung                                     Die Chancen und ideologischen
                        der Israel-Studien in der deut-                                 Gefahren der Arbeit mit rezentem
                        schen Wissenschaftslandschaft.                                  und altem Genommaterial am
                                                                                        Beispiel der Völkerwanderung.
                        Israel-Studien
                        Geschichte – Methoden –                                         Patrick J. Geary
                        Paradigmen                                                      Herausforderungen und Gefahren
                        Hg. von Johannes Becke,                                         der Integration von Genomdaten in
                        Michael Brenner, Daniel Mahla                                   die Erforschung der frühmittelalter-
                                                                                        lichen Geschichte
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                        ISBN 978-3-8353-3451-9                                          16,00 € (D); 16,50 € (A)
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                        Unser vollständiges Programm zur Geschichte finden Sie auf
                        www.wallstein-verlag.de/buecher/geschichte-1.html
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A LT E GE S CHICH T E
                                             IN ISR A EL

   Historische Lehre und Forschung in Ägide von Ulrich Wilcken geschrieben
Israel hat als akademische Disziplin worden. Sie wurde zwei Jahre später
ihre Wurzeln im Europa der ersten als ein Supplementband der Zeitschrift
Jahrzehnte des 20. Jahr­hunderts, per­ »Philologus« publiziert. Der dritte
sonell und damit auch sachlich und Gründervater, Hans bzw. Yohanan
konzeptionell. Das zeigt sich mit aller Lewy, seit 1933 in Jerusalem, war in
Prägnanz, wenn man auf die 1925 er­ Berlin geboren. Seine Doktorarbeit
folgte Gründung der ersten Universität über antike Mystik im Jahr 1926 hatte
im damaligen britischen Mandats­ Werner Jaeger betreut. Über die beiden
gebiet, die heutige Hebrew University Erstgenannten schrieb Moshe Zimmer­                    Historische Lehre und Forschung
(HU), schaut. Viele Personen, die da­ mann, sie seien »die Väter der Abtei­ in Israel hat als akademische Disziplin
mals als akademische Lehrer am Auf­ lung für Alte Geschichte und so die                     ihre Wurzeln im Europa der ersten
bau der Universität beteiligt waren, ka­ Wegweiser für die israelische Ge­                    Jahrzehnte des 20. Jahr­hunderts,
men aus wissenschaftlichen Institu­ schichtsschreibung in diesem Bereich« personell und damit auch sachlich und
tionen Westeuropas, in nicht geringer geworden. So sei »der Charakter der                                  konzeptionell.
Zahl auch aus Deutschland. Mit be­ Alten Geschichte in Jerusalem, das
sonderer Klarheit ist dies an der klassi­ heißt in Palästina […] ›deutsch‹ geblie­
schen Altertumswissenschaft (Classics) ben.«1 Das gilt jedenfalls bis in die spä­
an der neuen Hochschule zu erkennen, ten 1950er-Jahre, als sich auch die Alte
die seit 1933 als eigenes Department Geschichte mehr und mehr nach Eng­
in der 1928 eingerichteten Faculty of land und den USA ausrichtete, wo sehr
Humanities ihren Platz gefunden hat. bald der akademische Nachwuchs Stu­
In ihr bildete die Alte Geschichte von dienzeiten verbrachte und noch heute
Anfang an einen zentralen Teil.
    Schon im Anfangsjahr war Max bzw.
                                                                W ERNER ECK
Moshe Schwabe in dieser Disziplin tä­
tig. Geboren in Halle, hat er in Berlin                         Werner Eck ist emeritierter Professor für Alte Geschichte an der
Klassische Philologie studiert, unter                           Universität zu Köln. Schwerpunkte seiner Forschung sind die
anderem bei dem Gräzisten Ulrich von                            römische Kaiserzeit einschließlich der Prosopografie der Zeit,
Wilamowitz-Moellendorff, der seine                              die Spät­antike, die Geschichte der römischen Provinz Judäa
Dissertation über den spätantiken                               sowie die römische Epigrafik. Er ist Mitherausgeber der
Redner Libanius betreut hat. Ebenfalls                          »Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik«. Von 1993 bis 2015
über Berlin kam der in Petersburg ge­                           war er Projektleiter der Prosopographia Imperii Romani an
borene Victor bzw. Avigdor Tcheriko­                            der BBAW, ebenso von 2007 bis 2018 des Corpus Inscriptionum
ver nach Palästina. Seine Dissertation                          Latinarum. Zusammen mit Kollegen aus Jerusalem, Tel Aviv
»Die Hellenistischen Städtegründun­                             und Köln erarbeitet er das Cor­p us Inscriptionum Iudaeae /
gen von Alexander dem Großen bis auf                            Palaestinae (I – VI). Er ist Dr. h. c. der Universitäten Cluj und
die Römerzeit« war in Berlin unter der                          Kassel sowie der Hebrew University Jerusalem.
D er N ahe O sten als historischer R aum                                                       17

verbringt. Seitdem ist Englisch auch         vielmehr einen Gesamtcorpus aller epi­
die dominante Publikationssprache.           grafischen Texte, die sich auf das Juden­
Ein äußerliches Relikt der frühen deut­      tum bezogen, schaffen.
schen Prägung ist allerdings bis heute          Tcherikover wandte sich dagegen
geblieben: Fakultätssitzungen finden         den Papyri zu, woraus das Corpus Papy­
an der HU immer noch am Mittwoch­            rorum Judaicarum entstand. Aus die­
nachmittag statt.                            sem Bemühen um die Totalität der
                                             Überlieferung resultiert sodann – ne­
                                             ben der aus Europa mitgebrachten Ver­
       QUELLEN SAMMELN                       zahnung der Alten Geschichte mit der
                                             klassischen Philologie, die sich noch
Zwei Merkmale der Alten Geschichte           heute in der Organisation der Israel
in Israel treten bei diesen ersten Ver­      Classical Society zeigt –, fast zwingend
tretern des Faches hervor. Zum einen         die oft sehr enge Verbindung mit den
findet sich, wie Zimmermann betont           Einrichtungen der Archäologie sowie
hat, »eine nationale, sogar palästino-­      den Departments für Jewish History
zentrische Behandlung der jüdischen          mit ihren jeweiligen Schwerpunkten,
Geschichte«,2 die allerdings heute           vor allem, soweit diese Mischna und         Im Schrein des Buches (links oben) – einem
kaum noch eine Rolle spielt. Doch da­        Talmud sind. Daraus entwickelten sich       Gebäude, das zum Israel-Museum in Jeru­
                                                                                         salem gehört –, werden antike Schriftrollen
mit war damals das zweite Merkmal            zwei inhaltliche Schwerpunkte. Die          aufbewahrt, unter anderem die Qumran-­
eng verbunden: das Bemühen, die sehr         Alte Geschichte blickt auf der Basis der    Handschriften (Fragment der Tempelrolle,
unterschiedlichen Quellen nicht litera­      tradierten griechisch-römischen Auto­       rechts oben), deren Entdeckung Mitte des
                                                                                         20. Jahr­hunderts einen Erkenntnisschub in
rischer Natur zur jüdischen Geschichte       ren auf die jüdische Geschichte der         der Forschung auslöste. Zu einem Identifi­
in Israel zu sammeln: Münzen, Papyri,        Zeit zwischen Alexander dem Großen          kationsort für Israel hat sich die herodia­
Inschriften und archäologische Relikte       und dem Ende der römischen Herr­            nische Festung von Masada (rechts unten)
jeder Art, ein Merkmal, das bis heute        schaft im Nahen Osten, wobei sie die        entwickelt.

seine Attraktivität an fast allen israeli­   Erkenntnisse der Grundlagendiszipli­
schen Universitäten nicht verloren hat.      nen wie Epigrafik, Numismatik, Papy­
Denn diese Quellen vermitteln zeitglei­      rologie und Archäologie einbezieht.
che Informationen, die nicht durch die       Dagegen sehen Forscher, die sich vor
literarische Tradition gefiltert und vor­    allem mit den seit Anfang des 3. Jahr­
interpretiert sind. Schwabe sammelte         hunderts n. Chr. entstehenden Quellen
nicht nur die Inschriften aus der großen     wie Mischna, Talmud und verwandten
Nekropole von Bet Shearim, er wollte         Schriften befassen, aus der innerjüdi­
18                                                   VHD JOURNAL          # 10    JULI 2021

                                                   schen Sicht auf das Judentum, wie es Department schloss Vertreter der Al­
                                                   sich nach dem Verlust des Jerusalemer ten Geschichte ein, die aber teilweise
                                                   Tempels bis zur arabischen Eroberung dem History Department angehörten.
                                                   der Region im Bereich des heutigen Is­ Auch die Klassischen Archäologen wa­
         Dass dabei die Aspekte, die die           rael sowie in der östlichen Diaspora ren lange Teil des Classics Department,
      Vergangenheit des eigenen Landes             entwickelt hat. In der konkreten For­ was zumindest partiell zu einer engen
         betreffen, stärker hervortreten,          schung führte das von Anfang an Verzahnung führte, etwa bei der Erfor­
     ist nicht über­raschend. Das zeigt sich       zu deutlichen Überschneidungen zwi­ schung der Verkehrswege in römischer
      etwa in Forschungen zur Politik der          schen den beiden Disziplinen, die bis Zeit, getragen einerseits von dem
     Seleukiden und Ptolemäer gegenüber            heute zu beobachten sind, trotz der Althistoriker Benjamin Isaac und an­
         dem jüdischen Siedlungsgebiet,            me­t ho­d ischen Problematik, die damit dererseits dem Archäologen Israel Roll.
     gestützt auf die Makkabäerbücher des          einhergeht.                              Im Lauf der Jahre ist das Fach in Tel
     Alten Testaments und die Antiquitates                                                  Aviv stark gewachsen. Seine Vertreter
         des Flavius Josephus, in denen                                                     haben fast flächendeckend die griechi­
     die jüdische Sichtweise überliefert ist.        UNIVERSITÄTSGRÜNDUNGEN                 sche, hellenistische und römische Ge­
                                                                                            schichte in Lehre und Forschung ver­
                                                   Im Jahr 1955 wurde offiziell die Univer­ treten, letztlich von der mykenischen
                                                   sität in Tel Aviv gegründet, wo 1956 Zvi Periode bis in die byzantinische Zeit.
                                                   Yavetz, der im Jahr zuvor an der HU in      In den anderen Neugründungen, in
                                                   Jerusalem mit einer Arbeit über die Ramat-Gan an der Bar Ilan University
                                                   Plebs urbana promoviert worden war, (1955), in Beer Sheva (1969) und Haifa
                                                   als erster Althistoriker in einem His­ (1972), hat die traditionelle Verbindung
                                                   tory Department, nicht in Classics tä­ mit der Klassischen Philologie, in die
                                                   tig wurde. Er war als Dean of Humani­ das Fach an der HU und auch noch in
                                                   ties intensiv an der Entwicklung dieser Tel Aviv integriert war, nur noch in Bar
                                                   Abteilung beteiligt, die sich schnell in Ilan eine gewisse Rolle gespielt. Die Alte
                                                   viele Richtungen hin entwickelte. Auch Geschichte wurde vor allem Teil des
                                                   das bald darauf entstehende Classics General History Department an der

        EIN KUR ZER BL ICK AUF SY RIEN AUS A
                                           ­ LT HIS T ORIS CHER PERSPEK T I V E

       Die alternativen Namen für die meh­         »Syrien« zugrunde, deren Ursprünge
       rere Staaten übergreifende küstennahe       aus europäischer Sicht in der Zeit
       Region östlich des Mittelmeers führen       der griechischen Archaik liegen, in der
       vor Augen, dass es keine neutralen,         das Gebiet die Kontaktzone der Grie­
       im Sinne von geschichtslosen, Bezeich­      chen mit dem expandierenden Imperium
       nungen für geografische Regionen gibt       der Assyrer war. Vermittelt über die
       und diese stets etwas über den Stand­       griechische Historiografie und Geografie
                                                                                              OL E JOH A NNSEN
       ort des Bezeichnenden mitteilen.            fand sich die Bezeichnung als »Syrien
       Dies gilt für den Begriff »Syrien«, mit     und Phönikien« nach den Eroberungs­        Ole Johannsen studierte Geschichte
       dem umgangssprachlich und gemäß             zügen Alexanders des Großen in der         mit Schwerpunkt Alte Geschichte,
       geschichtswissenschaftlicher Diktion        Verwaltungssprache der Diadochen­          Bio­logische Anthropologie und Öffent­
       nicht nur die »Arabische Republik           reiche und anschließend im Namen           liches Recht in Hannover, Perugia
       Syrien«, sondern der ganze Land­            der römischen Provinz Syria wieder.        und an der Albert-Ludwigs-Universität
       streifen bezeichnet werden kann, eben­      In dieser Tradition verweist der Name      Freiburg, wo er im März 2020 mit
       ­so wie für den Namen »Levante« – also      »Syrien« somit auch auf eine für das       einer Arbeit zur imperialen Herrschaft
       »Sonnenaufgang« oder »Osten«. Bei           historische Geschehen in der Region        der ptole­mäischen Dynastie im 3.
       ihm klingt die eurozentrische Perspek­      stets wiederkehrende Konstellation,        und 2. Jahr­hundert v. Chr. (»Konnek­
       tive der italienischen Seefahrer des        die sie geprägt hat: die Herrschaft von    tivität, Kon­kurrenz und Kooperation.
       Mittelalters, auf die er zurückgeht, noch   außen, bzw. die Fremdherrschaft, der       Studien zur Herrschaft der Ptolemäer
       unmittelbar durch. Eine Fremdperspek­       das Gebiet als Bestandteil sich ab­wech­   in der süd­lichen Levante«) promo­
       tive liegt auch der Bezeichnung als         selnder Imperien unterworfen war.          viert wurde.
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