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Kölner Impulse zur Wirtschaftspolitik Nr. 1/2022 | 04. Januar 2022 Mit dieser Ausgabe… Aktuelles aus dem iwp … hoffen wir, einen interessanten und ver- Die diesjährige Ringvorlesung zum Thema ständlichen Einblick in ausgewählte Themen „Die Wirtschaftspolitik vor, während und des Koalitionsvertrags und zu diesen Aspek- nach der Coronakrise“ geht im neuen Jahr weiter. ten zugleich nachvollziehbare Diskussions- Um jeweils aktuelle Hinweise zum Veran- anregungen zu geben. staltungsort zu erhalten, bitten wir um An- meldung per Mail an Christian Müller. (christian.mueller@wiso.uni-koeln.de) Nächster Termin am 10.01.2021: „Wie kann das Gesundheitssystem resili- enter werden?“ mit Prof. Dr. Beate Jochimsen (SVR Gesundheit & HWR Berlin) Weitere Infos zur Veranstaltungsreihe: https://iwp.uni-koeln.de/ Im Januar wurde gerade die Ausgabe 3/2021 der Zeitschrift für Wirtschaftspolitik ausgeliefert. Im Wirtschaftspolitischen Fo- rum geht es um „Schäden durch Naturka- tastrophen – Wie sollten Schäden an priva- ten Wohngebäuden zukünftig abgesichert sein?“ Kölner Impulse zur Wirtschaftspolitik | Nr. 1/2022 www.iwp.uni-koeln.de | 1
Eine Kommentierung wagen – Schlaglichter auf den Koalitionsvertrag Von Ann-Kristin Becker, Michael Krause, Theresa Markefke, Felix Mindl, Christoph Oslislo & Steffen Roth Zum Jahresbeginn 2022 stehen wir in der pande- (Kapitel VIII). In den Kapiteln VI („Freiheit und Si- mischen Krise des Covid-19 Virus gefühlt an einer cherheit, Gleichstellung und Vielfalt in der moder- ähnlichen Stelle wie 12 Monate zuvor. In der Wirt- nen Demokratie“) und VII („Deutschlands Verant- schaftspolitik allerdings wird sich nach 16-jähriger wortung für Europa und die Welt“) des Koalitions- Amtszeit von Angela Merkel wohl einiges an Ver- vertrags stehen eher politische als ökonomische änderungen ergeben. Die Ampelparteien haben Fragen im Vordergrund, weshalb die Ausführun- gen in den Kapiteln in diesem Beitrag eine unter- ihre Arbeit aufgenommen und versprechen, mehr geordnete Rolle spielen. Fortschritt zu wagen. Wir hoffen, mit diesem Im- puls einen interessanten und verständlichen Ein- Kapitel II des Koalitionsvertrags blick in ausgewählte Themen des Koalitionsver- ist mit „Moderner Staat, digita- trags und zu diesen Aspekten zugleich nachvoll- ler Aufbruch und Innovationen“ ziehbare Diskussionsanregungen zu geben. überschrieben (139 ff.): „Wir ha- ben Lust auf Neues“, ruft es den Um unseren Leserinnen und Lesern außerdem Bürgerinnen und Bürgern hier den Einstieg und die Orientierung für ihre eigene entgegen (157). Versucht man ein Destillat dieser Betrachtung zu ebnen, finden Sie die von uns auf- vollmundigen Ankündigung zu gewinnen bleibt gegriffenen Textstellen durch Angabe der Zeilen- allerdings wenig Konkretes und wenig Originelles nummern in der im Internet verfügbaren Fassung übrig. So verkündet der Vertrag in diesen Ab- des Vertrags wieder, die wir zugrunde gelegt ha- schnitten etwa, man werde „Planungs- und Ge- ben.¹ Der Struktur des Koalitionsvertrags fol- nehmigungsverfahren modernisieren, entbürokra- gend, beginnen wir mit dem Thema Digitalisie- tisieren und digitalisieren“ um Entscheidungen rung (Kapitel II). Anschließend beschäftigen wir und Umsetzungen des Infrastrukturausbaus zu uns mit Kapitel III, das die Koalitionäre der beschleunigen (148-149). Was ist damit gemeint? Klimapolitik gewidmet haben. Es folgt unsere Die Abschaffung der zum Sinnbild gewordenen Kommentierung der Ausführungen zu den The- Faxgeräte in den Gesundheitsämtern? Besser vor- men Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, Pflege und stellbar, aber eben auch deutlich biederer, klingt Gesundheit sowie Bauen und Wohnen (Kapitel der letzte Punkt in der Aufzählung der Schritte, IV). An unsere Impulse zu den angekündigten Vor- die der Beschleunigung der Verfahren dienen haben in der Familien- und Bildungspolitik (Kapi- könnten: Man werde außerdem „Personalkapazi- tel V), schließen sich Kommentare zu den fiskal- täten verbessern“ (150). Das passt auch zum politischen Ausführungen im Koalitionsvertrag an ___________________________________________________________________________________________________ 11 Die hier auffindbare Fassung des Vertrages ist außerdem per Freitextsuche durchsuchbar: https://fragdenstaat.de/dokumente/142083-koalitionsvertrag-2021-2025/ Kölner Impulse zur Wirtschaftspolitik | Nr. 1/2022 www.iwp.uni-koeln.de | 2
„starken Öffentlichen Dienst“, den die Ampelpar- 416). In der Vergangenheit wurden solche Regio- teien „attraktiver gestalten“ wollen (184-185). nen durch die sogenannte Aufgreifschwelle iden- tifiziert, d.h. man definierte Mindestübertra- Direktdemokratisch und tatsächlich nach Teil- gungsraten. Das kleinschrittige Anheben der Auf- habe klingen nicht nur die „Bürgerräte zu konkre- greifschwelle hat allerdings dazu geführt, dass ten Fragestellungen“ (212-213) und „dialogische Netzbetreiber die bestehenden Kupferleitungen Bürgerbeteiligungsverfahren“ (300), sondern durch technische Neuerungen wie bspw. das Vec- auch das Vorhaben, „Planungen schneller und ef- toring zu höheren Leistungen gebracht haben, fektiver“ zu machen, „indem wir Bürgerinnen und statt sie direkt gegen die sehr viel teureren aber Bürger früher beteiligen“ (150-151). Frühere und mittelfristig vielversprechenderen Glasfaserkabel vereinfachte Beteiligung führt allerdings in der auszutauschen. Im Sinne des Glasfaserausbaus Regel zunächst einmal zu mehr Beteiligung. Min- soll nun unabhängig von der Aufgreifschwelle destens vordergründig erhöht dies die Entschei- Nachholbedarf mittels einer Potenzialanalyse dungsfindungskosten und verursacht einen grö- aufgezeigt werden (421-422). Wie eine solche Po- ßeren Bearbeitungsaufwand. Nur wenn dadurch tenzialanalyse ausgestaltet werden kann und ob ernsthafte Bedenken früh erkannt, mögliche Al- der Zeitaufwand im Verhältnis steht, bleibt im ternativen abgewogen und somit spätere Ein- Vertrag allerdings offen. Immerhin werden mit sprüche vermieden werden, kann dieser Baustein der Erwähnung einer „Förderung mittels Vou- zu einer schnelleren Planung und vor allem zu cher“ (425) und der Möglichkeit „negativer Aukti- durchführbaren Projekten führen. Der Erfolg onen“ (427) Überlegungen zur Nutzung innovati- hängt also maßgeblich davon ab, inwiefern die ver Förderinstrumente angedeutet. Um das Po- frühe Bürgerbeteiligung die Wahrscheinlichkeit tenzial der Glasfaser zu nutzen und von den be- späterer Einwände schmälert. In diese Richtung reits bestehenden Glasfaserleitungen zu profitie- geht vielleicht das Vorhaben, „bei Planänderun- ren, plant die Regierung den „Open Access“ zu er- gen nach Bürgerbeteiligung nur noch neu Be- möglichen. Gemeint ist, dass verschiedene Wett- troffene zu beteiligen und Einwendungen nur mehr bewerber auf bestehende Netze zugreifen und gegen Planänderungen zuzulassen“ (319-320). Das auf unnötige Doppelverlegung verzichten kön- wirkt allerdings dann auch eher weniger partizi- nen. Laut Koalitionsvertrag sollen „faire Bedin- pativ. Man wird sehen, wie die Rechnung auf dem gungen“ für „Investitionsschutz“ sorgen, falls nö- schmalen Grat zwischen den Wünschen nach be- tig behält sich die Regierung jedoch vor, den offe- schleunigten Verfahren und stärkerer Bürgerbe- nen Zugang regulatorisch durchzusetzen (417). teiligung aufgeht. Hier ist Vorsicht geboten und Fingerspitzengefühl gefragt. Während die gemeinsame Nutzung be- Dass die „digitale Infrastruktur“ (413 ff.) Deutsch- stehender Leitungen aus Effizienzgründen sinn- lands noch immer weit von einer internationalen voll ist, sollte die Durchsetzung vor allem durch Konkurrenzfähigkeit entfernt ist, ist ein offenes positive Anreize angestrebt werden. Ein nicht als Geheimnis. Auch nach jahrzehntelangen Ankündi- ausreichend empfundener Investitionsschutz bei gungen vorheriger Regierungen, die Versäum- regulatorisch durchgesetztem Open Access nisse nun aber wirklich entschlossen anzugehen, könnte private Investorinnen und Investoren ab- rangiert Deutschland beim Anteil der Glasfaseran- schrecken und dem Ziel des beschleunigten Netz- schlüsse an allen stationären Betriebsanschlüs- ausbaus erneut entgegenwirken. sen auf dem viertletzten Platz im OECD Ranking. Die neue Regierung setzt sich erneut die „flächen- Unter dem Schlagwort „digitaler Bürgerrechte“ deckende Versorgung mit Glasfaser und dem neus- versprechen die Koalitionäre nicht nur abstrakt, ten Mobilfunkstandard“ zum Ziel (414-415). Dabei „die digitale Souveränität“ der Bürgerinnen und sieht sie vor, den eigenwirtschaftlichen Ausbau Bürger zu sichern, sondern konkretisieren dies zu priorisieren. Gefördert werden soll vor allem u.a. mit einem „Recht auf Interoperabilität und dort, „wo der Nachholbedarf am größten ist“ (415- Portabilität sowie das Setzen auf offene Stan- Kölner Impulse zur Wirtschaftspolitik | Nr. 1/2022 www.iwp.uni-koeln.de | 3
dards“ (439-440). Solche Vorgaben sind aus öko- Im Rahmen eines sog. „Klimachecks“ muss zu- nomischer Sicht zugleich geeignet, die Markt- künftig jeder neue Gesetzesentwurf auf „die Ver- macht großer Messengerdienste wie Whatsapp einbarkeit mit den nationalen Klimaschutzzielen“ und Social-Media-Plattformen wie Facebook und überprüft werden (1776-1777). Dieses Vorgehen Twitter zu begrenzen und so den Wettbewerb entspricht zwar nicht dem von den Grünen ur- aufrecht zu erhalten oder zu ermöglichen. Um die sprünglich verlangten Vetorecht des Klimares- Interoperabilität zu gewährleisten, werden aller- sorts, ist allerdings tatsächlich als Schritt in Rich- dings gemeinsame Standards notwendig sein. tung „Klimaschutz als Querschnittsaufgabe“ Sich auf solche zu einigen und diese technisch (1775) zu verstehen. Allerdings soll diese Einschät- umzusetzen ist keine triviale Aufgabe. Besonders zung nicht zentral, sondern dezentral in den je- wichtig ist hierbei, dass man sich nicht bei dem weiligen Ressorts erfolgen. Unterschiedliche Ein- kleinsten gemeinsamen Nenner in Punkto Sicher- schätzungen aufgrund von uneinheitlichen Stan- heit und Datenschutz trifft. Dazu führt die neue dards können daher die Vergleichbarkeit der Be- Regierung aus, dass „das Kommunikationsge- urteilungen gefährden. Auf der anderen Seite heimnis, ein hoher Datenschutz und hohe IT-Sicher- könnten durch die Klimachecks ressortübergrei- heit sowie eine durchgängige Ende-zu-Ende-Ver- fende Abstimmungen über eben solche Stan- schlüsselung sichergestellt“ würden (954-955). dards systematisch in Gang kommen. Anhand dieser Aspekte wird der Erfolg einer ver- pflichtenden Interoperabilität gemessen werden Für den Verkehrssektor – den einzigen Sektor, in müssen. Fraglich ist, ob in der Folge Dienste wie dem die Treibhausgasemissionen seit 1990 nicht bspw. Threema, welche besonders hohen Wert zurückgegangen sind – wurden äußerst ambitio- auf Datenschutz legen, aus dem Markt gedrängt nierte Ziele formuliert. „Gemäß den Vorschlägen werden und was solche Effekte wiederum für die der Europäischen Kommission werden […] in Eu- Wettbewerbsintensität auf digitalen Märkten be- ropa [ab] 2035 nur noch CO2-neutrale Fahrzeuge deuten würden. zugelassen“ (1646-1647). Die Ampelparteien stel- len dieses Ziel nicht in Frage. Allerdings kann ein Dem „Klimaschutz in einer so- reines Verbot von Neuzulassungen weder verhin- zial-ökologischen Marktwirt- dern, dass Altfahrzeuge länger gefahren werden, schaft“ (702 ff.) haben die Koali- noch, dass es zu Vorzugseffekten kommt und die tionäre das mit Abstand längste Ankündigung des Verbotes dazu führt, dass kurz Kapitel III gewidmet. Ganze 198- vorher sogar mehr Verbrenner gekauft werden. mal kommt das Wort „Klima“ in Derartige, den eigentlichen Zielen zuwiderlau- dem 174-seitigen Dokument vor, die Klimaschutz- fende Verhaltensanpassungen sind wahrschein- ziele von Paris werden bereits in der Präambel als lich, solange perspektivisch nicht klar ist, wann „oberste Priorität“ bezeichnet (52). Festzuhalten sich alternative Antriebe finanziell ohnehin loh- bleibt allerdings zunächst, dass sich die großen nen. Vielleicht aus diesem Grund setzt die neue Oberziele mit denen decken, die ohnehin schon Regierung parallel auf die Ausweitung der E-Mo- auf der EU-Ebene sowie von der alten Regierung bilität und verkündet, bereits 2030 sollten „min- im Klimaschutzgesetz festgehalten worden wa- destens 15 Millionen vollelektrische Pkw“ (797- ren: „Dekarbonisierung [der Wirtschaft] zur Ein- 798) auf den deutschen Straßen unterwegs sein. haltung des 1,5-Grad-Pfads“ (707) und „Klimaneut- Dies entspräche etwa einem Drittel der KFZs auf ralität spätestens 2045“ (1764). Die große Koali- deutschen Straßen. Die Vorgängerregierung der tion wurde dafür kritisiert, dass kaum konkrete Großen Koalition war hier mit dem Ziel von nur 10 Maßnahmen festgelegt wurden. Leider gehen die Millionen elektrisch unterstützten Fahrzeugen Formulierungen allerdings auch in diesem Vertrag (wohlgemerkt also inklusive Hybridantriebe) weit an vielen Stellen nicht über vage – wenngleich weniger ambitioniert. Ehrgeiz alleine genügt aber teilweise ambitionierte – Absichtserklärungen auch hier nicht, man braucht auch realistische hinaus. Ideen zur Umsetzung der Ziele. Deutschland zum Kölner Impulse zur Wirtschaftspolitik | Nr. 1/2022 www.iwp.uni-koeln.de | 4
„Leitmarkt für Elektromobilität“ (1643) zu ma- Maßnahmen (wie z.B. Zertifikatelöschung oder chen und 15 Millionen vollelektrische PKW bis Mindestpreis etc.)“ ergreifen, „damit der CO2- 2030 zuzulassen würde laut Überschlagsrech- Preis langfristig nicht unter 60 Euro/Tonne fällt“ nung des Energiewirtschaftlichen Instituts an der (2042-2043). Auf Basis dieser Festlegung kann mit Uni Köln erfordern, dass bis 2025 83% und bis 2030 sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegan- 94% aller Neuzulassungen auf rein batteriebetrie- gen werden, dass Kohle bis 2030 ohne weiteres bene Fahrzeuge entfallen. Leider bleiben die Aus- Zutun alleine aufgrund der Preissignale aus dem führungen zu den dafür sicherlich erforderlichen deutschen Energiemarkt gedrängt wird. Dass die konkreten Schritten äußerst vage. Zwar soll der Koalitionäre hier ordnungspolitisch systematisch „vorauslaufende Ausbau der Ladeinfrastruktur“ auf Marktmechanismen setzen, statt ein gesetzli- (1655) ressortübergreifend beschleunigt und ent- ches Verbot auszusprechen, wie es die oben er- bürokratisiert werden. Über weitere Anreize zum wähnten Kabarettisten offenbar für vorzugswür- Kauf der immer noch verhältnismäßig teuren E- dig halten, ist nicht nur prinzipiell der Sozialen Autos nach Auslaufen der Innovationsprämie Marktwirtschaft angemessen, sondern auch inso- 2025 ist aber noch nichts bekannt. Ähnlich unkon- fern clever, als dass auf diese Weise weitere teure kret bleiben die Maßnahmen, die zu dem Ziel füh- Entschädigungszahlungen für die Kraftwerksbe- ren sollen, dass bis 2030 die Verkehrsleistung des treiber vermieden werden können. öffentlichen Personenverkehrs verdoppelt wird (1572-1573): „Sofern haushalterisch machbar, soll Vor dem Hintergrund der ehrgeizigen Ausbau- die Nutzung der Schiene günstiger werden, um die ziele für Elektroautos und der installierten Leis- Wettbewerbsfähigkeit der Bahnen“ (1574-1575) tung von Elektrolyseuren zur Wasserstoffgewin- gegenüber dem Individualverkehr zu stärken. nung muss in der kommenden Legislaturperiode Dass der Fußverkehr „strukturell unterstützt und mit einem massiven Anstieg der Energienach- mit einer nationalen Strategie unterlegt werden“ frage gerechnet werden. Voraussetzung für ein soll (1703-1704) klingt fast schon satirisch – um es entsprechendes Angebot ist der ambitionierte positiv auszudrücken: solche Formulierungen Ausbau von Erneuerbaren Energien. 2030 sollen schaffen zukünftigen politischen Spielraum. Im 80 Prozent des Stromverbrauchs aus erneuerba- Vorfeld diskutierte konkrete Maßnahmen wie die ren Energiequellen stammen (1798). „Alle geeig- Abschaffung der Pendlerpauschale und des neten Dachflächen sollen künftig für Solarenergie Dienstwagenprivilegs oder die Einführung eines genutzt werden“ (1825) – verpflichtend allerdings allgemeinen Tempolimits auf deutschen Auto- nur bei gewerblichen Neubauten. Auch die Kapa- bahnen werden offenbar nicht mehr erwogen. zitäten für Offshore Windanlagen sollen erheb- lich gesteigert und im Vergleich zu anderen Ener- Konkreter wird der Koalitionsvertrag indes bei giequellen prioritär behandelt werden. „Für die dem Thema Energiewende. „Ein beschleunigter Windenergie an Land sollen zwei Prozent der Lan- Ausstieg aus der Kohleverstromung“ soll „idealer- desflächen ausgewiesen werden“ (1834). Man darf weise […] schon bis 2030“ gelingen (1890-1891) – gespannt sein, ob die dazu notwendige Beschleu- also acht Jahre früher oder, anders formuliert, nigung von Planungsverfahren für den Bau von doppelt so schnell wie zuvor geplant. Diese For- Windanlagen gelingt. Entsprechende Schritte sol- mulierung, die Kabarettisten dankbar und ge- len bereits im ersten Halbjahr 2022 unternommen nüsslich unzählige Male aufgegriffen haben, folgt werden. Besonders erwähnenswert ist in diesem einem aus Sicht des Finanzministers klug erschei- Zusammenhang das Vorhaben der Koalitionäre, nenden Kalkül: Die meisten Studien prognostizie- den Klimaschutz und die Versorgungssicherheit ren, dass der CO2-Preis im EU-Zertifikatehandel regelmäßig als höherwertige Ziele zu betrachten zukünftig strukturell nicht unter 60 Euro je Tonne als beispielsweise Lärmschutz, Artenschutz etc.: fallen wird. Um auf Nummer sicher zu gehen, for- „Bei der Schutzgüterabwägung setzen wir uns da- mulieren die Koalitionäre diesen Preis sogar als für ein, dass es einen zeitlich bis zum Erreichen der administrativ festgelegte Untergrenze. Man Klimaneutralität befristeten Vorrang für Erneuer- werde nötigenfalls „entsprechende nationale bare Energien gibt“ (1812-1814). Ob eine solche auf Kölner Impulse zur Wirtschaftspolitik | Nr. 1/2022 www.iwp.uni-koeln.de | 5
nationaler Ebene entschiedene Vorrangregelung was aus Sicht vieler Klimaforscherinnen und Kli- mit dem in der Europäischen Union geltenden maforscher viel zu gering ist. Mit dem nationalen Umweltrecht sowie mit der Biodiversitätsstrate- Brennstoffemissionshandelsgesetz liegt ein In- gie der EU, aber auch mit deutschem Recht, ver- strument auf dem Tisch, das ohne großen Auf- einbar ist, bleibt abzuwarten. wand hätte genutzt werden können. Die Mutlo- sigkeit der Ampelparteien überrascht insbeson- Um Deutschland bis 2030 zum „Leitmarkt für dere vor dem Hintergrund, dass mit dem „Klima- Wasserstofftechnologien“ (759-760) zu machen, geld“ durchaus ein „sozialer Kompensationsme- soll der Aufbau einer leistungsfähigen Wasser- chanismus“ (2052-2053) in der politischen De- stoffwirtschaft in den nächsten Jahren über batte bekannt und verstanden scheint. Mit dem staatliche Förderprogramme vorangetrieben Klimageld könnte sozialen Verwerfungen auf- werden. „Erdgas ist für eine Übergangszeit unver- grund von hohen Energiepreissteigerungen wirk- zichtbar“ (1930) und soll also als Brückentechno- sam und sichtbar begegnet werden. logie die bezahlbare Stromversorgung in den nächsten Jahren sicherstellen. Dieser Entschei- Positiv zu bewerten ist der Ansatz, die nationale dung liegt die Logik zugrunde, dass Gaskraft- Industriestrategie in europäische Lösungen ein- werke schneller hochgefahren und damit flexib- zubetten, um beispielsweise das Abwandern von ler für das Füllen von Produktionslöchern einge- Unternehmen in Regionen mit niedrigeren Klima- setzt werden können als Kohlekraftwerke. Neue schutzauflagen (Carbon Leakage) zu verhindern Gaskraftwerke sollen so gebaut werden, dass sie (745-746). Konkret soll hier die Einführung eines zukünftig für die Wasserstoffproduktion einge- „europaweit wirksamen CO2-Grenzausgleichsme- setzt werden können. Die Dauer von Genehmi- chanismus oder vergleichbar wirksamer Instru- gungsverfahren und des eigentlichen Baus lässt mente“ (752-753) angestrebt werden. Hier bleibt allerdings vermuten, dass neue Gaskraftwerke jedoch abzuwarten, welche konkreten Ausgestal- erst in 10 bis 15 Jahren in Betrieb gehen werden. tungsoptionen sich als WTO-konform und gleich- Die Frage, ob diese Rechnungen aufgehen, wird zeitig mehrheitsfähig innerhalb der EU heraus- Expertinnen und Experten in den kommenden stellen werden. Jahren beschäftigen. Auch die damit einherge- hende weiter zunehmende Abhängigkeit von rus- Die heimische Industrie soll durch verschiedene sischem Gas wird nicht weiter behandelt, obwohl Maßnahmen zur Schließung von „Wirtschaftlich- sie geopolitisch hochbrisant ist. Hier könnte eine keitslücken“ (750) unterstützt werden. Beson- Sollbruchstelle der neuen Regierungskoalition ders interessant sind hier die nur beiläufig er- angelegt sein. Wenig überraschend wird auch die wähnten und nicht im Detail ausgeführten „Car- Erforschung und Verwendung von Nukleartech- bon Contracts for Difference (Klimaverträge, nologie im Koalitionsvertrag nicht thematisiert. CCfD)“ (749) oder Differenzverträge für CO2. Die Im Kontext unterschiedlicher klimapolitischer grundsätzliche Idee lässt sich folgendermaßen er- Vorstellungen auch innerhalb der EU ist auch die- läutern: Unternehmen tätigen emissionsmin- ses Thema auf Dauer kaum vermeidbar und ge- dernde Investitionen nur dann, wenn sie erwar- eignet, innerhalb der Regierung interessante De- ten, dass sie in Zukunft überschüssige Emissions- batten zu befeuern. zertifikate verkaufen können oder andernfalls solche Zertifikate kaufen müssten. Die Investitio- Enttäuschend ist, dass der innerdeutsche CO2- nen erscheinen entsprechend nur dann lohnend, Preis für fossile Treibstoffe und Heizmittel nicht wenn in Zukunft hinreichend hohe Preise erwar- angepasst wird: „Aus sozialen Gründen [halten tet werden, d.h. höhere als die eigenen Grenzver- wir] am bisherigen BEHG-Preispfad fest“ (2049- meidungskosten. Nur wenn es geringere Kosten 2050). Der Preis für eine Tonne CO2 wird wie von verursacht, eine Tonne CO2 zu vermeiden, als das der alten Regierung beschlossen in den nächsten Recht zur Emission dieser Tonne zu erwerben, vier Jahren schrittweise auf 55 Euro ansteigen, lohnt sich die Investition in die Vermeidung aus Kölner Impulse zur Wirtschaftspolitik | Nr. 1/2022 www.iwp.uni-koeln.de | 6
rein finanzieller Sicht. Insbesondere in energiein- gezwungen wären. Die Verträge geben Unter- tensiven Industrien liegen die CO2-Grenzvermei- nehmen wichtige Planungssicherheit und damit dungskosten allerdings häufig weit über dem ak- Anreize zur CO2-Reduktion. Abzuwarten bleibt al- tuellen Preis für Emissionszertifikate. Diese Un- lerdings, ob sich das Instrument als effektiv her- ternehmen können nun einen Differenzvertrag ausstellt. Ein Anstieg von emissionsmindernden mit dem Staat oder einer vom Staat beauftragten Investitionen ist dann zu erwarten, wenn die Un- Institution abschließen, in dem sie einen CO2- sicherheit über die zukünftige CO2-Preisentwick- Preis festlegen, ab dem die private Investition in lung heute maßgeblich zur Investitionszurückhal- die Emissionsvermeidung für das Unternehmen tung führt. Auch dürfen die Differenzverträge attraktiv wird. Liegt der Preis im europäischen nicht langfristig die Informationssignale und Ver- Emissionshandel in den ersten Jahren nach der In- haltensanreize eines beweglichen CO2-Preises au- vestition zunächst unter diesem vereinbarten ßer Kraft setzen. Preis, bekommt das Unternehmen die Differenz zwischen Vertragspreis und tatsächlichem Markt- Insgesamt sind diese marktorientierten Ansätze preis für jede dank der Investition eingesparte im Klimaschutz vielversprechend. Aus der ord- Tonne CO2 – im Vergleich zu einer konventionel- nungspolitischen Sicht marktwirtschaftlich orien- len Referenztechnologie – vom Staat ausbezahlt. tierter Ökonomen sind einheitliche CO2-Preise Umgekehrt zahlt das Unternehmen die entspre- das Mittel der Wahl, um der Klimaproblematik ef- chende Differenz an den Staat (zurück), falls der fizient und damit möglichst wirkungsvoll zu be- CO2-Preis am Markt über den im Vertrag verein- gegnen. Das Preissystem als Instrument dezent- barten Preis hinaus ansteigt und sich die Investi- raler Informationsverarbeitung zu nutzen, privat- tion entsprechend bereits amortisiert hat. Aus wirtschaftliche Bemühungen durch Eigentums- wirtschaftspolitischer Perspektive sind Differenz- schutz, vertragliche Lösungen und Haftungsre- verträge direkten einmaligen Subventionen in geln anzureizen sowie den privaten Akteuren von gleich dreierlei Hinsicht überlegen: Erstens fallen Seiten der Politik einerseits klare Rahmensetzun- für den Staat grundsätzlich nur dann Kosten an, gen vorzugeben, ihnen andererseits aber durch wenn die Unternehmen die angekündigten Min- langfristig verlässliche Politik auch Planungssi- derungsziele tatsächlich einhalten. Zweitens wer- cherheit zu bieten sind die bewährten Elemente den nur diejenigen Unternehmen einen solchen der Sozialen Marktwirtschaft. Vertrag abschließen, denen die Investition nicht ohnehin schon aufgrund eigener Erwartungen Selbst wenn die im Koalitionsvertrag festgeleg- über die CO2-Preisentwicklung lohnend er- ten Klimaschutzmaßnahmen dazu beitragen scheint. Drittens erhält der Staat Subventionszah- könnten, den globalen Temperaturanstieg zu lungen zurück, wenn sich im Nachgang der Inves- bremsen, können die lokalen Folgen des bereits tition herausstellt, dass sie sich auch ohne staatli- beobachtbaren und des auch im bestmöglichen che Zuzahlung gelohnt hätte, da die tatsächlichen Fall noch zu erwartenden Klimawandels nicht ver- CO2-Preise die Grenzvermeidungskosten über- hindert werden. Naturereignisse, wie bspw. steigen. Starkregenfälle, welche die Flutkatastrophe im Sommer 2021 ausgelöst haben, werden sich wie- Politökonomisch kann die vertragliche Zusiche- derholen und in ihrer Frequenz und Intensität zu- rung eines CO2-Preises als Vertrauens- und Glaub- nehmen. Ohne Gegenmaßnahmen werden zu- würdigkeitssignal an die Industrie interpretiert künftige Naturkatastrophen erneut Menschenle- werden. Je nach konkreter Ausgestaltung der ben kosten und mit erheblichen finanziellen Ver- Verträge werden sogar zukünftige Regierungen lusten verbunden sein. Folgerichtig wird an ver- in die Verantwortung genommen, für einen stabi- schiedenen Stellen im Koalitionsvertrag angedeu- len bzw. steigenden CO2-Preis zu sorgen, da sie tet, dass Klimaanpassungsmaßnahmen mitge- andernfalls zu höheren staatlichen Zahlungen ge- dacht werden sollen, z.B. beim Bodenschutz genüber den Vertragspartnern in Klimaverträgen (1305) oder Städtebau (3071). Zusätzlich wird dem Bereich „Klimaanpassung“ ein Unterkapitel Kölner Impulse zur Wirtschaftspolitik | Nr. 1/2022 www.iwp.uni-koeln.de | 7
(ab 1252) gewidmet, welches jedoch sehr kurz In Kapitel IV (2136 ff.) finden sich und wenig konkret ausfällt. Unter expliziter Be- die Ausführungen der Ampelpar- zugnahme auf die Flutkatastrophe 2021 soll eine teien zu den Themenbereichen „vorsorgende Klimaanpassungsstrategie“ erarbei- „Arbeit“, „Sozialstaat, Alters- tet werden (1253). Mit einem „Klimaanpassungs- vorsorge, Grundsicherung“, gesetz“ soll ein Rahmen geschaffen werden, um „Pflege und Gesundheit“ sowie gemeinsam mit den Ländern Anpassungsziele in „Bauen und Wohnen“. Dass das wenig greifbare verschiedenen Handlungsfeldern zu erreichen Kriterium des „Respekts“ im Koalitionsvertrag an (1254-1256). Erste dringliche Maßnahmen sollen mehr als 50 Stellen eine Rolle spielt und in den so- mit einem „Sofortprogramm“ auf den Weg ge- zialpolitischen Themen besonders zur Geltung bracht werden (1257-1258). Tatsächlich erschei- kommt, erstaunt nach dem SPD-Wahlkampf von nen diese Schritte angemessen und notwendig, Kanzler Scholz nicht wirklich. Dass die Koalitio- da eine effektive Klimavorsorge nur von Bund näre aber auch eine „gerechte Entlohnung“ zur und Ländern gemeinsam geleistet werden kann. Grundlage unseres gesellschaftlichen Wohl- Während strategische Vorgaben vom Bund kom- stands erklären (2138) und damit suggerieren, für men sollten, kennen die Akteure in den Ländern „gerechte“ und „armutsfeste“ (Mindest)Löhne und Kommunen die lokalen Strukturen und kön- (2281) sorgen zu können, kann einem ob der kon- nen Maßnahmen gezielt implementieren. Auch zeptionellen Unschärfe schon einen Schauer über werden „bundeseinheitliche Standards für die Be- den Rücken laufen lassen. Nach welcher Vorstel- wertung von Hochwasser- und Starkregenrisiken lung ökonomischer Zusammenhänge kann man und die Erstellung und Veröffentlichung von Gefah- alleine mit der Festlegung von Löhnen Armut ver- ren- und Risikokarten“ (1263-1265) angekündigt. meiden? Was ist mit unterschiedlicher Erwerbsfä- Zudem soll der „Ausnahmekatalog für die Geneh- higkeit, unterschiedlicher Beschäftigungsmög- migung von Bauvorhaben in ausgewiesenen Über- lichkeit und Arbeitsnachfrage oder unterschied- schwemmungsgebieten“ überprüft und ggf. ange- lich großen Bedarfsgemeinschaften der Lohn- passt (1265-1266), „Entsiegelungsprojekte“ durch- empfängerinnen und -empfänger? Nach welchem geführt (1270) und die „Warnstrukturen“ für den ordnungspolitischen Verständnis der Sozialen Bevölkerungsschutz (3499) verbessert werden. Marktwirtschaft bestimmt die Regierung die Privathaushalte sollen „mit einer KfW-Förderung Löhne? Und wie schlicht ist das Verständnis von bei der Hochwasser- und Starkregenvorsorge“ un- „Gerechtigkeit“, wenn Politikerinnen und Politi- terstützt werden (1267-1268). Hier muss darauf ker glauben, die Gerechtigkeit sei bislang daran geachtet werden, dass das Bauen in riskanten La- gescheitert, dass Vorgängerregierungen kein In- gen nicht indirekt subventioniert wird. teresse daran hatten. Welche Ministerinnen und Minister verfügen über die Weisheit, gerechte Nicht im Koalitionsvertrag zu finden sind Maß- Löhne zu definieren? Gut, so scharf darf man nicht nahmen, die zu einer Verbesserung des Informa- nachfragen. Es geht um politisches Marketing. tionsstandes in der Gesellschaft oder zu einer Was also geben die konkreteren Abschnitte her? Schärfung des Risikobewusstseins gegenüber Naturgefahren beitragen würden. Noch erstaun- Versprochen wird eine „Ausbildungsgarantie“ licher erscheint, dass im Koalitionsvertrag keine (2169), die allen Jugendlichen einen Zugang zu ei- Vorschläge zum zukünftigen Umgang mit den fi- ner vollqualifizierenden Berufsausbildung ermög- nanziellen Folgen von Naturkatastrophen auftau- lichen soll. Was dies genau bedeutet und wie es chen. Dabei sind die enormen finanziellen Schä- umgesetzt würde, bleibt unklar. Der Grundge- den, die durch Naturkatastrophen verursacht danke, in Anbetracht der demografischen Ent- werden, aufgrund der jüngsten Hochwasserkata- wicklung und der zunehmend wichtigeren beruf- strophe so präsent wie nie. Dennoch findet sich lichen Qualifizierung, noch weit mehr Energie als kein Satz zur Diskussion um verpflichtende Ele- bisher darauf zu verwenden, wirklich allen Men- mentarschadenversicherungen für Privathaus- schen Integrationsmöglichkeiten in eine qualifi- halte. zierte Erwerbstätigkeit zu erschließen, ist aber Kölner Impulse zur Wirtschaftspolitik | Nr. 1/2022 www.iwp.uni-koeln.de | 8
löblich. Die im Abschnitt kurz erwähnten weite- Und natürlich gibt es Dilemmata, die es den ein- ren Ankündigungen lassen darauf hoffen, dass zelnen Akteuren erschweren, ohne gesellschaftli- auch in der Umsetzung ernsthafte Verbesserun- che Unterstützung zueinander zu finden. Hier gen angestrebt werden. wollen die Parteien der Ampel also entschlossen anpacken. Jedenfalls werden im Bereich der Wei- Zur Förderung von Bildung und Ausbildung soll terbildung gesamtgesellschaftlich finanzierte An- ein „Lebenschancen-BAföG“ (2197) und die Mög- reize versprochen, die Unternehmen beispiels- lichkeit zum „Bildungssparen in einem Freiraum- weise durch ein „ans Kurzarbeitergeld angelehn- konto“ (2199) eingeführt werden. Was ein wenig tes Qualifizierungsgeld“ (2215) bei Weiterbil- esoterisch klingt und sich damit nahtlos in die dungsaktivitäten ihrer Beschäftigten unterstüt- neuerdings von Marketingexperten formulierten zen und Arbeitslosengeld- oder Grundsicherungs- Gesetzesüberschriften und Instrumentenbe- empfängerinnen und -empfänger durch Erhö- zeichnungen einfügt, erinnert an das bereits 2016 hung ihrer Transferbezüge um monatlich 150 von der damaligen SPD-Arbeitsministerin Andrea Euro „Weiterbildungsgeld“ (2225) zur Teilnahme Nahles geforderte „Recht auf Weiterbildung“, an den (zum Teil staatlich finanzierten) Aus- oder den Umbau der Arbeitslosenversicherung zu ei- Weiterbildungsmaßnahmen motivieren sollen. ner „Arbeitsversicherung“ und das 2017 mindes- tens auch für Weiterbildung gedachte „Erwerbs- Selbstständige sollen einen „erleichterten Zugang tätigenkonto“. Auch die Klarstellung für Arbeits- zur freiwilligen Arbeitslosenversicherung“ (2261) lose und erwerbsfähige Bezieherinnen und Bezie- erhalten. Es ist höchst strittig, ob die bei Selbstän- her von Grundsicherungsleistungen, eine „Ver- digen stets unterstellten eigenen Entscheidungs- mittlung in Arbeit [solle] keinen Vorrang vor einer möglichkeiten nicht der Idee einer Arbeitslosen- Aus- und Weiterbildung“ (2222-2223) haben, geht versicherung diametral entgegenstehen. Ge- in dieselbe Richtung. Hier blitzt die alte Frage wöhnlich geht man davon aus, dass Selbständige nach den Grenzen des vollumfänglichen Fürsor- eigenverantwortlich entscheiden, ob sie Aufträge gestaates auf: Wenn der Staat für die Ausbildung annehmen oder ablehnen sowie die Konditionen und Weiterbildung, die „Förderung von Grund- einer vertraglich vereinbarten Tätigkeit frei aus- kompetenzen“ (2221-2222) und die lebenslange handeln. Auch die Abschätzung der zukünftigen Weiterbildung zuständig wird, nimmt er damit wirtschaftlichen Entwicklung im eigenen Ge- dann den Unternehmen und Erwerbstätigen die schäftsumfeld und die Inkaufnahme des entspre- Verantwortung vollständig ab, aus eigener Kraft, chenden Risikos gehört zu den Aufgaben und eigener Motivation und unter Einsatz eigener Kompetenzen selbständiger Erwerbstätiger. Wo Ressourcen für zukunftsfähige Qualifikation zu massive, nicht absehbare und nicht eigenverant- sorgen? Müsste Weiterbildung nicht im gemein- wortlich abzufedernde Verwerfungen zutage tre- samen Interesse von Arbeitgeber- und Arbeitneh- ten, kann eine Gesellschaft ausnahmsweise auch merseite liegen? Und kann der Staat diese Verant- ad hoc reagieren, wie Deutschland in der Corona- wortung überhaupt übernehmen, d.h. verfügt Pandemie mit den Überbrückungshilfen I – III, III das Personal in der Arbeitsagentur über das not- plus und der Neustarthilfe gerade zeigt. Umso wendige Wissen, um zu entscheiden, ob eine be- adäquater diese Krisenprogramme helfen, desto rufliche Aus- und Weiterbildung die Beschäfti- weniger attraktiv wird die freiwillige Mitglied- gungschancen anschließend dauerhaft und aus- schaft in der Arbeitslosenversicherung für Selb- reichend erhöht? Es scheint vergessen zu sein, ständige sein. wie wenig effektiv die vor den Hartz-Reformen vorhandenen staatlich geförderten Weiterbil- Der gesetzliche Mindestlohn wird „auf zwölf Euro dungssysteme waren. Andererseits ist Qualifizie- pro Stunde“ erhöht (2278). Das war im Wahl- rung natürlich der Schlüssel zur Steigerung der kampf von SPD und Grünen versprochen. Auch Produktivität sowohl der einzelnen Personen als wenn es nicht nur unsystematisch und gegenüber auch der deutschen Volkswirtschaft insgesamt. den Mitgliedern der Mindestlohnkommission we- Kölner Impulse zur Wirtschaftspolitik | Nr. 1/2022 www.iwp.uni-koeln.de | 9
nig respektvoll erscheint, diese im Wahlkampf- bau von sozialversicherungspflichtiger Beschäfti- jahr auszubooten, verwundert es aus polit-öko- gung in Folge der Einführung des Mindestlohns nomischer Perspektive nicht wirklich. Bereits vor gezeigt. Daraus kann jedoch nicht gefolgert wer- der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns den, dass auch die nun verkündete höhere Lohn- hatten viele Ökonominnen und Ökonomen davor untergrenze nicht oder kaum in den Abbau von gewarnt, dass ein politisch gesetzter Lohn die Beschäftigung mündet. Schon gar nicht in einem Parteien im demokratischen Wettbewerb dazu möglichen wirtschaftlichen Abschwung. Das Fri- verleiten werde, sich im Wettkampf um Wähler- seurhandwerk, die Zeitungsverlage mit ihren Aus- stimmen gegenseitig zu überbieten. Die Politik, trägerinnen und Austrägern sowie die Gastrono- insbesondere die SPD, hatte damals solche Erwar- mie warnen jedenfalls. Sollten die Arbeitgeber tungen als abwegig dargestellt und beteuert, dies hingegen nicht mit einer Reduzierung des Be- sei institutionell völlig ausgeschlossen. Schließlich schäftigungsvolumens reagieren, könnte die ein- werde sich die Bundesregierung nur bei der erst- hergehende Lohnkostensteigerung in der zwei- maligen Festlegung der Höhe zum 1. Januar 2015 ten Runde auch die Verbraucherpreise ansteigen überhaupt einmischen. Danach werde das Verfah- lassen und in der Debatte um die Inflation Beach- ren an die Vertreterinnen und Vertreter der Ar- tung verdienen. Über den direkten Effekt hinaus beitgeber- und Arbeitnehmerseite sowie der Wis- könnte es außerdem zu Lohndruck im gesamten senschaft in der Mindestlohnkommission überge- Lohngefüge kommen und damit auch zukünftige ben, die sich wiederum bei ihrer alleine maßgebli- Tarifabschlüsse treiben. Rund ein Zehntel aller chen Empfehlung mehr oder minder regelgebun- Beschäftigten mit Tarifvertrag erhalten bisher den an den Tarifabschlüssen orientieren würden. Löhne unter 12 Euro. Nun, diese institutionelle Vorkehrung hat nicht davor geschützt, dass der Mindestlohn eben Auch wenn das erklärte Ziel bei Einführung des doch zum Spielball des Wahlkampfes wurde. In- gesetzlichen Mindestlohns 2015 die Reduzierung sofern ist es schon dreist, nun im aktuellen Koali- der Haushalte war, in denen neben einem Er- tionsvertrag erneut zu formulieren, es handele werbseinkommen ergänzende Hilfen der Grund- sich bei der Erhöhung um eine „einmalige Anpas- sicherung bezogen wird („Aufstocker“) und auch sung“ (2278). „Im Anschluss daran wird die unab- der aktuelle Koalitionsvertrag „armutsfeste Min- hängige Mindestlohnkommission über die etwai- destlöhne“ (2281) verspricht, ist eine Stunden- gen weiteren Erhöhungsschritte befinden“ (2279- lohnuntergrenze zur Erreichung solcher Ziele un- 2280). Wer’s glaubt, wird selig. geeignet. Stundenlöhne ergeben erst in der Mul- tiplikation mit der Anzahl gearbeiteter Stunden Die Anhebung des Mindestlohns von zum Zeit- und unter Berücksichtigung individueller Steuer- punkt des Regierungswechsels 9,60 Euro pro und Sozialversicherungsbeitragspflichten ein ver- Stunde um exakt 25 Prozent auf 12 Euro erscheint fügbares Wochen-, Monats- oder Jahreseinkom- ausgesprochen kräftig. Die Tarifverdienste stei- men. Und dieses Einkommen muss mit dem Be- gen nach Berechnungen des gewerkschaftsna- darf des jeweiligen Haushalts abgeglichen wer- hen Instituts WSI im laufenden Jahr durchschnitt- den. Auch ein Stundenlohn von 15 Euro verhin- lich um weniger als 2 Prozent. Andererseits wäre dert keine Armut, wenn davon eine ganze Familie der Mindestlohn auch nach Empfehlung der ei- leben muss oder wenn keine Vollzeitbeschäfti- gentlich zuständigen Mindestlohnkommission im gung möglich ist. Nur etwa 3 Prozent der soge- Januar 2022 auf 9,82 Euro und im Juli auf 10,45 nannten Aufstocker sind alleinstehende Vollzeit- Euro gestiegen. Dennoch bewirkt die Erhöhung beschäftigte. Entsprechend hat sich die Zahl die- auf 12 Euro eine politisch durchgesetzte Steige- ser Aufstocker seit der Einführung des Mindest- rung des Stundenlohns bei mehr als 7 Millionen lohns tatsächlich kaum verringert. Beachtliche Beschäftigten und damit mehr als jedem fünften Teile der Betroffenen können aufgrund familiärer Erwerbstätigen. Tatsächlich haben die empiri- Verpflichtungen oder persönlicher Einschränkun- schen Studien für Deutschland bisher keinen Ab- gen nur in Teilzeitbeschäftigung arbeiten, andere Kölner Impulse zur Wirtschaftspolitik | Nr. 1/2022 www.iwp.uni-koeln.de | 10
sind für große Bedarfsgemeinschaften verant- Der höhere Mindestlohn wird sich in den Einkom- wortlich, für die sie auch bei höheren Mindestlöh- men und in den Konsumausgaben dieser Ver- nen in Vollzeit nicht ohne ergänzende Hilfe auf- gleichsgruppe niederschlagen und somit mittel- kommen können. Umgekehrt lebt ein Teil der im fristig höhere Regelsätze zur Folge haben. Ob Niedriglohnbereich Beschäftigten in Mehrverdie- und welche Auswirkungen dies für die reale Kauf- nerhaushalten und ist deshalb trotz geringer kraft hat, hängt selbstverständlich von der Preis- Löhne auf der Ebene der Bedarfsgemeinschaft entwicklung ab. gar nicht bedürftig. Während sich beim Mindestlohn offenbar SPD Das ist natürlich auch den Koalitionären bekannt. und Grüne durchsetzen konnten und ein Zögern Der Armutsbegriff bezieht sich hier deshalb nicht der FDP eher in den Nebenaspekten erkennbar auf die Abwendung existenzieller Not (absolute wird, ist es im Bereich der Mini- und Midijobs Armut), sondern auf die relative Armut, d.h. die (2287) wohl umgekehrt. SPD und Grüne wollten Einkommenssituation eines betroffenen Haus- Minijobs in ihrer jetzigen Form eigentlich abschaf- halts im Vergleich zu anderen Haushalten. In der fen, während die FDP sie gerne ausweiten wollte. EU spricht man diesem Konzept folgend von Ar- Auch unter Ökonominnen und Ökonomen sind mutsgefährdung, wenn ein Haushalt mit weniger diese Instrumente kontrovers diskutiert. Einer- als 60 Prozent des Median-Einkommens auskom- seits bieten sie Arbeitgebern Flexibilität und Ar- men muss. Dabei geht es um Nettoäquivalenzein- beitnehmern einen leichten Zugang zum Arbeits- kommen, d.h. um ein statistisches Maß, das so- markt sowie ein unbürokratisches Zusatzeinkom- wohl den Haushaltskontext als auch andere Ein- men. Andererseits werden Minijobs als minder- kommensquellen, insbesondere Transfereinkom- wertige Beschäftigungsverhältnisse angesehen, men in die Betrachtung einbezieht. Die Koalitio- die den Beschäftigten keine ausreichende soziale näre hingegen verweisen mit ihren Ausführungen Absicherung garantieren und durch die teilweise zu „angemessenen armutsfesten Mindestlöhnen“ Steuer- und Abgabenbefreiung begründungsbe- (2281) auf einen aktuellen Vorschlag der EU-Kom- dürftige Subventionierungen beinhalten. Die er- mission für eine Richtlinie über „angemessene hofften Übergänge von einem Mini- oder Midijob Mindestlöhne in Europa“, die als Zielgröße an- in eine reguläre sozialversicherungspflichtige Ar- strebt, Mindestlöhne auf 60 Prozent des Median- beit sind empirisch nicht in nennenswertem Um- stundenlohns zu fixieren. Ob und was eine solche fang zu beobachten. Aber immerhin tragen sie relative Lohnfixierung zu einer Armutsbekämp- zur Aufrechterhaltung der Qualifikation und Be- fung beitragen kann ist ebenso umstritten wie die schäftigungsfähigkeit bei, wenn andernfalls ganz Frage, ob die EU die Kompetenzen für die Set- auf eine Erwerbstätigkeit verzichtet würde. zung einer solchen Vorgabe hat. Die Koalitions- parteien unterstützen das Vorhaben der Kommis- Für die relativ große Gruppe der verheirateten sion daher immerhin explizit nur „unter Achtung Personen in Minijobs (überwiegend Frauen), ist der europäischen Kompetenzordnung“ (2282). eine Erhöhung der Arbeitseinkommen über die Minijobgrenze hinaus aufgrund der beitrags- Mindestens eine indirekte Wirkung des erhöhten freien Familienmitversicherung in der Kranken- Mindestlohns auf hilfebedürftige Personen in der und Pflegeversicherung häufig unattraktiv. Na- Grundsicherung gibt es allerdings mittelfristig türlich kann man diese Perspektive auch umkeh- durch den Einfluss auf die Berechnungsgrundlage ren und darauf hinweisen, dass ohne Privileg der für den Regelsatz im ALG II oder im neu zu regeln- Beitragsfreiheit in Minijobs aber bei Fortgeltung den „Bürgergeld“ (ab 2471, vgl. auch weiter un- der Familienmitversicherung für dieselben Perso- ten). Zur Festlegung der Regelsätze wird eine Ein- nen selbst die Aufnahme einer geringfügigen Er- kommens- und Verbrauchsstichprobenrechnung werbstätigkeit unattraktiv würde. Dennoch von Haushalten mit einem Einkommen knapp scheint die Fortführung der Minijobs in Kontrast über dem Transferbezugsniveau herangezogen. zur Beteuerung der Koalitionäre zu stehen, man Kölner Impulse zur Wirtschaftspolitik | Nr. 1/2022 www.iwp.uni-koeln.de | 11
„werde verhindern, dass Minijobs … zur Teilzeit- und Gutscheinsystem und die Möglichkeit für flan- falle insbesondere für Frauen“ würden (2292- kierende steuerfreie Arbeitgeberzuschüsse“ 2293). Ebenso unklar bleibt, wie „Hürden, die eine (2299-2301). Tatsächlich scheint Hubertus Heil das Aufnahme versicherungspflichtiger Beschäftigung Konzept aber bereits vollständig in der Schublade erschweren“ (2288-2289), abgebaut werden sol- liegen zu haben. 40 Prozent der Kosten sollen bis len und wie verhindert werden kann, „dass Mi- zu einer Obergrenze von 2.000 Euro jährlich nijobs als Ersatz für reguläre Arbeitsverhältnisse durch einen staatlichen Zuschuss übernommen, missbraucht“ werden (2292-2293). Bei letzterem die restlichen 60 Prozent von den Bürgerinnen ist zudem völlig unklar, inwiefern und woran be- und Bürgern selbst bezahlt werden. Wer diesen messen ein Missbrauch vorliegt, wenn in einem Bonus komplett ausnutzen möchte, hätte unter Mini- oder Midijob Tätigkeiten verrichtet werden, Einsatz von eigenen 3.000 Euro ein jährliches die andernfalls von regulär Beschäftigten erledigt Budget von 5.000 Euro zur Verfügung, um sich werden müssten. Hilfe im Haushalt zu organisieren. Dazu kommt „die Möglichkeit für flankierende steuerfreie Ar- Die im Koalitionsvertrag angekündigte Anhebung beitgeberzuschüsse“, also die Einladung an Ar- der Lohngrenzen ist hingegen wohl eher keine beitgeber und Arbeitnehmer bei nächster Gele- Ausweitung der Mini- und Midijobs, wie häufig zu genheit anstelle steuer- und beitragspflichtiger lesen, sondern eher deren Anpassung an die An- Lohnerhöhungen zum gegenseitigen Vorteil ge- hebung der Mindestlöhne. Die Minijob-Lohn- bundene Zuschüsse des Arbeitgebers zur Haus- grenze von 520 Euro (statt bisher 450 Euro) „ori- haltshilfe zu vereinbaren. Zunächst soll sich das entiert sich künftig an einer Wochenarbeitszeit von Angebot nur an „Alleinerziehende, Familien mit 10 Stunden zu Mindestlohnbedingungen“ (2290- Kindern und zu pflegenden Angehörigen“ (2303) 2291) und bleibt damit deutlich unter einer pro- richten, schrittweise aber auf alle Haushalte aus- portionalen Anhebung im Vergleich zum Mindest- gedehnt werden. lohn. Auch die Ausdehnung des Midijob-Bereichs von bisher 1.300 Euro auf 1.600 Euro monatlich Hinter der Idee steht der respektable und lange entspricht in der Größenordnung nicht ganz der überfällige Versuch, die verbreitete aber nichts- Erhöhung des Mindestlohns um 25 Prozent. destotrotz unerträgliche Praxis vieler Privathaus- halte anzugehen, die sich für solche Tätigkeiten Eine bisher in der Öffentlichkeit nur stiefmütter- auf einem florierenden Schwarzarbeitsmarkt ver- lich behandelte massive Erweiterung der schon sorgen. Durch die massive finanzielle Förderung bisherigen Förderung der Haushaltsnahen könnte tatsächlich ein Anreiz geschaffen werden, Dienstleistungen findet sich im Koalitionsvertrag Teile dieser Beschäftigung in die Legalität zurück- (ab 2296) direkt unter den Minijobs. In der Marke- zuholen. Unklar ist aber noch, ob hier die Arbeits- ting-Variante versieht Arbeitsminister Heil die nachfrage nach Minijob-Arbeitnehmerinnen und Idee mit dem Schlagwort „Alltagshelfer“. Auch Arbeitnehmern geboostert wird oder ganz im Ge- im Vertrag führen die Koalitionäre aus, dass die genteil merkwürdigerweise ausgerechnet Mi- vorgesehene Förderung „die Vereinbarung von nijobs in haushaltsnaher Beschäftigung ausge- Familie und Beruf“ sowie „die Erwerbsbeteiligung schlossen werden sollen. Die Klärung dieser Unsi- von Ehe- und Lebenspartnern“ unterstützen soll. cherheit hat Auswirkungen auf die Erfolgswahr- Gerade Eltern von kleinen Kindern oder pfle- scheinlichkeit des Konzepts. Für die erstgenannte gende Angehörige bräuchten beim Putzen der Erwartung würde sprechen, dass viele legale Hil- Wohnung, bei der Kinderbetreuung oder der fen bei Hausarbeit, in der Betreuung von Kindern Pflege Unterstützung, zumal wenn sie weiterhin oder bei der unterstützenden Hilfe in der Versor- erwerbstätig bleiben wollten. Im Koalitionsver- gung von hilfebedürftigen Angehörigen heute in trag heißt es noch etwas unbestimmt: „Die Inan- Minijobs erfolgen. Auch das mit 5.000 Euro Jah- spruchnahme familien- und alltagsunterstützender resbudget angedachte Volumen passt bequem in Dienstleistungen erleichtern wir durch ein Zulagen- den Einkommensbereich der Minijobs. Dagegen und für die zweitgenannte Variante spricht, dass Kölner Impulse zur Wirtschaftspolitik | Nr. 1/2022 www.iwp.uni-koeln.de | 12
Hubertus Heil in Interviews von „zertifizierten Fir- doch sofort von allen Parteien gleichermaßen ig- men“ träumt, die berechtigt sein sollen, seine Zu- norant verweigert. Dennoch verwundert es, wie schüsse zu bekommen. Und in den kurzen Aus- entschlossen die Ampelparteien offensichtlich je- führungen des Koalitionsvertrags wird gleich den ernsthaften Reformansatz in dieser Legisla- zweimal erwähnt, dass die Förderung zugleich turperiode ersticken wollen. Wie schon die Vor- der Schaffung „sozialversicherungspflichtiger Be- gängerregierungen drücken sie sich, dieses heiße schäftigung im Haushalt“ dienen solle (2299 und Eisen anzupacken, das jedoch ungeachtet dessen 2302). Natürlich gibt es entsprechende Vermitt- in diesem und dem nächsten Jahrzehnt in seiner lungsagenturen von Haushaltshelferinnen und - ganzen Unerbittlichkeit zu Tage treten wird. helfern, die hier angesprochen sein könnten. Diese dramatische Umschreibung ist angebracht, Diese verteuern die Beschäftigung jedoch enorm, denn auch in diesem Bereich gibt es Kipppunkte, so dass der Erfolg, die Haushaltshilfen aus der Il- die Anpassungen immer schmerzhafter werden legalität in die legale Beschäftigung zu überfüh- lassen, desto später sie vorgenommen werden, ren, schon wieder sehr fraglich wird. Es würden und deren Überschreiten Hoffnungen auf eine dann drei Modelle der Haushaltshilfe konkurrie- faire Lösung aus dem Bereich des politisch Durch- ren: Erstens die illegale Schwarzarbeit ohne Min- setzbaren herausstreichen. Die damit verbunde- destlohn, ohne Versteuerung, ohne Sozialversi- nen Verteilungskonflikte bergen erheblichen wei- cherungsbeiträge und womöglich auf Seiten der teren politischen Sprengstoff. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sogar pa- rallel mit unberechtigtem Transferbezug. Zwei- Zunächst fallen also die negativen Aspekte hin- tens die legale private Beschäftigung zum Min- sichtlich der Rentenproblematik auf. Der in seiner destlohn von 12 Euro pro Stunde, pauschaler sehr Deutlichkeit ungewöhnlich dreiste Dreiklang ver- niedriger arbeitgeberseitiger Sozialversiche- blüfft Kenner der Materie: Man werde „das Min- rungsbeiträge und dank des etablierten Haus- destrentenniveau von 48 Prozent […] dauerhaft haltsscheckverfahrens der Minijob-Zentrale eine sichern“ (2393-2394), es werde „keine Anhebung einfache, übersichtliche Verwaltung. Drittens die des gesetzlichen Renteneintrittsalters geben“ Beschäftigung über eine professionelle Agentur, (2397) und dabei werde „der Beitragssatz nicht bei der jedoch zusätzlich zur eigentlichen Haus- über 20 Prozent“ steigen (2394-2395). Es ist schon haltshilfe auch die Verwaltungs- und Vermitt- zynisch, dass letzteres Versprechen mit der Halt- lungsleistung der Agenturmitarbeiter sowie de- barkeitsgrenze „in dieser Legislaturperiode“ ren Bürokosten und Overheads sowie volle Sozi- (2394) ausgestattet wird. Angesichts der prog- alversicherungsbeiträge für alle Beteiligten ge- nostizierten Alterung der Bevölkerung sind diese zahlt werden müssten. Ob sich dank der vorgese- Pläne über die extrem kurze Frist hinaus schlicht henen Zuschläge letztere Variante für deutlich eine arithmetische Unmöglichkeit. Es sei denn, es mehr Haushalte als vorzugswürdig darstellen wird von vornherein auf eine massive Erhöhung würde bliebe abzuwarten. des Zuschusses aus dem Bundeshaushalt speku- liert, was allerdings mehr oder minder dieselben Aus wirtschaftspolitischer Sicht wirklich bedenk- jüngeren Erwerbstätigen trifft wie die zunächst lich ist das fast völlige Fehlen von Maßnahmen, aufgeschobenen Beitragssatzsteigerungen. die den Herausforderungen des demographi- schen Wandels für das System der gesetzlichen In Anbetracht dieser geballten Ignoranz fällt es Rentenversicherung (GRV) begegnen. Die Alte- schwer, sich darüber zu freuen, dass zumindest rung der Bevölkerung bei zugleich geringen Ge- stellenweise Maßnahmen im Kleinen angekün- burtenraten und die sich daraus im Umlagesys- digt wurden, die womöglich irgendwie und ir- tem zwangsläufig ergebende Rentenproblematik gendwann zu nennenswerten Instrumenten der war aufgrund wissenschaftlicher Studien wäh- Bewältigung der Rentenproblematik ausgebaut rend des Wahlkampfs kurz aufgeflackert. Eine werden könnten. Dazu gehören die geplante Fle- ernsthafte Auseinandersetzung damit wurde je- xibilisierung des Renteneintritts (2458), die ergän- zende Kapitaldeckung innerhalb der GRV samt Kölner Impulse zur Wirtschaftspolitik | Nr. 1/2022 www.iwp.uni-koeln.de | 13
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