Seltene Krankheiten - Duchenne Schweiz
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2 inhalt live 8–9/14 kompass Alles ausser Standard 4–7 Vereint für eine gemeinsame Sache 6 live books & videos 8–10 Die Perspektive des Patienten einnehmen Für die Produktion von Medikamenten gegen seltene Krankheiten 11–13 10 live cover setzt der Standort Stein 11–13 Alles ausser Standard auf kreative Lösungen. long live life 14–17 Persönliche Ansichten sehenswerte schweiz 18–20 Val Colla: Ein ungewöhnliches Quartier panorama 21–23 Ein bewegtes Leben 24–26 Ruf nach Vernetzung 27–29 Der lange Weg zur Wahrheit 30–31 Mein neues Leben ohne Angst innovation 32–33 Wege zur Mobilität 34–36 Willenskraft und Zusammenarbeit 37–39 Neue Sicht auf das Auge 39 live contest 18–20 21–23 30–31 Ein ungewöhnliches Quartier Ein bewegtes Leben Mein neues Leben ohne Angst Das Val Colla ist abgelegen, unberührt, Trotz Muskeldystrophie Duchenne konnte Der Novartis Wissenschaftler Rocco Falchetto über sein Leben ursprünglich … und ein Stadtteil von Lugano. Mattia Cattelan an der Fasnacht teilnehmen. mit einer seltenen Krankheit.
live 8–9/14 editorial 3 Wir müssen die Zusammenarbeit intensivieren Editorial von Jörg Reinhardt, Präsident des Verwaltungsrats Nach meiner Überzeugung können wecken kann. Darüber hinaus hat das aus der gründlichen Analyse einer seltenen Wissenschaftler nur erfolgreich sein Krankheit abgeleitete Wissen einen hohen wissenschaftlichen und gesellschaftli- und Innovationen vorantreiben, chen Stellenwert. Einblicke in seltene Leiden können den Wissenschaftlern ein wenn sie über Bereichs- und klares Verständnis der Krankheitsmechanismen vermitteln, die zur Behandlung Unternehmensgrenzen hinweg zu- von häufigeren Erkrankungen genutzt werden können. Deshalb ist die Untersu- sammenarbeiten. Dies ist notwen- chung seltener Krankheiten zu einem strategischen Pfeiler unseres wissenschafts- dig, um die Herausforderungen der basierten Forschungsansatzes geworden, der uns geholfen hat, eine der branchen- modernen Medizin zu bewältigen weit solidesten Pipelines und Produktpaletten zu entwickeln. und Medikamente zu entwickeln, Zurzeit verfügen wir über 40 aktive präklinische und klinische Forschungs- die den Patientenbedürfnissen ge- projekte im Bereich der seltenen Krankheiten, die auf Erkrankungen wie die ag- recht werden. gressive systemische Mastozytose oder die spinale Muskelatrophie abzielen. Bei seltenen Krankheiten ist Wir sind stolz auf unsere Leistungen und Erfolge. Doch angesichts der vielen die Zusammenarbeit aufgrund an- unerfüllten Patientenbedürfnisse und der grossen Anzahl seltener Krankheiten, spruchsvoller Makro- und Mikrodimensionen besonders wichtig. Obwohl eine die gegenwärtig nicht behandelt werden können, kann mehr getan werden, um seltene Krankheit definitionsgemäss nur eine kleine Anzahl Patienten betrifft, Millionen von Menschen zu einem gesünderen Leben zu verhelfen. sind heute über 6000 seltene Krankheiten bekannt. Weltweit leiden mehr Dies bedingt eine intensive Zusammenarbeit unter Wissenschaftlern aller als 400 Millionen Menschen an einer seltenen Krankheit. Forschungsgebiete. Gleichzeitig muss die Grundlagenforschung – wie sie Novartis Diese offensichtliche Kluft stellt Ärzte und Patienten vor zahlreiche Heraus- am Friedrich Miescher Institute for Biomedical Research hier in Basel betreibt – forderungen: Bei manchen seltenen Krankheiten macht ein begrenztes oder konsequent fortgeführt werden, denn die Pharmaindustrie kann nur vorankom- bruchstückhaftes Wissen jahrzehntelange Grundlagenforschung nötig. men, wenn sie höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und neue Ansätze Allein aufgrund der hohen Anzahl seltener Krankheiten fällt es Ärzten oft untersucht, die letztlich zu neuen Therapien führen können. schwer, diese rechtzeitig zu diagnostizieren, was die Situation für die Patienten Deshalb müssen wir die Zusammenarbeit innerhalb und ausserhalb des zusätzlich erschwert. Unternehmens intensivieren und die Patientenbedürfnisse noch umfassender Dennoch wurden in den letzten Jahrzehnten grosse Fortschritte erzielt. In den verstehen, um Medikamente und Therapien zu entwickeln, die den von seltenen USA wurden seit der Verabschiedung spezieller Gesetze in den Achtzigerjahren Krankheiten Betroffenen helfen können. über 400 Produkte gegen mehr als 200 seltene Krankheiten zugelassen. In Europa kamen rund 70 Produkte gegen 45 seltene Krankheiten auf den Markt. Ich wünsche Ihnen viel Spass bei der Lektüre der neuesten Ausgabe von live, Novartis hat bei dieser Entwicklung eine wichtige Rolle gespielt. 1963 brach- die dem komplexen Phänomen seltener Krankheiten gewidmet ist. te unser Vorgängerunternehmen Ciba mit Desferal ein lebensrettendes Mittel ® gegen seltene Bluterkrankungen auf den Markt. Vor einem Vierteljahrhundert wurde Sandostatin® zur Behandlung von Patienten mit Wachstumshormone produzierenden Tumoren und seltenen Hypophysentumoren eingeführt. 2001 erreichten wir einen Meilenstein mit der Zulassung von Glivec® zur Behandlung von chronischer myeloischer Leukämie. Dies führte zu einem Paradigmenwechsel in der Branche, der half, die Erforschung seltener Krankheiten zu intensivieren und das Investoreninteresse für einen Bereich zu wecken, der ausserhalb von Fachkreisen bisher kaum Beachtung fand. Die Geschichte von Glivec, die ich als damaliger Leiter der Pharmaentwick- lung bei Novartis hautnah miterlebte, zeigte, dass die Erforschung seltener Jörg Reinhardt Krankheiten finanziell tragbar sein und das Interesse einer breiten Öffentlichkeit Präsident des Verwaltungsrats
4 kompass | das phänomen «seltene krankheiten» live 8–9/14 Vereint für eine gemeinsame Sache von Goran Mijuk Die Bezeichnung «seltene Krankheiten» ist ein Kuriosum. Am 4. März 1981 veränderte der US-Schauspieler Jack Klugman als Gerichtsme- diziner Quincy, M.E., in der beliebten gleichnamigen Serie die Pharmaindustrie Im Gegensatz zu anderen medizinischen Kategorien, für immer. die aus wissenschaftlicher Sicht beschrieben werden, bilden An jenem Abend strahlte der Fernsehsender NBC die Folge «David und Go- liath» aus, in der Quincy den tragischen Tod eines jungen Mannes untersucht, seltene Krankheiten keine medizinische oder pharmazeuti- der am Tourette-Syndrom litt, einer seltenen Erkrankung, die körperliche und sche Kategorie: Zu vielfältig sind die mehr als 6000 seltenen verbale Ticks verursacht und manche Patienten unkontrolliert fluchen lässt. In der Folge wird der junge Mann von Jugendlichen umgebracht, die sein unkontrol- Krankheiten, von denen weltweit rund 400 Millionen lierbares Verhalten als absichtliche Provokation missverstehen. Patienten betroffen sind. Die Kategorie der seltenen Krank- Schockiert über diesen brutalen Mord beginnt Quincy, sich mit der Krank- heit zu befassen. Da es keine Behandlung gegen das Tourette-Syndrom gibt, hält heiten geht nicht zuletzt auf Patientengruppen zurück, die er der Pharmaindustrie vor, die Forschung auf diesem Gebiet zu vernachlässigen. sich in den Siebzigerjahren für eine bessere medizinische Klugmans ausdrucksstarke Interpretation, die ihm weltweit Millionen Fans Versorgung von Menschen mit ungewöhnlichen Leiden eintrug, löste bei Tausenden Fernsehzuschauern hitzige Reaktionen aus und brachte die Diskussion über den Bedarf an Medikamenten gegen seltene Krank- einsetzten. Ihre Bemühungen brachten in den USA spezielle heiten an die Öffentlichkeit. Gesetze auf den Weg, welche die Entwicklung von mehr als 1982, im achten Jahr der Fernsehserie, greift Quincy das Thema erneut auf; in der Folge «Kranke ohne Lobby» macht er sich in Washington für ein Gesetz 400 Medikamenten gegen seltene Krankheiten förderten stark, das die Erforschung seltener Krankheiten fördern soll. Während Quincy und dem Biotechsektor entscheidende Impulse gaben. scheiterte, war Klugman, der sich nach der Lektüre eines Artikels in der «Los Angeles Times» für seltene Krankheiten engagierte, ein Jahr später erfolgreich. Novartis hat langjährige Erfahrung in der Erforschung Wenige Monate nach der Ausstrahlung von 1982 sprach Klugman vor dem seltener Krankheiten und engagiert sich auf diesem Gebiet amerikanischen Kongress im Namen von Patienten, die an seltenen Krankheiten litten, und half damit, den Erlass des US Orphan Drug Act zu beschleunigen, der mit ihrem einzigartigen Forschungsansatz, der sich auf den Weg für eine intensivierte Erforschung ungewöhnlicher Leiden ebnete. mechanistisch verstandene Krankheiten konzentriert, Als Klugman vor zwei Jahren 90-jährig starb, schrieb die Zeitschrift «Forbes», dass er als Quincy «das Geschäft mit Medikamenten nachhaltig verändert und ge- unabhängig davon, wie selten sie sind. holfen hatte, die Voraussetzungen für die aufstrebende Biotechindustrie zu schaf- fen». Ähnlich formulierte es auch Abbey Meyers, ehemalige Vorsitzende der Natio- nal Organization for Rare Disorders (NORD): «Ohne Jack Klugman gäbe es keinen Orphan Drug Act. Ohne ihn wäre das Thema der Öffentlichkeit unbekannt.» «Obdachlose» Medikamente Als Klugman das Schicksal des Tourette-Patienten dramatisierte, wurden seltene Krankheiten bereits seit 20 Jahren mit zunehmender Intensität diskutiert. Die Debat- te hatte ihren Ursprung im ersten internationalen Medikamentenskandal, der in den späten Fünfzigerjahren Europa und die USA erschütterte. Rund 7000 Kinder wur- den mit Missbildungen geboren, nachdem die Mütter Thalidomid, ein rezeptfreies Medikament gegen Angstzustände, Schlaflosigkeit, Gastritis und Verspannung, ein- genommen hatten. Die öffentliche Betroffenheit schürte weitum Ängste über die Me- dikamentensicherheit und führte zu den Kefauver-Harris-Änderungen am Food, FOTO: FABIAN OEFNER Drug and Cosmetic Act, die von den US-amerikanischen Pharmaunternehmen stren- gere Testverfahren für neue Medikamente verlangten. Neben strikteren Kontrollen bei neuen Präparaten erforderten die Änderungen auch, dass die Pharmafirmen die meisten ihrer bisherigen Medikamente, die bereits auf dem Markt waren, auf Sicher- heit, Toxizität, Wirksamkeit und strukturelle Stabilität untersuchten.
live 8–9/14 das phänomen «seltene krankheiten» | kompass 5 Illustrationen mit viskosen Ferrofluiden und Wasserfarben von Fabian Oefner (siehe auch «live cover»). Einige Medikamente wurden jedoch nie überprüft. Vertrauen in den Sektor nachhaltig untergraben man, dass eines Tages eine gewisse Sharon Dobkin in Diese Produkte galten als so genannte Orphan-Arznei- hatte – löste unter den Patienten und ihren Familien ihrem Büro in Brooklyn anrief, um sich über einen ver- mittel (Waisen) oder als «obdachlos», und ihre An- zahlreiche kritische Reaktionen aus und veranlasste stopften Abfluss im Quartier zu beklagen. Dabei er- wendung blieb auf chemische Zwecke beschränkt. die Politik, für jene Partei zu ergreifen, die vom wähnte Dobkin auch ihre seltene neurodegenerative Zunächst bezogen sich «Orphan-Arzneimittel» Pharmasektor ignoriert wurden. Krankheit, die sie ans Bett fesselte, ohne dass sie regel- auf rund 60 Medikamente, die nach wie vor in Apo- Bekannt wurde der Fall des US-amerikanischen mässigen Zugang zu Medikamenten gehabt hätte. theken und Spitälern verfügbar waren, obwohl ihre Sängers Woody Guthrie, der ab 1942 – nur zwei Jahre, Kurz darauf überlegten sich Holtzman und ihr Produktion eingestellt worden war. Im Lauf der Zeit nachdem er seinen bekanntesten Folk-Song «This land Team, wie sie die Pharmaunternehmen dazu bringen änderte sich die Bedeutung des Begriffs und schlies- is your land» geschrieben hatte – an der Huntington- konnten, an neuen Behandlungen für seltene Krank- slich wurden darunter «alle Medikamentenkategori- Krankheit litt. Als er 1967 diesem neurodegenerativen heiten zu forschen. Ein Entwurf ging an den US-Kon- en, die in der Industrie wenig Beachtung fanden», Leiden erlag, gründete seine Witwe Marjorie Guthrie gressabgeordneten Henry Waxman, der sich bereits verstanden, wie Caroline Huyard in ihrer Forschungs- ein Komitee zur Unterstützung von Patienten, die kei- für ein neues Gesetz einsetzte, das die Pharmaunter- arbeit «How did uncommon disorders become ‹rare nen Zugang zu Medikamenten gegen die Krankheit nehmen anspornen würde, Mittel für die Forschung diseases›?» schreibt. Später, als sich Patientenorgani- hatten, die den Sänger in seinen letzten Lebensjahren auf diesem Gebiet bereitzustellen. sationen, Journalisten und Ärzte in den Siebzigerjah- in eine psychiatrische Anstalt gezwungen hatte. Bei einer Anhörung im US-Kongress äusserten sich ren seltenen Krankheiten zuwandten, bezeichneten Enttäuscht über die mangelnde Forschung der unter anderem Marjorie Guthrie und Jack Klugman, Orphan-Arzneimittel eine grössere Gruppe von medi- Pharmaunternehmen und die Probleme während seiner der sein rhetorisches Geschick zugunsten der Patienten zinischen Produkten, die in der pharmazeutischen In- Krankheit warb Marjorie Guthrie um öffentliche Un- nutzte: «Es geht hier nicht um Arzneimittel für seltene dustrie als unrentabel galten. terstützung und kritisierte die Pharmaindustrie, zu we- Leiden, sondern um vernachlässigte Menschen.» nig zu tun, um Leiden zu heilen, die nur eine kleine Verstopfter Abfluss Zahl von Menschen betreffen. Sie wurde unter ande- Weitreichende Folgen Die Einstellung der pharmazeutischen Industrie – rem von den US-Politikern Liz Holtzman und Henry Klugmans Auftritt trug Früchte. Aber als der Orphan speziell nach dem Thalidomid-Skandal, der das Waxman erhört. In ihrer Biografie erinnert sich Holtz- Drug Act 1983 von US-Präsident Ronald Reagan un-
6 kompass | live books & videos – das phänomen «seltene krankheiten» live 8–9/14 live books & videos terzeichnet wurde, waren die weitreichenden Folgen spielen Patientenorganisationen wie EURORDIS, die des Gesetzes nicht abzusehen. Obwohl das Gesetz – über 600 europäische Patientengruppen und 4000 das Anreize wie Marktexklusivität, Steuervergünsti- Krankheiten umfasst, die 1983 in den USA gegründete gungen und beschleunigte Zulassungen umfasste – NORD und Netzwerkorganisationen wie Orphanet Der Schweizer Künstler insbesondere die Pharmaunternehmen ermutigen eine Schlüsselrolle bei der Sensibilisierung für seltene Paul Klee starb 1940 an sollte, die Erforschung von Krankheiten voranzutrei- Krankheiten und der Schaffung von Netzwerken, die einer seltenen Krankheit, ben, die nur einen von 2000 Menschen betrafen, ver- Forschern, Ärzten sowie Patienten und Familien er- die damals als mysteriös änderte es die ganze Industrie. möglichen, mehr über eine Krankheit zu erfahren. galt. 70 Jahre später Vor dem Inkrafttreten des Gesetzes waren in den Deshalb war Novartis 2014 Sponsor des RE(ACT)- vermutet der Dermato- USA nur 38 Medikamente gegen seltene Krankheiten Kongresses, der von den Schweizer Stiftungen Gebert loge Hans Suter nach zugelassen. Seit seiner Einführung und der Annahme Rüf und Blackswan organisiert wurde. In seiner Eröff- jahrelanger sorgfältiger ähnlicher Regeln in Japan, Australien und Europa nungsrede unterstrich Verwaltungsratspräsident Jörg Forschung, dass Klee haben weltweit mehr als 400 Orphan-Arzneimittel Reinhardt die Bedeutung des Kongresses, «welcher der an diffuser systemischer die Zulassung erhalten, darunter die erste Behand- weltweiten Forschergemeinde eine dringend benötigte Sklerose litt, die auch das lung gegen HIV/Aids. Plattform bietet, um sich zu vernetzen, Ideen auszutau- Spätwerk des Künstlers Aufgrund des Orphan Drug Act ist die Sterblich- schen und die Grundlagenforschung bei seltenen beeinflusste. keit bei seltenen Krankheiten wie Huntington, Myo- Krankheiten zu vertiefen. Ich bin überzeugt, dass Wis- klonus, Tourette-Syndrom und Muskeldystrophie senschaftler nur erfolgreich sein und Innovationen vor- langsamer gestiegen als bei anderen Krankheiten, er- antreiben können, wenn sie gemeinsam eine globale Im ersten Krimi von klärt Frank Lichtenberg vom National Bureau of Eco- Wissensbasis erarbeiten, um die Herausforderungen Carolina García-Aguilera nomic Research. Seine Studie schätzt, dass ein zusätz- der modernen Medizin zu meistern.» ermittelt der aus Miami lich zugelassenes Orphan-Arzneimittel im Jahr nach Neben weitläufigen Netzwerken ist oft auch das stammende Detektiv Lupe der Zulassung 211 Todesfälle und letztlich 499 Todes- persönliche Engagement der von seltenen Krankhei- Solano im Fall eines adop- fälle durch eine seltene Krankheit verhinderte. Die seit ten Betroffenen für den Wandel entscheidend, wie tierten Babys, das an einer Einführung des Gesetzes zugelassenen Orphan-Arz- der Fall von Karen Aiach zeigt, bei deren Tochter die seltenen Krankheit leidet, neimittel haben somit schätzungsweise mehr als Sanfilippo-Krankheit diagnostiziert wurde, eine die sich nur mit einer Kno- 100 000 Todesfälle verhindert. neurodegenerative Störung, die gekennzeichnet ist chenmarktransplantation Auch finanziell hat sich das Gesetz gelohnt und durch einen schweren und schnellen Verfall der geis- behandeln lässt. Um das «wesentlich zum Wachstum der Biotechindustrie tigen Fähigkeiten. Leben des Babys zu retten, beigetragen», sagte Jim Greenwood, Präsident der Am RE(ACT)-Kongress erzählte Aiach, eine ehe- sucht Solano in Kuba nach Biotechnology Industry Organization, die mehr als malige Unternehmensberaterin, wie sie das Start-up- der leiblichen Mutter. 1000 Biotechfirmen vereint, ein Vierteljahrhundert Unternehmen Lysogene gründete, nachdem bei ihrer nach der Einführung des Gesetzes. Tochter die tödliche Krankheit diagnostiziert wurde. Der Ökonom William Lazonick fand heraus, Als Branchenneuling nutzte Aiach ihre Manage- Gerald Uhlig-Romero dass von 31 Biotechmedikamenten, die bis 2007 mentfähigkeiten und stellte ein Team von Wissen- erzählt in seiner Blockbuster wurden, deren 20 auf Orphan-Arznei- schaftlern zusammen, das ihr half, eine aussichtsrei- Autobiographie den mittel zurückgingen. Ausserdem dürfte der Sektor, che Substanz zu lizenzieren und für die klinische Kampf mit Morbus der Unternehmen wie Pfizer und Sanofi angelockt Anwendung weiterzuentwickeln. Wenn alles plan- Fabry, einer seltenen hat, weiter wachsen: Laut KuicK Research werden mässig verläuft, könnten die klinischen Studien 2014 Stoffwechsel- zurzeit mehr als 600 Substanzen klinisch getestet abgeschlossen werden und ein Medikament in eini- krankheit. Romero und der Markt für seltene Krankheiten sollte bis gen Jahren den Markt erreichen, sagte Aiach. beschreibt den qual- 2018 von heute 110 Milliarden Dollar auf 120 Milli- vollen Weg bis hin zu arden ansteigen. Lange Geschichte der Erforschung von seltenen seiner Diagnose und Krankheiten bei Novartis dem Leben mit Vernetzung und persönliches Engagement gefragt Novartis ist seit mehr als 50 Jahren in der Erforschung der Krankheit. Trotz des erwarteten Wachstums und der grossen von seltenen Krankheiten aktiv. Ende der Fünfzigerjah- Erfolge seit Einführung des Orphan Drug Act fehlt re startete die Novartis Vorgängerin Ciba ein Koopera- es Millionen Patienten noch immer an einer ange- tionsprojekt mit der ETH Zürich, in dessen Mittel- Gabrielle, eine lebens- messenen Behandlung. Das Wissen über die mehr punkt Naturprodukte standen, die Eisenkomplexe lustige Frau Anfang als 6000 seltenen Krankheiten, die heute bekannt bilden. Der Nobelpreisträger Vladimir Prelog wirkte zwanzig, leidet seit ihrer sind, ist weiterhin begrenzt, und Patienten sowie an dem Projekt mit, das zur Entwicklung von Desferal® Geburt am Williams- Ärzte tun sich oft schwer, eine Krankheit zu diag- führte, das bis heute als Standardtherapie gilt gegen Ei- Beuren-Syndrom. Gegen nostizieren. In der Regel sehen Allgemeinpraktiker senüberschuss infolge von Thalassämie oder Hämo- den Willen ihres Umfelds nur einmal pro Jahr einen Patienten, der an einer chromatose, zwei seltenen Blutkrankheiten. 20 Jahre kämpft sie in diesem Film seltenen Krankheit leidet. Die Wahrscheinlichkeit später wiederholte Sandoz den Erfolg von Ciba mit der der Regisseurin Louise einer Fehldiagnose der Symptome ist hoch, und oft Entwicklung von Sandostatin®. 1991 erhielt das Pro- Archambault für ihre quälen sich die Patienten über viele Jahre, bevor ei- dukt den französischen Prix Galien, der als Nobelpreis FOTOS: WIKIPEDIA; FDA grosse Liebe. Die Haupt- ne richtige Diagnose gestellt wird. des Pharmasektors gilt. Das Medikament wirkt wie ein rolle spielt Gabrielle Selbst dort, wo eine rechtzeitige Diagnose möglich natürliches Protein, das die Freisetzung von Wachs- Marion-Rivard, die selbst ist, sind sinnvolle Behandlungsoptionen oft nicht ver- tumshormonen hemmt, und wird zur Behandlung von das Williams-Beuren-Syn- fügbar, weil die Forschung nicht weit genug fortge- wachstumshormonproduzierenden Tumoren wie Ak- drom hat. (Kanada 2013) schritten ist oder die Mittel begrenzt sind. Deshalb romegalie und Gigantismus sowie seltenen Hypophy-
live 8–9/14 das phänomen «seltene krankheiten» | kompass 7 Links: Der US-Sänger Woody Guthrie litt an einer seltenen Krankheit, der Huntington-Krankheit. Rechts: Der US-Schauspieler Jack Klugman bei einer Anhörung im amerikani- schen Kongress. Links: Henry Waxman spielte bei der Durchsetzung des Orphan Drug Act eine massgebliche Rolle. Rechts: Der Orphan Drug Act wurde 1983 von US-Präsident Ronald Reagan unterzeichnet. sentumoren eingesetzt. Die frühen Meilensteine gip- Medical Research (NIBR), deren Forschungsansatz Kräfteverfall bei Krebs, Kachexie und Sarkopenie un- felten 2001 in einem historischen Durchbruch, als darin besteht, sich an der Wissenschaft zu orientie- tersucht. Zu den weiteren Projekten gehören die Er- mit Glivec® die erste Behandlung gegen genetische ren und Krankheiten, die mechanistisch verstanden forschung des Cushing-Syndroms, einer endokrinen Mutationen auf den Markt kam. Die «Wunderwaffe werden können, unabhängig von ihrer Seltenheit zu Störung, und der Polymyositis, einer entzündlichen gegen Krebs», wie das Medikament genannt wurde, untersuchen. Muskelerkrankung. Vielversprechend ist zudem ein verwandelte die chronische myeloische Leukämie Für die Forschung sind seltene Krankheiten mit- Projekt zur pigmentierten villonodulären Synovitis (CML), die jährlich bei ein bis zwei Personen unter unter sogar ergiebiger, da ungewöhnliche Störungen (PVNS), einer seltenen Krankheit, von der in den USA 100 000 auftritt, zu einer therapierbaren chroni- oft auf eine konkrete Ursache, wie etwa einen gene- und Europa rund 20 000 Patienten betroffen sind. schen Erkrankung und zeigte, dass die Indikation tischen Defekt, zurückgeführt werden können. So- 2014 haben sich die Krebsmedikamente Jakavi® einer seltenen Krankheit wirtschaftlich sein kann. bald eine Krankheit gut verstanden ist und die For- und Signifor ® für neue Indikationen bei seltenen Gemäss Untersuchungsdaten beträgt die fünfjährige scher den entsprechenden molekularen Signalweg Krankheiten als wirksam erwiesen. Jakavi, das be- Überlebensrate von CML-Patienten, die mit Glivec kennen, kann das Wissen zur Erkundung gängigerer reits zur Behandlung von krankheitsbedingter Sple- behandelt werden, über 95 Prozent. Nicht zuletzt Krankheiten dienen. Ilaris® wurde beispielsweise nomegalie zugelassen ist, erreichte den primären diese hohe Überlebensrate machte Glivec zu einem entwickelt zur Behandlung einer seltenen Erbkrank- Endpunkt bei Polycythemia vera, einem chronischen, der bestverkauften Medikamente von Novartis mit heit, des Muckle-Wells-Syndroms, auch Cryopyrin- unheilbaren Blutkrebs. Signifor, das in den USA zur einem jährlichen Spitzenumsatz von mehr als 4 Mil- assoziiertes periodisches Syndrom (CAPS) genannt. Behandlung des Cushing-Syndroms zugelassen ist, liarden Dollar. Ilaris ist heute ausserdem zur Behandlung von re- zeigte hohe Wirksamkeit bei Akromegalie. fraktärer Gichtarthritis zugelassen, was beweist, Angesichts dieses weiterhin starken Erfolgsaus- Anhaltendes Engagement dass der Signalweg-Ansatz für die Medikamenten- weises will Novartis die Erforschung seltener Krank- Die langjährige Forschung im Bereich seltener Krank- entwicklung ein gangbarer Weg ist. heiten fortsetzen. «Wenige andere Unternehmen ver- heiten und zahlreiche wissenschaftliche Durchbrüche Bei den NIBR laufen im Bereich seltener folgen eine solche Strategie», sagte CEO Joe Jimenez. haben das Vertrauen bei Novartis gestärkt, dass dieses Krankheiten zurzeit über 40 Projekte, einschliess- «Indem wir uns an der Wissenschaft orientieren und Forschungsgebiet trotz seiner Grösse und Komplexität lich Wirkstoffen wie Bimagrumab gegen sporadi- innovative Medikamente mit einem breiten Indikati- medizinische Erfolge ermöglicht und das wissen- sche Einschlusskörpermyositis (sIBM), eine seltene onsspektrum entwickeln, sind wir besser in der Lage, schaftliche Verständnis vieler anderer Krankheiten Muskelerkrankung. Bimagrumab erhielt 2013 von neuartige Behandlungen bereitzustellen, die für sel- vertiefen kann. Deshalb sind seltene Krankheiten ein der FDA den Status als «Breakthrough Therapy». tene Krankheiten und Patienten mit unerfüllten Be- Hauptschwerpunkt der Novartis Institutes for Bio- Die Substanz wird auch als Behandlung von COPD, dürfnissen ganz neue Chancen bieten.»
8 kompass | zwei innenansichten zu seltenen krankheiten live 8–9/14 Die Perspektive des Patienten einnehmen Seltene Krankheiten sind – wie kein anderes Gebiet der Lidia Fabiani, die zurzeit im Bereich Rare Diseases innerhalb der Onkologie neue Strukturen schafft, arbeitet seit 1995 bei Novartis. Die gelernte Biologin war bei Medizin – sowohl wissenschaftlich wie auch organisatorisch der Einführung von Glivec stark involviert und engagiert sich auch deshalb leiden- anspruchsvoll. Obwohl in den letzten 30 Jahren Hunderte schaftlich für seltene Krankheiten, weil das Kind einer Freundin an einer unge- wöhnlichen Erkrankung leidet. Salah-Dine Chibout ist seit 22 Jahren bei Novartis. neuer Arzneimittel – darunter das bahnbrechende Zurzeit ist er für die präklinische Sicherheit verantwortlich und vertritt Novartis Leukämiemedikament Glivec® von Novartis – entwickelt zudem bei öffentlich-privaten Partnerschaften, sogenannten Public-private-Part- nerships. wurden, lassen sich die meisten seltenen Krankheiten nicht erfolgreich behandeln. Trotz grosser Fortschritte in der Novartis und ihre Vorgängerunternehmen forschen seit Langem an seltenen Krankheiten. Warum hat das Unternehmen im Gegensatz zu vielen Forschung und zunehmendem Wissen über ungewöhnliche Mitbewerbern auf diesem scheinbar weniger lukrativen Gebiet geforscht? Erkrankungen erfordert die Entwicklung neuer und Lidia Fabiani: Novartis verfolgt als eines von wenigen Unternehmen der Branche ei- wirksamer Medikamente eine Intensivierung der wissen- ne wirklich patientenorientierte Strategie. Bei der Vorbereitung von Materialien für unterschiedliche Zielgruppen versuchen wir uns beispielsweise in die Patienten hin- schaftlichen Zusammenarbeit. Ein weiteres Hindernis besteht einzuversetzen. Deshalb sind wir mit Patientenorganisationen im Kontakt, sobald darin, dass seltene Leiden oft erst nach Jahren wir unsere klinischen Studien planen. Unser Engagement für seltene Krankheiten spiegelt auch unsere unternehmerische Verantwortung und unser Ziel, Medikamente richtig diagnostiziert werden. live sprach mit Lidia Fabiani, für unerfüllte medizinische Bedürfnisse zu erforschen und zu entwickeln. Head Rare Diseases, Oncology Region Europe, und Salah-Dine Chibout: Hinzu kommt, dass unsere Anstrengungen auf diesem Gebiet der Kultur von Novartis entsprechen, Risiken einzugehen und innovativ zu Salah-Dine Chibout, Global Head Discovery Investigation sein. Aufgrund von Renditeüberlegungen interessieren sich nur wenige grosse Un- Safety & Global Therapeutic Areas Preclinical Safety, ternehmen für seltene Krankheiten. Novartis hat jedoch einen anderen Ansatz ge- wählt: Dahinter steht der Gedanke, dass, wenn wir eine Krankheit heilen können Novartis Institutes for BioMedical Research, über die – ungeachtet, wie hoch die Zahl der betroffenen Patienten ist –, sich dies auch Herausforderungen und Chancen auf diesem weiten wirtschaftlich lohnt. Forschungsgebiet. Wie wichtig war der Erlass des US-amerikanischen Orphan Drug Act von 1983 für den Sektor und insbesondere für Novartis? Salah-Dine Chibout: Es war ein entscheidender Moment, der bewies, dass die Re- gierungen und Regulierungsbehörden Wissenschaft und Innovation fördern kön- nen, wenn sie die richtigen Parameter definieren. Vor dem Erlass des Gesetzes in den USA und der Einführung ähnlicher Regeln in Japan und Europa bestanden praktisch keine Anreize für Unternehmen, auf dem Gebiet zu forschen. Heute hat sich das grundlegend geändert. Aufgrund des im Gesetz enthaltenen Exklusiv- rechts für Arzneimittel gegen seltene Krankheiten wurden beispielsweise zahlreiche neue Medikamente entwickelt, über 400 allein in den USA. Lidia Fabiani: Das Gesetz hat auch kleineren und mittleren Unternehmen ge- holfen und den Biotechnologiesektor in Schwung gebracht. War der frühe Erfolg mit Medikamenten wie Desferal® für die Entwicklung von FOTOS: LAURIDS JENSEN Glivec mitverantwortlich? Salah-Dine Chibout: Ich denke schon. Der Erfolg von Desferal förderte im Unter- nehmen die Überzeugung, dass man auf diesem Gebiet erfolgreich forschen kann. Ohne diese Überzeugung wären viele Projekte möglicherweise frühzeitig abgebro- chen worden, vielleicht auch Glivec. Lidia Fabiani und Salah-Dine Chibout beim Interview mit live.
live 8–9/14 Inwiefern hat der Erfolg von Glivec die Wahrnehmung der Erforschung seltener Krankheiten verändert? Lidia Fabiani: Glivec ist eine atemberaubende Ge- schichte. Ich durfte an diesem Erfolg teilhaben, der in der Krebstherapie einen Paradigmenwechsel bewirkte. Durch die Abstimmung der Wirksamkeit und Behand- lungsdauer waren wir in der Lage, eine tödliche in eine chronische Krankheit zu verwandeln. Salah-Dine Chibout: Glivec zerschlug zudem die lange vertretene Überzeugung, dass Nischenmärkte fi- nanziell unattraktiv sind. Glivec hat bewiesen, dass die Rendite in erster Linie vom Nutzen für die Patienten abhängt. Aber es war ein Lernprozess: Zunächst wurde der Spitzenumsatz mit Glivec auf 400 Millionen Dollar geschätzt. Aber weil das Medikament so wirksam war, stieg der jährliche Umsatz zur allgemeinen Überra- schung auf über vier Milliarden Dollar. Dass Glivec auch bei anderen Indikationen wirksam war, machte deutlich, dass sich das Wissen über den Mechanismus einer seltenen Krankheit auf andere Therapiegebiete übertragen lässt und dass die Substanz zur Behandlung weiterer Leiden genutzt werden kann. Lidia Fabiani: «Für mich ist die Leidenschaft entscheidend.» Bleibt dies ein Leitgedanke der Forschung und Entwicklung? Lidia Fabiani: Der Erfolg von Glivec führte zu einer Bei Novartis laufen über 40 Projekte zu seltenen Morbus Cushing litt. Nach der korrekten Diagnose Wende in Bezug auf Verständnis und Umsetzung der Krankheiten. Welche sind am weitesten fortge- nahm sie an einer unserer Studien teil und war drei Medikamentenentdeckung. Heute werden seltene schritten? Monate später wie verwandelt. Paula begann wie- Krankheiten auch deshalb erforscht, weil ungewöhn- Lidia Fabiani: LCI699 zum Morbus Cushing und die der zu arbeiten und konnte wie früher leben. Ihr liche Leiden, die oft durch einen genetischen Defekt neue Formulierung für Signifor® LAR gegen Akrome- Fall zeigt auch, weshalb wir uns in unserer tägli- ausgelöst werden, wertvolle Erkenntnisse über den galie. Bei einer erfolgreichen Einführung dieser Medi- chen Arbeit mit Leidenschaft dafür einsetzen, den grundlegenden Charakter einer Erkrankung liefern kamente würde Novartis zunehmend als Marktführer Menschen wieder zu einem gesunden Leben zu ver- können. Die seltene Krankheit Akromegalie bei- bei seltenen Krankheiten anerkannt. helfen. spielsweise kann den Wissenschaftlern als Modell Salah-Dine Chibout: Grossen Erfolg hatten wir dienen, auf dessen Grundlage andere Medikamente mit LDK378, auch Zykadia® genannt, das in diesem Weitere Herausforderungen? entwickelt werden. Jahr in den USA für die Behandlung von Patienten Salah-Dine Chibout: Es gibt zwischen 6000 und 8000 Salah-Dine Chibout: Genau. Das Verständnis des mit anaplastische-Lymphom-Kinase-positivem (ALK+) seltene Krankheiten. Ein Überblick über dieses weite grundlegenden Mechanismus einer seltenen Krank- metastasierendem nicht-kleinzelligem Lungenkarzi- Gebiet ist nur möglich, wenn Hochschulinstitute und heit hilft uns, andere komplexe Erkrankungen, dar- nom (NSCLC) nach Progression unter oder bei Un- Unternehmen Hand in Hand zusammenarbeiten und unter auch häufige, zu erklären. Wichtig ist auch, verträglichkeit gegenüber Crizotinib zugelassen wur- wenn sich die Forscher aktiv vernetzen. Hochschul- dass die Forschung auf dem Gebiet seltener Krankhei- de. Der Zeitraum von den ersten positiven Daten bis gruppen zu ermutigen, ihre Arbeit zu veröffentlichen, ten vermehrt mit Patientenproben und nicht nur mit zur Registrierung war sehr kurz und beweist, dass ist eine Möglichkeit, diese Art der Zusammenarbeit zu Tiermodellen arbeitet. Das macht diese Art der For- wir fähig sind, Arzneimittel schnell für die Patienten stärken. Die Vorteile können enorm sein. Als «Science» schung viel direkter. Tiermodelle haben den Nachteil, bereitzustellen und zugleich die Forschungs- und Ent- 2013 in einem Artikel über eine unlängst entdeckte sel- dass nicht immer klar ist, ob sie für eine menschliche wicklungskosten zu kontrollieren. tene Krankheit den zugrundeliegenden genetischen De- Erkrankung relevant sind. Dank der rasanten Ent- fekt beschrieb, nahm Novartis sogleich Kontakt zu wicklung in der Genomsequenzierung können wir Trotz der grossen Fortschritte auf dem Gebiet dem Forschungszentrum auf, da eine unserer Substan- einige der molekularen Signalwege, die zu einer sind die Herausforderungen angesichts von mehr zen das fehlerhafte Gen blockieren kann. Krankheit führen, heute besser verstehen. als 6000 bekannten seltenen Krankheiten enorm. Lidia Fabiani: Vor uns liegen zahlreiche Herausfor- Die Devise lautet also Zusammenarbeit? derungen. Ein Haupthindernis besteht darin, dass Lidia Fabiani: Unbedingt. Was die Patienten betrifft, «EINE GUTE FREU NDIN die Diagnose einer seltenen Krankheit schwierig so müssen wir die sozialen Medien besser nutzen und VON MIR HAT DREI und oft zeitraubend ist. Der Fall von Paula aus Itali- uns aktiver über digitale Kanäle vernetzen. Da jedoch KINDER, U ND DAS JÜ NGSTE en, die ich vor zwei Jahren traf, veranschaulicht das klinische Studien wegen der geringen Patientenzahlen LEIDET AN EINER SELTENEN Problem: Während Jahren fühlte sich diese Frau oft nur schwer realisierbar sind, müssen wir auch ler- KRANKHEIT, DIE DAS mittleren Alters, die zuvor im Aussendienst gearbei- nen, um die Ecke zu denken und neue Wege zu finden, tet hatte, müde; gleichzeitig begann sich ihr Körper um die Medikamente schneller zu den bedürftigen Pa- WACHSTUM DES auf eigenartige Weise zu verändern. Eine Vielzahl tienten zu bringen. KLEINEN VERHINDERT, von Spezialisten stellte die unterschiedlichsten Dia- Salah-Dine Chibout: Zusammenarbeit betrifft DA ER KEINE NAHRU NG gnosen, und sie wurde sogar hospitalisiert. Aber auch die Gesundheitsbehörden. Das heisst, dass wir bei VERWERTEN KANN.» erst nach diesem langen Weg stellten die Ärzte auf- der Arbeit an seltenen Krankheiten auch die Gesund- LIDIA FABIANI grund viel zu hoher Cortisolwerte fest, dass sie an heitsbehörden frühzeitig einbeziehen sollten, denn sie
10 kompass | live cover – zwei innenansichten zu seltenen krankheiten live 8–9/14 live cover Salah-Dine Chibout: «Die Stärkung unserer Zusammenarbeit mit Was haben Kunst und Wissenschaft gemeinsam? Beide klinischen Forschern, versuchen die Welt zu erklären und streben nach Wahr- Spitälern und heit und Schönheit. Während von der Wissenschaft Gesundheitsbehörden angenommen wird, dass sie mit Logik und rationalem ist sehr wichtig.» Denken erkundet, was die Welt im Innersten zusam- menhält, gilt die Kunst als fantasiegesteuert. Diese Gegensätzlichkeit ist jedoch weit von der Wahrheit entfernt. Die Kunst war stets darauf bedacht, an die Grenzen der Logik und des rationalen Denkens zu gehen, um das menschliche Bewusstsein zu erweitern, während grosse Ideen in der Wissenschaft oft das Er- gebnis irrationaler Träume und kühner Gedanken sind. Und so sehr sich die Wissenschaft auf modernste Tech- nologien stützt, um die Grenzen der bekannten Welt zu verschieben, sucht die Kunst durch Erprobung neuer Materialien und Methoden nach neuen Formen von Schönheit und Sinn. Man denke nur an die Entdeckung der Perspektive durch den italienischen Architekten Fi- lippo Brunelleschi im frühen 15. Jahrhundert oder die Erfindungen der französischen Impressionisten. Alle diese Künstler waren vom gleichen Wissenshunger ge- trieben wie die Wissenschaftler, und das ist auch heute noch so. Gemeinsam ist der Kunst und der Wissen- schaft das unkonventionelle Denken. Was für Wissen- schaftler gilt, die auf dem komplexen und anspruchs- vollen Gebiet seltener Krankheiten arbeiten, das gilt auch für moderne Fotografen, wenn sie die Tiefen und überraschende Schönheit der Realität erkunden. Beide müssen Konventionen verwerfen und die Welt mit frischen Augen sehen, um ein neues und umfassenderes können uns helfen, neue Medikamente möglichst zeugung, dass wir im Bereich der seltenen Krankhei- Verständnis unserer Realität zu erlangen. Aus diesen schnell für die Patienten bereitzustellen. Ausserdem ten ähnlich erfolgreich sein können. Gründen haben wir unsere jüngste Ausgabe, die der müssen wir die Zusammenarbeit mit Patientenorgani- Erforschung seltener Krankheiten gewidmet ist, mit sationen intensivieren. Wir unterstützen bereits zahl- Was ist nötig, um den Fortschritt auf dem Gebiet der Werken von Fabian Oefner illustriert. Oefners Aufnah- reiche Organisationen und haben in Basel zweimal den seltenen Krankheiten zu beschleunigen? men sind schön und geheimnisvoll zugleich und zeigen internationalen RE(ACT)-Kongress über seltene Salah-Dine Chibout: Die Stärkung unserer Zusammen- uns eine bisher unbekannte Welt. Der Betrachter wird Krankheiten als Sponsor unterstützt. Und wir sind arbeit mit klinischen Forschern, Spitälern und Gesund- von den merkwürdigen Formen und Farben angezo- Partnerschaften eingegangen mit der «Innovative Me- heitsbehörden ist sehr wichtig. Aber wir müssen auch gen, doch die Entstehung dieser Formen und Schatten dicines Initiative» der EU, der University of Newcastle unsere bereichsübergreifenden Stärken nutzen und en- bleibt ihm verborgen. Beim Anblick seiner Bilder und dem französischen Institut Necker, die uns einen ger zusammenarbeiten, denn das Timing kann auf dem staunen wir über die Schönheit, Komplexität und engeren Kontakt zu den Patienten ermöglichen. Ich Gebiet der seltenen Krankheiten eine entscheidende Rätselhaftigkeit der Welt. Dies umso mehr, als Oefner selbst habe das Institut Necker besucht und kann Ihnen Rolle spielen, insbesondere bei der Patientenrekrutie- für die Aufnahmen in unserer aktuellen Ausgabe mit versichern, dass jeder, der die Patienten – mehrheitlich rung. Ich bin überzeugt, dass wir dies schaffen können, viskosen Ferrofluiden und Wasserfarben gearbeitet hat. Kinder – und deren Familien erlebt, hoch motiviert ist, denn wir haben neue Möglichkeiten wie etwa die effizi- Näheres über das Werk des Schweizer Künstlers Fabian Lösungen für seltene Krankheiten zu finden. ente Genomsequenzierung. Ausserdem haben wir eine Oefner erfahren Sie unter www.fabianoefner.com. grosse Zahl an talentierten Mitarbeitenden. Wie wichtig ist diese Leidenschaft für Ihre Aufgabe? Es ist eine sehr spannende Zeit. Wir können Lidia Fabiani: Für mich ist Leidenschaft entscheidend. neue Erkenntnisse weiterentwickeln, die noch vor Das hat auch persönliche Gründe. Eine gute Freundin wenigen Jahren undenkbar waren und uns ermögli- von mir hat drei Kinder, und das jüngste leidet an einer chen, unsere Aufgabe des Helfens und Heilens zu seltenen Krankheit, die das Wachstum des Kleinen ver- erfüllen und neue Medikamente schneller für die FOTOS: FABIAN OEFNER; LAURIDS JENSEN hindert, da er keine Nahrung verwerten kann. Patienten bereitzustellen. Ich bin auch überzeugt, dass die Leidenschaft un- Lidia Fabiani: Ich teile diese Meinung und bin sere Geschäftsentwicklung fördern kann. Ich habe überzeugt, dass wir dieses Ziel erreichen können, wenn dies am erstaunlichen Wachstum unseres Onkologie- wir bewusst die Perspektive des Patienten einnehmen, bereichs selbst erlebt, der im Jahr 2000 nur einen weiterhin unkonventionell denken und uns jeden Tag Bruchteil unseres Pharmageschäfts ausmachte und mit Leidenschaft für die Patienten einsetzen. heute zu unseren stärksten Geschäftseinheiten zählt. Auch seltene Krankheiten sind bisher nur ein kleiner Das Interview führten Michael Mildner und Goran Teil unseres Geschäfts. Aber ich bin der festen Über- Mijuk.
live 8–9/14 produktion | kompass 11 Alles ausser Standard von Stefanie Krüger Haben Sie schon einmal von tuberöser Sklerose (TSC) mit Votubia ist das erste Medikament, das seit 2011 EU-weit zur Behandlung von Patienten zugelassen ist, die an tuberöser Sklerose (TSC) mit subependymalem subependymalem Riesenzellastrozytom (SEGA) oder Riesenzellastrozytom (SEGA) leiden und bei denen ein operativer Eingriff nicht Myelofibrose gehört? Wenn nicht, dann ist das kaum in Frage kommt. Bei TSC handelt es sich um eine genetische Erkrankung, die zur Bildung von gutartigen Tumoren in lebenswichtigen Organen führen kann. verwunderlich: Bei beiden handelt es sich um extrem Viele unterschiedliche Körperteile können davon betroffen sein – meist trifft es seltene Erkrankungen. Im Gegensatz zu Volkskrankheiten jedoch das Gehirn. Es wird vermutet, dass TSC bei einem von 6000 Neugebo- renen auftritt und weltweit rund eine Million Menschen betroffen sind. Vor der wie etwa Asthma oder Arthrose sind von diesen Leiden Einführung von Votubia gehörte die operative Entfernung der Tumore zur zwar weit weniger Menschen betroffen, die aber oft einen Standardbehandlung. «Das Engagement für seltene Krankheiten gehört zur Philosophie von Novartis», erklärt Thierry Kiefer, Projektteamleiter PharmOps grossen Leidensdruck verspüren. Da ihre Krankheit ein bei Votubia. «Mit Votubia bieten wir TSC-Patienten eine wirksame Behand- Randphänomen darstellt, erweisen sich Diagnosen lung und Alternative zur Operation – darauf haben viele Patienten und ihre oftmals als schwierig und nicht selten fehlt es an Angehörigen jahrelang gewartet.» Therapiemöglichkeiten. Um die Lebensqualität dieser Kreative Lösungen für effiziente Produktion Patienten zu verbessern, forscht Novartis kontinuierlich Der Wirkstoff in Votubia ist Everolimus, der auch bei anderen Präparaten ein- gesetzt wird. So ist er beispielsweise unter dem Handelsnamen Afinitor ® zur an neuartigen Präparaten – und die Ergebnisse können Behandlung von Brustkrebs zugelassen. Everolimus wird semisynthetisch aus sich sehen lassen: Mit Votubia® und Jakavi® stellt Novartis einem makrozyklischen Lacton, das von dem Bakterium Streptomyces hygro- scopicus gebildet wird, in einem speziellen Verfahren hergestellt. Am Standort erstmals Medikamente für Tuberöse-Sklerose- und Stein wird das Zwischenprodukt, «eine Solid Dispersion», dann weiterverarbei- Myelofibrose-Patienten zur Verfügung. Hergestellt werden tet. Ganz entscheidend ist dabei der Schutz vor Feuchtigkeit. «Das Produkt ist sowohl hygroskopisch als auch feuchteempfindlich», erklärt Kiefer. «Der kom- beide Präparate am Standort Stein – wegen des geringeren plette Produktionsprozess ist deshalb darauf ausgerichtet.» Konkret bedeutet Bedarfs sind dabei sehr genau geplante und zum Teil das, dass die relative Luftfeuchte konstant unter 30 Prozent liegen muss. Um dies zu gewährleisten, werden bei der Tablettierung beispielsweise die Contai- ungewöhnliche Produktionsprozesse gefragt. ner/Büchsen mit Trockenluft überströmt. Zudem sind die Produktions- und Verpackungszeiten möglichst kurz getaktet. Damit das Produkt auch beim Patienten daheim bestens geschützt ist, werden die Tabletten zudem in Alumi- niumblistern vertrieben. Laut Kiefer ist solch ein Produktionsprozess mit speziellem Feuchteschutz je- doch nicht unbedingt aussergewöhnlich. «Es gibt viele Produkte, die unter be- stimmten Bedingungen hergestellt werden müssen», so Kiefer. Die Herausforde- rung war vielmehr eine ganz andere: «Der geringe Bedarf bereitete uns zu Beginn ziemliches Kopfzerbrechen», gesteht Kiefer. «Wir brauchten eine Lösung, um auf die Nachfrage möglichst schnell, effizient und flexibel reagieren zu können – ohne dabei grossen Überschuss zu produzieren.» Denn anders als vielleicht vermutet findet die Produktion von Votubia nicht auf speziell für kleinere Volumen ausgeleg- ten Anlagen statt, sondern auf den normalen Standardanlagen in Stein. Das hat zur Folge, dass mit relativ grossen Batchmengen gearbeitet werden muss. Um dieses Problem zu lösen, hat sich das Projektteam mit Anke Diederich und Kurt Liechti, den Projektteamleitern von TRD (Technical Research & Development), eine krea- tive Lösung einfallen lassen: Jeder Batch mit einer Gesamtmenge von 136 Kilo- gramm Tablettiermischung wird in drei gleich grosse Teile geteilt. Für diese sind dann alle Prozesse und verfügbaren Dosierungsmengen von 2, 3 und 5 Milligramm
12 kompass | produktion live 8–9/14 Die Produktion von Votubia und Jakavi erfolgt auf den normalen Standardanlagen in Stein. Auf der abgebildeten Blistermaschine werden die Tabletten verblistert. FOTOS: ROLAND SCHMID; FABIAN OEFNER
live 8–9/14 produktion | kompass 13 validiert. «Das ist ein enormer Vorteil», betont Kiefer, duktvolumina gefertigt werden.» Um die Produktion den Hilfsstoffen vermischt und granuliert, bevor die «denn so können wir den grossen Batch in drei kleine- künftig zu vereinfachen, wurden alle Dosierungsgrös- Tablettierung folgt. Anschliessend werden die Tab- re, gleich grosse Teile aufsplitten – und je nach Bedarf sen – von der kleinsten mit 5 Milligramm bis hin zu letten in Blister und anschliessend in Faltschachteln für jede dieser Teilgruppen festlegen, welche Dosie- 20 Milligramm – für diese Batchgrösse validiert und verpackt. Da die Tabletten bei der Verarbeitung rungsmenge hergestellt wird. Das erhöht nicht nur die erlauben so eine flexible Produktion. Staub entwickeln, mussten Massnahmen getroffen Flexibilität in der Produktion, sondern natürlich auch Um die Einsatzmöglichkeiten des Präparats werden, um den Staub bei der Verpackung kräftig die Effizienz.» weiter zu optimieren, hat das Projektteam zusätz- abzusaugen. «Beim Launch von Jakavi hatten wir lich an der Lebensdauer des Medikaments gearbei- natürlich alle Probleme auf einmal», erinnert sich Wenig Zeit als grosse Herausforderung tet. Dazu müssen sogenannte Haltbarkeitstests Rigassi. «Heute kennen wir die Herausforderungen Geringer Bedarf und damit auch kleinere Produkti- onsmengen – diese Herausforderung musste auch das Team um Petra Rigassi, bis Anfang 2014 Projekt- teamleiterin bei PharmOps für Jakavi, bei der Pro- dukteinführung des Myelofibrose-Präparats meis- tern. Dabei handelt es sich um eine potenziell tödliche Bluterkrankung, die auf einer Fehlfunktion der hämatopoetischen Stammzellen im Knochen- mark beruht. Das blutbildende Knochenmarkgewe- be wird dabei schrittweise durch Bindegewebe er- setzt. Von 100 000 Personen erkrankt jährlich eine an diesem chronischen Leiden, für das lange keine medikamentöse Behandlung zugelassen war. Erst vor ein paar Jahren stand mit Ruxolitinib unter dem Markennamen Jakavi europaweit eine Option zur Verfügung. Eine mit grossem Potenzial, wie Rigassi erklärt: «Jakavi verbessert die Lebensqualität von Myelofibrose-Patienten enorm – und zum Teil schon mit der ersten Einnahme. Zudem sinkt das Risiko deutlich, an der Erkrankung zu sterben.» Um das Produkt in Europa möglichst rasch auf den Markt zu bringen, fand die Einführung unter grossem Zeitdruck statt. Seit 2009 hält Novartis die Lizenz für Ruxolitinib von der Incyte Corporation zur Vermarktung ausserhalb der USA. Bereits kurz darauf wurde der technische Transfer durchgeführt; Mitte 2011 folgte die Einreichung für die Zulassung in der EU. «Die knappen Zeitfenster waren für uns eine enorme Herausforderung», blickt Rigassi zu- rück. Dabei sei es in erster Linie darum gegangen, die Daten innerhalb kurzer Zeit zu erhalten und für den hiesigen Markt aufzubereiten. «In den USA werden durchgeführt werden. Oftmals gibt es dabei die und haben durch eine gute Zusammenarbeit mit Tabletten normalerweise in Flaschen verkauft», so Möglichkeit, solche Tests zu beschleunigen, indem TRD, dem Projektteam und dem Launch Team ent- Rigassi. «Das ist in Europa eher unüblich – man ist man die Medikamente bei höheren Temperaturen sprechende Lösungen entwickelt.» bei uns eher Blister gewöhnt.» Aus diesem Grund lagert. Das war bei Jakavi jedoch nicht der Fall: Beide Projektteams haben die Herausforderun- mussten neue Stabilitätsdaten in Blistern erhoben «Der eingesetzte Wirkstoff verträgt das nicht und es gen gemeistert, auch kleinere Produktvolumina stabil werden und die dafür nötigen Tests durchgeführt hätte somit zu falschen Ergebnissen führen kön- in die Produktionsprozesse einzugliedern – und das werden. «Die Wirkstoffverfügbarkeit war dabei ein nen», erklärt Rigassi. Das Projektteam hatte den- an einem Standort wie Stein, bei dem vor allem gross- grosses Problem; der Schlüssel zum Erfolg war die ex- noch Erfolg: Lag die Haltbarkeitsfrist zu Beginn volumige Produktionen auf der Tagesordnung stehen. trem gute Planung, um den Klinikbedarf genauso ab- noch bei 12 Monaten, sind es heute 24 Monate. Denn dank der sorgfältigen Anpassung der Produkti- zudecken wie die dringend notwendigen Untersu- Dies hat nicht nur den Vorteil, dass das Medika- onsprozesse und der guten Zusammenarbeit lassen chungen», unterstreicht Rigassi. «Ohne ausreichende ment länger gelagert oder vom Patienten angewen- sich auch kleinvolumige Produkte wie Jakavi und Vo- Mengen an Wirkstoff hätten wir sonst die straffe det werden kann. Auch für die Logistik, also die tubia effizient und problemlos fertigen. Entscheidend Zeitplanung niemals einhalten können.» Zeit, die für Produktion, Freigabe und Versand bis für den Erfolg sei dabei vor allem die optimale Vali- Ähnlich wie bei Votubia spielte zudem die opti- zum Verteiler im jeweiligen Land benötigt wird, hat dierung der Chargengrösse, sind sich die beiden Pro- male Validierung der Chargengrösse eine entschei- eine längere Haltbarkeit enorme Erleichterung be- jektleiter Rigassi und Kiefer einig: «Der geringe Pro- dende Rolle. Um auf das bestehende Equipment zu- wirkt. «Die Haltbarkeit eines Medikaments ist ein duktbedarf erfordert grosses Know-how, Flexibilität rückgreifen zu können, hat man mit 120 Kilogramm äusserst wichtiger Erfolgsfaktor für eine nachhalti- und manchmal auch ein bisschen Kreativität. Denn die kleinste machbare Batchgrösse gewählt – zumin- ge Produktion», unterstreicht Rigassi. nur so lassen sich auch an einem eher auf Massen- dest für die Produktionsanlagen in Stein. «Natürlich Die Schwierigkeiten, die es bei der Neueinfüh- produkte ausgelegten Standort wie Stein Produkte gibt es Anlagen, die kleinere Mengen verarbeiten rung gab, sind heute längst behoben – und die Her- für kleinere Patientengruppen in hoher Qualität können», so Rigassi. «Diese stehen aber in Stein nicht stellung von Jakavi läuft stabil: Zunächst wird bei fertigen – ohne dass dafür die Produktionsprozesse zur Verfügung, weil hier normalerweise grössere Pro- der Nassgranulierung der Wirkstoff Ruxolitinib mit komplett verändert werden müssen.»
14 long live life | persönliche ansichten live 8–9/14 Persönliche Ansichten FOTO: STEPHANIE SINCLAIR FOTOS:
live 8–9/14 persönliche ansichten | long live life 15 Fliegen mit einer Vision von Edie Evans Unsere Sicht der Welt macht uns Sie steigen die Treppe hoch zum Eingang plantation vor, während die Praktikanten des Flugzeugs: Kleinkinder mit trüben im Klassenzimmer des Flugzeugs jede einzigartig. Unsere persönlichen Augen, blinzelnde Teenager mit dicken seiner Bewegungen via Live-Feed mitver- Brillen, Erwachsene hinter dunklen Son- folgen und ihn mit Fragen löchern. Der Ansichten prägen unsere nenbrillen. Sie alle sind blind oder fast Harvard-Professor für Augenheilkunde Beziehungen und sind dafür blind und zu Fuss, mit dem Zug oder Bus aus entlegenen indischen Dörfern nach erklärt, dass bei der Operation, tiefe an- teriore lamelläre Keratoplastik (DALK) verantwortlich, wie wir auf unsere Kalkutta gereist, um in der berühmten genannt, die untersten beiden Hornhaut- fliegenden Augenklinik von Orbis ihre schichten des Jungen geschont werden, täglichen Herausforderungen Sehkraft zurückzugewinnen. Die Augen- damit er sich schneller erholt und ihm operationen und Laserbehandlungen, die spätere Sehstörungen erspart bleiben. reagieren. Dank unserer Fähigkeit, sie erhalten, während das Flugzeug am «Geduld ist bei der DALK-Operation unser Leben zu visualisieren, pulsierenden internationalen Flughafen entscheidend», sagt Pineda, während er von Kalkutta geparkt ist, werden ihr Le- die obersten Hornhautschichten des können wir uns selbst relativieren ben verändern. Das Pflegepersonal von Jungen vorsichtig entfernt. «Wer zu Orbis – eine Mischung aus Mitarbeiten- schnell vorgeht, bezahlt dafür.» Zwi- und unserer Zukunft eine klare den und freiwilligen Fachleuten aus aller schen Operationen am grauen Star und Welt – wird im Verlauf des zweiwöchigen der Behebung von Netzhautablösungen Richtung geben. Ohne persönliche Besuchs mit Unterstützung von Alcon, nennt Pravin Dugel, ein Netzhautspezia- Vision verlieren wir den Sinn für einem Unternehmen von Novartis, Fed- list aus Arizona, eine Reihe von Sympto- Ex und weiteren Organisationen Dutzen- men und fordert die Gruppe auf, wie Orientierung und Bedeutung. de von Patienten heilen. Aber am wirk- Detektive zu denken und aufgrund der samsten bekämpft Orbis die Blindheit, Anhaltspunkte eine genaue Diagnose zu Die folgenden «Long Live Life»- indem ortsansässige Augenspezialisten stellen. Sie retten nicht nur Augen, wie er in der Patientenbehandlung ausgebildet sagt. Netzhautverletzungen und Sehstö- Geschichten zeigen, was es bedeutet, werden. Deshalb assistieren mindestens rungen könnten symptomatisch für diesen Orientierungssinn zu zwei Praktikanten aus der Umgebung Schlimmeres sein. «Es ist eine Chance, den Chirurgen, Anästhesisten und Diagnosen zu stellen, die Leben retten besitzen und wie wunderbar unsere Krankenpflegern im Operationsraum an können», sagt Dugel, der bisher drei Or- Bord der Orbis-Maschine. Weitere 30 bis-Reisen als Freiwilliger begleitet hat. persönlichen Visionen sein können. bis 40 verfolgen jeden Eingriff auf einem Mit seiner Ausbildungsmission und dem Grossbildschirm im Klassenzimmer vor- Willen, einer breit gefächerten Bevölke- ne im Flugzeug, wo sie den mit Kamera rung zu helfen, leistet Orbis nicht nur und Mikrofon ausgestatteten Ärzten Fra- einen medizinischen Beitrag, sagt Dugel, gen stellen können. Über Partnerschaften der aus Nepal stammt und Augenarzt mit Gemeindespitälern hat Orbis in den wurde, nachdem er den Sehverlust seiner letzten 30 Jahren mehr als 325 000 Ärz- Grosseltern miterlebt hatte. «Was wir te, Pflegekräfte und weiteres medizini- heute benötigen», sagt er, «ist ein kultu- sches Personal in über 90 Ländern aus- relles und globales Verständnis fürein- gebildet und dazu jährlich sieben bis ander.» Während ihr zehnjähriger Sohn acht Reisen unternommen. Die Partner- ins Operationszimmer des Flugzeugs schaft von Alcon und Orbis begann gebracht wird, wischt sich Ektara Bibi 1979, drei Jahre vor dem ersten Orbis- mit ihrem orangefarbenen Sari die Freu- Flug. Seither hat Alcon modernste au- dentränen aus den Augen. Sobald er se- genmedizinische Geräte, Medikamente hen kann, sagt sie auf Bengalisch, kann und Vorräte für die fliegende Augenkli- er die Schule besuchen und mit seinen nik und ihre weltweiten Partnerspitäler Freunden im nahen Teich schwimmen – gespendet und den freiwilligen Orbis- ohne dass sie Angst haben muss, er Ophthalmologen ermöglicht, Ärzte in könnte ertrinken. «Ich hätte nie gedacht, den Entwicklungsländern in modernen für eine Operation dieses Flugzeug zu Operationstechniken zu schulen. In Kal- besteigen. Glück, einfach nur Glück», kutta nimmt Roberto Pineda an einem sagt sie, und schlägt sich sanft auf die 13-jährigen Jungen eine Hornhauttrans- Brust. «Deshalb ist er hier.»
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