MAGAZIN 22/23 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin
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IWC TOP GUN. E NTD E CK E N S I E D I E IWC-A P P F Ü R E I N Pilot’s Watch Chronograph 41 TOP GUN ihm auch se in e inzigar tige s, mat tschwar ze s VI R T U E LLE S TR AG E E R LE B N I S D E R Ceratanium ®. Ref. 3881: Das Gehäuse, die Krone Design. Und durch den getönten Saphirglas- UHR und die Drücker aus dem von IWC ent wick- boden lässt sich dem IWC-Manufak turkaliber elten, patentierten Material Ceratanium ® machen 69385 bei der Arbeit zuschauen – ganz IWC-Manufakturkaliber 69385 ∙ Datums- und Wochentag- sanzeige ∙ Stoppfunktion Stunde, Minute und Sekunde ∙ d i e s e n TO P G U N C h ro n o g ra p h e n n i c ht n u r i m S i n n e d e r Ü b e r s i c htl i c h ke i t i m C o c kp i t. Sichtboden mit Saphirglas ∙ Wasserdicht 10 bar ∙ leicht, robust und kratzfest, sondern verleihen I WC . E N G I N E E R I N G D R E A M S . S I N C E 1868 . Durchmesser 41 mm IWC Schaffhausen, Switzerland · www.iwc.com
EDITORIAL IMPRESSUM Liebe Leserinnen und Leser, Das Kulturmagazin erscheint als Sonderausgabe liebe Kulturbegeisterte in der Reihe «Schaffhauser Magazin» Innovativ, kreativ und lebendig, so lässt sich die Kulturszene in der Region Herausgeberin Meier + Cie AG Schaffhausen besonders in diesem Jahr charakterisieren. In Stein am Rhein Vordergasse 58 öffnet mit der Oberen Stube ein bedeutendes Kulturhaus seine Tore. Es 8201 Schaffhausen soll mit Wechselausstellungen zu Geschichte und Kunst ein starker Magnet Konzept und Redaktion werden, der Leute aus nah und fern unwiderstehlich in die Region zieht. Daniela Palumbo Zudem erhält die Stadt Schaffhausen mit den Schaffhauser Kulturtagen, Autorinnen und Autoren Sabine Bierich die im Juni 2023 erstmals stattfinden, ein spartenübergreifendes Festival, Gabriel Eichenberger das Künstler und Künstlerinnen mit der Bevölkerung zusammenbringen will. Vincent Fluck Diese beiden Neuerungen ergänzen das reichhaltige und grenzüberschrei- Maria Gerhard Sabine Girsberger tende Angebot auf Bühnen, in Museen, Kunsträumen und Konzerthallen, Praxedis Kaspar deren Eigenheiten wir in dieser zweiten Kulturausgabe des «Schaffhauser Mark Liebenberg Magazins» kurzweilig und bildstark in einer Gesamtschau präsentieren – Karin Lüthi Daniela Palumbo ganz nach dem Erfolgsrezept der Erstausgabe 2021. Mark Schiesser Alexander Vitolić Angestossen haben diese Sondernummer zwei Stiftungen, die als Kultur- Jeannette Vogel Diana Zucca förderinnen im Kanton Schaffhausen Ausserordentliches ermöglichen: die Jakob und Emma Windler-Stiftung und die Sturzenegger-Stiftung. Ihnen Titelbild Melanie Duchene ist es zu verdanken, dass diese Kulturausgabe entstanden ist und dass sie Illustrationen gratis in alle Haushalte des Kantons gelangt. Das Larissa Schlegel «Schaffhauser Magazin» soll Einheimische und Konzeptgestaltung Gäste anregen, an der vielfältigen Kulturszene Zvezdana Schällebaum der Region Schaffhausen teilzuhaben. Gestaltung und Layout Franziska Rütschi Wir wünschen Ihnen viel Spass beim Lektorat Lesen und viel Lust auf Kultur. Birgit Blatter Verlag Verlag «Schaffhauser Nachrichten» Beat Rechsteiner Daniela Palumbo Telefon 052 633 33 20 Anzeigen Anzeigenverkauf «Schaffhauser Nachrichten» Telefon 052 633 32 77 e-anzeigen@shn.ch Druck AVD GOLDACH AG Sulzstrasse 10–12 9403 Goldach Auflage 57 500 Exemplare ISSN 2297-8704 Das Kulturmagazin wird unterstützt von Georg Fischer AG (GF) IWC Schaffhausen Regionaler Naturpark Schaffhausen SIG Gemeinnützige Stiftung 3
INHALT MAGAZIN 6 EIN DENKMAL ZU SCHÜTZEN, IST EINE ART INSZENIERUNG Flurina Pescatore hat beim Umbau der Oberen Stube in Stein am Rhein viel Spürsinn bewiesen und ermöglicht, dass aus einem ehemaligen Zunft- und Wirtshaus ein Kulturhaus entstanden ist. 12 AUSUFERNDE SKULPTUREN Der australische Künstler begrünt den Innenhof des neuen Kulturhauses Obere Stube mit Schlacke und Sporen. 18 RAUS AUS DEM SCHUTZRAUM Sie stellen sich dem Urteil der Passanten: Skulpturen für die Ewigkeit und vergängliche Graffiti an den Wänden. 22 «SIE SIND SIEBZEHN JAHRE ALT, KIND! LEBEN SIE!» Die Geschichte von Frau Monje und ihren acht Briefen an Praxedis Kaspar. 25 DER SUCHENDE Wie Kurator Julian Denzler junge Maler und Malerinnen selbst am Wochenende findet und aufsucht – wenn nicht gerade Fussball läuft. 30 LADY LAMETTA Surreale Collagen. 32 DIE MACHT DER ORGELPFEIFEN Organist Andreas Jud spielt in Schaffhausen auf zwei Orgeln. Ein seltenes Privileg, wie er im Interview erzählt. 36 TÄNZERISCHE ZWIESPRACHE MIT EINEM ZITRONENBAUM Mit ihrem Körper erkunden Carina Neumer und ihre Tanzkompanie Doxs das Gefühl der Scham und eine Zitrone. 4
INHALT KULTUR IN DER REGION SCHAFFHAUSEN 41 SCHAFFHAUSEN 80 Ortsmuseum Eglisau Museum Eschenz 42 Museum zu Allerheiligen Theater Alti Fabrik Flaach 49 Museum Stemmler Ortsmuseum Hallau Stadtbibliothek 81 Weinkrone, Hallau Museum im Zeughaus Kutschenmuseum, Hallau 50 Theater Bachturnhalle Bahnstation-Museum, Hemishofen 51 Das Fass Ortsmuseum Marthalen 52 Haberhaus Bühne Wohnmuseum, Marthalen Schaffhauser Sommertheater 82 Kino-Theater Central, Neuhausen SHpektakel Schloss Charlottenfels, Neuhausen 53 JUPS Museum am Rheinfall, Neuhausen 54 Kammgarn 83 Reinart, Neuhausen 56 SCHAFFHAUSER JAZZFESTIVAL Trottentheater Neuhausen 57 Vebikus Kunsthalle Rhyality Immersive Art Hall, Neuhausen 58 TapTab 84 OPEN AIR HALLAU IWC-Museum 85 Alte Schmitte, Neunkirch 59 SCHAFFHAUSER KULTURTAGE Ortsmuseum Neunkirch STARS IN TOWN Ortsmuseum Rafz 60 Munot GF-Eisenbibliothek, Schlatt Rathauslaube 86 Gipsmuseum, Schleitheim St. Johann Iuliomagus, Schleitheim BACHFEST Museum Schleitheimertal, Schleitheim 61 Zunftsaal zum Rüden 87 Reiatmuseum, Thayngen Schützenstube Kulturzentrum Sternen, Thayngen 62 Stadttheater Schaffhausen Schreibmaschinenmuseum, Bibern 64 SCHAFFHAUSER BUCHWOCHE Girsbergerhaus, Unterstammheim Kino Kiwi Scala Orts- und Dichtermuseum Wilchingen 88 MUSEUMSNACHT 65 STEIN AM RHEIN 89 Bergkirche St. Michael, Büsingen (D) Hesse-Museum, Gaienhofen (D) 66 Kulturhaus Obere Stube Museum Haus Dix, Gaienhofen (D) 68 Künstlerresidenz Chretzeturm Jüdisches Museum, Gailingen (D) 71 NORDART-THEATERFESTIVAL Rosgartenmuseum, Konstanz (D) 72 Museum Lindwurm Kunstmuseum Singen (D) 73 Museum Kloster Sankt Georgen 90 ERZÄHLZEIT Krippenwelt Bildnachweis Rathaussammlung Schwanen-Bühne 74 REGION Weitere Veranstaltungshinweise 76 Schlosspark Andelfingen und Aktualisierungen finden Sie auf Ortsmuseum Beringen nordagenda.ch Pflugmuseum Guntmadingen 77 Freilichtmuseum Säge Buch BÜHNE Handwerksmuseum Gattersagi, Buchberg KUNST Ortsmuseum Buchberg LIT ER AT U R 78 Museum Kunst + Wissen, Diessenhofen MUSEUM Tigerfinklifabrik, Diessenhofen MUSIK 79 ROCK THE RHY, Dörflingen FILM 5
KULTURHAUS OBERE STUBE Text Sabine Bierich Bilder Melanie Duchene Fünfzehn Jahre schon ist Flurina Pescatore als Denkmalpflegerin des Kantons Schaffhausen tätig. Für sie stecken Häuser voller Geschichten, tragen Schicksale, die mit Menschen eng verknüpft sind. Um ein Haus zu verstehen, braucht es Spürsinn, es will erforscht werden. So auch das inmitten der Altstadt von Stein am Rhein gelegene Gesellschaftshaus der Zunft zur Rose, das nun, aufwendig mithilfe der Jakob und Emma Windler- Stiftung saniert, zum Kulturhaus Obere Stube wird. Ein Rundgang inmitten der Sanierungsphase mit der zuständigen Denk- malpflegerin. Ein Denkmal zu schützen, ist eine Art Inszenierung 7
KULTURHAUS OBERE STUBE Die Tür im Stil der Achtzigerjahre, die ganz Pescatore hebt im Hof noch besonders den Laubengang hervor. und gar nicht zum Zunfthaus Rose passen Er wurde verlängert und schafft nun die Verbindung von Alt zu Neu, will, schnappt auf. Sie soll noch durch eine leitet vom historischen Vorderhaus zum modernen Mehrzweck- ersetzt werden, die mit der spätgotischen raum über, der in der Kubatur der alten Scheune gebaut wurde. Fassade harmoniert. In der künftigen Ein- An den Gipsern vorbei, noch mehr Staub liegt in der Luft, gangshalle riecht es nach Zement, es ist man hört das Schaben der Kellen, geht es die Hintertreppe hinauf. staubig, und wie auf jeder Baustelle schallt Über den Laubengang gelangen wir ins Vorderhaus. «Ich habe aus einem Booster Musik. Flurina Pescatore, immer Kleider an, die problemlos in der Waschma- die Denkmalpflegerin, spricht kurz mit dem schine gewaschen werden können», sagt sie und klopft Bauleiter über Prozesse der Baugattungen sich den Staub vom Mantel. Im Flur hängen bunte Kabel aus und darüber, wo Vorsicht geboten ist: Die Wänden und Decken, die «Innereien» eines modernen Hauses wie Haupttreppe wird gerade saniert und ist nicht Elektrik und Klimaanlage. Diese Modernisierungen seien bei begehbar. Über den Hof und über die Treppe Baudenkmälern echte Herausforderungen und ohne Verlust von vom Hinterhaus her wird es möglich sein, in Deckenhöhe unmöglich, zumindest bei dieser Menge an Technik. die oberen Stockwerke zu gelangen. Im Zunftsaal spricht die Denkmalpflegerin interessiert die Maler an. Lässt sich erklären, welche Arbeiten anstehen. Die AUFTRITT DER GOTIK Balken an der Decke aus dem späten 15. Jahrhundert werden MIT BALKEN-BOHLEN-DECKE geschliffen, vorbehandelt und lasiert. Flurina Pescatore verfügt über ein Netzwerk von Handwerkern und Handwerkerinnen, die In der Eingangshalle des Kulturhauses sich mit alten Techniken auskennen. Möglichst dunkel sollen die ist die Originalstruktur augenfällig. Flurina Balken werden, man hat darauf verzichtet, sie abzulaugen. «Die Pescatore zeigt auf einen mächtigen Ständer- leicht gewölbte Balken-Bohlen-Decke ist typisch für die Gotik», balken, auf dem die Jahreszahl 1496 vermerkt sagt sie. «Sie ist eine Mischung aus Rohbau und Innenausbau, ein ist. Die in Grisaille, also ausschliesslich in System, das statisch funktioniert und gleichzeitig eine dekorative Grau, Weiss und Schwarz ausgeführte Malerei Oberfläche bietet.» Der Anstrich wird dem Original recht nahe an der Holzdecke wurde allerdings erst 1744 kommen, ursprünglich waren die Balken geschwärzt. hinzugefügt. «Das Haus hat eine Barockisie- Flurina Pescatore deutet mit einer grossen Geste auf die rung erfahren», sagt Flurina Pescatore. Die Wände und die Decke des Zunftsaals: «Das war ein Befreiungs- 53-jährige Denkmalpflegerin wirkt zielgerichtet schlag!» Hier seien die Zeitschichten sehr bruchstückhaft gewe- und ist ausschliesslich auf die Sache konzent- sen: Reste von Kunststofftapete, Anstriche aus dem 19. Jahrhun- riert. Sie faszinieren Baudenkmäler, weil sie dert, barocke Täferreste, Säulen aus dem Barock … Lange hätten Quellen sind, die wir historisch befragen sie überlegt, was man mit dem Saal machen solle, und sich können. Schätze, die Geschichte bewahren schliesslich entschieden, die Gotik zu inszenieren: Die Balken- und Geschichten erzählen können über den Bohlen-Decke sei sehr präsent. Alltag, über die Nutzung eines Gebäudes, Die Maler werden die Wände in einem dunklen Buntton über Arten von baulichen Konstruktionen, streichen, damit die Decke nicht wegfliegt – eine Abstraktion der über verschiedenstes Handwerk. Wie eine Gotik, in der wahrscheinlich eine dunkle Holztäfelung an den Wän- Detektivin spürt sie diese auf, geht den den war. Den Zunftsaal nutzten die Zünfte vor allem für grosse Zeitschichten eines Hauses auf den Anlässe. Nun soll er sich in einen Ausstellungsraum wandeln, der, Grund. «Die Fassadenbemalung und das mit klimatisierten Vitrinen ausgestattet, über die Geschichte und schmiedeeiserne vergoldete Wirtshausschild die Kultur von Stein am Rhein informiert. mit Rosen und Schriftzug sind noch jünger.» Im 19. Jahrhundert zog hier ein Wirtshaus ANWÄLTIN DER samt Metzgerei ein. Das Schild stammt aus HISTORISCHEN SUBSTANZ der Zeit, als 1927 die Gartenwirtschaft reno- viert wurde. Der Name des Hauses geht aber «Ich sehe mich als Anwältin der historischen Substanz, die auf die Zunft zur Rose zurück, die Kaufleuten- nicht selbst reden kann.» Schon als Studentin nahm Flurina gesellschaft, welche das Haus im 15. Jahr- Pescatore, von der Archäologie kommend, an Ausgrabungen und hundert errichtet hat. Der Hinterhof werde Bauuntersuchungen teil, erstellte Baugutachten, machte Inventari- wieder als Aussenraum gestaltet, zugänglich sierungen. Doch es zog sie zur praktischen Denkmalpflege, weil für alle: «Im kollektiven Gedächtnis der Steiner sie die Entwicklung der Häuser auch bei Renovationen miterleben Bevölkerung weiss man noch darum, wie wollte, daran mitwirken wollte, wie sie im Endeffekt dastehen. schön der Garten einschliesslich Beiz hier Dabei gehe es nicht um ihren Geschmack, sondern um das einmal war.» So wird in die unteren Räume Gebäude und seine Geschichte. Sie helfe dem Architekten oder des Kulturhauses ein Bistro einziehen. Flurina der Architektin, die schliesslich die Projektierung der denkmalge- 8
Im Zunftsaal wird die Gotik in Szene gesetzt. Denkmalpflegerin Flurina Pescatore mit der Hauptdarstellerin, der leicht gewölbten Balken-Bohlen-Decke, die von zusätzlichen Stützen aus dem Jahr 1496 getragen wird. In der künftigen Eingangshalle des Kulturhauses Obere Stube sind die Originalstruktur aus dem 15. Jahrhundert sowie die Baugeschichte gut lesbar. 9
Museums- Unser beliebtes «Museumshäppchen» verwöhnt nicht nur Auge und Geist, sondern auch den Gaumen: häppchen Nach einer Kurzführung über Mittag (30 Min.) zu einem bestimmten Thema, einem Objekt oder einer aktuellen Ausstellung wird die Mittagspause über 22/23 beim gemeinsamen Lunch und Austausch mit dem Kurator oder der Kuratorin abgerundet. Mittag Aktuelles Programm auf WWW.ALLERHEILIGEN.CH Hirschen Stammheim, 8477 Oberstammheim, www.hirschenstammheim.ch KULTUR UND KULINARIK Print ist Leidenschaft IM STALL und bewegt die Sinne. Die Hirschenbühne im ehemaligen Stallgebäude Urs Wohlgemuth des historischen Gasthofs Hirschen ist ein vielseitig nutzbarer Theaterraum mit besonderem Charme. Er wurde im Rahmen der Erneuerung des Hirschen- Ensembles geschaffen, im Vordergrund stehen Theater, Musik sowie Kabarett. www.hirschenbuehne.ch Feste feiern, wie sie fallen. Mit einer Sonderbeilage in den «Schaffhauser Nachrichten». Erfahren Sie mehr unter www.shn.ch/sonderbeilage
KULTURHAUS OBERE STUBE schützten Liegenschaft in Händen hätten und sich mit den Bauherren oder Bauherrinnen absprechen und einigen müssten. «Ich mache mit ihnen strategische Überlegungen, forsche, plane, verhandle und bewerte. Dabei spielt weniger eine Rolle, ob ich etwas schön oder nicht schön finde, sondern wie bedeutsam etwas für die Geschichte des Hauses ist.» Denkmalpflege passiere nicht im Alleingang, und normalerweise sei sie auf einer Baustelle immer mit einem Architekten unterwegs. Flurina Pescatore kniet sich vor einen auf dem Boden liegenden grossen Bauplan und studiert ihn eingehend. Ihre Kernaufgabe besteht aus der Forschung, und diese setzt eigentlich vor Baubeginn ein. Erst einmal müsse man die Baugeschichte eines Hauses verstehen. Das heisst, Bestand aufnehmen, Bauakten einsehen, historische Ansichten und Zeitspuren: Die in Grau, Weiss und Schwarz gehaltene Grisaille an der Holzdecke historische Fotografien studieren und fragen: wurde im 18. Jahrhundert hinzugefügt und befindet sich in der Eingangshalle. Wann wurde in das Baugeschehen investiert? Baufolie an der Eingangstür der Oberen Stube, die im 17. Jahrhundert entstand und Aus allen Quellen stelle sie so eine mit ihrer raffinierten Täfelung und Scheinarchitektur besticht (siehe auch Hauptbild). These über die wichtigsten Bauphasen auf und gleiche diese vor Ort ab. Daraufhin entstehe der Baualtersplan. Welche Bauzeit war an welcher Stelle prägend? Während des Umbaus passe sie den hypothetischen Bauplan den neuesten Erkenntnissen an, die durch Sondierungen, Durchbrüche oder weil eine Täfelung weggenommen worden sei, erst möglich würden. SPIELEREIEN UND OPTISCHE TÄUSCHUNGEN – DIE OBERE STUBE Kein Wunder, hat Flurina Pescatore gedrängt, endlich in das oberste Stockwerk zu gelangen. Das Ausstattungsherzstück des Kulturhauses liegt im zweiten Stock. Eine Inschrift verweist auf das Jahr 1681, in dem der obere Teil des Hauses komplett neu ausgebaut wurde und die Zunftstube ent- stand. Die Stube ist bis auf den Fussboden rei, eine optische Täuschung», sagt sie, «die typisch für den komplett erhalten. Äusserst raffiniert ist die Frühbarock gewesen ist.» Im Hinblick auf das ganze oberste Kassettendecke aus einfachem, lasiertem Geschoss spricht sie gar von «heiligen Strukturen». Sie Fichtenholz, deren dreidimensionale Wirkung hat sich dafür eingesetzt, hier nichts Grundlegendes zu verän- durch klug gesetzte Schattierungen noch dern, weil hier nachvollziehbar ist, wie früher gelebt wurde. Die verstärkt wurde. Man merkt der Denkmalpfle- kleinen, an die Stube angrenzenden Räume wurden einst vom gerin die Begeisterung für diese Art von Stubenmeister bewohnt, der für das Zunfthaus Wirt und Haus- Schreinerhandwerk an, das bewusst die meister zugleich war. Die ehemaligen Wohnräume werden in Architektur mitbestimmt hat. «Das sind weder leichtem Grün gestrichen und als Besprechungszimmer der Quadrate noch Rechtecke, sondern Rhom- Bevölkerung zur Verfügung stehen, der Dachstuhl soll künftig ben. Die Kassetten wurden so angeordnet, einen Pädagogikraum beherbergen. Viel Potenzial also, das hier dass sie den Raum vergrössern. Eine Spiele- eröffnet wird: Denk-Mal! 11
KULTURHAUS OBERE STUBE Ausufernde Skulpturen 12
Im Innenhof des neuen Kulturhauses Text Daniela Palumbo Bilder Roberta Fele Obere Stube in Stein am Rhein entsteht ein hängender Garten. Der Künstler Jamie North schafft mit Schlacke und Grünpflanzen eine Symbiose zwischen zwei gegensätzlichen Welten. 13
Wand des Innenhofs befestigt sein, eineinhalb Meter über dem Boden und nicht wie ur- sprünglich geplant wandfüllend. «So hat es der Gesetzgeber bestimmt, damit niemand darauf herumklettert», sagt Adam Spencer augenzwinkernd. Als Klettergerüst sind die Steinfelsen natürlich nicht gedacht. Sie bilden das Gefäss für Pflanzen, die in winzigen Höhlen auf wenig Humus wachsen, um die Mauer zu begrünen. Doch der erste Eindruck vom Material täuscht. Die Brocken stammen nicht aus einem Vulkan, sondern aus einem Stahlwerk im Kanton Luzern. Sie sind aus Schlacke und fallen als industrielles Abfallprodukt bei der Gewinnung von Metallen an: Glühend wie Lava fliesst die nicht metallische Schla- cke auf die Müllhalde, wenn der Laster sie aus seiner Mulde kippt. Danach erstarrt sie glasig oder kristallin. Sechsmal ist Jamie North nach Emmen gefahren, wo er mithilfe eines Ingenieurs auf den grossen Schlacke hügeln Brocken auswählte, die dann von einer Maschine zerkleinert wurden und schliesslich nach Hemishofen ins Atelier gelangten. GESTEINSKETTEN, DIE IN DER LUFT ZU HÄNGEN SCHEINEN Seit zehn Jahren arbeitet der Künstler Der Australier Jamie North schafft Skulpturen aus einem Abfallprodukt mit Schlacke. «Es ist ein provozierendes der Stahlwerke: Schlacke als Gefässe für Pflanzen. Material», sagt er. «Ein Ausschussprodukt.» Sein Interesse für römischen Beton, der in der Antike zum Bau von Mauern verwendet wurde Acht Reihen mit 50 erlesenen Exemplaren, also insgesamt und aus vulkanischem Material besteht, brachte 400 Brocken liegen ausgebreitet auf dem Vorplatz des Ateliers in ihn auf die Schlacke, weil beide ähnliche Hemishofen. Sie sind faustgross und sehen aus wie vulkanisches Eigenschaften besitzen. Doch das vulkanische Gestein, porös, glänzend in Rot- und Silbertönen. Gestein kommt natürlich vor, die Schlacke Im ehemaligen Stall riecht es hartnäckig nach Kuhmist. entsteht durch menschliche Einwirkung. Dieser «Deshalb arbeiten wir viel an der frischen Luft», sagt der australi- Gegensatz zwischen Natur und Kultur liess sche Künstler Jamie North unbekümmert in seiner ruhigen Art. Der ihn nicht mehr los. Er stellte eine Verbindung 50-Jährige hat mit seinem Assistenten Adam Spencer die Brocken her und schuf etwas Neues – Skulpturen aus nach draussen getragen. Jeder einzelne wiegt sieben Kilogramm. Schlacke, die von Pflanzen erobert werden. Schweiss rinnt von Jamie Norths Stirn, die Arbeit erfordert Als langjähriger Fotograf hat er oft Bilder von Kraft, und so trägt er statt eines Künstlerkittels blaue Handwerker verlassenen Gebäuden, Häuserruinen und kleider, ein Käppi und Stahlkappenschuhe, genauso wie der Betonpfeilern gemacht, bei denen sich die Na- 20 Jahre jüngere Adam Spencer. Für die Erschaffung der ausla- tur wieder einen Weg gebahnt und deren denden Installation, eines hängenden Gartens, fürs neue Flächen mit Efeu oder Moos überdeckt hatte. Kulturhaus in Stein am Rhein braucht es viel Platz, den sie hier Angetan ist er ausserdem von geome in Hemishofen gefunden haben. Einquartiert sind die beiden trischen Formen – Säulen, Kugeln, Reihen. Zu Australier in der Künstlerresidenz Chretzeturm im Städtchen von Beginn schuf er mannshohe, erodierte Säulen Mai bis Ende Juli 2022. Dann wird die Skulptur installiert sein – die aus Schlacke, später verlängerte er mit Metall- Pflanzen übernehmen ihren Part in Eigenregie. stangen die Säulen bis zu über fünf Meter und Bei der Eröffnung des Kunsthauses Obere Stube werden liess Kletterpflanzen in die Höhe wachsen. die Brocken genau in dieser achtreihigen Formation an einer Dann wechselte er zu Kugeln als Behälter und 14
schliesslich zu einer Art Gesteinsketten, bei denen die Brocken an einer Stange aufgezogen sind und ohne Sockel in der Luft zu hängen scheinen. «Ich passe die Form der Skulptur an, um ein System zu schaffen, welches das Leben der Pflanzen unterstützt.» Im Kultur- haus wird er einige dieser Elemente zu einer Installation gruppieren. PFLANZEN, DIE MIT WENIG HUMUS ÜBERLEBEN Die Brocken auf dem Ateliervorplatz sind noch nicht exakt ausgerichtet. Sie liegen in leicht gekrümmten Reihen da. Ihre Moos, Sedum und Farn: Jamie North sammelt anspruchslose Rot- und Silbertöne sind erst im Wissen um ihre Herkunft als Rost Pflanzen, die er zum Beispiel auf seinen Kugelskulpturen und Kalk erkennbar. Jamie North hat auch eine persönliche aus Schlacke einpflanzt und die in Eigenregie ausufern. Beziehung zu diesem Material, der Schlacke, mit der er all seine Skulpturen erschafft. Seine Grosseltern waren Stahlarbeiter in Wales und migrierten nach Australien, um dort in einem Stahlwerk zu arbeiten. Er besuchte sie oft in ihrer Arbeitersiedlung, denn seine Eltern wohnten in der Nähe, aber im ländlichen Busch. «Als ich zum ersten Mal die Schlacke in der Hand hielt, um sie zu einem Kunstwerk zu formen, war das ein sehr emotionaler Moment», sagt Jamie North gerührt. «Ich hatte eine Verbindung zu meiner Familiengeschichte gefunden.» Das zweite Element seiner Skulpturen, die Pflanzen, hat mit seiner Mutter zu tun, die sich leidenschaftlich für Botanik interessierte. «All meine Werke habe ich mit Pflanzen beheimatet», sagt er. Dafür recher- chiert er im Internet ausgiebig die einheimische Flora und Fauna des jeweiligen Landes, in dem er seinen Gastaufenthalt verbringt. Er sucht vor allem nach Lithophyten, Pflanzen, die auf oder im Gestein wachsen und mit wenig Humus überleben. So verarbeitet er mit zwei sehr gegensätzlichen Materialien gleichzeitig zwei Jamie North Stränge seiner Familiengeschichte. Innenhof des Kulturhauses Obere Stube. Jamie North hat nicht nur Erfolg in Australien, er ist auch AB 24 SEP 22 bekannt auf den anderen Kontinenten und wurde bereits in die USA, die Türkei, nach Singapur, China und nun in die Schweiz ein- geladen, um sich Inspiration für neue Werke zu verschaffen und Adam Spencer, sein Studiomanager, packt solche zu kreieren. Helga Sandl, die künstlerische Leiterin des nicht nur beim Handwerk mit an, er organisiert Kulturhauses, hat ihn nach Stein am Rhein geholt. «Er ist zwar auch den Zugang zu Materialien und Lieferan- nicht der Einzige, der mit Abfallprodukten arbeitet», sagt Helga ten. Die Steine sind zum Beispiel schwerer als Sandl, «aber die Kombination ist sehr spannend. Er ist geometrisch in Australien. Deshalb brachen einige Stangen, exakt. Das steht im Gegensatz zum nicht vorhersagbaren Wachs- die sie in die Steine steckten. Nun warten sie tum der Pflanzen. Es ist faszinierend, wie er den Dingen ihren auf kräftigere Stangen aus Deutschland. Ohne Lauf lässt.» diese können die Steine nicht an der Wand des Innenhofs befestigt werden. DIE FÜLLUNG BLEIBT GEHEIM, Im Stall, wo sich Schwalben gemütlich UM NACHAHMER ABZUWEHREN eingenistet haben, stehen noch andere Materialien in Säcken und Kübeln herum, die Wer die Felsbrocken vor dem Atelier betrachtet, kann sich Jamie North für sein Werk benötigt: Blähton, nicht vorstellen, wie aus der Schlacke mit ihren unwirtlichen Ton, Grafit. Damit befüllt er grosse, leere Bedingungen jemals Pflanzen spriessen können. Bis grüner Flaum Kugeln aus durchsichtigem Kunststoff, die die Brocken belebt, liegt noch viel Arbeit vor ihm. Jamie North unter einem Balken in der Mitte des Ateliers greift zu einem Hochdruckreiniger und spritzt die Steine ab. Ein lagern. Woraus genau die Mischung besteht, Salamander huscht zum Stall. «Die Tierchen jagen in den Höhlen bleibt sein Geheimnis. «Ich habe schon einige der Schlacke nach Insekten», erklärt er. Nachahmer, vor allem aus den USA und Er muss sich jeweils auf seine neue Umgebung einlassen China», sagt er. Sobald die Füllung hart ist, und Probleme lösen, die sein komplexes Werk mit sich bringt. entfernt er die Acrylhülle. Dadurch entstehen 15
IM SPIEGEL DER ZEIT ZIMOUN 24.9.2022–31.10.2024 24.9.2022–16.4.2023 ERÖFFNUNG 24./25.9.2022 JAMIE NORTH ab 24.9.2022 KULTURHAUS OBERE STUBE OBERSTADT 7, 8260 STEIN AM RHEIN WWW.KULTURHAUS-OBERESTUBE.CH Eine geballte Ladung Schweizer Kultur – im Kleinformat! Die Miniaturwelt am Rheinfall. smilestones.ch PRÄSENTIERT Vergangene Zeiten neu erleben • Dauer- und Sonderausstellungen • Führungen nach Absprache Tel. 079 333 91 55 • Öffnungen: am letzten Sonntag des Monats, 14 – 17 Uhr WIR SEHEN UNS IM • Eintritt gratis AUGUST 2023 WIEDER Der Museumsverein freut sich www.museum-beringen.ch auf Ihren Besuch.
KULTURHAUS OBERE STUBE Acht Reihen mit erlesenen Exemplaren liegen auf dem Vorplatz des Ateliers in Hemishofen: Jamie North und Adam Spencer (v. l.) haben sie von Hand ausgewählt. In dieser Formation zieren sie eine Wand im Innenhof des Kulturhauses Obere Stube. runde, poröse Skulpturen, die Jamie North ebenfalls bepflanzt. Vier dieser Kugeln sollen unter dem Wandgarten im Innenhof zu Jakob und Emma stehen kommen. Eine Skulptur, mit kleineren Brocken zu einer Windler-Stiftung Gesteinskette zusammengefügt, wird am Vordach hängen. Der einfachste Teil seiner Arbeit ist für ihn die Bepflanzung. Stein am Rhein verdankt das neue Kultur- haus Obere Stube, das am 24. September In Stein am Rhein sammelte Jamie North Sedum – auch Mauer- 2022 die Tore öffnet (siehe S. 66), der Jakob pfeffer oder Fette Henne genannt –, verpflanzte die Dickblattge- und Emma Windler-Stiftung. Die finanz- wächse in einen Topf, um sie zu vermehren. Gesichtet hat er an kräftige Stiftung mit Sitz in Stein am Rhein einer alten Wand im Städtchen einen weiteren selbstgenügsamen leistet seit 1989 einen immensen Beitrag zur Kandidaten für seine Skulptur: den Braunstieligen Streifenfarn, der Kulturförderung im Kanton Schaffhausen. eine Wuchshöhe von 30 Zentimetern erreichen kann. «Er braucht So wollten es Jakob und Emma Windler, die mit ihrem Nachlass – der ursprünglich aus wenig Erde, ist resistent und ästhetisch», sagt Jamie North. «Die 310 Sandoz-Aktien bestand – diese Stiftung schmalen Blätter sollen wie Bonsai eine Illusion von begründeten. Mittlerweile stehen für die Grösse erwecken. Der glücklichste Teil meines Werkes ist, die Förderung von Kultur, Sozialem und Ge- Pflanzen sich selbst zu überlassen.» meinnützigem und die Erhaltung des Orts- bildes von Stein am Rhein 30 bis 35 Millio- SELBSTGENÜGSAME SPOREN, nen Franken pro Jahr zur Verfügung, die DIE AUF SCHLACKE GEDEIHEN die Stiftung voll ausschöpfen möchte. Auf der Website www.windler-stiftung.ch stehen Antragsformulare zum Download Der schwarze Kübel vor dem Stall stammt von seiner Reise bereit, für Kreative aus allen Kultursparten nach Emmen. Statt Erde ist er voll körniger Schlacke, auf der mit guten Projekten, die einen Bezug zum dürre, braune Fäden in die Luft ragen. Die Moossporen sehen Kanton Schaffhausen oder Auswirkungen aus, als wären sie bereits vertrocknet, leblos. Noch einmal greift auf ihn haben. Der Stiftungsrat stellt die der Künstler zum Hochdruckreiniger. Die Brocken auf dem Vor- Fördergelder zur Verfügung (für Kultur waren es im Jahr 2021 insgesamt 1 085 750 platz werden dunkel durch das Wasser. Ein Spritzer gelangt in den Franken). Gesuche werden von der sechs- schwarzen Kübel mit der verdorrten Bepflanzung. Ein paar Minu- köpfigen Kulturkommission aus Steiner ten später leuchten die braunen Moossporen auf der Schlacke Persönlichkeiten bearbeitet, die regelmäs- grün. Sie sind wie durch ein Wunder wieder voller Leben. sig zusammenkommt. dp 17
Raus aus dem Schutzraum 18
KUNST Matthias Wohlgemuth, Kurator am Interview und Bilder Jeannette Vogel Kunstmuseum St. Gallen und Vorstandsmitglied des Kunstvereins Schaffhausen, über Kunst, die sich im öffentlichen Raum bewähren muss, die DNA von Graffiti und einen Jubiläumswunsch. MATTHIAS WOHLGEMUTH, EIN MUSEUM künstlerischen Schaffens. Anfang des 20. Jahrhunderts GILT ALS «DAS VISUELLE GEDÄCHTNIS» allerdings erfolgte ein Bruch. So spülte beispielsweise EINER REGION. WELCHE BEDEUTUNG HAT 1917 Marcel Duchamp mit einem gewöhnlichen, in KUNST UNTER FREIEM HIMMEL FÜR SIE? dustriell gefertigten Pissoir den Kunstbegriff regelrecht Ich möchte nicht werten. Eine gotische Kathedrale ist durch, eine Aktion, die viel später noch das Werk von gewissermassen auch eine grosse Skulptur, sie ist innen Andy Warhol beeinflusste. Vor dieser «Fountain» war wie aussen bedeutungsvoll. Kunst in Museen oder in Kunst von zentralen ästhetischen Kriterien geprägt, mit Galerien hat es eigentlich viel einfacher als Kunst im der Erhebung von Alltagsgegenständen zur Kunst fegte öffentlichen Raum. Objekte im Freien sind ständig ex Marcel Duchamp solche Gewissheiten weg. Ein Beispiel poniert: Sie müssen sich einer kritischen Öffentlichkeit aus jüngerer Zeit ist die Banane, die Maurizio Cattelan stellen, sprich einem breiten Publikum, und nicht bloss mit einem Klebeband an einer Wand befestigte. Sie einer kleinen, meist wohlwollenden Minderheit. Kunst im war 2019 Kunstkäufern an der Art Basel in Miami einen öffentlichen Raum ist wie ein Wegkreuz, ein Kruzifix. sechsstelligen Betrag wert. Für mich persönlich ist die angemessene handwerkliche Umsetzung einer künstle WAS MEINEN SIE DAMIT? rischen Idee aber immer noch wichtig. Das Wegkreuz ist ein spiritueller Erinnerungsposten unterwegs. Häufig tragen Wegkreuze ein Kruzifix, die BRAUCHT DIE KUNST ÜBERHAUPT Darstellung des gekreuzigten Christus – es ist Kunst DIE ÖFFENTLICHKEIT? im öffentlichen Raum. Die Herausforderung bleibt im Für mich ist es klar, wer Kunst als Beruf auffasst, der Kern immer, sich mit etwas auseinanderzusetzen, ob braucht die Menschen, braucht das Publikum und im religiösen oder in einem anderen Sinn. Die Kons braucht auch Geldgeber, das war immer schon so. tante ist, dass man als Passant «notgedrungen» daran Früher gab es noch klare funktionelle Zusammenhänge, vorbeigehen und sich Gedanken machen muss, wäh denken Sie an all die Kunstwerke in den Kirchen oder – rend der Besuch eines Museums freiwillig erfolgt. Das in Schaffhausen – die kunstvollen Brunnen mit Figuren. macht Outdoorkunst anders, und dieses Hinaustreten Das fehlt heute weitgehend, Kunst ist quasi funktions aus dem Schutzraum ist eine grosse Chance, Kunst zu los, weil in ihrer Aussage offen geworden. Dennoch vermitteln, sie im Alltag wirken zu lassen, die Diskussion kann sie weiterhin Anlass zu Begegnung, zu Auseinan anzuregen. Deshalb hat der Kunstverein Schaffhausen dersetzung und Gespräch sein – und zu unserem Ver den Hochrheinkunstweg initialisiert. Zwischen Schaff ständnis der Welt beitragen. hausen und Stein am Rhein wurden für das Projekt vorerst 24 Kunstorte und Kunstwerke aus der Zeit nach HAT DIE PANDEMIE DEN BLICK AUF 1960 erfasst. Inzwischen sind mit Roman Signers «Ver DIE KUNST VERÄNDERT? doppelung» und einem Werk von Josef Maria Odermatt Es gab diesen Moment, von dem an die Kunstwelt still zwei weitere dazugekommen. Das soll so weitergehen. stand. Plakate zu Ausstellungseröffnungen wurden am Anfang der Coronakrise noch optimistisch mit «Verscho WELCHES IST IHR LIEBLINGSKUNSTWERK ben»-Zetteln überklebt. Kunst in Museen und Galerien, «OHNE MUSEUMSDACH»? in Schutzräumen quasi, war für das Publikum plötzlich Neben Roman Signers «Verdoppelung» sind das die nicht mehr zugänglich. Objekte im öffentlichen Raum wunderlichen Fabelwesen nahe dem Rheinufer von Kurt hingegen erfuhren dadurch mehr Beachtung und mehr Bruckner. Bei ihm vereinen sich perfektes Handwerk Wertschätzung. und Kenntnis der Kunstgeschichte mit Schalk und künstlerischer Aussage. HAT KUNST UNTER FREIEM HIMMEL AUCH BEI UNS AN BODEN WAS IST FÜR SIE KUNST? GEWONNEN? Schöpferisch Gestaltetes ... Talent, Kreativität und hand Aus meiner Sicht, ja. Die Einweihung der Plastik «Ver werkliches Können waren seit jeher Grundbausteine des doppelung» von Roman Signer im September 2021 19
stiess auf grosses Interesse. Roman Signer hat die Stahlplastik extra für den Standort Münstersenke konzipiert. Diese Dauerleihgabe des Kunstvereins an die Stadt Schaffhausen ist ein wichtiges Werk im öffentlichen Raum. Die Aufstellung während der Pandemie war allerdings eine Koinzidenz, nicht Absicht. Übri- gens war nach Auffassung unseres Vorstands die kurze Zweckentfremdung des Werks als Sauna im November gleichen Jahres eine originelle Aktion, sie war schonungsvoll, nicht zerstörerisch, und sie steigerte die Aufmerk- samkeit. Wiederholung ist trotzdem nicht er- wünscht, denn der Grat zwischen Spass und Schaden ist schmal. GIBT ES ZU VIEL KUNST IM ÖFFENTLICHEN RAUM? Es gibt sicher nicht zu viel. Mir gefällt, dass es in Schaffhausen prominent platzierte Kunst- diesem Punkt trennt sich bereits die Spreu vom Weizen, wenn wir werke gibt. Es wäre noch schöner, gäbe es Graffitiwände anschauen. mehr Werke von international bekannten Künstlern, das ergäbe aus meiner Sicht ein HARALD NAEGELI IST EINE AUSNAHME ideales Miteinander mit regionalen Kunstschaf- PERSÖNLICHKEIT. WÜRDEN SIE SICH WÜNSCHEN, fenden. Einen eher unbekannten Namen mit DASS ER AUCH SCHAFFHAUSEN SEINE einem bedeutenden zu verbinden, das stützt. KÜNSTLERISCHE AUFWARTUNG MACHT? Ich würde es schon begrüssen, wenn er inkognito vorbeikäme SIND SIE FÜR DIE KREATIVE und eines Morgens so ein sensibler «Naegeli» an einem promi- NUTZUNG VON BRACHLIEGENDEN nenten Ort schweben würde. Das wäre eine herrliche Überra- FLÄCHEN? schung zum 175-Jahr-Jubiläum des Kunstvereins. Man kann solche Flächen vielseitig nutzen, natürlich auch für gute Architektur. Ich könnte WIE STEHEN SIE ZU LEGALEN mir aber vorstellen, dass solche Orte vermehrt UND WIE ZU ILLEGALEN GRAFFITI? mit Wechselausstellungen von Installationen Da bin ich wahrlich kein Experte. Aber für mich wirft die Graffiti- und Skulpturen bespielt werden, das würde kunst eine spannende grundsätzliche Frage auf: die ursprüngliche das Kunstschaffen fördern und immer wieder Motivation. In den Anfängen ging es um Frust und Protest einer Aufmerksamkeit generieren. Subkultur – und soll im New York der Siebzigerjahre das Ende der sauberen Hauswände eingeleitet haben. Nun ist das Sprayen WAS HALTEN SIE VON sozusagen zum Mainstream geworden. Graffiti prägen auf der GRAFFITI BEZIEHUNGSWEISE ganzen Welt die Stadtbilder mit, die Künstler werden gefeiert. Da VON STREET-ART? frage ich mich: Gehört zur DNA von Graffiti vielleicht nicht doch Wir haben in der Schweiz mit Harald Naegeli die Illegalität? Sobald man die Namen der Urheber kennt und ein wunderbares Beispiel, er war ein Vorreiter Wände zur Verfügung stellt, fällt für mich ein Hauptmotiv dieser der Street-Art. Die Werke des «Sprayers von Kunstform weg, der anonyme Protest und der Ausbruch von Zürich» wurden Ende der Siebzigerjahre eher unterdrückter Kreativität. dem Bereich der Sachbeschädigung als jenem der Kunst zugeordnet. Früher geschmäht, DIE STADT SCHAFFHAUSEN STELLT heute gepriesen: 2020 wurde Harald Naegeli GRAFFITIKÜNSTLERN AM RHEINUFERWEG (Bild oben rechts) mit dem Kunstpreis der EINE WANDFLÄCHE, DIE SOGENANNTE Stadt Zürich geehrt. Das zeigt sehr klar den HALL OF FAME A4, ZUR VERFÜGUNG. SIND Wandel des allgemeinen Geschmacks. Sogar SIE DAMIT NICHT EINVERSTANDEN? einem «altmeisterlichen» Kunsthistoriker wie Doch, doch, die Idee gefällt mir durchaus, und zwar vor allem aus mir gefallen seine fliessenden Linien, vor folgendem Grund: Es geht um Vergänglichkeit und Erneuerung. allem, wie sensibel er sich auf die architek- Die «Hall of Fame» ist zum Be- und Übermalen freigegeben. Die tonischen Rahmenbedingungen einlässt. An Mauer bleibt, die Graffiti verschwinden wieder, neue kommen. 20
KUNST 175 Jahre Kunstverein Schaffhausen Auf einem Sockel vor dem Pavillon im Park in Schaff- hausen steht das neueste Outdoorkunstwerk für den vom Kunstverein initiierten Hochrheinkunstweg. Die Installation des Eisenplastikers Josef Maria Odermatt folgt auf die Skulptur «Verdoppelung» von Roman Sig- ner. Damit hat der Kunstverein sein 175-Jahr-Jubiläum eingeläutet, das er 2023 feiern wird. Der Kunstverein mit seinen mehr als 1000 Mitgliedern setzt sich engagiert mit der Gegenwartskunst auseinander, regt Ausstellun- gen wie die jurierte «Ernte» oder das Format «Doppio» an (S. 46) und sammelt regionale sowie Schwei- DOPPIO IV zer Kunst. Dabei ist er Sandra Böschenstein, Zilla keineswegs ein elitärer Club. Alle zwei bis drei Leutenegger, Museum zu Jahre organisiert er in den Allerheiligen. Hallen am Rhein die 3 SEP–30 OKT 22 «SHKunst», den mit bis zu 120 Ausstellenden gröss- ERNTE 22 ten und beliebtesten Jurierte Kunstausstellung, Kunstanlass in Schaff- hausen. Bekannte und Museum zu Allerheiligen unbekannte Künstlerin- 30 OKT 22–26 FEB 23 nen und Künstler reichen Für die Ewigkeit: Die Installation von Josef Maria Odermatt beim sich dort die Hand. Auch SHKUNST22 dieses Jahr können sich Unjurierte Kunstausstellung, Pavillon im Park (o.) und «Der Horchende» von Rudolf Blättler (u. r.) im Kreuzganggarten des Klosters Allerheiligen sind zwei Interessierte in einer zwei Hallen am Rhein. von mehreren Skulpturen, die den öffentlichen Raum der Region Meter breiten Koje für we- nig Geld einmieten, ihre 4–13 NOV 22 zieren. Vergangen: Graffiti an den Fischerhäusern am Rhein. Werke präsentieren und verkaufen. Im Jubiläums- 175 Jahre jahr finden Anlässe im Kunstverein Museum zu Allerheiligen Jubiläumsausstellung statt, aber auch Exkursio- mit Buchpublikation, nen, Führungen und Filmabende. dp Museum zu Allerheiligen. kunstverein-sh.ch 25 NOV 23–28 APR 24 Andrea Helbling 21
Die Geschichte PRAXEDIS KASPAR SCHMID von Frau Monje und ihren acht Briefen an mich «Sie sind 1967. Ich bin siebzehn Jahre alt und schreibe Gedichte. Ganz dringend siebzehn Jahre alt, Gedichte. Ich bin überzeugt, dass mein Leben aus Schreiben bestehen wird, nichts als Schreiben. Rilke, Kind! Leben Sie!» Hölderlin, Celan: meine Götter, sie alle haben es getan, sie alle hatten nichts anderes zur und Holocaustüberlebende Arnold Daghani und seine Verfügung als sich selbst, ihre Sprache und diesen Frau. Er bemalte die Fenster des Gartenpavillons mit merkwürdigen Trieb, dessentwegen sie ohne Schreiben Blumen und zeigte uns Kindern seine Skizzenbücher, keine Ruhe fanden und mit Schreiben erst recht nicht. voll von dunklen Erinnerungen an Krieg und Ich muss werden wie sie, auch wenn ich nicht bin wie Zwangsarbeit in der Ukraine. Der Theaterkritiker sie. Ich schreibe also nach meinen Hausaufgaben fast Herbert Jhering, der sich wie ein Schatten im Haus jeden Tag ein Gedicht, ein schlechtes, natürlich, aber bewegte und so still, wie er gekommen war, wieder ein Gedicht. Es ist mir bitterernst. Ich denke nicht im fortging. Die Eheleute Friedel und August Winter, Traum daran, dass mein inneres Erglühen etwas mit geflüchtet auch sie, die Jahr für Jahr auf dem Grünfels meinem Jungsein zu tun haben könnte, mit meinem zu Gast waren, ein freundliches, liebenswürdiges Paar, Hingerissensein von der Welt. das, wie mir schien, aus fremden Welten auftauchte Ich wohnte in den Sechzigerjahren mit meinen und nach einer Weile in ihnen verschwand. Eltern und Geschwistern in der Villa Grünfels in Jona, Und eben sie, Freya Monje-Sturmfels (1896 bis einem grossen, weissen, 1822 erbauten Haus mit 1981), die Schauspielerin und Rezitatorin, mit Lotte doppelseitigem Treppenaufgang, das einen Brustlatz Stiefel befreundet seit ihren Jahren in Berlin. Sie aus Wiesland trug, auf dem Margeriten blühten, roter stammte nicht aus jüdischer Familie, war persönlich Klee und am Rand der kriechende Günsel. Das Haus nicht verfolgt, aber sie hatte zwei Kriege erlebt, Ost- gehörte der eleganten, lustigen und geheimnis- preussen gesehen … Genaueres vertraute sie mir, der vollen Lotte Stiefel, sie wohnte im Parterre, wir als Siebzehnjährigen, nicht an. Sie kam oft auf den Grün- ihre Mieter im ersten Stock. Die alte Dame war in jungen fels, wann immer sie sich auf ihren Vortragstouren ein Jahren Schauspielerin gewesen, hatte auf der Bühne paar Tage herausnehmen konnte zum Textlernen und gestanden im Berlin der Dreissigerjahre und war eng zum Zusammensein mit Menschen, die ihr Ruhe verbunden mit dem jüdischen Schauspieler und Schrift- schenkten. Ich habe diese grosse, strenge Frau innig steller Alexander Granach. Dem geliebten Freund bewundert und geliebt, und ich habe ihr, Gott sei’s ermöglichte sie die rettende Flucht in die Schweiz, in geklagt, meine Gedichte geschickt – mit ihrer gütigen ihr Elternhaus in Jona. Alexander Granach war einer von Erlaubnis. Frau Monje: Auch sie hatte die Theaterbühne vielen jüdischen Kulturschaffenden, die in der Nazizeit verlassen und sich in Vortragssälen landauf, landab eine bei Lotte Stiefel Zuflucht fanden. Noch in den Sechzi- neue gebaut, eine ohne Podest und in unmittelbarer gerjahren, als wir bei ihr wohnten, beherbergte sie über Nähe der Menschen, die sie hören wollten. Noch mit Wochen ihre Freundinnen und Freunde von damals. Sie über achtzig stand sie vor ihrem Publikum, hoch aufge- kamen im Sommer oder über Weihnachten, sie waren richtet, in sich gekehrt, nur durch ein kleines Lächeln die Zaungäste unserer Kindheit, wir erahnten die Kontakt aufnehmend. Mit nichts als einem Spitzenta- dunklen Schatten in ihrem Rücken, während sie auf der schentuch in den verschränkten Händen stand sie da Haustreppe mit uns scherzten: der rumänische Maler und trug vor, mehr als eine Stunde lang ohne jedes 22
LITERATUR Hilfsmittel, mit nichts anderem gewappnet als ihrem alten Puppe. Ich hatte vergessen, sie mitzunehmen, stupenden Gedächtnis und ihrer Sprechkunst. Sie der Weg, sie zu holen, blieb versperrt. Jahre gingen rezitierte deutsche Literatur vom Feinsten, beherrschte dahin, und noch immer hatte ich die grosse, schwung- abendfüllende Programme, die sie nach ausgewählten volle Schrift auf den Umschlägen mit Absender Bad Themen selbst zusammenstellte und einübte. Die Nauheim vor Augen, Freya Monjes Rat von damals, Klassiker. Die Droste, die sie besonders liebte. Und er blieb mein Menetekel, meine Schrift an der Wand. Kafka. Und Rilke. Hölderlin. Wenn sie ihn lernte, war sie Manchmal glühte sie, manchmal glaubte ich sie erlo- für nichts anderes ansprechbar, dann ging sie leise für schen. Ich lernte, an Texten zu arbeiten, Überflüssiges sich sprechend im Grünfels-Park auf und ab, und wir wegzulassen, die Dinge zuzuspitzen. Wellenlos war wagten nicht, uns zu nähern. «Ich bin ganz in Hölderlin mein Leben nicht geworden, in diesem Punkt hätte ich versunken», schrieb sie mir. «Ich kann im Augenblick sie beruhigen können. Als ich von ihrem Tod erfuhr, nichts sagen zu Ihren Gedichten.» Ich verstand und war für einen Augenblick alles wieder da, ich sah sie nahm es hin. Und lernte, selbst versunken zu sein. stehen, das Spitzentaschentuch in Händen, ich hörte Unsere Freundschaft über die Jahrzehnte hinweg sie sprechen. begann damit, dass sie mir erzählte, wie sie im Krieg die Sommer 2021. Es erreicht mich eine Mail. Ein Puppe ihrer Kindheit verlor. Ich habe sie ihr nachge- junger Mann ist eben eingezogen an jener Adresse, von strickt, ich, die ich stricken nicht mochte. Sie erlaubte der ich vor 35 Jahren fortgezogen war. Er findet eine mir also, ihr meine Gedichte zu schicken und ich, hélas, Bananenschachtel auf dem Estrich, die stört ihn. Er liest ich wagte es, dieser hochgebildeten und von feinsten meinen Namen, stöbert mich im Internet auf und fragt Texten täglich ernährten Künstlerin meine Anfänger- mich, ob ich die sei, die ich bin. Es stehe eine Bananen- verse zu unterbreiten. Sie antwortete mir über drei Jahre schachtel in seinem Estrich, darin Zeitungsartikel aus hinweg in sorgfältig geschriebenen Briefen voll kriti- den frühen Siebzigerjahren, ein Bündel alter Briefe, ein schen Interesses. Immer wieder legte sie mir nahe, Käthe-Kruse-Püppchen. Mir stockt der Atem. Eine meine Texte zu überprüfen auf ihre Dringlichkeit. An der Woche später fahre ich hin. Ich erzähle dem jungen Form zu feilen. Und nochmals zu feilen. Misslungenes Mann in Umrissen die Geschichte, er staunt und freut ohne Bedauern fallen zu lassen. «Kunst ist es erst sich an den Pralinen, die ich ihm zum Dank überreiche. dann, wenn man nichts mehr weglassen kann.» Ich räume meine Fundstücke in eine Tasche um und Sie riet mir, von den Grossen zu lernen, strengste setze mich in den nahen Park, der sich so wenig verän- Massstäbe anzulegen und den Leichtschreibern auszu- dert hat wie das Haus, auf dessen Dachboden meine weichen. «Wollen Sie, liebe Praxedis, ein glattes, Schachtel 35 Jahre lang unberührt auf mich gewartet wellenloses Leben haben?» Sie war unerbittlich hat. Ich packe aus: Der Körper der Puppe löst sich in und, wie mir schien, ein wenig gnadenlos. Mit Brösel auf, sobald ich sie an die Luft hebe, meine ausgesuchter Höflichkeit machte sie mir klar, dass sie Zeitungsartikel aus den Siebzigerjahren sind vergilbt. mir hier und da nicht folgen könne, dass die «aufgelös- Frau Monjes Briefe aber sind perfekt erhalten. Ich ten Formen» meiner Versuche sie ratlos liessen, dass beginne zu lesen. Aus der ganzen Fallhöhe meiner ich meine Inhalte erweitern solle, weg von meinen Lebensjahrzehnte stürzen ihre Gedanken noch eigenen Turbulenzen hin zur eigentlichen Betrachtung einmal auf mich ein, jetzt, wo ich so alt bin, des Gegenstandes. Oft genug musste ich leer schlu- wie sie damals war, als sie mir schrieb: «Rück- cken, öffnete ihre Briefe mit zitternden Fingern. Sie aber schläge, Enttäuschungen dürfen nicht länger tröstete mich, indem sie mir von ihrem eigenen Weg als zwei Tage gelten, dreimal schlucken und erzählte, von Enttäuschungen, Rückschlägen und weiter!» – «Sie tasten sich nun zu der grossen Kunst Zweifeln. Selbst Goethe und erst recht Mörike, den fast des Weglassens vor, zur Vermeidung nichtssagender Vollkommenen, hätten Misserfolge quälend begleitet. Füllworte – und Sie prüfen Ihre Arbeit und sich selbst. Nach drei Jahren, 1970, begann mein Leben fern vom Das ist entscheidend.» – «Schreiben Sie, feilen Sie, aber Haus Grünfels und seinen Gästen, die Jugend raffte ihre quälen Sie sich nicht. Seien Sie nicht bedrückt, nicht Schleier und verliess mich für immer. Das Erwachsen- bedrängt! Liebes Kind, Sie sind 17 Jahre alt! Leben Sie!» sein begann, unser Briefwechsel hörte auf. Nur das 2022. Diese Geschichte schreiben. Ich schnup- Schreiben blieb bei mir. Ich feilte, feilte und verwarf. Da pere an den Briefen, befühle sie, lese. Es steigt ein Bild und dort eine Veröffentlichung, ein paar Gedichte, auf, ich sehe mich selbst, am Anfang. Ad astra, Frau wahrhaftig gedruckt. Vor allem aber wurde das Schrei- Monje, mit Gruss und Dank. ben Broterwerb – und das war gut so. Die Briefe von Freya Monje-Sturmfels zogen mit mir um, zu Menschen Praxedis Kaspar: «Palimpsest». Das Gedichtheft aus dem Verlag Alla chiara hin, von Menschen weg. Eines Tages aber liess ich sie fonte ist in wenigen Exemplaren vorhanden und auf Wunsch bei der Autorin erhältlich. «Wildermann – Geschichten vom Hörensagen über Johann Fuchs, den auf einem Dachboden stehen, in einer Bananenschach- Bölere-Bueb». Das Buch erscheint diesen Herbst in vierter Auflage. Zu beziehen tel zusammen mit meinen Zeitungsartikeln und meiner in Buchhandlungen und beim Verlag Appenzeller Volksfreund. 23
Tauchen Sie ein in die Welt des Theaters und erfahren Sie mehr über die Menschen und Geschichten die auf der Bühne des Stadttheaters zu erleben sind. Hören Sie rein unter: www.stadttheater-sh.ch/podcast oder auf Spotify, Apple Podcast sowie auf unserem YouTube-Kanal. www.stadttheater-sh.ch/podcast Die allerersten Schaffhauser Kulturtage SAISON 2022/2023 scHAFf 15.– 18. Juni 2023 haus e r kultuR 2023 t AGe DER KULTUR- TREFFPUNKT Zusammenkommen. Kultur erleben. Neues entdecken. MIT CHARME Ein Kulturfestival von und mit Schaffhauser Kulturschaffenden. Ein Kulturfestival mit allen Kultursparten. UND WITZ Ein Kulturfestival für alle. Aktuelles Programm unter: Save the Date! Mehr Infos: www.kulturtage.sh Ein Pilotprojekt des Kulturamts der Stadt Schaffhausen in Kooperation mit dem Kanton Schaffhausen www.trottentheater.ch
KUNST Derzeit bereitet Julian Denzler Text Maria Gerhard Bilder Melanie Duchene eine grenzüberschreitende Gruppenausstellung zu junger Malerei im deutschsprachigen Raum vor. Wer den Kurator für Gegenwartskunst im Museum zu Allerheiligen bei der Arbeit begleitet, ob beim Auswahlprozess oder Atelier besuch, trifft auf einen Menschen, dessen Ernsthaftigkeit und Begeisterung für sein Metier ansteckend sind. Der Suchende 25
KUNST Julian Denzler ist nicht leicht zu finden. Wer sich einmal in die Seit Stunden sind der Kurator des Mu- Tiefen des einstigen Klosters Allerheiligen verirrt hat, fürchtet, seums zu Allerheiligen und Christoph Bauer nicht mehr herauszufinden. Um die Ecke. Die Treppe hoch. Wieder vom Kunstmuseum Singen mit der Auswahl eine Ecke. Da, endlich! Eine Holztür öffnet sich, und der Kurator beschäftigt: Die Tische sind übersät mit DIN- für Gegenwartskunst, an seinem dichten Lockenschopf unver- A4-Blättern. 220 Dossiers – jedes ist dem Werk kennbar, kommt einem entgegen. Der Händedruck des einer Künstlerin oder eines Künstlers gewid- 32-Jährigen ist herzlich-fest, die Augen hinter den Brillen- met – wurden über Monate sorgfältig vorberei- gläsern haben etwas Warmes. tet. Um infrage kommende aufzulisten, haben In diesen abgeschiedenen Raum hat er sich mit dem Leiter sie ihre Netzwerke aktiviert, Akademien und des Kunstmuseums Singen, Christoph Bauer, zurückgezogen, um Galerien kontaktiert, Empfehlungen entgegen- die grenzüberschreitende Ausstellung zur jungen Malerei in der genommen und Ausstellungen gesichtet. deutschsprachigen Region, die ab Dezember in beiden Häusern Julian Denzler geht reihum, beugt sich zu sehen sein wird, aus der Taufe zu heben. Die Idee für diese tief über die Fotos, studiert sie genau. Ge- Kooperation stammt von Julian Denzler. Er gibt das aber nur bei meinsam mit Christoph Bauer wägt er ab, sie wiederholtem Nachfragen zu. Im Mittelpunkt steht er nicht gern. diskutieren … Sie machen es sich nicht leicht. Einer, der es genau wissen will: Kurator Julian Denzler betrachtet die Rückseite dieses neuen Werks von Nadja Kirschgarten. In diesem Fall hat sie mit verschiedenen Gelbtönen experimentiert. Letztlich ist die Ente dann doch schwarz geworden. 26
«Im Werk steckt viel vom Künstler, von der Künstlerin selbst, man Nadja Kirschgarten ist im Kom- muss verantwortungsvoll damit umgehen», sagt er dazu. Am Ende men, wie man sagt. Seit Anfang des Jahres werden künstlerische Positionen von etwa 60 Malerinnen und wird sie in Basel von einer Galerie repräsen- Malern gezeigt. tiert. Ein wichtiger Schritt für sie. Teilzeitarbeit sichert ihr bis heute das Einkommen. Doch EIN AMBITIONIERTER ihre letzte Ausstellung war ein Erfolg, wie sie VERMITTLER Julian Denzler nach herzlicher Begrüssung erzählt. Sie hat alle Bilder aus ihrem Pferd- Julian Denzler konnte in Schaffhausen, trotz Coronaein- Fohlen-Zyklus verkauft. «Alle verkauft?», fragt schränkungen, bereits einiges umsetzen: Da wäre zum Beispiel er nach und jubelt: «Hey, richtig cool!» die gelobte Ausstellungsserie «Doppio». Zwei Künstler, zwei sich Er freut sich für sie. Auf der Autofahrt gegenüberstehende Positionen. Auch hier der Bezug zur Region hat er noch erzählt, wie hart es sei, sich auf mit Ausweitung aufs Nationale. Vor allem junge Menschen fühlten dem Kunstmarkt durchzusetzen: «Das Feld sich von dem Format angezogen. Julian Denzler ist das wichtig. hat sich brutal professionalisiert, die Konkur- Er will vermitteln zwischen der Kunst, die für ihn kein isoliertes renz ist gross, der Druck nach Sichtbarkeit in Universum ist, und der Gesellschaft, deren Teil sie ist. den sozialen Medien ist gestiegen. Gleichzei- Aber was macht Kunst zu Kunst? Wonach suchen Julian tig, will man ein Werk kontinuierlich entwi- Denzler und Christoph Bauer eigentlich? Was macht einen ckeln, braucht es so etwas wie Fokus und Künstler «besser» als den anderen? Julian Denzler schaut Zurückgezogenheit.» von einem Dossier auf, und sein sonst milder Blick hat etwas Diese findet Nadja Kirschgarten in Strenges, als er antwortet: «Nach der künstlerischen Eigenstän- ihrem alten renovierten Bauernhaus. Die digkeit.» Zumindest sei das ein Kriterium. Aber ein entscheiden- Räume sind hell gestrichen und minimalistisch des. Es sind solche Momente, die einem zu verstehen geben, wie dekoriert. Sie führt den Besuch in ein schma- ernst er seine Arbeit nimmt. les Zimmer, das ihr als Atelier dient. «Wobei Seine Wochenenden verbringt er damit, Kunstausstellungen ich eigentlich im ganzen Haus male», sagt sie. zu besuchen. «Wenn nicht gerade Fussball läuft», wirft er ein und In der Mitte steht ein Tisch, bedeckt mit Tuben zwinkert freundlich. Von Anfang an war es ihm wichtig, ein schar- und Pinseln. Es riecht nach Terpentin und Öl- fes Bild der lokalen Kunstszene zu erhalten. «Das gehört schliess- farben. Derzeit arbeitet sie an den «fallenden lich dazu, und darum bemühe ich mich aktiv», sagt er. Deshalb oder schwebenden Pferden». kennt er einige der Künstlerinnen und Künstler, die Teil der Aus- stellung sein werden, persönlich. So wie Nadja Kirschgarten aus KREATIVITÄT BRAUCHT Stein am Rhein. Sie wird im Kunstmuseum Singen zu sehen sein. VIEL FREIHEIT Zwei Wochen nach seinem Treffen mit Christoph Bauer macht sich Julian Denzler auf den Weg zu ihr. Er will sie in Wagen- Julian Denzler geht ungezwungen hausen besuchen. «Ich fühle mich im Atelier eines Künstlers umher. Tritt nah an die bemalten Leinwände immer wie ein Spurensucher», sagt er, «es ist schön, wenn man heran, verharrt einen Moment davor. Eines der Neues entdeckt, etwas, das man mit dem bereits bestehenden neueren Werke zeigt stilisiert einen grossen Werk anscheinend nicht direkt in Verbindung bringen kann.» Er und einen kleinen Laubbaum mit runder rätsle dann immer gern: Wie passt das nun zusammen? Knüpft es Krone. «Die haben ja meine Frisur», sagt irgendwo an? Erwartungen lasse er bewusst aussen vor. er und lacht. Nadja Kirschgarten stimmt ein. «Und das da? Ist da eine neue Frauen- LOSGELÖST serie im Werden?», fragt Julian Denzler inter- VON VORBILDERN essiert und zeigt auf ein Blatt Papier mit flä- chigen Bleistiftzeichnungen. «Im Moment Nadja Kirschgartens Werke sind Julian Denzler zuerst in gerade nicht … also, vielleicht, vielleicht auch der Sammlung des Kunstvereins aufgefallen, dann bei einer Aus- nicht», antwortet Nadja Kirschgarten. Als stellung in Olten. Schliesslich ist er auf sie zugegangen und Künstlerin hält sie so für sich Referenzpunkte konnte sie für «Doppio III» gewinnen. Bei ihr spürt er stark diese fest, die ihr später helfen sollen, einen einst Eigenständigkeit, die er für sehenswert hält. Dabei geht es um das angedachten Weg wieder aufzunehmen … künstlerische Loslösen von Vorbildern. Man mag vielleicht die oder eben auch nicht. Ihre «Bibliothek» nennt Referenz noch erkennen, aber das Werk kann für sich bestehen. sie das. «Kreativität braucht wahnsinnig viel «Nadja ist ein gutes Beispiel dafür, dass ernsthafte Malerei über Freiheit. Deshalb ist es nicht gut, sich zu stark den Schönheitsbegriff hinausgeht. Oder anders: Es geht nicht nur festzulegen. Sobald ich sie kontrollieren will, um die Frage, ob man sich das Bild gern ins Wohnzimmer hängen geht das auf Kosten der Qualität der Bilder.» würde. Es geht um die verschiedenen Dimensionen, die es hat.» Julian Denzler nickt verständnisvoll. 27
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