Krise - Konflikt - Kommunikation - ESG-NACHRICHTEN 4-5/2022

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Krise - Konflikt - Kommunikation - ESG-NACHRICHTEN 4-5/2022
ESG-NACHRICHTEN            4–5/2022

Krise – Konflikt – Kommunikation
krisengeschüttelt –          Martin Luther           Kirchliche               Rolle rückwärts in der
krisenbewusst – krisenfest   dürfte sich freuen      ‚Krisenkommunikation‘    Zeitenwende?
Veit Laser                   Ulrich Hentschel        Jonas Lehrke             Hans-Gerhard Klatt
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3
Editorial

Liebe
Leser*innen,

ein neues Heft der ansätze, das letzte des Jahres       Der zweite Thementeil verbirgt sich im Ver-
2022, liegt Ihnen nun vor. Es erscheint diesmal,        bandsteil mit zwei Beiträgen auf der ESG-Voll-
auf Grund verschiedener widriger Umstände, die          versammlung 2022. Eckhard Röhm reflektiert
für sich nicht weiter berichtenswert sind, weshalb      über das kapitalistische Wachstumsdogma aus
ihre Aufzählung hier auch unterbleibt, erst zu          theologischer Sicht und Verena Limper berichtet
Anfang des Folgejahres. Wir haben uns darum             von ihrem Workshop zur „Ersten Generation
entschlossen, auf das traditionelle Weihnachts-         Promotion“.
rätsel zu verzichten und werden stattdessen                  Besonders ans Herz legen möchte ich allen
im nächsten Heft ein Osterrätsel bieten, das            Leser*innen den Bericht über die General Assem-
dann hoffentlich nicht nur den Fragehorizont            bly der WSCF im Sommer 2022 in Berlin. Er
erweitern wird.                                         lässt nicht nur das Ereignis wieder aufleben, das
     Der Thementeil ist in diesem Heft zwei-            die Geschäftsstelle im letzten Jahr am meisten in
geteilt. Der eigentliche Thementeil zu Anfang           Bewegung gehalten hat, er atmet auch noch die
des Heftes umfasst vier Beiträge zum Thema              Begeisterung und die beglückenden Erfahrun-
Krise – Konflikt – Kommunikation. Hans-Gerhard          gen, die diese Versammlung von mehr als 100
Klatt, einer meiner Vorgänger als theologischer         Delegierten aus fünf Kontinenten uns geschenkt
Referent der Bundes-ESG, knöpft sich den                hat. Lesen kann man darüber nur hier (und auf
evangelischen Opportunismus vor, dem es in              der Website des EMW), die evangelische Presse-
der „Zeitenwende“ mit der Neuausrichtung der            landschaft hat das Ereignis konsequent igno-
evangelischen Friedensethik gar nicht schnell           riert, obwohl die World Student Christian Fede-
genug gehen kann. Die Debatte um das Witten­            ration nicht nur ein halbes Jahrhundert älter ist
berger Schandmal (vulgo „Judensau“) hat mit             als der ÖRK, sondern auch eine seiner Mütter.
der jüngsten Entscheidung des Wittenberger              Auf epd konnte man in der Woche der General
Gemeindekirchenrates einen neuen Tiefpunkt              Assembly immerhin etwas zum 60. Geburtstag
erreicht. Gegen so viel kleinbürgerlich-provinzielle,   des Schriftführers der Bremischen Landeskirche
latent antisemitische Bockigkeit hilft vielleicht       lesen. Prioritäten müssen gesetzt werden – und
nur noch, dass wir uns bei der nächsten Vollver-        wir tun das auch.
sammlung an den Cranach-Altar der Witten-
berger Stadtkirche ankleben (ich scherze). Dabei        Eine interessante Lektüre wünscht
wäre eine Lösung so einfach: Die Wittenberger
müssten nur das ihnen so lieb und teure Relief
der Potsdamer Garnisonkirche stiften, dann
wäre dort wenigstens etwas echt.

                                                        Uwe-Karsten Plisch

           4–5 2022
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                                                                                                                    Inhalt

Krise – Konflikt – Kommunikation
Umschlag Titelmotiv von Cameron Rainey, Quelle: Pexels
Umschlagrückseite: „Rotes Telefon“ Moskau-Washington-Hotline aus dem Weißen Haus der Carter-Regierung.
Ausgestellt in der Jimmy Carter Library and Museum, Quelle: Wikipedia

Thema                                                          19 Kloster auf Zeit für Studierende
                                                                  vom 28.09.-02.10.2022 im Kloster Wülfinghausen
6   krisengeschüttelt – krisenbewusst – krisenfest                Corinna Hirschberg
    Gedanken zum Umgang mit gesellschaftlichen
    Umbruchsituationen                                         20 Achte Ordentliche Vollversammlung
    Veit Laser                                                    des Verbandes der Evangelischen Studierenden-
                                                                  gemeinden in Deutschland
7   Martin Luther dürfte sich freuen
    Seine Wittenberger verteidigen standhaft ihre „Judensau“   22 Wachstumskritik aus theologischer Sicht
    Ulrich Hentschel                                              Eckhard Röhm

9   Kirchliche ‚Krisenkommunikation‘                           26 Die eigenen Grenzen überschreiten?
    Herausforderungen, Intentionen und Ausdrucksformen            Studierende und Promovierende der ersten Generation
    während und nach Corona                                       Verena Limper
    Jonas Lehrke
                                                               28 NACHHALTIGKEIT groß schreiben
11 Rolle rückwärts in der Zeitenwende?                            Svenja Schürer
   Anfragen an den Drang zur Neuaufstellung
   der Evangelischen Friedensethik                             29 Rejoice in Hope
    Hans-Gerhard Klatt                                            Die 37. General Assembly der WSCF
                                                                  hat endlich stattgefunden
                                                                  Annette Klinke

ESG stellt sich vor                                            31 Pressemitteilung 04/2022
                                                                  Evangelische Studierendengemeinden besorgt über Gewalt
14 Die ESG Mannheim stellt sich vor                               gegen Studierende und Hochschulangehörige im Iran
    Florian Binsch
                                                               32 Die Resolutionen und Beschlüsse der 37. WSCF-GA
                                                                  Zusammenfassungen

Verband                                                        34 Gemeinsam singen in Köln
                                                                  das EinSinGen 2022
17 Corinnas Columne                                               Annette Klinke
   ein Gedicht
                                                               35 Roter Hahn nicht mehr allein
18 Die Geburt der ESG-Ruhr                                        auf dem Weg zum Grünen Hahn
   oder: Wie aus der Not eine Tugend wurde                        Svenja Schürer
    Matthias von Westerholt

                                                                                                         4–5 2022
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Inhalt

Menschen und Nachrichten
36 Kommen und Gehen

   Verabschiedung Martina Rogler

Bücher und Materialien
37 Poetry
   Für Uta!
   Zur Verabschiedung von Uta Giesel
   Ein Psalm verfasst von Johanna Waldeck

38 Handbuch Studierendenseelsorge
   Gemeinden – Präsenz an der Hochschule – Perspektiven
   Rezension von Hans-Ulrich Gehring

Ankündigungen
40 Kunst, Kultur und Kirche in Berlin
   Einladung zur Hauptamtlichenkonferenz der Bundes-ESG

   Save the Date
   Einladung zur Einführungstagung
   für neue Hauptamtliche

41 Kloster auf Zeit für Studierende 2023
   auf dem Schwanberg

   Save the Date
   10. aej/ESG-Forum Wissenschaft und Praxis

42 Abkürzungsverzeichnis / Impressum

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                                                                              Krise – Konflikt – Kommunikation                    Thema

krisengeschüttelt –
krisenbewusst – krisenfest
Gedanken zum Umgang mit
gesellschaftlichen Umbruchsituationen
Veit Laser

Kürzlich stand ich vor dem Spiegel im Bad       Ein Patentrezept, wie Krisen zu bestehen        Doch der Weg in die Freiheit war ein Weg
von Freunden, auf dem zeigte ein Pfeil nach     sind, habe ich nicht. Nicht nur, weil ich we-   durch die Wüste, im tatsächlichen wie im
oben. Ich folgte ihm und erblickte hoch         der Krisenmanager noch Krisentheoretiker        übertragenen Sinn. Auch die Erlösung ge-
oben unter der Decke ein Schild mit der         bin. Anbieten kann ich, was mich das eige-      nannte Befreiung, von der das Neue Testa-
Aufschrift: Kopf hoch! Eine köstliche Par-      ne Leben und weise Wegbegleiter*innen           ment kündet, ist kein auf Rosen gebetteter
odie auf den Spruch aus der Kategorie Das       lehrten. Zu letzteren gehört für mich auch      Weg. Auferstehung wie das Aufstehen
wird schon wieder oder Es wird schon nicht      die Bibel. Was also tun, wenn uns die Ge-       mitten im Leben sind von Schmerz und
so schlimm kommen. Schnell sind sie ge-         wissheiten abhandenkommen? Wie kön-             Abschied begleitet. Ostern ist ohne Kar-
sagt, wenn jemand in Not ist. Ob sie helfen?    nen wir Ohnmacht und ratloses Gerede von        freitag schlichtweg nicht zu haben. Genau
 Wohl am ehesten dem, der sie sagt. Sie         der Zeitenwende überwinden? Tatsächlich         darin liegen für mich der Trost, der Halt,
wollen vielleicht trösten, aber sie trösten     ist eine Krise ein Wendepunkt. Sie ist kein     den ich im Angesicht von Krisen suche.
allenfalls darüber hinweg. Sie sind ein         Dauerzustand, sondern der Höhepunkt
Musterbeispiel für die Abwehr der eigenen       einer langen Entwicklung, an dem sich die       Dass Krisen schmerzlich sind, lehrt das Le-
Hilflosigkeit, der Angst vor dem nüchternen     Konflikte zuspitzen und umschlagen; ob in       ben. Dass wir ihnen nicht das letzte Wort
Blick ins Auge der Tatsachen. Es wird nicht     eine Katastrophe oder etwas konstruktiv         lassen müssen, dazu ermutigt der Glau-
so heißt gegessen wie gekocht wird, weiß        Neues, steht noch dahin. Insofern liegt in      be. Deshalb hängt von unserer inneren
ein altes Sprichwort. Unvergessen bleibt mir,   jeder Krise eine Chance, aber nur, wenn         Einstellung gegenüber den übermächtig
was der Holocaustüberlebende Jizchak            wir aus dem Wissen um die Chance nicht          erscheinenden Verhältnissen ab, ob wir
Schwersenz einmal bei einer Gastvorlesung       ein weiteres Ausweichmanöver machen.            in Angst und Lethargie verharren oder
an der Berliner Humboldt-Universität sagte:     Nur, wenn wir nicht länger dem Geplapper        alles in unseren Händen Stehende tun, ob
Es wird heißer gegessen als gekocht wird.       von der Zeitenwende folgen. Es kaschiert        wir uns in der Illusion einer unmöglichen
                                                nämlich nur die bange Hoffnung, dass wir        Rückkehr in die alten, lebensfeindlichen
Dies geht mir durch den Sinn angesichts         hoffentlich bald wieder so weitermachen         Strukturen verfangen oder den Mut zu
der Krisen, die diese Welt und jede und je-     können wie bisher, wenn die Krise erst          notwendigen Abschieden und Verände-
den von uns erschüttern und verunsichern,       einmal überstanden ist.                         rungen aufbringen. Weil der Körper be-
wenn auch in unterschiedlichem Maß. Die              Wer Krisen bestehen will, braucht den      kanntlich ein Spiegel der Seele ist, wird
Pandemie sitzt uns noch in den Knochen.         Mut zur Krise; braucht die Bereitschaft,        die innere Einstellung auch an der äußeren
Die Demokratie ist so gefährdet wie nie. Der    alte und offensichtlich lebensfeindliche        Haltung erkennbar. Ducken wir uns ängst-
Angriffskrieg auf die Ukraine erschüttert       Denkmuster beherzt zu verlassen, Neues          lich weg oder heben wir den Kopf. Ostern
Europa und die Welt in ihren Grundfesten,       zu wagen. Krisen können zu einer Befrei-        wie das nahende Weihnachtsfest stehen
denn er fordert nicht nur täglich Menschen-     ungserfahrung werden, wenn wir ihren            für die Erwartung, dass es mehr gibt als im
leben. Er zeigt die Fragwürdigkeit und Zer-     Ausgang nicht mit einem Happy End ver-          Augenblick möglich zu sein scheint. Denn:
brechlichkeit eines vom Wachstumswahn           wechseln. Das bedeutet, bittere Wahrhei-        erhobenen Hauptes lebt, dessen Herz sich
getriebenen Wirtschaftsmodells, dem mit         ten nicht zu leugnen und Schmerz zuzu-          aus dieser Sehnsucht nährt, den bitteren
der fossilen Energie auch die Luft auszuge-     lassen. Denn echte Befreiung geschieht          Realitäten zum Trotz. In diesem Sinn wird
hen droht. Statt rechtzeitig auf Sonne und      nicht schmerz- und sorgenfrei. Eine uralte      der eingangs erwähnte Spruch zum hilfrei-
Wind zu setzen, wurden die Warnungen            Einsicht, Kerngedanke biblischer Weisheit.      chen Zuspruch: Kopf hoch!
des Club of Rome seit fünfzig Jahren in den     Der Auszug aus Ägypten, die Befreiung
Wind geschlagen. Es wird schon nicht so         aus der Sklaverei gilt als radikales Datum      Dr. Veit Laser, Hannover
schlimm kommen. Doch er ist da, früher          und durchzieht das Alte Testament – die         aej-Referent für Bildung für nachhaltige
und heftiger als erwartet, der Klimawandel,     hebräische Bibel wie ein roter Faden. Ge-       Entwicklung
die größte all der einander jagenden Krisen.    denke, dass du in Ägypten versklavt warst.

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Thema                      Krise – Konflikt – Kommunikation

Martin Luther dürfte sich freuen
Seine Wittenberger verteidigen standhaft
ihre „Judensau“
Ulrich Hentschel

Die Lutherstadt Wittenberg ist einerseits           steinernen Sau, wenn auch widerwillig, mit   Dabei wird auch in Wittenberg keineswegs
baulich und mental trotz ihres eigenen              dem Thema beschäftigen musste. Hinzu         bestritten, dass das Kirchensau-Relief wi-
ICE-Halts eine kleine Provinzstadt. Sie             kam der kircheninterne Druck aus der EKD     derwärtig und antijüdisch ist, „in Stein
ist aber andererseits das „Rom“, das reli-          (Evangelische Kirche in Deutschland), der    geschlagener Antisemitismus“, wie auch
giöse Zentrum der lutherischen Kirchen              die ganze Debatte langsam unangenehm         das Bundesverfassungsgericht feststellte.
in Deutschland und weltweit. Denn die               wurde. Ein daraufhin vom Gemeindekir-        Warum aber, in drei Teufels Namen, will
Stadtkirche in Wittenberg war die Pre-              chenrat selbst eingesetztes Expertengre-     man es dann an der Kirchenwand belassen?
digtkirche von Martin Luther, und wurde             mium kam zu der Empfehlung, die Sau               Als Rechtfertigung für das Festhalten
dadurch zum evangelischen „Petersdom“,              abzunehmen und an einem anderen Ort          am Schmährelief verweist die Gemeinde
also Pilgerziel, Kundgebungsort, Devoti-            und kritisch kontextualisiert zugänglich     auf ein „Mahnmal“ 1, dass in der Größe ei-
onalien-Handel rundherum, bis heute als             zu machen. Das hatte man in Wittenberg       nes Gullydeckels unterhalb der „Judensau“
„Mutterkirche der Reformation“ auch gern            nicht erwartet. Wenige Tage vor dem Re-      eingelassen ist, und war damit auch bei
von Bischöfinnen und Bischöfen und Poli-            formationstag beschloss der Gemeindekir-     drei deutschen Gerichten bis hin zum BGH
tikern für Predigt-Auftritte genutzt. Doch          chenrat einmütig: „Die als „Judensau“ be-    erfolgreich. Das ist fahrlässig und zynisch,
die Stadtkirche hat einen bösen Makel: An           kannte mittelalterliche Schmähplastik an     denn auf dieser Bodenplatte befindet sich
ihrer Außenwand propagiert eine Skulptur            der Fassade der evangelischen Stadtkirche    neben einem vieldeutigen Kreuzes-Symbol
mit einer Sau, an der sich jüdische Kinder          Wittenberg wird nicht entfernt.“ Ebenso      ein auf Hebräisch formuliertes, also direkt
nähren und ein Rabbiner obszön betätigt,            standhaft wie blind folgen die Witten-       an jüdische Menschen gerichtetes Zitat
einen abgrundtiefen Hass gegen jüdische             berger Protestant*innen ihrem populären      aus dem Psalm 130, der in seiner Anrufung
Menschen und ihren Gott. Theologisch ge-            Ortsheiligen: Hier stehen wir, wir können    Gottes die Sünden des Beters bekennt.
adelt wurde diese „Judensau“ durch Martin           nicht anders. Bemerkenswert ist auch, dass   Auschwitz kann so nur verstanden werden
Luther persönlich. Und noch rechtzeitig             sich der ansonsten an
zum großen Reformationsjubiläum 2017                k irchlichen Dingen
wurde dieses Relief mit staatlichen und             wenig interessier te
kirchlichen Geldern renoviert und das da-           Stadtrat mit all seinen
rüber eingefügte Luther-Zitat vergoldet.            Fraktionen, vorneweg
     Doch seit 2017 gab es auch zunehmend           die AfD und Die Linke
Protest gegen diese Schmähplastik, auf den          inklusive, hinter die
Weg gebracht von einer Online-Petition              Gemeinde gestellt hat.
des Londoner Theologen mit jüdischer                Die „Judensau“ stiftet
Herkunft Richard Harvey. Große Beach-               Volksgemeinschaft.
tung fand zuletzt der Prozess von Michael
Düllmann mit dem Ziel der Abnahme der
Wittenberger Sau, der allerdings durch
drei Instanzen erfolglos blieb. Die öffent­
liche Aufmerksamkeit hatte aber immerhin
zur Folge, dass sich der verantwortliche
Gemeindekirchenrat als Eigentümerin der

1   https://linksabbieger.net/2020/03/24/den-judenhass-verhuellen/
2   https://www.ndr.de/kultur/Wittenberger-Schweinerelief-Kein-
    antisemitischer-Hintergrund,relief102.html                                                      Verbreitungskarte Judensau (Quelle: wikipedia)

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                                                                               Krise – Konflikt – Kommunikation                         Thema

als Folge der Sünden des jüdischen Volkes.        Was also nun? Blamiert hat sich erst einmal
Dass die Juden selbst schuld sind an allem,       die EKD (Evangelische Kirche in Deutsch-
was ihnen an Bösartigkeit und Verfolgung          land), die sich mit großem Einsatz um eine
widerfährt, gehört zu den Standards anti-         Verhaltensänderung ihrer Wittenberger
semitischer Einstellungen.                        Gemeinde bemüht hat.
     Gleichzeitig verbreitet die über Wit-             In der evangelischen Kirche gebe es
tenbergs Stadtgrenzen hinaus bekannte             keinen Platz für Antisemitismus, heißt es
und in der Gemeinde einflussreiche Kunst-         gern und oft. Das ist Schönrednerei, denn
historikerin Insa-Christiane Hennen die           einen prominenteren Platz für hasserfüllte     Die Wittenberger Judensau
irre These, dass die Schmähplastik keinen         Judenfeindschaft als an der Geburtskirche
antisemitischen Hintergrund haben kön-            des Lutherturms kann es gar nicht ge-          Ja, wie wäre es? Da solche frommen Wün-
ne, weil es im Mittelalter und bei Martin         ben. Wie wäre es also, wenn sich einige        sche erfahrungsgemäß in der Kirche keine
Luther noch gar keinen Antisemitismus             lutherische Bischöfinnen und Bischöfe und      Resonanz finden, legt sich eine ganz andere,
gegeben hätte. Sie könne zwar verstehen,          der Rat der EKD einmal an die Stadtkirche      real-zynische Perspektive nahe:
,,dass sich jemand durch ein Objekt, das an-      begeben würden, um dort handfest ihren              Nicht mehr nur die Schmähplastik
dere Menschen aus welchen Gründen auch            Worten Glaubwürdigkeit zu verleihen?           an der Außenwand der Kirche, sondern die
immer angebracht haben, beleidigt fühlen               Und wie wäre es, wenn die evangeli-       ganze Stadtkirche mit ihrem Vorstand und
kann“, stellt aber „sehr in Frage, ob das in      schen Kirchen sich dafür einsetzen würden,     ihren Pastoren legen dauerhaft ein leben­
diesem Fall sinnvoll ist“ 2 . Tja, liebe Juden,   den staatlichen Feiertag zu Luthers Thesen-    diges Zeugnis dafür ab, dass Judenfeind-
ihr dürft zwar beleidigt sein, aber sinnvoll      anschlag wieder aufzugeben und statt-          schaft und Antisemitismus trotz aller
ist das nun wirklich nicht. Zudem sei das         dessen den jüdischen Gemeinschaften in         gegenteiligen Bekundungen fortwirken.
Spottbild anfänglich nur „als ein Appell          Deutschland die Wahl lassen, welcher ihrer     Das Weltkulturerbe Stadtkirche St. Marien
gemeint, sich von fremden Bräuchen fern-          Feiertage zu einem staatlichen Feiertag        Wittenberg wird jetzt weltweit berühmt
zuhalten, also bitte nicht zum Judentum           gemacht werden sollte? Und wie wäre es         als Weltkulturerbe für deutsch-kirchlichen
überzutreten. Aber es war ein Appell an           – nicht nur ganz nebenbei –, wenn min-         Antisemitismus vom Mittelalter über Martin
die christliche Gemeinde“, eher unsicht-          destens einer der zweiten Feiertage zu Weih-   Luther bis heute.
bar für die Wittenberger Juden und zur            nachten, Ostern und Pfingsten aufgegeben
moralischen Aufrüstung der eigenen Ge-            würde zugunsten eines muslimischen Fei-        Ulrich Hentschel,
meinde geschaffen. Da darf man schon, so          ertages? Nicht als Zeichen überheblicher       Hamburg, Pastor i.R.
die Logik der Kunsthistorikerin, die Juden        religiöser Toleranz, sondern als Ausdruck
als Schweine-Kinder und den im Judentum           von Respekt und Gleichberechtigung.
geheiligten Gottesnamen als Scheiße dar-
stellen. Alles kein Antisemitismus?

                         Das ansätze-Archiv zum Nachlesen:
                         https://www.bundes-esg.de/bundes-esg/publikationen/ansaetze/

                         ESG-newsletter abonnieren:
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                                                                                                                             4–5 2022
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Thema                   Krise – Konflikt – Kommunikation

Kirchliche ‚Krisenkommunikation‘
Herausforderungen, Intentionen und Ausdrucksformen
während und nach Corona
Jonas Lehrke

Die Corona-Pandemie stellt in ihrem Aus-        Sie ist Förderin von Ambiguitätstoleranz,     Resonanz ausgerichteten Authentizität
maß und ihrer längerfristigen Wirkmäch-         indem sie Ratlosigkeit und Klage zulas-       und Plausibilität öffentlichen Auftretens
tigkeit eine analogielose Belastungsprobe       sen kann und somit von bedrängenden           geschaffen werden können. Um also Kom-
für die gesamte Weltbevölkerung und de-         Gefühlen entlastet. Schließlich stellt sie    munikation des Evangeliums krisenfähig
ren religiöse, kulturelle und soziale Gefüge    Resonanzräume und damit Orte nonver-          zu machen, bedarf es vor der eigentlichen
dar. Indem sie disruptiv in alle Sphären        baler Kommunikation des Evangeliums zur       kirchlichen Kommunikation in der Krise
der öffentlichen wie privaten Gewohn-           Verfügung. Die geschilderte Erwartungs-       einer Krisenkommunikation, welche zu-
heitsstrukturen eindringt, unterscheidet        haltung an die Kirche kann mit ihrem Prä-     sichert, dass Kommunikation des Evan-
sie sich in ihren Auswirkungen auf ge-          senzverständnis diese Breite an Kommu-        geliums wirklich krisentauglich ist. Beide
sellschaftliche und damit auch kirchliche       nikationsdimensionen nicht voll umfassen      Formen stehen in enger Beziehung zuei-
Kommunikationsmuster fundamental                und ist daher nicht gerechtfertigt.           nander, weswegen der Titel der Arbeit die
von Transformationsprozessen religiöser              Dies zu begreifen, dem eigenen An-       Komplexität kirchlicher kommunikativer
Pluralisierung und Individualisierung. Die      spruch einzuverleiben und diesen mit all      Prozesse in der Corona-Krise angemessen
Kirche wurde und wird hinsichtlich ihres        seinen Aspekten zur Sprache zu bringen,       veranschaulicht.
öffentlich registrierten Umgangs mit der        ist wesentliche Aufgabe der Kirche in der          Kirchliche Kommunikation in der
Krise von kirchenexternen, aber auch -in-       Krise. Damit bezieht sie sich auf ein Ver-    Krise kann dann als gelungen bezeichnet
ternen Beobachter:innen an der Erwar-           ständnis von in der Krise stattfindender      werden, wenn sie einerseits pragmatisch
tungshaltung, die Kirche müsse gerade in        Kommunikation, die einerseits eine Form       und transparent ist, andererseits Ambiva-
der Krise in allen Lebensbereichen präsent      der Kommunikation des Evangeliums dar-        lenzen nicht vorzeitig aufgelöst werden.
sein, kritisch gemessen. Das Verständnis,       stellt und dadurch von der betriebswirt-      Sofern Kirche für die Kommunikation der
das sich in der Krise präsente Kirche durch     schaftlich klar definierten Krisenkommu-      christlichen Botschaft auf die eigenen re-
aktionistisches Auftreten und Kommu-            nikation abweicht. Andererseits ist Kirche    ligiösen Denk- und Sprachformen zurück-
nikation allumfassend am öffentlichen           aufgefordert, Voraussetzungen für eine        greift, ist sie in der Lage, einen wichtigen
Diskurs beteiligt, stetige Trostkompetenz       gelungene Kommunikation des Evangeli-         Beitrag zur Bewältigung der Corona-Pan-
anbietet und radikale Innovationen tätigt,      ums zu gewährleisten, die mittels einer auf   demie zu leisten. Defizite sind dort aus-
scheint jedoch erst im Zuge der Entwick-                                                      zumachen, wo Sprachlogiken öffentlicher
lung von Selbstpräsentation in den So-                                                        Diskurse übernommen werden, deren Eng-
zialen Medien aufgekommen zu sein. Es                                                         führungen den kirchlichen Auftrag durch
hat sich während der Corona-Pandemie                                                          Rationalitäten anderer Funktionssysteme
verfestigt und resultiert vermutlich aus                                                      begründen und somit die Eigenheit kirchli-
dem kirchlichen Selbstanspruch als krisen-                                                    cher Kommunikation verdrängen. Zugleich
erfahrene Instanz.                                                                            ist aber auch dort misslungene Kommu-
     Diese Arbeit hat indes gezeigt, dass                                                     nikation zu beobachten, wo kirchliches
Kirche sehr viel ambivalenter kommuni-                                                        Leben in eine gewisse Opposition zu den
ziert, als registriert und erwartet wird. Sie                                                 gegenwärtigen politischen Bemühungen
ermöglicht den öffentlichen Diskurs und                                                       gerückt wird. Erst wenn die Gegenüber-
wirkt zugleich als Teilöffentlichkeit mit                                                     stellung von Kirche und Gesellschaft als
eigener Sprache und eigenen Positionen                                                        obsolet verstanden und gleichzeitig das
in ihn hinein. Sie ist ein Sammelbecken                                                       Alleinstellungsmerkmal kirchlicher Kom-
vielfältiger Sozial- und Kommunikations-                                                      munikation hervorgehoben wird, ist eine
formen und darin nicht dem Status quo                                                         gute Ausgangslage geschaffen, um den
verhaftet, sondern dynamisch und flexibel.      Foto: Isaac Quesada auf Unsplash              Herausforderungen der Corona-Krise zu

          4–5 2022
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                                                                                           Krise – Konflikt – Kommunikation                        Thema

                                                        Begleitung zur Verarbeitung der durch die               liums gegenüber seinen Formaten zu garan-
                                                        Krise verursachten Trauer und Bedräng-                  tieren. Die agendarische Landschaft wird sich
                                                        nisse brauchen. In einer zunehmend pola-                auf eine Zweigleisigkeit gottesdienstlicher
                                                        risierenden Gesellschaft wird Kirche Dis-               Feier einstellen müssen.
Foto: Rinke Dohmen auf Unsplash                         kursräume schaffen, sich aber auch gegen                Entscheidend wird für all diese Zukunfts-
                                                        Menschenverachtung, Verschwörungsmy-                    perspektiven sein, ob es zukünftig gelingt,
begegnen. Dabei darf jedoch bei aller Fo-               then und antidemokratische Tendenzen                    selbstverständlich unterschiedliche Modi
kussierung darauf nicht versäumt werden,                positionieren müssen.                                   und Intensitäten von Kirchenbindung zu ak-
die komplexen Folgen der Pandemie und                        Schließlich ist der gelungene Umgang               zeptieren und diese gleichwertig zu behan-
anderer herausfordernder Entwicklungen                  mit der Digitalisierung wichtig für eine or-            deln, ohne immer ein Mehr an Bindung als
auf die Kirche in ihrer wechselseitigen Be-             ganisatorische Verankerung von Innovati-                geheimes Ziel zu intendieren. Wenn Kirche
einflussung wahrzunehmen, zu interpre-                  onen aus der Corona-Krise. Auch wenn der                nach der Krise nicht den Anspruch erhebt,
tieren und anzugehen.                                   physisch kopräsente Sonntagsgottesdienst                die vermeintlich verlorene Zeit durch aktio-
     Auch nachdem das SARS-CoV2-Virus                   zukünftig seine Relevanz behalten wird,                 nistisches öffentliches Auftreten, Beharren
keine pandemischen Verhältnisse mehr                    weil er die verlässliche institutionelle Sei-           auf den alten Praktiken und oberflächlichen
verursachen wird, wird es die Kommunika-                te von Kirchlichkeit markiert und nach wie              Trostzuspruch aufzuholen, kann die Corona-
tion von und in Kirche maßgeblich mitprä-               vor treue Kirchenmitglieder anzieht, werden             Pandemie im Rückblick auch als Chance für
gen. Es wird entscheidend sein, dass Kirche             Gottesdienste künftig sowohl im digitalen               kirchliche Kommunikation gedeutet werden.
die Langfristigkeit der Auswirkungen der                als auch im analogen Raum gefeiert werden.
Krise anerkennt und dementsprechend die                 Die Corona-Krise hat hierbei maßgeblichen               Jonas Lehrke, 2015–2022 Theologie­-
Vulnerabilität ihrer Mitglieder nicht wieder            Anteil an der Beschleunigung dieser Trans-              student in Göttingen und Marburg.
an die Grenzen des Lebens verlagert. Ihre               formationsprozesse. Das digitale Abendmahl
Aufgabe wird darin bestehen, keine Nor-                 wird zu einer vertrauten Praxis unter mehre-            Der Text ist ein Auszug, bzw. das Fazit
malität, wie sie vor der Pandemie bestand,              ren werden, so wie es zuvor schon die Tele-             meiner Examensarbeit „Kirchliche 'Krisen-
auszurufen, sondern die Veränderungen in                fonseelsorge oder der Fernsehgottesdienst               kommunikation'- Herausforderungen,
ihrem Auftreten, Handeln und Wirken als                 geworden sind. Dabei wird Digitale Kirche               Intentionen und Ausdrucksformen während
über die Krise hinaus wertvoll zu deuten.               sich und ihre Angebote immer reflektieren               und nach Corona“.
Menschen werden weiterhin seelsorgliche                 müssen, um die Vorrangstellung des Evange-

Literatur:
•   DEEG, ALEXANDER: Es wird nicht mehr sein wie vorher… Überlegungen zum Gottesdienstfeiern in Zeiten der Corona-Pandemie und danach,
    in: PTh 109/9 (2020), 417–435.
•   E-Mail-Interview I mit Gunther Schendel, geführt am 11.08.21.
•   E-Mail-Interview II mit Katharina Scholl, geführt am 11.08.21.
•   FLEISCHMANN, CHRISTOPH: Der Geist weht durch den Bildschirm. Die Corona-Pandemie hat Gottesdienst und Gemeinden verändert.
    Jetzt müssen die Kirchen klären, was die Digitalisierung für den Glauben bedeutet., in: Publik Forum 50/9 (2021), 28–31.
•   KARLE, ISOLDE: Kirche im Reformstress, Gütersloh 2011.
•   KUHLENKASPER, TORBEN: Kirche & Corona Studie. Ev. Kirchenkreis Melle-Georgsmarienhütte, Melle 2020.
•   SCHNEIDER, MICHAELA: „Pfarrpersonen bekamen Feedback wie nie“. Die Religionspädagogin Ilona Nord hat die digitale Präsenz der Kirchen im ersten
    Lockdown untersucht, in: Publik Forum 50/9 (2021), 30–31.
•   SCHOLL, KATHARINA: Telefonbank, Fahrstuhl, Autokino. Notizen zur Vielfalt gottesdienstli-chen Lebens in der Corona-Krise,
    in: zeitzeichen 21/9 (2020), 28–30.

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11
Thema                  Krise – Konflikt – Kommunikation

Rolle rückwärts in der Zeitenwende?
Anfragen an den Drang zur Neuaufstellung
der Evangelischen Friedensethik
Hans-Gerhard Klatt

                                               Abschied vom Universalismus                     Komplementarität als Übergangs-Ethos

Sehr schnell war nach dem Schock des           Auf dem Argumentationsweg zu diesem             Damals hat die Forschungsstelle der Evan-
russischen Angriffskriegs gegen die Uk-        Schluss der starken Zeichen wurde ein Ge-       gelischen Studiengemeinschaft FEST in
raine vom 24. Februar die von viel EKD-        neralangriff auf die angeblich realitätsferne   Heidelberg versucht, aus der synodalen
Prominenz in der Herausgeberschaft ge-         „Verkürzung des Leitbilds vom gerechten         Entscheidungsunfähigkeit in der Frage
tragene Zeitschrift „Zeitzeichen“ dabei,       Frieden“ durch die von binnenkirchlicher        der Atombewaffnung von 1958 herauszu-
nicht nur „die friedensethische Haltung der    Naivität getragenen Synodenbeschlüs-            führen, indem sie der „Ohnmachtsformel“
evangelischen Kirche auf dem Prüfstand“        se seit der Friedensdenkschrift von 2007        der Synode („Wir bleiben unter dem Evan-
zu sehen (so im Editorial des April-Heftes     gefahren. Diese folgten nur noch einem          gelium zusammen“) einen strategischen
4/2022), sondern gleich den Aufschlag „zu      „pflichtenethischen Rigorismus“ und hät-        Begriff an die Seite stellte: „Wir müssen
einer neuen evangelischen Friedensethik“       ten die andere Seite der Denkschrift einer      versuchen, die verschiedenen im Dilemma
ins Programm zu nehmen. „Erste Perspek-        „güterethischen Verantwortungsethik“            der Atomwaffen getroffenen Gewissens-
tiven“ zur Neupositionierung durfte der        vergessen. Die universalistische Perspek-       entscheidungen als komplementäres Han-
Vorsitzende der Kammer für Öffentliche         tive der Gewaltfreiheit behalte ein „spiri-     deln zu verstehen“ (6. Heidelberger These).
Verantwortung, der Münchner Systemati-         tuelles Recht“ und sei in ihren biblischen      Sie hat Komplementarität damals bewusst
ker Reiner Anselm, formulieren, der sich für   Erzählungen und Bildern als moralische          als das „Ethos einer Übergangszeit“ ver-
diese Aufgabe Militärpfarrerin Katja Bruns     Imaginationen gut für Gottesdienste und         standen. Uns 63 Jahre später wieder frie-
und Militärdekan Roger Mielke an die Seite     Liturgien. Friedensethik aber dürfe nur         densethisch in der Komplementarität
holte. „Starke Zeichen“ war der Artikel        noch „wirklichkeitsgesättigt“ entworfen         von „pazifistischem Friedenszeugnis und
überschrieben. Welche Zeichen gemeint          und vertreten werden und habe sich von          gewaltbewehrter politischer Ordnung“
waren, offenbarte der Schluss: „Es braucht     der Idee „eines kosmopolitisch konzipierten     festhalten zu wollen, als wäre nichts an re-
starke Zeichen, die die Vorläufigkeit un-      Rechtsfriedens“, von der universalistischen     flektierter Entwicklung geschehen, zeugt
seres menschlichen Ringens um Frieden          Hoffnung auf „Weltinnenpolitik“, zu verab-      nicht gerade von einem wertschätzenden
inmitten von Gewalt deutlich machen“. Der      schieden. Gegenüber einem Aggressor, der        Verhältnis zu den synodalen Entschei-
Artikel ließ unmissverständlich verstehen,     sich nicht mehr als Rechtsgenosse verstehe,     dungsprozessen der letzten Jahrzehnte.
dass damit nicht an Zeichen des entschlos-     müsse die Friedensethik ihre Bindung an              Leider stehen die drei Autor:innen
senen gewaltlosen Widerstands gedacht          das Völkerrecht aufgeben. Weil „das Politi-     nicht allein. Die Zeitschrift „Zeitzeichen“
war, sondern an Zeichen der militanten         sche“ nur in umgrenzten Räumen gestaltet        hat zwar im Mai-Heft die Debatte über
Wehrhaftigkeit mit den „technologisch          werde, seien auch für die Friedensethik die     „Krieg und Frieden. Neue Fragen an die
fortgeschrittensten Waffen“ einer „leis-       geopolitisch beschränkten und allein demo-      evangelische Ethik“ auch für andere Po-
tungsfähigen Rüstungsindustrie“ inklusive      kratisch kontrollierten nationalstaatlichen     sitionen geöffnet, doch interviewt hat
der atomaren Abschreckung.                     Interessenslagen die maßgebliche Orien-         sie in diesem Heft nur den evangelischen
                                               tierungsgröße. Die drei Autor:innen ahnen       Militärbischof der Bundeswehr Bernhard
                                               wohl, dass sie sich damit kaum noch auf         Felmberg, während sie den Friedensbe-
                                               der Basis der Denkschrift vom „gerechten        auftragten der EKD, Bischof Friedrich Kra-
                                               Frieden“ von 2007, ganz zu schweigen vom        mer, erst im Juli-Heft zu Wort kommen
                                               ÖRK-Konsens von Busan 2013 mit seiner           ließ. Felmberg hat sie empathisch befragt,
                                               Ausrichtung auf das humanitäre Völker-          ob die Friedensethik der EKD überarbei-
                                               recht, bewegen. So nimmt es nicht Wunder,       tet werden müsse und es 2007 nicht „ein
                                               dass am Schluss des Artikels ihr Rückbezug      bisschen naiv“ gewesen sei, „dass man
                                               die Heidelberger Thesen von 1959 sind. Rolle    glaubte, alle sind so vernünftig und wol-
                                               rückwärts in die Zeit der atomaren Aufrüs-      len nur diplomatische Lösungen haben
                                               tung im Kalten Krieg gelungen.                  in der Weltpolitik“, während Kramer, der

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                                                                                  Krise – Konflikt – Kommunikation                     Thema

                                                                                                     Friedensethische Zeitenwende?

deutsche Waffenlieferungen kritisch be-                                                              Einer ihrer Vorgänger, Altbischof Wolf-
fragt und in den Synodenbeschlüssen der                                                              gang Huber, sieht zwar keine Notwen-
EKD von 2019 auch für die gegenwärtige                                                               digkeit, von der Friedensdenkschrift von
Situation des russischen Angriffskrieges                                                             2007 abzurücken, nimmt aber den Begriff
eine ausreichende friedensethische Ori­                                                              des Kanzlers von der Zeitenwende auf und
entierungskraft sieht, mit beständigen                                                               spricht von einer „friedensethischen Zei-
„Aber“-Fragen konfrontiert wurde.                                                                    tenwende“. Sie bestehe darin, dass der
                                                                                                     „auf den Verbrechen des 20. Jahrhunderts
Wie ausreichend ist die                                                                              fußende deutsche Sonderweg“ nicht mehr
Dilemma-Bekundung?                                                                                   zur Verfügung stehe (alle Zitate auf der
                                                                                                     EKD-Homepage zu finden). Das Argument
Das „Dilemma“ von 1959 ist ein Hauptwort                                                             stößt unangenehm auf, zumal es von ei-
der Ratsvorsitzenden Annette Kurschus                                                                nem so klugen Denker wie Wolfgang Hu-
in diesen Wochen, oft in persönlicher Zu-                                                            ber kommt. In allen aktuellen politischen
spitzung. Zum „persönlichen Dilemma“                                                                 Auseinandersetzungen um das deutsche
ihrer Befürwortung der Waffen-Liefe-                                                                 Verhältnis zu Israel und den Kampf ge-
rung an die Ukraine als Hilfestellung zur                                                            gen wachsenden Antisemitismus – von
Selbstverteidigung bekundet sie: „Wir                                                                der Documenta in Kassel bis zur ÖRK-
sehen jetzt: Dieser für uns friedliebende     Bischof der EKD für die Seelsorge in der Bundeswehr,   Vollversammlung in Karlsruhe – hat der
Christen schwierige und unangenehme           Dr. Bernhard Felmberg {Foto: EKD}                      ethische Verantwortungsrückbezug auf
Gedanke muss weitergedacht und neu be-                                                               die deutschen NS-Verbrechen seine un-
fragt werden.“ Dabei war das Recht auf        rauszuhelfen vermögen. Stattdessen aber                verzichtbare Kraft bewiesen. Und natürlich
Selbstverteidigung auch mit Waffenge-         bekommt man als Freund des Friedens von                können wir uns für das deutsch-russische
walt als ultima ratio immer noch Teil aller   der Ratsvorsitzenden noch die Breitseite               Verhältnis nicht von einem Blick auf die
Beschlusslagen zum „gerechten Frieden“.       geliefert: „Unsere Friedensethik darf nicht            fortwirkenden Traumata des deutschen
Warum es nun weitergedacht und neu            zu einer steilen Ideologie werden, die wir             Überfalls auf die Sowjetunion in der heuti-
befragt werden muss, dieser Satz bleibt       anderen vorhalten, um selbst edel und gut              gen russischen Gesellschaft, auf die hohen
unklar und öffnet die Hintertür einer Dis-    zu bleiben“. Damit will sie sicher niemand             russischen Opferzahlen im 2. Weltkrieg
tanzierung vom „gerechten Frieden“. Ohne      verletzten, etwa ihren Friedensbeauftrag-              und auf die historische Rolle als Befreier
Not, denn das Selbstverteidigungsrecht        ten. Sie offenbart vielmehr, so vermute ich,           von Auschwitz dispensieren. Hubers Satz
der Ukraine steht nirgends zur Dispositi-     mit dem Satz ihre Ängste, wie sie von der              kommt dem rechten Populismus, es müsse
on. Die Frage ist auch, wem die Einsicht in   politischen Öffentlichkeit zerrissen wer-              endlich Schluss sein mit der deutschen
das persönliche Dilemma-Empfinden der         den würde, wenn sie ein kirchenoffizielles             Erinnerungspolitik, gefährlich nahe.
Ratsvorsitzenden helfen soll. Bei vielen      Nein zum Waffen-Wunsch der Ukraine ver-                     So populär auch die Rede von der
steht die Hoffnung im Raum, wenigstens        künden würde. Doch kann Angst vor dem                  Zeitenwende geworden ist, so muss doch
von der Kirche als einer normativen Kraft     politischen Diskurs ein Argument zur Aus-              gefragt werden, worin sie eigentlich be-
in der Gesellschaft Überlegungen an die       richtung der eigenen Friedensethik sein?               stehen soll und ob sie zu Recht besteht.
Hand zu bekommen, in denen Handlungs-                                                                Mit den Worten von Annette Kurschus
optionen auf langfristige Folgewirkun-                                                               besteht sie in einer neuen Notwendigkeit
gen jenseits der aktuellen Betroffenheit                                                             zur Militarisierung der Politik aufgrund
ethisch durchreflektiert sind und die aus                                                            eines „Aggressor(s), der sich an keine in-
dem je eigenen Dilemma-Empfinden he-                                                                 ternationalen Regeln hält und mit dem

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Thema                  Krise – Konflikt – Kommunikation

ein Vertrauensaufbau nicht möglich ist“.                                                        testamentlich beziehen können, ist im
Richtiger wäre es, das neue politische                                                          Kontext des römischen Imperiums und
Datum des 24. Februars als den katast-                                                          des jüdischen Krieges formuliert worden
rophischen Endpunkt einer nicht vollzo-                                                         und nicht im himmlischen Jerusalem. Das
genen Zeitenwende nach der Auflösung                                                            realpolitische Nein zum militanten Wider-
der Sowjetunion 1991 zu betrachten. Die                                                         stand der Zeloten ist unser Grundgerüst.
Friedensforschung spricht von den 1990er                                                        Die „noch nicht erlöste Welt“ war immer
Jahren als einem sicherheitspolitisch ver-                                                      die Chiffre für die herrschaftskonforme
geudeten Jahrzehnt, in dem es nicht ge-                                                         Befürwortung militaristischer Ordnungs-
lungen ist, mit der OSZE eine europäische                                                       politik im Wissen, dass diese eigentlich
Sicherheitsarchitektur gemeinsam mit                                                            theologisch nicht zu rechtfertigen war.
Russland aufzubauen. Seit dem NATO-                                                             Und sie bleibt es auch, wie modern auch
Angriff auf die Bundesrepublik Jugoslawi-                                                       immer sie daherkommt.
en ohne UN-Mandat vom 24. März 1999
(Kosovo-Krieg) sind völkerrechtswidrige                                                         Hans-Gerhard Klatt,
Angriffe auf einen anderen Staat sowohl                                                         Pastor und Sozialpädagoge
auf Seiten des Westens als auch auf Seiten
Russlands ein vielfach angewendetes Poli-                                                       Der Beitrag erschien zuerst in
tikmuster im 21. Jahrhundert geworden.         Der Friedensbeauftragte der EKD, Landesbischof   Junge Kirche 04/2022
                                               Friedrich Kramer
Die „nicht erlöste Welt“ als
fragwürdige Chiffre                            Friedenswissenschaft“ (Jürgen Scheffran;
                                               vgl. W&F 3/22) bedürfe. Warum im Ver-
Neu waren am 24. Februar 2022 nur              gleich dazu die evangelische Kirche sich
die Nähe des Kriegsschauplatzes und            so leicht von ihrem Weg zur „Kirche des
die Gefahr einer atomaren Eskalation.          gerechten Friedens“ abbringen lässt, das
Neu war, dass selbst bei anerkannten           bleibt unklar. Es wirft Fragen auf, wie
Politikwissenschaftler:innen das „Dämo-        ernsthaft und tiefgehend der friedens­
nische“ als Kategorie in der Politischen       ethische Entwicklungsprozess wirklich
Analyse eingeführt wurde und sich die          verankert war.
Erklärungssuche für den 24. Februar auf             Plötzlich spielen anachronistische
die Persönlichkeitsstruktur Putins als des     Denkfiguren wieder eine Rolle, die längst
neuen Hitlers konzentrierte. All das schreit   in der Mottenkiste der Theologiegeschich-
geradezu danach, dass sich die Friedenslo-     te verschwunden waren. „In der noch nicht
gik bestätigt sehen und nicht die Kriegs-      erlösten Welt“, diese Chiffre wird wieder
logik aus dem Ukraine-Krieg herausführen       zur relevanten Kontextbeschreibung für
kann, so sehr die Selbstverteidigung der       unsere ethische Urteilsfindung, um eine
überfallenen Ukraine richtig war und ist.      pazifistische Haltung als naiv bis unver-
Die Friedensforschung denkt nicht daran,       antwortlich zu kennzeichnen. Als ob es
abzudanken und sich durch Geopolitik zu        eine vernünftig vertretbare Position sein
ersetzen, sondern argumentiert, dass es        könnte, dass wir bereits in einer erlösten
mehr denn je einer „zukunftsorientierten       Welt lebten. Alles, worauf wir uns neu-

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Die ESG Mannheim stellt sich vor
Florian Binsch

                                              die ESG Mannheim mit der Citygemeinde         Seit meinem Antritt am 01.03.2020 ist
                                              Hafen-Konkordien eine enge Symbiose           diese Stellenkombination Wirklichkeit ge-
                                              eingegangen ist – auch, um in Kombinati-      worden. Zunächst einmal mitten hinein
                                              on mit einem 50% Parochial-Deputat dort       in den ersten Lockdown und doch fand in
                                              auf eine volle Stelle zu kommen.              der zweiten Woche direkt die erste Online-
                                                   Aus diesen Erfahrungen entstand der      Andacht „Ankerzeit“ per Zoom statt, wel-
                                              Wille, für die ohnehin kirchlich völlig un-   che im Rückblick von jungen Erwachsenen
                                              terrepräsentierte Altersspanne der jun-       als stärkende Kontinuität erlebt wurde
                                              gen Erwachsenen (ca. 18-35 Jahre) eine        inmitten von verunsichernden Abbrüchen.
                                              50%-Stelle mit dem Arbeitstitel „Young        Die Ankerzeit, welche musikalisch von Ins-
                                              Urbans“ zu schaffen und diese mit der         trumental- und Popliedern begleitet wird,
                                              Studierendenseelsorge zu kombinieren.         zeichnet eine angeleitete Stille-Meditation
                                              Diese Stelle nimmt junge Menschen jen-        von sieben Minuten aus sowie ein Impuls
                                              seits der Studierendenblase in den Blick      für die Woche, Segen und offenes Ende
In Mannheim studieren knapp 30.000 Per-       und erprobt neue Formen von Kirche. Dies      mit Raum für Austausch. Im Lauf der Zeit
sonen. Zu den größeren Einrichtungen          ergibt insofern Sinn, als in den zentralen    wurde sie je nach Rahmenbedingungen
zählen die Universität, Hochschule, Duale     Stadtteilen von allen, die noch evangelisch   weiterentwickelt, mal hybrid auf Insta-Live
Hochschule Baden-Württemberg, Medizi-         sind, hohe Anteile (50-70%) aus dieser        und nun wieder ganz analog an verschie-
nische Fakultät der Universität Heidelberg    Altersspanne leben. Die Hafenkirche im        densten Orten; mal in der Hafenkirche
sowie die Staatliche Hochschule für Musik     Szeneviertel „Jungbusch“, sollte zudem als    mit blauer Lichtinstallation, im Innenhof
und Darstellende Kunst. Die Popakademie       ein besonderer kirchlicher Ort für junge      mit Feuerschale, oder Brunnen, mal im
Baden-Württemberg und eine lebendige          Erwachsene entwickelt werden.                 Wald, auf dem Schiff, oder auf dem höchs-
Musikszene machen Mannheim zu einem                                                                             ten K irc h t ur m der
wichtigen Zentrum der deutschen Pop-                                                                            Stadt. Nach einigen
musik, seit 2014 ist Mannheim UNESCO                                                                            Erstkontakten wurde
City of Music.                                                                                                  in der Lockdown-Zeit
      Die Studien-Standorte verteilen sich                                                                      dann auch das Seel-
auf verschiedene Stadtteile, sodass jede                                                                        sorgerliche Angebot
Einrichtung einen eigenen Mikrokosmos                                                                           „Reden & Gehn“ gut
bildet. Im Angesicht dieser Größenord-                                                                          angenommen.
nung sind 50% Deputat Studierenden-
seelsorge ein Tropfen im weiten Meer,
das sich überwiegend säkular präsentiert.
Irritierend ist, dass mitunter die Beratung
für Studierende bezüglich finanzieller Un-
terstützung gerne gesehen ist, ansons-
ten aber Religion und kirchliche Seelsorge
kaum Wertschätzung genießen. Was vor
Ort an Veranstaltungen und Präsenz nicht
gewollt ist, braucht also andere Orte, Ka-
näle und Gelegenheiten, um in Kontakt
zu kommen. So verwundert es nicht, dass

                                                                                                                   4–5 2022
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ESG stellt sich vor          Mannheim

                                                                                       Der Lockdown brachte andererseits viel
                                                                                       Freiraum konzeptionell in die Tiefe zu ge-
                                                                                       hen und das Konzept der „Ankerstelle“
                                                                                       inklusive einer Corporate Identity, neuer
                                                                                       Homepage und Social-Media-Kanälen auf-
                                                                                       zusetzen und Stück für Stück erprobend
                                                                                       weiterzuentwickeln. Diese Konzeption ver-
                                                                                       steht sich als Dach für junge Erwachsene,
                                                                                       egal, ob sie studieren, arbeiten, oder eine
                                                                                       Ausbildung absolvieren. Für das zu ent-
                                                                                       wickelnde Areal der Hafenkirche sind drei
                                                                                       Säulen angedacht: In Fortführung der be-
                                                                                       stehenden 6er ESG-WG ein Wohnhaus als
                                                                                       Studierendenwohnheim, ein Repair-Café
Ein Highlight während dieser Zeit war       So entstand ein Osterspaziergang, der      mit offenem Innenhof, der mit Urban Gar-
unsere Ostern-StreetArt-Aktion: In drei     hybrid per QR-Codes ergänzt wurde mit      dening zur grünen Oase gestaltet wird und
Workshops haben Studierende und jun-        eingesprochenen Mono- und Dialogen der     die Hafenkirche als multifunktionaler Ver-
ge Erwachsene Oster-Charaktere ausge-       Charaktere, welche ebenso von den Mit-     anstaltungsraum. Wichtig war es die Kon-
sucht und auf Grundlage der biblischen      wirkenden entwickelt und eingesprochen     zeption mit jungen Erwachsenen zu ent-
Berichte entwickelt. Wie sie wohl heute     worden waren. Für Hörgeschädigte gab       wickeln, was in Workshops, sowie in zwei
aussehen würden, für was sie noch heute     es ebenso eine barrierefreie PDF mit den   Semesterprojekten in Kooperation mit
stehen und was sie heute sagen würden.      Texten zum Lesen und es entstand eine      der Dualen Hochschule BW geschah. Zu-
Anhand von Metabeschreibungen wurden        kleine Doku zur Aktion:                    nächst im Studiengang „BWL-Öffentliche
die Charaktere dann von der Hamburger       ankerstelle.net/wandelmut                  Wirtschaft“, um Best Practice Beispiele zu
Künstlerin Verena Hartmann grafisch um-                                                sammeln und einen ersten Business-Plan
gesetzt, lebensgroß auf Plakatpapier aus-                                              zu erstellen, sodann im Studiengang „Me-
gedruckt und als sogenannte „Paste-Ups“                                                dienmanagement & Kommunikation“, um
an verschiedenen Stellen auf Wände und                                                 die Selbstkommunikation zu verbessern
Holzunterbauten in der Stadt angebracht.                                               und den Instagram-Kanal zu optimieren.
                                                                                       Ein weiterer inhaltlicher Kanal, der es wie
                                                                                       kaum eine Themenveranstaltung vermag,
                                                                                       Erfahrungen unabhängig zu teilen, ist der
                                                                                       Podcast „Achterbahn & Anker“. In Koope-
                                                                                       ration mit einer freien Journalistin wer-
                                                                                       den aktuelle Themen aufgenommen und
                                                                                       Gäste eingeladen, wie z.B. zuletzt #outin-
                                                                                       church mit zwei Unterzeichner:innen der
                                                                                       Kampagne.

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                                                                                          Mannheim               ESG stellt sich vor

                                                                                          Manches gelingt und wächst in seiner
                                                                                          eigenen Geschwindigkeit, doch die Re-
                                                                                          sonanz auf Vieles ist gering. Das macht
                                                                                          nachdenklich, wie es in Zukunft weiter
                                                                                          gehen soll, wie viel Angebot vorgehalten
                                                                                          wird, das mitunter kaum abgerufen wird,
                                                                                          oder Aussagen hervorruft wie: „schön,
                                                                                          dass es das gibt, auch wenn ich nicht kom-
                                                                                          me“. Zudem ist da viel Ungewissheit in
                                                                                          Anbetracht von kirchenpolitischen Ent-
                                                                                          scheidungen, die aus kirchlichen Mitteln
                                                                                          die bauliche Entwicklung des Hafenareals
                                                                                          nicht weiterführen werden und nun die
                                                                                          Hoffnung auf der Kooperation mit einer
                                                                                          Stiftung liegt. Wie auch immer es weiter
                                                                                          geht: Einen grundlegenden Gedanken von
                                                                                          Johann Hinrich Wichern, nach dem unser
Ökumenisch wird jedes Jahr der Advents-     wwDiesen Ansatz wollen wir weiter aus-        Seelsorgeschiff benannt ist lautet: Nicht
gottesdienst zusammen mit KHG, SMD          bauen, sodass wir gerade dabei sind eine      warten, bis jemand kommt, sondern hin-
und SFC gestaltet, was immer wieder für     Junge Diakonie aufzubauen, die eigene         gehen, wo die Menschen sind. Wie auch
bereichernde Begegnungen jenseits der       Projekte stemmt, Ehrenamt begleitet und       immer die Entwicklungen weitergehen,
Gruppengrenzen sorgt. Besonders ist auch    Brücken zu anderen diakonischen Projek-       so reift gerade die Ahnung, dass diesem
das Kochprojekt „Let’s cook together“,      ten in Mannheim schafft. Selbst haben wir     Gedanken im hiesigen Kontext besonders
welches 2015 für Geflüchtete ins Leben      bereits zwei Umsonst-Märkte veranstaltet,     die Seelsorge im Nachtleben entspricht.
gerufen wurde und heute Menschen in         die zudem in Zukunft mit einer Open-Sta-
ihrer Vielfalt zum Kochen und Essen zu-     ge einladen, nicht nur Materielles, sondern
sammenbringt. So inzwischen auch mal        auch Künstlerisches miteinander zu teilen.
mit der MHG und hoffentlich bald auch mit   Ebenso profitieren die Kleidertauschparty
Mannheimer Jüd:innen. Motto ist vonein-     und Vesperkirche in der Citykirche Konkor-
ander zu lernen, miteinander zu genießen    dien vom entstehenden jungen Netzwerk.
und Geschichten zu teilen. Dabei ist ein    Zudem vernetzen wir die Möglichkeiten
eigenes Kochbuch entstanden und eine        der Schifferseelsorge und bringen das
zeitweise Förderung des Landes Baden-       Schiff als besonderen kirchlichen Ort ins
Württemberg mündete im anerkennenden        Spiel – auch für Erwachsenentaufen.
Besuch von Manne Lucha, dem Minister für         An Programm haben wir von Wein-
Soziales, Gesundheit und Integration.       wanderung, über Klettergarten, The-           Florian Binsch ist Studierendenpfarrer
                                            menabenden zu Resilienz und Toxischer         in Mannheim
                                            Religiosität bis hin zu Pubquiz und hand-
                                            werklichem Upcycling von Getränkekis-         Web: ankerstelle.net
                                            ten zu Hockern und Gärtnern im Urbanen        Instagram: @ankerstelle
                                            Garten vieles ausprobiert. Doch möchte        Podcast: achterbahn-und-anker.podigee.io
                                            ich auch Schwieriges nicht ausklammern:

                                                                                                                   4–5 2022
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Verband             Hauptamtlichenkonferenz in Bonn

Corinnas
  Columne
ein Gedicht

                                          Lächelnd hüpfte sie auf der Straße
                                          Der Rest war ihr egal
                                          Sie lief fast auf Händen
                                          Der Weg war schmal.

                                          Alle andern hasteten vorbei -
                                          Keine Zeit zum Stehenbleiben
                                          Nicht zum Zeitvertreiben
                                          Der Rest ist ohnehin einerlei.

                                          Da fiel ein Strahlen auf ihr Gesicht
                                          Tauchte sie ein in helles Licht
                                          Der, auf den wir warten, rief:
                                          Fürchte dich nicht.

  Die Ausgabe 1/2023 erscheint im April 2023 zum Thema Kunst – Kultur – Kirche.
  Beiträge, die zur Veröffentlichung bestimmt sind, bitte an Uwe-Karsten Plisch senden: ukp@bundes-esg.de.

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Die Geburt der ESG-Ruhr
oder: Wie aus der Not eine Tugend wurde
Matthias von Westerholt

Die Evangelischen Studierendengemein-        Vor diesem Hintergrund haben sich dann         Bei der Fusion der beiden ESGn spielt der
den sind immer schon Exotinnen gewesen       vor allem Pfarrer Markus Sorg (ESG Bo-         Standort der ESG Dortmund eine wichtige
in der Gemeindelandschaft – nicht nur        chum) und Pfarrer Matthias von Wester-         Rolle, denn er bietet vor allem für studen-
der Westfälischen Landeskirche. Alterna-     holt (ESG Dortmund) auf den Weg ge-            tische Angebote sehr gute Bedingungen,
tive Gottesdienste, basisdemokratische       macht, um nach Lösungen zu suchen und          zumal die alte Kirche St. Margareta auch
Gemeindestrukturen, Orte der internati-      um Ideen zu entwickeln. Ziel ist und war es,   für Gottesdienste, Andachten und spiri-
onalen und interkulturellen Begegnung,       die Zukunft der ESGn und der Präsenz der       tuelle Angebote genutzt werden kann.
Kirche an einem wichtigen Grenzbereich       Kirche an den Ruhrgebietsstandorten Bo-        Den Programmteil der eher klassischen
der Gesellschaft.                            chum und Dortmund mit ca. 100.000 Stu-         ESG-Arbeit wird zukünftig Pfarrer Mat-
     Aber auch dieser Arbeitsbereich un-     dierenden zu sichern, indem Ressourcen         thias von Westerholt für beide Standorte
terlag und unterliegt den Sparzwängen        und Kompetenzen gebündelt werden. So           übernehmen.
der gesamten Landeskirche. Im Rückblick      ist die Idee entstanden, die ESGn Bochum            Auch wenn die Räume der ESG Dort-
wurde in den vergangenen 20 Jahren der       und Dortmund zu vereinigen, derzeit noch       mund nun an Bedeutung gewinnen, soll es
Personalbestand der ESGn in der EKvW         mit dem Arbeitstitel ESG Ruhr.                 auch weiterhin am Standort Bochum eine
um die Hälfte abgebaut. Dieser Prozess ist        Wichtig war zum einen ein Ange-           Anlaufstelle der ESG geben.
auch noch nicht an sein Ende gekommen.       bot für Studierende aller Fachrichtungen            Die Kirchenleitung hat diesem Vorha-
     Aktuelle Einsparungen in den ESGn       aufrecht zu erhalten, das reicht von Got-      ben, die ESG Bochum und ESG Dortmund
Bochum und Dortmund im vergangenen           tesdiensten, thematischen Abenden, Ex-         zur ESG Ruhr zu fusionieren, bereits zu-
Jahr gefährdeten den Fortbestand der Ar-     kursionen bis zu Freizeitaktivitäten. ESG      gestimmt. Nun sind weitere Detailfragen
beit an diesen Standorten. In Dortmund       ist immer auch Gemeinde auf Zeit für           noch zu klären, doch da sind viele Men-
ging die Koordinatorin und Beraterin der     Studierende, in der Glaubenserfahrungen        schen schon auf dem Weg.
internationalen Arbeit in der EKvW in den    ermöglicht werden, wo aber auch Räume               Jetzt bleibt zu hoffen, dass die ermög-
Ruhestand, ebenso wie die Verwaltungs-       eröffnet werden für Begegnung, Diskurs         lichten Einsparungen die neue ESG-Ruhr
kraft in der ESG Bochum. Beide Stellen       und Dialog.                                    zunächst einmal vor weiteren Kahlschlä-
– so hatte es das Landeskirchenamt schon          Zum anderen ist ein wesentliches          gen und Sparrunden bewahrt.
im Vorhinein entschieden – wurden nicht      Standbein der ESG die Arbeit mit inter-
wiederbesetzt, also ersatzlos gestrichen.    nationalen Studierenden. Zum einen geht        Matthias von Westerholt ist Studierenden-
     Es zeichnete sich ab, dass weder die    es um konkrete Nothilfe durch das Not-         pfarrer in der ESG Dortmund
ESG Bochum noch die ESG Dortmund un-         fondsprogramm, zum anderen um ein
ter diesen Bedingungen arbeitsfähig sein     Bildungsbegleitprogramm speziell für in-
würden. Auch auf verschiedene Interven-      ternationale Studierende (STUBE). Beide
tionen hin gab es seitens der Landeskirche   Programme verfolgen entwicklungspoliti-
keinen Handlungsspielraum mehr.              sche Ziele und werden begleitet und refi-
                                             nanziert durch Brot für die Welt. Für diesen
                                             Bereich wird zukünftig vor allem Pfarrer
                                             Markus Sorg zuständig sein, der auch Ko-
                                             ordinationsaufgaben für die gesamte ESG-
                                             Arbeit in Westfalen übernimmt.

                                                                                                                    4–5 2022
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