Kölner Impulse zur Wirtschaftspolitik - IWP

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Kölner Impulse zur Wirtschaftspolitik - IWP
Kölner Impulse
zur Wirtschaftspolitik
Nr. 1/2022 | 04. Januar 2022

 Mit dieser Ausgabe…                                 Aktuelles aus dem iwp
 … hoffen wir, einen interessanten und ver-          Die diesjährige Ringvorlesung zum Thema
 ständlichen Einblick in ausgewählte Themen          „Die Wirtschaftspolitik vor, während und
 des Koalitionsvertrags und zu diesen Aspek-         nach der Coronakrise“ geht im neuen Jahr
                                                     weiter.
 ten zugleich nachvollziehbare Diskussions-
                                                     Um jeweils aktuelle Hinweise zum Veran-
 anregungen zu geben.
                                                     staltungsort zu erhalten, bitten wir um An-
                                                     meldung per Mail an Christian Müller.
                                                     (christian.mueller@wiso.uni-koeln.de)

                                                     Nächster Termin am 10.01.2021:
                                                     „Wie kann das Gesundheitssystem resili-
                                                     enter werden?“
                                                     mit Prof. Dr. Beate Jochimsen
                                                     (SVR Gesundheit & HWR Berlin)

                                                     Weitere Infos zur Veranstaltungsreihe:
                                                     https://iwp.uni-koeln.de/

                                                     Im Januar wurde gerade die Ausgabe
                                                     3/2021 der Zeitschrift für Wirtschaftspolitik
                                                     ausgeliefert. Im Wirtschaftspolitischen Fo-
                                                     rum geht es um „Schäden durch Naturka-
                                                     tastrophen – Wie sollten Schäden an priva-
                                                     ten Wohngebäuden zukünftig abgesichert
                                                     sein?“

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Eine Kommentierung wagen
– Schlaglichter auf den Koalitionsvertrag

Von Ann-Kristin Becker, Michael Krause, Theresa Markefke, Felix Mindl,
Christoph Oslislo & Steffen Roth

Zum Jahresbeginn 2022 stehen wir in der pande-                 (Kapitel VIII). In den Kapiteln VI („Freiheit und Si-
mischen Krise des Covid-19 Virus gefühlt an einer              cherheit, Gleichstellung und Vielfalt in der moder-
ähnlichen Stelle wie 12 Monate zuvor. In der Wirt-             nen Demokratie“) und VII („Deutschlands Verant-
schaftspolitik allerdings wird sich nach 16-jähriger           wortung für Europa und die Welt“) des Koalitions-
Amtszeit von Angela Merkel wohl einiges an Ver-                vertrags stehen eher politische als ökonomische
änderungen ergeben. Die Ampelparteien haben                    Fragen im Vordergrund, weshalb die Ausführun-
                                                               gen in den Kapiteln in diesem Beitrag eine unter-
ihre Arbeit aufgenommen und versprechen, mehr
                                                               geordnete Rolle spielen.
Fortschritt zu wagen. Wir hoffen, mit diesem Im-
puls einen interessanten und verständlichen Ein-                                Kapitel II des Koalitionsvertrags
blick in ausgewählte Themen des Koalitionsver-                                  ist mit „Moderner Staat, digita-
trags und zu diesen Aspekten zugleich nachvoll-                                 ler Aufbruch und Innovationen“
ziehbare Diskussionsanregungen zu geben.                                        überschrieben (139 ff.): „Wir ha-
                                                                                ben Lust auf Neues“, ruft es den
Um unseren Leserinnen und Lesern außerdem                                       Bürgerinnen und Bürgern hier
den Einstieg und die Orientierung für ihre eigene              entgegen (157). Versucht man ein Destillat dieser
Betrachtung zu ebnen, finden Sie die von uns auf-              vollmundigen Ankündigung zu gewinnen bleibt
gegriffenen Textstellen durch Angabe der Zeilen-               allerdings wenig Konkretes und wenig Originelles
nummern in der im Internet verfügbaren Fassung                 übrig. So verkündet der Vertrag in diesen Ab-
des Vertrags wieder, die wir zugrunde gelegt ha-               schnitten etwa, man werde „Planungs- und Ge-
ben.¹ Der Struktur des Koalitionsvertrags fol-                 nehmigungsverfahren modernisieren, entbürokra-
gend, beginnen wir mit dem Thema Digitalisie-                  tisieren und digitalisieren“ um Entscheidungen
rung (Kapitel II). Anschließend beschäftigen wir               und Umsetzungen des Infrastrukturausbaus zu
uns mit Kapitel III, das die Koalitionäre der                  beschleunigen (148-149). Was ist damit gemeint?
Klimapolitik gewidmet haben. Es folgt unsere                   Die Abschaffung der zum Sinnbild gewordenen
Kommentierung der Ausführungen zu den The-                     Faxgeräte in den Gesundheitsämtern? Besser vor-
men Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, Pflege und                stellbar, aber eben auch deutlich biederer, klingt
Gesundheit sowie Bauen und Wohnen (Kapitel                     der letzte Punkt in der Aufzählung der Schritte,
IV). An unsere Impulse zu den angekündigten Vor-               die der Beschleunigung der Verfahren dienen
haben in der Familien- und Bildungspolitik (Kapi-              könnten: Man werde außerdem „Personalkapazi-
tel V), schließen sich Kommentare zu den fiskal-               täten verbessern“ (150). Das passt auch zum
politischen Ausführungen im Koalitionsvertrag an
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11 Die hier auffindbare Fassung des Vertrages ist außerdem per Freitextsuche durchsuchbar:
https://fragdenstaat.de/dokumente/142083-koalitionsvertrag-2021-2025/

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„starken Öffentlichen Dienst“, den die Ampelpar-       416). In der Vergangenheit wurden solche Regio-
teien „attraktiver gestalten“ wollen (184-185).        nen durch die sogenannte Aufgreifschwelle iden-
                                                       tifiziert, d.h. man definierte Mindestübertra-
Direktdemokratisch und tatsächlich nach Teil-          gungsraten. Das kleinschrittige Anheben der Auf-
habe klingen nicht nur die „Bürgerräte zu konkre-      greifschwelle hat allerdings dazu geführt, dass
ten Fragestellungen“ (212-213) und „dialogische        Netzbetreiber die bestehenden Kupferleitungen
Bürgerbeteiligungsverfahren“ (300), sondern            durch technische Neuerungen wie bspw. das Vec-
auch das Vorhaben, „Planungen schneller und ef-        toring zu höheren Leistungen gebracht haben,
fektiver“ zu machen, „indem wir Bürgerinnen und        statt sie direkt gegen die sehr viel teureren aber
Bürger früher beteiligen“ (150-151). Frühere und       mittelfristig vielversprechenderen Glasfaserkabel
vereinfachte Beteiligung führt allerdings in der       auszutauschen. Im Sinne des Glasfaserausbaus
Regel zunächst einmal zu mehr Beteiligung. Min-        soll nun unabhängig von der Aufgreifschwelle
destens vordergründig erhöht dies die Entschei-        Nachholbedarf mittels einer Potenzialanalyse
dungsfindungskosten und verursacht einen grö-          aufgezeigt werden (421-422). Wie eine solche Po-
ßeren Bearbeitungsaufwand. Nur wenn dadurch            tenzialanalyse ausgestaltet werden kann und ob
ernsthafte Bedenken früh erkannt, mögliche Al-         der Zeitaufwand im Verhältnis steht, bleibt im
ternativen abgewogen und somit spätere Ein-            Vertrag allerdings offen. Immerhin werden mit
sprüche vermieden werden, kann dieser Baustein         der Erwähnung einer „Förderung mittels Vou-
zu einer schnelleren Planung und vor allem zu          cher“ (425) und der Möglichkeit „negativer Aukti-
durchführbaren Projekten führen. Der Erfolg            onen“ (427) Überlegungen zur Nutzung innovati-
hängt also maßgeblich davon ab, inwiefern die          ver Förderinstrumente angedeutet. Um das Po-
frühe Bürgerbeteiligung die Wahrscheinlichkeit         tenzial der Glasfaser zu nutzen und von den be-
späterer Einwände schmälert. In diese Richtung         reits bestehenden Glasfaserleitungen zu profitie-
geht vielleicht das Vorhaben, „bei Planänderun-        ren, plant die Regierung den „Open Access“ zu er-
gen nach Bürgerbeteiligung nur noch neu Be-            möglichen. Gemeint ist, dass verschiedene Wett-
troffene zu beteiligen und Einwendungen nur mehr       bewerber auf bestehende Netze zugreifen und
gegen Planänderungen zuzulassen“ (319-320). Das        auf unnötige Doppelverlegung verzichten kön-
wirkt allerdings dann auch eher weniger partizi-       nen. Laut Koalitionsvertrag sollen „faire Bedin-
pativ. Man wird sehen, wie die Rechnung auf dem        gungen“ für „Investitionsschutz“ sorgen, falls nö-
schmalen Grat zwischen den Wünschen nach be-           tig behält sich die Regierung jedoch vor, den offe-
schleunigten Verfahren und stärkerer Bürgerbe-         nen Zugang regulatorisch durchzusetzen (417).
teiligung aufgeht.                                     Hier ist Vorsicht geboten und Fingerspitzengefühl
                                                       gefragt. Während die gemeinsame Nutzung be-
Dass die „digitale Infrastruktur“ (413 ff.) Deutsch-   stehender Leitungen aus Effizienzgründen sinn-
lands noch immer weit von einer internationalen        voll ist, sollte die Durchsetzung vor allem durch
Konkurrenzfähigkeit entfernt ist, ist ein offenes      positive Anreize angestrebt werden. Ein nicht als
Geheimnis. Auch nach jahrzehntelangen Ankündi-         ausreichend empfundener Investitionsschutz bei
gungen vorheriger Regierungen, die Versäum-            regulatorisch durchgesetztem Open Access
nisse nun aber wirklich entschlossen anzugehen,        könnte private Investorinnen und Investoren ab-
rangiert Deutschland beim Anteil der Glasfaseran-      schrecken und dem Ziel des beschleunigten Netz-
schlüsse an allen stationären Betriebsanschlüs-        ausbaus erneut entgegenwirken.
sen auf dem viertletzten Platz im OECD Ranking.
Die neue Regierung setzt sich erneut die „flächen-     Unter dem Schlagwort „digitaler Bürgerrechte“
deckende Versorgung mit Glasfaser und dem neus-        versprechen die Koalitionäre nicht nur abstrakt,
ten Mobilfunkstandard“ zum Ziel (414-415). Dabei       „die digitale Souveränität“ der Bürgerinnen und
sieht sie vor, den eigenwirtschaftlichen Ausbau        Bürger zu sichern, sondern konkretisieren dies
zu priorisieren. Gefördert werden soll vor allem       u.a. mit einem „Recht auf Interoperabilität und
dort, „wo der Nachholbedarf am größten ist“ (415-      Portabilität sowie das Setzen auf offene Stan-

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dards“ (439-440). Solche Vorgaben sind aus öko-        Im Rahmen eines sog. „Klimachecks“ muss zu-
nomischer Sicht zugleich geeignet, die Markt-          künftig jeder neue Gesetzesentwurf auf „die Ver-
macht großer Messengerdienste wie Whatsapp             einbarkeit mit den nationalen Klimaschutzzielen“
und Social-Media-Plattformen wie Facebook und          überprüft werden (1776-1777). Dieses Vorgehen
Twitter zu begrenzen und so den Wettbewerb             entspricht zwar nicht dem von den Grünen ur-
aufrecht zu erhalten oder zu ermöglichen. Um die       sprünglich verlangten Vetorecht des Klimares-
Interoperabilität zu gewährleisten, werden aller-      sorts, ist allerdings tatsächlich als Schritt in Rich-
dings gemeinsame Standards notwendig sein.             tung „Klimaschutz als Querschnittsaufgabe“
Sich auf solche zu einigen und diese technisch         (1775) zu verstehen. Allerdings soll diese Einschät-
umzusetzen ist keine triviale Aufgabe. Besonders       zung nicht zentral, sondern dezentral in den je-
wichtig ist hierbei, dass man sich nicht bei dem       weiligen Ressorts erfolgen. Unterschiedliche Ein-
kleinsten gemeinsamen Nenner in Punkto Sicher-         schätzungen aufgrund von uneinheitlichen Stan-
heit und Datenschutz trifft. Dazu führt die neue       dards können daher die Vergleichbarkeit der Be-
Regierung aus, dass „das Kommunikationsge-             urteilungen gefährden. Auf der anderen Seite
heimnis, ein hoher Datenschutz und hohe IT-Sicher-     könnten durch die Klimachecks ressortübergrei-
heit sowie eine durchgängige Ende-zu-Ende-Ver-         fende Abstimmungen über eben solche Stan-
schlüsselung sichergestellt“ würden (954-955).         dards systematisch in Gang kommen.
Anhand dieser Aspekte wird der Erfolg einer ver-
pflichtenden Interoperabilität gemessen werden         Für den Verkehrssektor – den einzigen Sektor, in
müssen. Fraglich ist, ob in der Folge Dienste wie      dem die Treibhausgasemissionen seit 1990 nicht
bspw. Threema, welche besonders hohen Wert             zurückgegangen sind – wurden äußerst ambitio-
auf Datenschutz legen, aus dem Markt gedrängt          nierte Ziele formuliert. „Gemäß den Vorschlägen
werden und was solche Effekte wiederum für die         der Europäischen Kommission werden […] in Eu-
Wettbewerbsintensität auf digitalen Märkten be-        ropa [ab] 2035 nur noch CO2-neutrale Fahrzeuge
deuten würden.                                         zugelassen“ (1646-1647). Die Ampelparteien stel-
                                                       len dieses Ziel nicht in Frage. Allerdings kann ein
                  Dem „Klimaschutz in einer so-        reines Verbot von Neuzulassungen weder verhin-
                  zial-ökologischen     Marktwirt-     dern, dass Altfahrzeuge länger gefahren werden,
                  schaft“ (702 ff.) haben die Koali-   noch, dass es zu Vorzugseffekten kommt und die
                  tionäre das mit Abstand längste      Ankündigung des Verbotes dazu führt, dass kurz
                  Kapitel III gewidmet. Ganze 198-     vorher sogar mehr Verbrenner gekauft werden.
                  mal kommt das Wort „Klima“ in        Derartige, den eigentlichen Zielen zuwiderlau-
dem 174-seitigen Dokument vor, die Klimaschutz-        fende Verhaltensanpassungen sind wahrschein-
ziele von Paris werden bereits in der Präambel als     lich, solange perspektivisch nicht klar ist, wann
„oberste Priorität“ bezeichnet (52). Festzuhalten      sich alternative Antriebe finanziell ohnehin loh-
bleibt allerdings zunächst, dass sich die großen       nen. Vielleicht aus diesem Grund setzt die neue
Oberziele mit denen decken, die ohnehin schon          Regierung parallel auf die Ausweitung der E-Mo-
auf der EU-Ebene sowie von der alten Regierung         bilität und verkündet, bereits 2030 sollten „min-
im Klimaschutzgesetz festgehalten worden wa-           destens 15 Millionen vollelektrische Pkw“ (797-
ren: „Dekarbonisierung [der Wirtschaft] zur Ein-       798) auf den deutschen Straßen unterwegs sein.
haltung des 1,5-Grad-Pfads“ (707) und „Klimaneut-      Dies entspräche etwa einem Drittel der KFZs auf
ralität spätestens 2045“ (1764). Die große Koali-      deutschen Straßen. Die Vorgängerregierung der
tion wurde dafür kritisiert, dass kaum konkrete        Großen Koalition war hier mit dem Ziel von nur 10
Maßnahmen festgelegt wurden. Leider gehen die          Millionen elektrisch unterstützten Fahrzeugen
Formulierungen allerdings auch in diesem Vertrag       (wohlgemerkt also inklusive Hybridantriebe) weit
an vielen Stellen nicht über vage – wenngleich         weniger ambitioniert. Ehrgeiz alleine genügt aber
teilweise ambitionierte – Absichtserklärungen          auch hier nicht, man braucht auch realistische
hinaus.                                                Ideen zur Umsetzung der Ziele. Deutschland zum

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„Leitmarkt für Elektromobilität“ (1643) zu ma-         Maßnahmen (wie z.B. Zertifikatelöschung oder
chen und 15 Millionen vollelektrische PKW bis          Mindestpreis etc.)“ ergreifen, „damit der CO2-
2030 zuzulassen würde laut Überschlagsrech-            Preis langfristig nicht unter 60 Euro/Tonne fällt“
nung des Energiewirtschaftlichen Instituts an der      (2042-2043). Auf Basis dieser Festlegung kann mit
Uni Köln erfordern, dass bis 2025 83% und bis 2030     sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegan-
94% aller Neuzulassungen auf rein batteriebetrie-      gen werden, dass Kohle bis 2030 ohne weiteres
bene Fahrzeuge entfallen. Leider bleiben die Aus-      Zutun alleine aufgrund der Preissignale aus dem
führungen zu den dafür sicherlich erforderlichen       deutschen Energiemarkt gedrängt wird. Dass die
konkreten Schritten äußerst vage. Zwar soll der        Koalitionäre hier ordnungspolitisch systematisch
„vorauslaufende Ausbau der Ladeinfrastruktur“          auf Marktmechanismen setzen, statt ein gesetzli-
(1655) ressortübergreifend beschleunigt und ent-       ches Verbot auszusprechen, wie es die oben er-
bürokratisiert werden. Über weitere Anreize zum        wähnten Kabarettisten offenbar für vorzugswür-
Kauf der immer noch verhältnismäßig teuren E-          dig halten, ist nicht nur prinzipiell der Sozialen
Autos nach Auslaufen der Innovationsprämie             Marktwirtschaft angemessen, sondern auch inso-
2025 ist aber noch nichts bekannt. Ähnlich unkon-      fern clever, als dass auf diese Weise weitere teure
kret bleiben die Maßnahmen, die zu dem Ziel füh-       Entschädigungszahlungen für die Kraftwerksbe-
ren sollen, dass bis 2030 die Verkehrsleistung des     treiber vermieden werden können.
öffentlichen Personenverkehrs verdoppelt wird
(1572-1573): „Sofern haushalterisch machbar, soll      Vor dem Hintergrund der ehrgeizigen Ausbau-
die Nutzung der Schiene günstiger werden, um die       ziele für Elektroautos und der installierten Leis-
Wettbewerbsfähigkeit der Bahnen“ (1574-1575)           tung von Elektrolyseuren zur Wasserstoffgewin-
gegenüber dem Individualverkehr zu stärken.            nung muss in der kommenden Legislaturperiode
Dass der Fußverkehr „strukturell unterstützt und       mit einem massiven Anstieg der Energienach-
mit einer nationalen Strategie unterlegt werden“       frage gerechnet werden. Voraussetzung für ein
soll (1703-1704) klingt fast schon satirisch – um es   entsprechendes Angebot ist der ambitionierte
positiv auszudrücken: solche Formulierungen            Ausbau von Erneuerbaren Energien. 2030 sollen
schaffen zukünftigen politischen Spielraum. Im         80 Prozent des Stromverbrauchs aus erneuerba-
Vorfeld diskutierte konkrete Maßnahmen wie die         ren Energiequellen stammen (1798). „Alle geeig-
Abschaffung der Pendlerpauschale und des               neten Dachflächen sollen künftig für Solarenergie
Dienstwagenprivilegs oder die Einführung eines         genutzt werden“ (1825) – verpflichtend allerdings
allgemeinen Tempolimits auf deutschen Auto-            nur bei gewerblichen Neubauten. Auch die Kapa-
bahnen werden offenbar nicht mehr erwogen.             zitäten für Offshore Windanlagen sollen erheb-
                                                       lich gesteigert und im Vergleich zu anderen Ener-
Konkreter wird der Koalitionsvertrag indes bei         giequellen prioritär behandelt werden. „Für die
dem Thema Energiewende. „Ein beschleunigter            Windenergie an Land sollen zwei Prozent der Lan-
Ausstieg aus der Kohleverstromung“ soll „idealer-      desflächen ausgewiesen werden“ (1834). Man darf
weise […] schon bis 2030“ gelingen (1890-1891) –       gespannt sein, ob die dazu notwendige Beschleu-
also acht Jahre früher oder, anders formuliert,        nigung von Planungsverfahren für den Bau von
doppelt so schnell wie zuvor geplant. Diese For-       Windanlagen gelingt. Entsprechende Schritte sol-
mulierung, die Kabarettisten dankbar und ge-           len bereits im ersten Halbjahr 2022 unternommen
nüsslich unzählige Male aufgegriffen haben, folgt      werden. Besonders erwähnenswert ist in diesem
einem aus Sicht des Finanzministers klug erschei-      Zusammenhang das Vorhaben der Koalitionäre,
nenden Kalkül: Die meisten Studien prognostizie-       den Klimaschutz und die Versorgungssicherheit
ren, dass der CO2-Preis im EU-Zertifikatehandel        regelmäßig als höherwertige Ziele zu betrachten
zukünftig strukturell nicht unter 60 Euro je Tonne     als beispielsweise Lärmschutz, Artenschutz etc.:
fallen wird. Um auf Nummer sicher zu gehen, for-       „Bei der Schutzgüterabwägung setzen wir uns da-
mulieren die Koalitionäre diesen Preis sogar als       für ein, dass es einen zeitlich bis zum Erreichen der
administrativ festgelegte Untergrenze. Man             Klimaneutralität befristeten Vorrang für Erneuer-
werde nötigenfalls „entsprechende nationale            bare Energien gibt“ (1812-1814). Ob eine solche auf

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nationaler Ebene entschiedene Vorrangregelung        was aus Sicht vieler Klimaforscherinnen und Kli-
mit dem in der Europäischen Union geltenden          maforscher viel zu gering ist. Mit dem nationalen
Umweltrecht sowie mit der Biodiversitätsstrate-      Brennstoffemissionshandelsgesetz liegt ein In-
gie der EU, aber auch mit deutschem Recht, ver-      strument auf dem Tisch, das ohne großen Auf-
einbar ist, bleibt abzuwarten.                       wand hätte genutzt werden können. Die Mutlo-
                                                     sigkeit der Ampelparteien überrascht insbeson-
Um Deutschland bis 2030 zum „Leitmarkt für           dere vor dem Hintergrund, dass mit dem „Klima-
Wasserstofftechnologien“ (759-760) zu machen,        geld“ durchaus ein „sozialer Kompensationsme-
soll der Aufbau einer leistungsfähigen Wasser-       chanismus“ (2052-2053) in der politischen De-
stoffwirtschaft in den nächsten Jahren über          batte bekannt und verstanden scheint. Mit dem
staatliche Förderprogramme vorangetrieben            Klimageld könnte sozialen Verwerfungen auf-
werden. „Erdgas ist für eine Übergangszeit unver-    grund von hohen Energiepreissteigerungen wirk-
zichtbar“ (1930) und soll also als Brückentechno-    sam und sichtbar begegnet werden.
logie die bezahlbare Stromversorgung in den
nächsten Jahren sicherstellen. Dieser Entschei-      Positiv zu bewerten ist der Ansatz, die nationale
dung liegt die Logik zugrunde, dass Gaskraft-        Industriestrategie in europäische Lösungen ein-
werke schneller hochgefahren und damit flexib-       zubetten, um beispielsweise das Abwandern von
ler für das Füllen von Produktionslöchern einge-     Unternehmen in Regionen mit niedrigeren Klima-
setzt werden können als Kohlekraftwerke. Neue        schutzauflagen (Carbon Leakage) zu verhindern
Gaskraftwerke sollen so gebaut werden, dass sie      (745-746). Konkret soll hier die Einführung eines
zukünftig für die Wasserstoffproduktion einge-       „europaweit wirksamen CO2-Grenzausgleichsme-
setzt werden können. Die Dauer von Genehmi-          chanismus oder vergleichbar wirksamer Instru-
gungsverfahren und des eigentlichen Baus lässt       mente“ (752-753) angestrebt werden. Hier bleibt
allerdings vermuten, dass neue Gaskraftwerke         jedoch abzuwarten, welche konkreten Ausgestal-
erst in 10 bis 15 Jahren in Betrieb gehen werden.    tungsoptionen sich als WTO-konform und gleich-
Die Frage, ob diese Rechnungen aufgehen, wird        zeitig mehrheitsfähig innerhalb der EU heraus-
Expertinnen und Experten in den kommenden            stellen werden.
Jahren beschäftigen. Auch die damit einherge-
hende weiter zunehmende Abhängigkeit von rus-        Die heimische Industrie soll durch verschiedene
sischem Gas wird nicht weiter behandelt, obwohl      Maßnahmen zur Schließung von „Wirtschaftlich-
sie geopolitisch hochbrisant ist. Hier könnte eine   keitslücken“ (750) unterstützt werden. Beson-
Sollbruchstelle der neuen Regierungskoalition        ders interessant sind hier die nur beiläufig er-
angelegt sein. Wenig überraschend wird auch die      wähnten und nicht im Detail ausgeführten „Car-
Erforschung und Verwendung von Nukleartech-          bon Contracts for Difference (Klimaverträge,
nologie im Koalitionsvertrag nicht thematisiert.     CCfD)“ (749) oder Differenzverträge für CO2. Die
Im Kontext unterschiedlicher klimapolitischer        grundsätzliche Idee lässt sich folgendermaßen er-
Vorstellungen auch innerhalb der EU ist auch die-    läutern: Unternehmen tätigen emissionsmin-
ses Thema auf Dauer kaum vermeidbar und ge-          dernde Investitionen nur dann, wenn sie erwar-
eignet, innerhalb der Regierung interessante De-     ten, dass sie in Zukunft überschüssige Emissions-
batten zu befeuern.                                  zertifikate verkaufen können oder andernfalls
                                                     solche Zertifikate kaufen müssten. Die Investitio-
Enttäuschend ist, dass der innerdeutsche CO2-        nen erscheinen entsprechend nur dann lohnend,
Preis für fossile Treibstoffe und Heizmittel nicht   wenn in Zukunft hinreichend hohe Preise erwar-
angepasst wird: „Aus sozialen Gründen [halten        tet werden, d.h. höhere als die eigenen Grenzver-
wir] am bisherigen BEHG-Preispfad fest“ (2049-       meidungskosten. Nur wenn es geringere Kosten
2050). Der Preis für eine Tonne CO2 wird wie von     verursacht, eine Tonne CO2 zu vermeiden, als das
der alten Regierung beschlossen in den nächsten      Recht zur Emission dieser Tonne zu erwerben,
vier Jahren schrittweise auf 55 Euro ansteigen,      lohnt sich die Investition in die Vermeidung aus

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rein finanzieller Sicht. Insbesondere in energiein-     gezwungen wären. Die Verträge geben Unter-
tensiven Industrien liegen die CO2-Grenzvermei-         nehmen wichtige Planungssicherheit und damit
dungskosten allerdings häufig weit über dem ak-         Anreize zur CO2-Reduktion. Abzuwarten bleibt al-
tuellen Preis für Emissionszertifikate. Diese Un-       lerdings, ob sich das Instrument als effektiv her-
ternehmen können nun einen Differenzvertrag             ausstellt. Ein Anstieg von emissionsmindernden
mit dem Staat oder einer vom Staat beauftragten         Investitionen ist dann zu erwarten, wenn die Un-
Institution abschließen, in dem sie einen CO2-          sicherheit über die zukünftige CO2-Preisentwick-
Preis festlegen, ab dem die private Investition in      lung heute maßgeblich zur Investitionszurückhal-
die Emissionsvermeidung für das Unternehmen             tung führt. Auch dürfen die Differenzverträge
attraktiv wird. Liegt der Preis im europäischen         nicht langfristig die Informationssignale und Ver-
Emissionshandel in den ersten Jahren nach der In-       haltensanreize eines beweglichen CO2-Preises au-
vestition zunächst unter diesem vereinbarten            ßer Kraft setzen.
Preis, bekommt das Unternehmen die Differenz
zwischen Vertragspreis und tatsächlichem Markt-         Insgesamt sind diese marktorientierten Ansätze
preis für jede dank der Investition eingesparte         im Klimaschutz vielversprechend. Aus der ord-
Tonne CO2 – im Vergleich zu einer konventionel-         nungspolitischen Sicht marktwirtschaftlich orien-
len Referenztechnologie – vom Staat ausbezahlt.         tierter Ökonomen sind einheitliche CO2-Preise
Umgekehrt zahlt das Unternehmen die entspre-            das Mittel der Wahl, um der Klimaproblematik ef-
chende Differenz an den Staat (zurück), falls der       fizient und damit möglichst wirkungsvoll zu be-
CO2-Preis am Markt über den im Vertrag verein-          gegnen. Das Preissystem als Instrument dezent-
barten Preis hinaus ansteigt und sich die Investi-      raler Informationsverarbeitung zu nutzen, privat-
tion entsprechend bereits amortisiert hat. Aus          wirtschaftliche Bemühungen durch Eigentums-
wirtschaftspolitischer Perspektive sind Differenz-      schutz, vertragliche Lösungen und Haftungsre-
verträge direkten einmaligen Subventionen in            geln anzureizen sowie den privaten Akteuren von
gleich dreierlei Hinsicht überlegen: Erstens fallen     Seiten der Politik einerseits klare Rahmensetzun-
für den Staat grundsätzlich nur dann Kosten an,         gen vorzugeben, ihnen andererseits aber durch
wenn die Unternehmen die angekündigten Min-             langfristig verlässliche Politik auch Planungssi-
derungsziele tatsächlich einhalten. Zweitens wer-       cherheit zu bieten sind die bewährten Elemente
den nur diejenigen Unternehmen einen solchen            der Sozialen Marktwirtschaft.
Vertrag abschließen, denen die Investition nicht
ohnehin schon aufgrund eigener Erwartungen              Selbst wenn die im Koalitionsvertrag festgeleg-
über die CO2-Preisentwicklung lohnend er-               ten Klimaschutzmaßnahmen dazu beitragen
scheint. Drittens erhält der Staat Subventionszah-      könnten, den globalen Temperaturanstieg zu
lungen zurück, wenn sich im Nachgang der Inves-         bremsen, können die lokalen Folgen des bereits
tition herausstellt, dass sie sich auch ohne staatli-   beobachtbaren und des auch im bestmöglichen
che Zuzahlung gelohnt hätte, da die tatsächlichen       Fall noch zu erwartenden Klimawandels nicht ver-
CO2-Preise die Grenzvermeidungskosten über-             hindert werden. Naturereignisse, wie bspw.
steigen.                                                Starkregenfälle, welche die Flutkatastrophe im
                                                        Sommer 2021 ausgelöst haben, werden sich wie-
Politökonomisch kann die vertragliche Zusiche-          derholen und in ihrer Frequenz und Intensität zu-
rung eines CO2-Preises als Vertrauens- und Glaub-       nehmen. Ohne Gegenmaßnahmen werden zu-
würdigkeitssignal an die Industrie interpretiert        künftige Naturkatastrophen erneut Menschenle-
werden. Je nach konkreter Ausgestaltung der             ben kosten und mit erheblichen finanziellen Ver-
Verträge werden sogar zukünftige Regierungen            lusten verbunden sein. Folgerichtig wird an ver-
in die Verantwortung genommen, für einen stabi-         schiedenen Stellen im Koalitionsvertrag angedeu-
len bzw. steigenden CO2-Preis zu sorgen, da sie         tet, dass Klimaanpassungsmaßnahmen mitge-
andernfalls zu höheren staatlichen Zahlungen ge-        dacht werden sollen, z.B. beim Bodenschutz
genüber den Vertragspartnern in Klimaverträgen          (1305) oder Städtebau (3071). Zusätzlich wird
                                                        dem Bereich „Klimaanpassung“ ein Unterkapitel

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(ab 1252) gewidmet, welches jedoch sehr kurz                           In Kapitel IV (2136 ff.) finden sich
und wenig konkret ausfällt. Unter expliziter Be-                       die Ausführungen der Ampelpar-
zugnahme auf die Flutkatastrophe 2021 soll eine                        teien zu den Themenbereichen
„vorsorgende Klimaanpassungsstrategie“ erarbei-                        „Arbeit“, „Sozialstaat, Alters-
tet werden (1253). Mit einem „Klimaanpassungs-                         vorsorge,        Grundsicherung“,
gesetz“ soll ein Rahmen geschaffen werden, um                          „Pflege und Gesundheit“ sowie
gemeinsam mit den Ländern Anpassungsziele in         „Bauen und Wohnen“. Dass das wenig greifbare
verschiedenen Handlungsfeldern zu erreichen          Kriterium des „Respekts“ im Koalitionsvertrag an
(1254-1256). Erste dringliche Maßnahmen sollen       mehr als 50 Stellen eine Rolle spielt und in den so-
mit einem „Sofortprogramm“ auf den Weg ge-           zialpolitischen Themen besonders zur Geltung
bracht werden (1257-1258). Tatsächlich erschei-      kommt, erstaunt nach dem SPD-Wahlkampf von
nen diese Schritte angemessen und notwendig,         Kanzler Scholz nicht wirklich. Dass die Koalitio-
da eine effektive Klimavorsorge nur von Bund         näre aber auch eine „gerechte Entlohnung“ zur
und Ländern gemeinsam geleistet werden kann.         Grundlage unseres gesellschaftlichen Wohl-
Während strategische Vorgaben vom Bund kom-          stands erklären (2138) und damit suggerieren, für
men sollten, kennen die Akteure in den Ländern       „gerechte“ und „armutsfeste“ (Mindest)Löhne
und Kommunen die lokalen Strukturen und kön-         (2281) sorgen zu können, kann einem ob der kon-
nen Maßnahmen gezielt implementieren. Auch           zeptionellen Unschärfe schon einen Schauer über
werden „bundeseinheitliche Standards für die Be-     den Rücken laufen lassen. Nach welcher Vorstel-
wertung von Hochwasser- und Starkregenrisiken        lung ökonomischer Zusammenhänge kann man
und die Erstellung und Veröffentlichung von Gefah-   alleine mit der Festlegung von Löhnen Armut ver-
ren- und Risikokarten“ (1263-1265) angekündigt.      meiden? Was ist mit unterschiedlicher Erwerbsfä-
Zudem soll der „Ausnahmekatalog für die Geneh-       higkeit, unterschiedlicher Beschäftigungsmög-
migung von Bauvorhaben in ausgewiesenen Über-        lichkeit und Arbeitsnachfrage oder unterschied-
schwemmungsgebieten“ überprüft und ggf. ange-        lich großen Bedarfsgemeinschaften der Lohn-
passt (1265-1266), „Entsiegelungsprojekte“ durch-    empfängerinnen und -empfänger? Nach welchem
geführt (1270) und die „Warnstrukturen“ für den      ordnungspolitischen Verständnis der Sozialen
Bevölkerungsschutz (3499) verbessert werden.         Marktwirtschaft bestimmt die Regierung die
Privathaushalte sollen „mit einer KfW-Förderung      Löhne? Und wie schlicht ist das Verständnis von
bei der Hochwasser- und Starkregenvorsorge“ un-      „Gerechtigkeit“, wenn Politikerinnen und Politi-
terstützt werden (1267-1268). Hier muss darauf       ker glauben, die Gerechtigkeit sei bislang daran
geachtet werden, dass das Bauen in riskanten La-     gescheitert, dass Vorgängerregierungen kein In-
gen nicht indirekt subventioniert wird.              teresse daran hatten. Welche Ministerinnen und
                                                     Minister verfügen über die Weisheit, gerechte
Nicht im Koalitionsvertrag zu finden sind Maß-       Löhne zu definieren? Gut, so scharf darf man nicht
nahmen, die zu einer Verbesserung des Informa-       nachfragen. Es geht um politisches Marketing.
tionsstandes in der Gesellschaft oder zu einer       Was also geben die konkreteren Abschnitte her?
Schärfung des Risikobewusstseins gegenüber
Naturgefahren beitragen würden. Noch erstaun-        Versprochen wird eine „Ausbildungsgarantie“
licher erscheint, dass im Koalitionsvertrag keine    (2169), die allen Jugendlichen einen Zugang zu ei-
Vorschläge zum zukünftigen Umgang mit den fi-        ner vollqualifizierenden Berufsausbildung ermög-
nanziellen Folgen von Naturkatastrophen auftau-      lichen soll. Was dies genau bedeutet und wie es
chen. Dabei sind die enormen finanziellen Schä-      umgesetzt würde, bleibt unklar. Der Grundge-
den, die durch Naturkatastrophen verursacht          danke, in Anbetracht der demografischen Ent-
werden, aufgrund der jüngsten Hochwasserkata-        wicklung und der zunehmend wichtigeren beruf-
strophe so präsent wie nie. Dennoch findet sich      lichen Qualifizierung, noch weit mehr Energie als
kein Satz zur Diskussion um verpflichtende Ele-      bisher darauf zu verwenden, wirklich allen Men-
mentarschadenversicherungen für Privathaus-          schen Integrationsmöglichkeiten in eine qualifi-
halte.                                               zierte Erwerbstätigkeit zu erschließen, ist aber

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löblich. Die im Abschnitt kurz erwähnten weite-       Und natürlich gibt es Dilemmata, die es den ein-
ren Ankündigungen lassen darauf hoffen, dass          zelnen Akteuren erschweren, ohne gesellschaftli-
auch in der Umsetzung ernsthafte Verbesserun-         che Unterstützung zueinander zu finden. Hier
gen angestrebt werden.                                wollen die Parteien der Ampel also entschlossen
                                                      anpacken. Jedenfalls werden im Bereich der Wei-
Zur Förderung von Bildung und Ausbildung soll         terbildung gesamtgesellschaftlich finanzierte An-
ein „Lebenschancen-BAföG“ (2197) und die Mög-         reize versprochen, die Unternehmen beispiels-
lichkeit zum „Bildungssparen in einem Freiraum-       weise durch ein „ans Kurzarbeitergeld angelehn-
konto“ (2199) eingeführt werden. Was ein wenig        tes Qualifizierungsgeld“ (2215) bei Weiterbil-
esoterisch klingt und sich damit nahtlos in die       dungsaktivitäten ihrer Beschäftigten unterstüt-
neuerdings von Marketingexperten formulierten         zen und Arbeitslosengeld- oder Grundsicherungs-
Gesetzesüberschriften und Instrumentenbe-             empfängerinnen und -empfänger durch Erhö-
zeichnungen einfügt, erinnert an das bereits 2016     hung ihrer Transferbezüge um monatlich 150
von der damaligen SPD-Arbeitsministerin Andrea        Euro „Weiterbildungsgeld“ (2225) zur Teilnahme
Nahles geforderte „Recht auf Weiterbildung“,          an den (zum Teil staatlich finanzierten) Aus- oder
den Umbau der Arbeitslosenversicherung zu ei-         Weiterbildungsmaßnahmen motivieren sollen.
ner „Arbeitsversicherung“ und das 2017 mindes-
tens auch für Weiterbildung gedachte „Erwerbs-        Selbstständige sollen einen „erleichterten Zugang
tätigenkonto“. Auch die Klarstellung für Arbeits-     zur freiwilligen Arbeitslosenversicherung“ (2261)
lose und erwerbsfähige Bezieherinnen und Bezie-       erhalten. Es ist höchst strittig, ob die bei Selbstän-
her von Grundsicherungsleistungen, eine „Ver-         digen stets unterstellten eigenen Entscheidungs-
mittlung in Arbeit [solle] keinen Vorrang vor einer   möglichkeiten nicht der Idee einer Arbeitslosen-
Aus- und Weiterbildung“ (2222-2223) haben, geht       versicherung diametral entgegenstehen. Ge-
in dieselbe Richtung. Hier blitzt die alte Frage      wöhnlich geht man davon aus, dass Selbständige
nach den Grenzen des vollumfänglichen Fürsor-         eigenverantwortlich entscheiden, ob sie Aufträge
gestaates auf: Wenn der Staat für die Ausbildung      annehmen oder ablehnen sowie die Konditionen
und Weiterbildung, die „Förderung von Grund-          einer vertraglich vereinbarten Tätigkeit frei aus-
kompetenzen“ (2221-2222) und die lebenslange          handeln. Auch die Abschätzung der zukünftigen
Weiterbildung zuständig wird, nimmt er damit          wirtschaftlichen Entwicklung im eigenen Ge-
dann den Unternehmen und Erwerbstätigen die           schäftsumfeld und die Inkaufnahme des entspre-
Verantwortung vollständig ab, aus eigener Kraft,      chenden Risikos gehört zu den Aufgaben und
eigener Motivation und unter Einsatz eigener          Kompetenzen selbständiger Erwerbstätiger. Wo
Ressourcen für zukunftsfähige Qualifikation zu        massive, nicht absehbare und nicht eigenverant-
sorgen? Müsste Weiterbildung nicht im gemein-         wortlich abzufedernde Verwerfungen zutage tre-
samen Interesse von Arbeitgeber- und Arbeitneh-       ten, kann eine Gesellschaft ausnahmsweise auch
merseite liegen? Und kann der Staat diese Verant-     ad hoc reagieren, wie Deutschland in der Corona-
wortung überhaupt übernehmen, d.h. verfügt            Pandemie mit den Überbrückungshilfen I – III, III
das Personal in der Arbeitsagentur über das not-      plus und der Neustarthilfe gerade zeigt. Umso
wendige Wissen, um zu entscheiden, ob eine be-        adäquater diese Krisenprogramme helfen, desto
rufliche Aus- und Weiterbildung die Beschäfti-        weniger attraktiv wird die freiwillige Mitglied-
gungschancen anschließend dauerhaft und aus-          schaft in der Arbeitslosenversicherung für Selb-
reichend erhöht? Es scheint vergessen zu sein,        ständige sein.
wie wenig effektiv die vor den Hartz-Reformen
vorhandenen staatlich geförderten Weiterbil-          Der gesetzliche Mindestlohn wird „auf zwölf Euro
dungssysteme waren. Andererseits ist Qualifizie-      pro Stunde“ erhöht (2278). Das war im Wahl-
rung natürlich der Schlüssel zur Steigerung der       kampf von SPD und Grünen versprochen. Auch
Produktivität sowohl der einzelnen Personen als       wenn es nicht nur unsystematisch und gegenüber
auch der deutschen Volkswirtschaft insgesamt.         den Mitgliedern der Mindestlohnkommission we-

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nig respektvoll erscheint, diese im Wahlkampf-          bau von sozialversicherungspflichtiger Beschäfti-
jahr auszubooten, verwundert es aus polit-öko-          gung in Folge der Einführung des Mindestlohns
nomischer Perspektive nicht wirklich. Bereits vor       gezeigt. Daraus kann jedoch nicht gefolgert wer-
der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns            den, dass auch die nun verkündete höhere Lohn-
hatten viele Ökonominnen und Ökonomen davor             untergrenze nicht oder kaum in den Abbau von
gewarnt, dass ein politisch gesetzter Lohn die          Beschäftigung mündet. Schon gar nicht in einem
Parteien im demokratischen Wettbewerb dazu              möglichen wirtschaftlichen Abschwung. Das Fri-
verleiten werde, sich im Wettkampf um Wähler-           seurhandwerk, die Zeitungsverlage mit ihren Aus-
stimmen gegenseitig zu überbieten. Die Politik,         trägerinnen und Austrägern sowie die Gastrono-
insbesondere die SPD, hatte damals solche Erwar-        mie warnen jedenfalls. Sollten die Arbeitgeber
tungen als abwegig dargestellt und beteuert, dies       hingegen nicht mit einer Reduzierung des Be-
sei institutionell völlig ausgeschlossen. Schließlich   schäftigungsvolumens reagieren, könnte die ein-
werde sich die Bundesregierung nur bei der erst-        hergehende Lohnkostensteigerung in der zwei-
maligen Festlegung der Höhe zum 1. Januar 2015          ten Runde auch die Verbraucherpreise ansteigen
überhaupt einmischen. Danach werde das Verfah-          lassen und in der Debatte um die Inflation Beach-
ren an die Vertreterinnen und Vertreter der Ar-         tung verdienen. Über den direkten Effekt hinaus
beitgeber- und Arbeitnehmerseite sowie der Wis-         könnte es außerdem zu Lohndruck im gesamten
senschaft in der Mindestlohnkommission überge-          Lohngefüge kommen und damit auch zukünftige
ben, die sich wiederum bei ihrer alleine maßgebli-      Tarifabschlüsse treiben. Rund ein Zehntel aller
chen Empfehlung mehr oder minder regelgebun-            Beschäftigten mit Tarifvertrag erhalten bisher
den an den Tarifabschlüssen orientieren würden.         Löhne unter 12 Euro.
Nun, diese institutionelle Vorkehrung hat nicht
davor geschützt, dass der Mindestlohn eben              Auch wenn das erklärte Ziel bei Einführung des
doch zum Spielball des Wahlkampfes wurde. In-           gesetzlichen Mindestlohns 2015 die Reduzierung
sofern ist es schon dreist, nun im aktuellen Koali-     der Haushalte war, in denen neben einem Er-
tionsvertrag erneut zu formulieren, es handele          werbseinkommen ergänzende Hilfen der Grund-
sich bei der Erhöhung um eine „einmalige Anpas-         sicherung bezogen wird („Aufstocker“) und auch
sung“ (2278). „Im Anschluss daran wird die unab-        der aktuelle Koalitionsvertrag „armutsfeste Min-
hängige Mindestlohnkommission über die etwai-           destlöhne“ (2281) verspricht, ist eine Stunden-
gen weiteren Erhöhungsschritte befinden“ (2279-         lohnuntergrenze zur Erreichung solcher Ziele un-
2280). Wer’s glaubt, wird selig.                        geeignet. Stundenlöhne ergeben erst in der Mul-
                                                        tiplikation mit der Anzahl gearbeiteter Stunden
Die Anhebung des Mindestlohns von zum Zeit-             und unter Berücksichtigung individueller Steuer-
punkt des Regierungswechsels 9,60 Euro pro              und Sozialversicherungsbeitragspflichten ein ver-
Stunde um exakt 25 Prozent auf 12 Euro erscheint        fügbares Wochen-, Monats- oder Jahreseinkom-
ausgesprochen kräftig. Die Tarifverdienste stei-        men. Und dieses Einkommen muss mit dem Be-
gen nach Berechnungen des gewerkschaftsna-              darf des jeweiligen Haushalts abgeglichen wer-
hen Instituts WSI im laufenden Jahr durchschnitt-       den. Auch ein Stundenlohn von 15 Euro verhin-
lich um weniger als 2 Prozent. Andererseits wäre        dert keine Armut, wenn davon eine ganze Familie
der Mindestlohn auch nach Empfehlung der ei-            leben muss oder wenn keine Vollzeitbeschäfti-
gentlich zuständigen Mindestlohnkommission im           gung möglich ist. Nur etwa 3 Prozent der soge-
Januar 2022 auf 9,82 Euro und im Juli auf 10,45         nannten Aufstocker sind alleinstehende Vollzeit-
Euro gestiegen. Dennoch bewirkt die Erhöhung            beschäftigte. Entsprechend hat sich die Zahl die-
auf 12 Euro eine politisch durchgesetzte Steige-        ser Aufstocker seit der Einführung des Mindest-
rung des Stundenlohns bei mehr als 7 Millionen          lohns tatsächlich kaum verringert. Beachtliche
Beschäftigten und damit mehr als jedem fünften          Teile der Betroffenen können aufgrund familiärer
Erwerbstätigen. Tatsächlich haben die empiri-           Verpflichtungen oder persönlicher Einschränkun-
schen Studien für Deutschland bisher keinen Ab-         gen nur in Teilzeitbeschäftigung arbeiten, andere

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sind für große Bedarfsgemeinschaften verant-         Der höhere Mindestlohn wird sich in den Einkom-
wortlich, für die sie auch bei höheren Mindestlöh-   men und in den Konsumausgaben dieser Ver-
nen in Vollzeit nicht ohne ergänzende Hilfe auf-     gleichsgruppe niederschlagen und somit mittel-
kommen können. Umgekehrt lebt ein Teil der im        fristig höhere Regelsätze zur Folge haben. Ob
Niedriglohnbereich Beschäftigten in Mehrverdie-      und welche Auswirkungen dies für die reale Kauf-
nerhaushalten und ist deshalb trotz geringer         kraft hat, hängt selbstverständlich von der Preis-
Löhne auf der Ebene der Bedarfsgemeinschaft          entwicklung ab.
gar nicht bedürftig.
                                                     Während sich beim Mindestlohn offenbar SPD
Das ist natürlich auch den Koalitionären bekannt.    und Grüne durchsetzen konnten und ein Zögern
Der Armutsbegriff bezieht sich hier deshalb nicht    der FDP eher in den Nebenaspekten erkennbar
auf die Abwendung existenzieller Not (absolute       wird, ist es im Bereich der Mini- und Midijobs
Armut), sondern auf die relative Armut, d.h. die     (2287) wohl umgekehrt. SPD und Grüne wollten
Einkommenssituation eines betroffenen Haus-          Minijobs in ihrer jetzigen Form eigentlich abschaf-
halts im Vergleich zu anderen Haushalten. In der     fen, während die FDP sie gerne ausweiten wollte.
EU spricht man diesem Konzept folgend von Ar-        Auch unter Ökonominnen und Ökonomen sind
mutsgefährdung, wenn ein Haushalt mit weniger        diese Instrumente kontrovers diskutiert. Einer-
als 60 Prozent des Median-Einkommens auskom-         seits bieten sie Arbeitgebern Flexibilität und Ar-
men muss. Dabei geht es um Nettoäquivalenzein-       beitnehmern einen leichten Zugang zum Arbeits-
kommen, d.h. um ein statistisches Maß, das so-       markt sowie ein unbürokratisches Zusatzeinkom-
wohl den Haushaltskontext als auch andere Ein-       men. Andererseits werden Minijobs als minder-
kommensquellen, insbesondere Transfereinkom-         wertige Beschäftigungsverhältnisse angesehen,
men in die Betrachtung einbezieht. Die Koalitio-     die den Beschäftigten keine ausreichende soziale
näre hingegen verweisen mit ihren Ausführungen       Absicherung garantieren und durch die teilweise
zu „angemessenen armutsfesten Mindestlöhnen“         Steuer- und Abgabenbefreiung begründungsbe-
(2281) auf einen aktuellen Vorschlag der EU-Kom-     dürftige Subventionierungen beinhalten. Die er-
mission für eine Richtlinie über „angemessene        hofften Übergänge von einem Mini- oder Midijob
Mindestlöhne in Europa“, die als Zielgröße an-       in eine reguläre sozialversicherungspflichtige Ar-
strebt, Mindestlöhne auf 60 Prozent des Median-      beit sind empirisch nicht in nennenswertem Um-
stundenlohns zu fixieren. Ob und was eine solche     fang zu beobachten. Aber immerhin tragen sie
relative Lohnfixierung zu einer Armutsbekämp-        zur Aufrechterhaltung der Qualifikation und Be-
fung beitragen kann ist ebenso umstritten wie die    schäftigungsfähigkeit bei, wenn andernfalls ganz
Frage, ob die EU die Kompetenzen für die Set-        auf eine Erwerbstätigkeit verzichtet würde.
zung einer solchen Vorgabe hat. Die Koalitions-
parteien unterstützen das Vorhaben der Kommis-       Für die relativ große Gruppe der verheirateten
sion daher immerhin explizit nur „unter Achtung      Personen in Minijobs (überwiegend Frauen), ist
der europäischen Kompetenzordnung“ (2282).           eine Erhöhung der Arbeitseinkommen über die
                                                     Minijobgrenze hinaus aufgrund der beitrags-
Mindestens eine indirekte Wirkung des erhöhten       freien Familienmitversicherung in der Kranken-
Mindestlohns auf hilfebedürftige Personen in der     und Pflegeversicherung häufig unattraktiv. Na-
Grundsicherung gibt es allerdings mittelfristig      türlich kann man diese Perspektive auch umkeh-
durch den Einfluss auf die Berechnungsgrundlage      ren und darauf hinweisen, dass ohne Privileg der
für den Regelsatz im ALG II oder im neu zu regeln-   Beitragsfreiheit in Minijobs aber bei Fortgeltung
den „Bürgergeld“ (ab 2471, vgl. auch weiter un-      der Familienmitversicherung für dieselben Perso-
ten). Zur Festlegung der Regelsätze wird eine Ein-   nen selbst die Aufnahme einer geringfügigen Er-
kommens- und Verbrauchsstichprobenrechnung           werbstätigkeit unattraktiv würde. Dennoch
von Haushalten mit einem Einkommen knapp             scheint die Fortführung der Minijobs in Kontrast
über dem Transferbezugsniveau herangezogen.          zur Beteuerung der Koalitionäre zu stehen, man

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„werde verhindern, dass Minijobs … zur Teilzeit-      und Gutscheinsystem und die Möglichkeit für flan-
falle insbesondere für Frauen“ würden (2292-          kierende     steuerfreie   Arbeitgeberzuschüsse“
2293). Ebenso unklar bleibt, wie „Hürden, die eine    (2299-2301). Tatsächlich scheint Hubertus Heil das
Aufnahme versicherungspflichtiger Beschäftigung       Konzept aber bereits vollständig in der Schublade
erschweren“ (2288-2289), abgebaut werden sol-         liegen zu haben. 40 Prozent der Kosten sollen bis
len und wie verhindert werden kann, „dass Mi-         zu einer Obergrenze von 2.000 Euro jährlich
nijobs als Ersatz für reguläre Arbeitsverhältnisse    durch einen staatlichen Zuschuss übernommen,
missbraucht“ werden (2292-2293). Bei letzterem        die restlichen 60 Prozent von den Bürgerinnen
ist zudem völlig unklar, inwiefern und woran be-      und Bürgern selbst bezahlt werden. Wer diesen
messen ein Missbrauch vorliegt, wenn in einem         Bonus komplett ausnutzen möchte, hätte unter
Mini- oder Midijob Tätigkeiten verrichtet werden,     Einsatz von eigenen 3.000 Euro ein jährliches
die andernfalls von regulär Beschäftigten erledigt    Budget von 5.000 Euro zur Verfügung, um sich
werden müssten.                                       Hilfe im Haushalt zu organisieren. Dazu kommt
                                                      „die Möglichkeit für flankierende steuerfreie Ar-
Die im Koalitionsvertrag angekündigte Anhebung        beitgeberzuschüsse“, also die Einladung an Ar-
der Lohngrenzen ist hingegen wohl eher keine          beitgeber und Arbeitnehmer bei nächster Gele-
Ausweitung der Mini- und Midijobs, wie häufig zu      genheit anstelle steuer- und beitragspflichtiger
lesen, sondern eher deren Anpassung an die An-        Lohnerhöhungen zum gegenseitigen Vorteil ge-
hebung der Mindestlöhne. Die Minijob-Lohn-            bundene Zuschüsse des Arbeitgebers zur Haus-
grenze von 520 Euro (statt bisher 450 Euro) „ori-     haltshilfe zu vereinbaren. Zunächst soll sich das
entiert sich künftig an einer Wochenarbeitszeit von   Angebot nur an „Alleinerziehende, Familien mit
10 Stunden zu Mindestlohnbedingungen“ (2290-          Kindern und zu pflegenden Angehörigen“ (2303)
2291) und bleibt damit deutlich unter einer pro-      richten, schrittweise aber auf alle Haushalte aus-
portionalen Anhebung im Vergleich zum Mindest-        gedehnt werden.
lohn. Auch die Ausdehnung des Midijob-Bereichs
von bisher 1.300 Euro auf 1.600 Euro monatlich        Hinter der Idee steht der respektable und lange
entspricht in der Größenordnung nicht ganz der        überfällige Versuch, die verbreitete aber nichts-
Erhöhung des Mindestlohns um 25 Prozent.              destotrotz unerträgliche Praxis vieler Privathaus-
                                                      halte anzugehen, die sich für solche Tätigkeiten
Eine bisher in der Öffentlichkeit nur stiefmütter-    auf einem florierenden Schwarzarbeitsmarkt ver-
lich behandelte massive Erweiterung der schon         sorgen. Durch die massive finanzielle Förderung
bisherigen Förderung der Haushaltsnahen               könnte tatsächlich ein Anreiz geschaffen werden,
Dienstleistungen findet sich im Koalitionsvertrag     Teile dieser Beschäftigung in die Legalität zurück-
(ab 2296) direkt unter den Minijobs. In der Marke-    zuholen. Unklar ist aber noch, ob hier die Arbeits-
ting-Variante versieht Arbeitsminister Heil die       nachfrage nach Minijob-Arbeitnehmerinnen und
Idee mit dem Schlagwort „Alltagshelfer“. Auch         Arbeitnehmern geboostert wird oder ganz im Ge-
im Vertrag führen die Koalitionäre aus, dass die      genteil merkwürdigerweise ausgerechnet Mi-
vorgesehene Förderung „die Vereinbarung von           nijobs in haushaltsnaher Beschäftigung ausge-
Familie und Beruf“ sowie „die Erwerbsbeteiligung      schlossen werden sollen. Die Klärung dieser Unsi-
von Ehe- und Lebenspartnern“ unterstützen soll.       cherheit hat Auswirkungen auf die Erfolgswahr-
Gerade Eltern von kleinen Kindern oder pfle-          scheinlichkeit des Konzepts. Für die erstgenannte
gende Angehörige bräuchten beim Putzen der            Erwartung würde sprechen, dass viele legale Hil-
Wohnung, bei der Kinderbetreuung oder der             fen bei Hausarbeit, in der Betreuung von Kindern
Pflege Unterstützung, zumal wenn sie weiterhin        oder bei der unterstützenden Hilfe in der Versor-
erwerbstätig bleiben wollten. Im Koalitionsver-       gung von hilfebedürftigen Angehörigen heute in
trag heißt es noch etwas unbestimmt: „Die Inan-       Minijobs erfolgen. Auch das mit 5.000 Euro Jah-
spruchnahme familien- und alltagsunterstützender      resbudget angedachte Volumen passt bequem in
Dienstleistungen erleichtern wir durch ein Zulagen-   den Einkommensbereich der Minijobs. Dagegen
                                                      und für die zweitgenannte Variante spricht, dass

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Hubertus Heil in Interviews von „zertifizierten Fir-   doch sofort von allen Parteien gleichermaßen ig-
men“ träumt, die berechtigt sein sollen, seine Zu-     norant verweigert. Dennoch verwundert es, wie
schüsse zu bekommen. Und in den kurzen Aus-            entschlossen die Ampelparteien offensichtlich je-
führungen des Koalitionsvertrags wird gleich           den ernsthaften Reformansatz in dieser Legisla-
zweimal erwähnt, dass die Förderung zugleich           turperiode ersticken wollen. Wie schon die Vor-
der Schaffung „sozialversicherungspflichtiger Be-      gängerregierungen drücken sie sich, dieses heiße
schäftigung im Haushalt“ dienen solle (2299 und        Eisen anzupacken, das jedoch ungeachtet dessen
2302). Natürlich gibt es entsprechende Vermitt-        in diesem und dem nächsten Jahrzehnt in seiner
lungsagenturen von Haushaltshelferinnen und -          ganzen Unerbittlichkeit zu Tage treten wird.
helfern, die hier angesprochen sein könnten.           Diese dramatische Umschreibung ist angebracht,
Diese verteuern die Beschäftigung jedoch enorm,        denn auch in diesem Bereich gibt es Kipppunkte,
so dass der Erfolg, die Haushaltshilfen aus der Il-    die Anpassungen immer schmerzhafter werden
legalität in die legale Beschäftigung zu überfüh-      lassen, desto später sie vorgenommen werden,
ren, schon wieder sehr fraglich wird. Es würden        und deren Überschreiten Hoffnungen auf eine
dann drei Modelle der Haushaltshilfe konkurrie-        faire Lösung aus dem Bereich des politisch Durch-
ren: Erstens die illegale Schwarzarbeit ohne Min-      setzbaren herausstreichen. Die damit verbunde-
destlohn, ohne Versteuerung, ohne Sozialversi-         nen Verteilungskonflikte bergen erheblichen wei-
cherungsbeiträge und womöglich auf Seiten der          teren politischen Sprengstoff.
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sogar pa-
rallel mit unberechtigtem Transferbezug. Zwei-         Zunächst fallen also die negativen Aspekte hin-
tens die legale private Beschäftigung zum Min-         sichtlich der Rentenproblematik auf. Der in seiner
destlohn von 12 Euro pro Stunde, pauschaler sehr       Deutlichkeit ungewöhnlich dreiste Dreiklang ver-
niedriger arbeitgeberseitiger Sozialversiche-          blüfft Kenner der Materie: Man werde „das Min-
rungsbeiträge und dank des etablierten Haus-           destrentenniveau von 48 Prozent […] dauerhaft
haltsscheckverfahrens der Minijob-Zentrale eine        sichern“ (2393-2394), es werde „keine Anhebung
einfache, übersichtliche Verwaltung. Drittens die      des gesetzlichen Renteneintrittsalters geben“
Beschäftigung über eine professionelle Agentur,        (2397) und dabei werde „der Beitragssatz nicht
bei der jedoch zusätzlich zur eigentlichen Haus-       über 20 Prozent“ steigen (2394-2395). Es ist schon
haltshilfe auch die Verwaltungs- und Vermitt-          zynisch, dass letzteres Versprechen mit der Halt-
lungsleistung der Agenturmitarbeiter sowie de-         barkeitsgrenze „in dieser Legislaturperiode“
ren Bürokosten und Overheads sowie volle Sozi-         (2394) ausgestattet wird. Angesichts der prog-
alversicherungsbeiträge für alle Beteiligten ge-       nostizierten Alterung der Bevölkerung sind diese
zahlt werden müssten. Ob sich dank der vorgese-        Pläne über die extrem kurze Frist hinaus schlicht
henen Zuschläge letztere Variante für deutlich         eine arithmetische Unmöglichkeit. Es sei denn, es
mehr Haushalte als vorzugswürdig darstellen            wird von vornherein auf eine massive Erhöhung
würde bliebe abzuwarten.                               des Zuschusses aus dem Bundeshaushalt speku-
                                                       liert, was allerdings mehr oder minder dieselben
Aus wirtschaftspolitischer Sicht wirklich bedenk-      jüngeren Erwerbstätigen trifft wie die zunächst
lich ist das fast völlige Fehlen von Maßnahmen,        aufgeschobenen Beitragssatzsteigerungen.
die den Herausforderungen des demographi-
schen Wandels für das System der gesetzlichen          In Anbetracht dieser geballten Ignoranz fällt es
Rentenversicherung (GRV) begegnen. Die Alte-           schwer, sich darüber zu freuen, dass zumindest
rung der Bevölkerung bei zugleich geringen Ge-         stellenweise Maßnahmen im Kleinen angekün-
burtenraten und die sich daraus im Umlagesys-          digt wurden, die womöglich irgendwie und ir-
tem zwangsläufig ergebende Rentenproblematik           gendwann zu nennenswerten Instrumenten der
war aufgrund wissenschaftlicher Studien wäh-           Bewältigung der Rentenproblematik ausgebaut
rend des Wahlkampfs kurz aufgeflackert. Eine           werden könnten. Dazu gehören die geplante Fle-
ernsthafte Auseinandersetzung damit wurde je-          xibilisierung des Renteneintritts (2458), die ergän-
                                                       zende Kapitaldeckung innerhalb der GRV samt

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