MAGAZIN 22/23 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin

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MAGAZIN 22/23 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin
Einzelverkaufspreis CHF 8.–
                              Kulturjahr

                              22/23
                                           SCHAFFHAUSER
                                           MAGAZIN
MAGAZIN 22/23 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin
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MAGAZIN 22/23 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin
EDITORIAL

IMPRESSUM
                                    Liebe Leserinnen und Leser,
Das Kulturmagazin erscheint
als Sonderausgabe
                                    liebe Kulturbegeisterte
in der Reihe
«Schaffhauser Magazin»
                                    Innovativ, kreativ und lebendig, so lässt sich die Kulturszene in der Region
Herausgeberin
Meier + Cie AG                      Schaffhausen besonders in diesem Jahr charakterisieren. In Stein am Rhein
Vordergasse 58                      öffnet mit der Oberen Stube ein bedeutendes Kulturhaus seine Tore. Es
8201 Schaffhausen
                                    soll mit Wechselausstellungen zu Geschichte und Kunst ein starker Magnet
Konzept und Redaktion               werden, der Leute aus nah und fern unwiderstehlich in die Region zieht.
Daniela Palumbo
                                    Zudem erhält die Stadt Schaffhausen mit den Schaffhauser Kulturtagen,
Autorinnen und Autoren
Sabine Bierich
                                    die im Juni 2023 erstmals stattfinden, ein spartenübergreifendes Festival,
Gabriel Eichenberger                das Künstler und Künstlerinnen mit der Bevölkerung zusammenbringen will.
Vincent Fluck                       Diese beiden Neuerungen ergänzen das reichhaltige und grenzüberschrei-
Maria Gerhard
Sabine Girsberger
                                    tende Angebot auf Bühnen, in Museen, Kunsträumen und Konzerthallen,
Praxedis Kaspar                     deren Eigenheiten wir in dieser zweiten Kulturausgabe des «Schaffhauser
Mark Liebenberg                     Magazins» kurzweilig und bildstark in einer Gesamtschau präsentieren –
Karin Lüthi
Daniela Palumbo
                                    ganz nach dem Erfolgsrezept der Erstausgabe 2021.
Mark Schiesser
Alexander Vitolić                   Angestossen haben diese Sondernummer zwei Stiftungen, die als Kultur-
Jeannette Vogel
Diana Zucca
                                    förderinnen im Kanton Schaffhausen Ausserordentliches ermöglichen: die
                                    Jakob und Emma Windler-Stiftung und die Sturzenegger-Stiftung. Ihnen
Titelbild
Melanie Duchene                     ist es zu verdanken, dass diese Kulturausgabe entstanden ist und dass sie
Illustrationen
                                                       gratis in alle Haushalte des Kantons gelangt. Das
Larissa Schlegel                                                «Schaffhauser Magazin» soll Einheimische und
Konzeptgestaltung                                                    Gäste anregen, an der vielfältigen Kulturszene
Zvezdana Schällebaum                                                   der Region Schaffhausen teilzuhaben.
Gestaltung und Layout
Franziska Rütschi                                                       Wir wünschen Ihnen viel Spass beim
Lektorat                                                                Lesen und viel Lust auf Kultur.
Birgit Blatter
Verlag
Verlag «Schaffhauser Nachrichten»
Beat Rechsteiner                                                          Daniela Palumbo
Telefon 052 633 33 20
Anzeigen
Anzeigenverkauf
«Schaffhauser Nachrichten»
Telefon 052 633 32 77
e-anzeigen@shn.ch
Druck
AVD GOLDACH AG
Sulzstrasse 10–12
9403 Goldach
Auflage
57 500 Exemplare
ISSN 2297-8704

Das Kulturmagazin wird
unterstützt von

Georg Fischer AG (GF)
IWC Schaffhausen
Regionaler Naturpark Schaffhausen
SIG Gemeinnützige Stiftung

                                                                                                                 3
MAGAZIN 22/23 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin
INHALT

             MAGAZIN
             6
             EIN DENKMAL ZU SCHÜTZEN, IST
             EINE ART INSZENIERUNG
             Flurina Pescatore hat beim Umbau der Oberen Stube
             in Stein am Rhein viel Spürsinn bewiesen und
             ermöglicht, dass aus einem ehemaligen Zunft- und
             Wirtshaus ein Kulturhaus entstanden ist.

             12
             AUSUFERNDE SKULPTUREN
             Der australische Künstler begrünt den Innenhof
             des neuen Kulturhauses Obere Stube mit Schlacke
             und Sporen.

             18
             RAUS AUS DEM SCHUTZRAUM
             Sie stellen sich dem Urteil der Passanten: Skulpturen
             für die Ewigkeit und vergängliche Graffiti an
             den Wänden.

             22
             «SIE SIND SIEBZEHN JAHRE ALT, KIND!
             LEBEN SIE!»
             Die Geschichte von Frau Monje und ihren acht Briefen
             an Praxedis Kaspar.

             25
             DER SUCHENDE
             Wie Kurator Julian Denzler junge Maler und Malerinnen
             selbst am Wochenende findet und aufsucht – wenn
             nicht gerade Fussball läuft.

             30
             LADY LAMETTA
             Surreale Collagen.

             32
             DIE MACHT DER ORGELPFEIFEN
             Organist Andreas Jud spielt in Schaffhausen auf
             zwei Orgeln. Ein seltenes Privileg, wie er im Interview
             erzählt.

             36
             TÄNZERISCHE ZWIESPRACHE
             MIT EINEM ZITRONENBAUM
             Mit ihrem Körper erkunden Carina Neumer und
             ihre Tanzkompanie Doxs das Gefühl der Scham und
             eine Zitrone.

4
MAGAZIN 22/23 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin
INHALT

   KULTUR IN DER REGION SCHAFFHAUSEN
41 SCHAFFHAUSEN                                80   Ortsmuseum Eglisau
                                                    Museum Eschenz
   42   Museum zu Allerheiligen                     Theater Alti Fabrik Flaach
   49   Museum Stemmler                             Ortsmuseum Hallau
        Stadtbibliothek                        81   Weinkrone, Hallau
        Museum im Zeughaus                          Kutschenmuseum, Hallau
   50   Theater Bachturnhalle                       Bahnstation-Museum, Hemishofen
   51   Das Fass                                    Ortsmuseum Marthalen
   52   Haberhaus Bühne                             Wohnmuseum, Marthalen
        Schaffhauser Sommertheater             82   Kino-Theater Central, Neuhausen
        SHpektakel                                  Schloss Charlottenfels, Neuhausen
   53   JUPS                                        Museum am Rheinfall, Neuhausen
   54   Kammgarn                               83   Reinart, Neuhausen
   56   SCHAFFHAUSER JAZZFESTIVAL                   Trottentheater Neuhausen
   57   Vebikus Kunsthalle                          Rhyality Immersive Art Hall, Neuhausen
   58   TapTab                                 84   OPEN AIR HALLAU
        IWC-Museum                             85   Alte Schmitte, Neunkirch
   59   SCHAFFHAUSER KULTURTAGE                     Ortsmuseum Neunkirch
        STARS IN TOWN                               Ortsmuseum Rafz
   60   Munot                                       GF-Eisenbibliothek, Schlatt
        Rathauslaube                           86   Gipsmuseum, Schleitheim
        St. Johann                                  Iuliomagus, Schleitheim
        BACHFEST                                    Museum Schleitheimertal, Schleitheim
   61   Zunftsaal zum Rüden                    87   Reiatmuseum, Thayngen
        Schützenstube                               Kulturzentrum Sternen, Thayngen
   62   Stadttheater Schaffhausen                   Schreibmaschinenmuseum, Bibern
   64   SCHAFFHAUSER BUCHWOCHE                      Girsbergerhaus, Unterstammheim
        Kino Kiwi Scala                             Orts- und Dichtermuseum Wilchingen
                                               88   MUSEUMSNACHT
65 STEIN AM RHEIN                              89   Bergkirche St. Michael, Büsingen (D)
                                                    Hesse-Museum, Gaienhofen (D)
   66   Kulturhaus Obere Stube                      Museum Haus Dix, Gaienhofen (D)
   68   Künstlerresidenz Chretzeturm                Jüdisches Museum, Gailingen (D)
   71   NORDART-THEATERFESTIVAL                     Rosgartenmuseum, Konstanz (D)
   72   Museum Lindwurm                             Kunstmuseum Singen (D)
   73   Museum Kloster Sankt Georgen           90   ERZÄHLZEIT
        Krippenwelt                                 Bildnachweis
        Rathaussammlung
        Schwanen-Bühne

74 REGION
                                                    Weitere Veranstaltungshinweise
   76   Schlosspark Andelfingen                     und Aktualisierungen finden Sie auf
        Ortsmuseum Beringen                         nordagenda.ch
        Pflugmuseum Guntmadingen
   77   Freilichtmuseum Säge Buch                    BÜHNE
        Handwerksmuseum Gattersagi, Buchberg         KUNST
        Ortsmuseum Buchberg                          LIT ER AT U R
   78   Museum Kunst  + Wissen, Diessenhofen         MUSEUM
        Tigerfinklifabrik, Diessenhofen              MUSIK
   79   ROCK THE RHY, Dörflingen                     FILM

                                                                                          5
MAGAZIN 22/23 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin
6
MAGAZIN 22/23 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin
KULTURHAUS OBERE STUBE

                Text Sabine Bierich Bilder Melanie
                Duchene Fünfzehn Jahre
                schon ist Flurina Pescatore
                als Denkmalpflegerin
                des Kantons Schaffhausen
                tätig. Für sie stecken
                Häuser voller Geschichten,
                tragen Schicksale, die mit
                Menschen eng verknüpft
                sind. Um ein Haus zu
                verstehen, braucht es
                Spürsinn, es will erforscht
                werden. So auch das
                inmitten der Altstadt von
                Stein am Rhein gelegene
                Gesellschaftshaus der
                Zunft zur Rose, das nun,
                aufwendig mithilfe der
                Jakob und Emma Windler-
                Stiftung saniert, zum
                Kulturhaus Obere Stube
                wird. Ein Rundgang inmitten
                der Sanierungsphase
                mit der zuständigen Denk-
                malpflegerin.

Ein Denkmal zu schützen, ist
eine Art Inszenierung
                                                     7
MAGAZIN 22/23 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin
KULTURHAUS OBERE STUBE

Die Tür im Stil der Achtzigerjahre, die ganz       Pescatore hebt im Hof noch besonders den Laubengang hervor.
und gar nicht zum Zunfthaus Rose passen            Er wurde verlängert und schafft nun die Verbindung von Alt zu Neu,
will, schnappt auf. Sie soll noch durch eine       leitet vom historischen Vorderhaus zum modernen Mehrzweck-
ersetzt werden, die mit der spätgotischen          raum über, der in der Kubatur der alten Scheune gebaut wurde.
Fassade harmoniert. In der künftigen Ein-                   An den Gipsern vorbei, noch mehr Staub liegt in der Luft,
gangshalle riecht es nach Zement, es ist           man hört das Schaben der Kellen, geht es die Hintertreppe hinauf.
staubig, und wie auf jeder Baustelle schallt       Über den Laubengang gelangen wir ins Vorderhaus. «Ich habe
aus einem Booster Musik. Flurina Pescatore,        immer Kleider an, die problemlos in der Waschma-
die Denkmalpflegerin, spricht kurz mit dem         schine gewaschen werden können», sagt sie und klopft
Bauleiter über Prozesse der Baugattungen           sich den Staub vom Mantel. Im Flur hängen bunte Kabel aus
und darüber, wo Vorsicht geboten ist: Die          Wänden und Decken, die «Innereien» eines modernen Hauses wie
Haupttreppe wird gerade saniert und ist nicht      Elektrik und Klimaanlage. Diese Modernisierungen seien bei
begehbar. Über den Hof und über die Treppe         Baudenkmälern echte Herausforderungen und ohne Verlust von
vom Hinterhaus her wird es möglich sein, in        Deckenhöhe unmöglich, zumindest bei dieser Menge an Technik.
die oberen Stockwerke zu gelangen.                         Im Zunftsaal spricht die Denkmalpflegerin interessiert die
                                                   Maler an. Lässt sich erklären, welche Arbeiten anstehen. Die
      AUFTRITT DER GOTIK                           Balken an der Decke aus dem späten 15. Jahrhundert werden
      MIT BALKEN-BOHLEN-DECKE                      geschliffen, vorbehandelt und lasiert. Flurina Pescatore verfügt
                                                   über ein Netzwerk von Handwerkern und Handwerkerinnen, die
        In der Eingangshalle des Kulturhauses      sich mit alten Techniken auskennen. Möglichst dunkel sollen die
ist die Originalstruktur augenfällig. Flurina      Balken werden, man hat darauf verzichtet, sie abzulaugen. «Die
Pescatore zeigt auf einen mächtigen Ständer-       leicht gewölbte Balken-Bohlen-Decke ist typisch für die Gotik»,
balken, auf dem die Jahreszahl 1496 vermerkt       sagt sie. «Sie ist eine Mischung aus Rohbau und Innenausbau, ein
ist. Die in Grisaille, also ausschliesslich in     System, das statisch funktioniert und gleichzeitig eine dekorative
Grau, Weiss und Schwarz ausgeführte Malerei        Oberfläche bietet.» Der Anstrich wird dem Original recht nahe
an der Holzdecke wurde allerdings erst 1744        kommen, ursprünglich waren die Balken geschwärzt.
hinzugefügt. «Das Haus hat eine Barockisie-                Flurina Pescatore deutet mit einer grossen Geste auf die
rung erfahren», sagt Flurina Pescatore. Die        Wände und die Decke des Zunftsaals: «Das war ein Befreiungs-
53-jährige Denkmalpflegerin wirkt zielgerichtet    schlag!» Hier seien die Zeitschichten sehr bruchstückhaft gewe-
und ist ausschliesslich auf die Sache konzent-     sen: Reste von Kunststofftapete, Anstriche aus dem 19. Jahrhun-
riert. Sie faszinieren Baudenkmäler, weil sie      dert, barocke Täferreste, Säulen aus dem Barock … Lange hätten
Quellen sind, die wir historisch befragen          sie überlegt, was man mit dem Saal machen solle, und sich
können. Schätze, die Geschichte bewahren           schliesslich entschieden, die Gotik zu inszenieren: Die Balken-
und Geschichten erzählen können über den           Bohlen-Decke sei sehr präsent.
Alltag, über die Nutzung eines Gebäudes,                   Die Maler werden die Wände in einem dunklen Buntton
über Arten von baulichen Konstruktionen,           streichen, damit die Decke nicht wegfliegt – eine Abstraktion der
über verschiedenstes Handwerk. Wie eine            Gotik, in der wahrscheinlich eine dunkle Holztäfelung an den Wän-
Detektivin spürt sie diese auf, geht den           den war. Den Zunftsaal nutzten die Zünfte vor allem für grosse
Zeitschichten eines Hauses auf den                 Anlässe. Nun soll er sich in einen Ausstellungsraum wandeln, der,
Grund. «Die Fassadenbemalung und das               mit klimatisierten Vitrinen ausgestattet, über die Geschichte und
schmiedeeiserne vergoldete Wirtshausschild         die Kultur von Stein am Rhein informiert.
mit Rosen und Schriftzug sind noch jünger.»
Im 19. Jahrhundert zog hier ein Wirtshaus                ANWÄLTIN DER
samt Metzgerei ein. Das Schild stammt aus                HISTORISCHEN SUBSTANZ
der Zeit, als 1927 die Gartenwirtschaft reno-
viert wurde. Der Name des Hauses geht aber                «Ich sehe mich als Anwältin der historischen Substanz, die
auf die Zunft zur Rose zurück, die Kaufleuten-     nicht selbst reden kann.» Schon als Studentin nahm Flurina
gesellschaft, welche das Haus im 15. Jahr-         Pescatore, von der Archäologie kommend, an Ausgrabungen und
hundert errichtet hat. Der Hinterhof werde         Bauuntersuchungen teil, erstellte Baugutachten, machte Inventari-
wieder als Aussenraum gestaltet, zugänglich        sierungen. Doch es zog sie zur praktischen Denkmalpflege, weil
für alle: «Im kollektiven Gedächtnis der Steiner   sie die Entwicklung der Häuser auch bei Renovationen miterleben
Bevölkerung weiss man noch darum, wie              wollte, daran mitwirken wollte, wie sie im Endeffekt dastehen.
schön der Garten einschliesslich Beiz hier                Dabei gehe es nicht um ihren Geschmack, sondern um das
einmal war.» So wird in die unteren Räume          Gebäude und seine Geschichte. Sie helfe dem Architekten oder
des Kulturhauses ein Bistro einziehen. Flurina     der Architektin, die schliesslich die Projektierung der denkmalge-

8
MAGAZIN 22/23 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin
Im Zunftsaal wird die Gotik in Szene gesetzt. Denkmalpflegerin Flurina Pescatore mit der Hauptdarstellerin, der leicht gewölbten
Balken-Bohlen-Decke, die von zusätzlichen Stützen aus dem Jahr 1496 getragen wird. In der künftigen Eingangshalle des Kulturhauses
Obere Stube sind die Originalstruktur aus dem 15. Jahrhundert sowie die Baugeschichte gut lesbar.

                                                                                                                                9
MAGAZIN 22/23 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin
Museums-                                                                     Unser beliebtes «Museumshäppchen»
                                                                             verwöhnt nicht nur Auge und Geist,
                                                                             sondern auch den Gaumen:

häppchen
                                                                             Nach einer Kurzführung über Mittag
                                                                             (30 Min.) zu einem bestimmten Thema,
                                                                             einem Objekt oder einer aktuellen
                                                                             Ausstellung wird die Mittagspause

über 22/23
                                                                             beim gemeinsamen Lunch und
                                                                             Austausch mit dem Kurator oder
                                                                             der Kuratorin abgerundet.

Mittag
                                                                             Aktuelles Programm auf
                                                                             WWW.ALLERHEILIGEN.CH

Hirschen Stammheim, 8477 Oberstammheim, www.hirschenstammheim.ch

KULTUR UND KULINARIK                                               Print ist Leidenschaft
IM STALL                                                           und bewegt die Sinne.
Die Hirschenbühne im ehemaligen Stallgebäude                                                        Urs Wohlgemuth
des historischen Gasthofs Hirschen ist ein vielseitig
nutzbarer Theaterraum mit besonderem Charme.
Er wurde im Rahmen der Erneuerung des Hirschen-
Ensembles geschaffen, im Vordergrund stehen
Theater, Musik sowie Kabarett. www.hirschenbuehne.ch

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KULTURHAUS OBERE STUBE

schützten Liegenschaft in Händen hätten und
sich mit den Bauherren oder Bauherrinnen
absprechen und einigen müssten. «Ich mache
mit ihnen strategische Überlegungen, forsche,
plane, verhandle und bewerte. Dabei spielt
weniger eine Rolle, ob ich etwas schön oder
nicht schön finde, sondern wie bedeutsam
etwas für die Geschichte des Hauses ist.»
Denkmalpflege passiere nicht im
Alleingang, und normalerweise sei sie auf
einer Baustelle immer mit einem Architekten
unterwegs.
       Flurina Pescatore kniet sich vor einen
auf dem Boden liegenden grossen Bauplan
und studiert ihn eingehend. Ihre Kernaufgabe
besteht aus der Forschung, und diese setzt
eigentlich vor Baubeginn ein. Erst einmal
müsse man die Baugeschichte eines Hauses
verstehen. Das heisst, Bestand aufnehmen,
Bauakten einsehen, historische Ansichten und     Zeitspuren: Die in Grau, Weiss und Schwarz gehaltene Grisaille an der Holzdecke
historische Fotografien studieren und fragen:    wurde im 18. Jahrhundert hinzugefügt und befindet sich in der Eingangshalle.
Wann wurde in das Baugeschehen investiert?       Baufolie an der Eingangstür der Oberen Stube, die im 17. Jahrhundert entstand und
       Aus allen Quellen stelle sie so eine      mit ihrer raffinierten Täfelung und Scheinarchitektur besticht (siehe auch Hauptbild).
These über die wichtigsten Bauphasen auf
und gleiche diese vor Ort ab. Daraufhin
entstehe der Baualtersplan. Welche Bauzeit
war an welcher Stelle prägend? Während des
Umbaus passe sie den hypothetischen
Bauplan den neuesten Erkenntnissen an, die
durch Sondierungen, Durchbrüche oder weil
eine Täfelung weggenommen worden sei, erst
möglich würden.

      SPIELEREIEN UND OPTISCHE
      TÄUSCHUNGEN – DIE OBERE STUBE

       Kein Wunder, hat Flurina Pescatore
gedrängt, endlich in das oberste Stockwerk
zu gelangen. Das Ausstattungsherzstück des
Kulturhauses liegt im zweiten Stock. Eine
Inschrift verweist auf das Jahr 1681, in dem
der obere Teil des Hauses komplett neu
ausgebaut wurde und die Zunftstube ent-
stand. Die Stube ist bis auf den Fussboden       rei, eine optische Täuschung», sagt sie, «die typisch für den
komplett erhalten. Äusserst raffiniert ist die   Frühbarock gewesen ist.» Im Hinblick auf das ganze oberste
Kassettendecke aus einfachem, lasiertem          Geschoss spricht sie gar von «heiligen Strukturen». Sie
Fichtenholz, deren dreidimensionale Wirkung      hat sich dafür eingesetzt, hier nichts Grundlegendes zu verän-
durch klug gesetzte Schattierungen noch          dern, weil hier nachvollziehbar ist, wie früher gelebt wurde. Die
verstärkt wurde. Man merkt der Denkmalpfle-      kleinen, an die Stube angrenzenden Räume wurden einst vom
gerin die Begeisterung für diese Art von         Stubenmeister bewohnt, der für das Zunfthaus Wirt und Haus-
Schreinerhandwerk an, das bewusst die            meister zugleich war. Die ehemaligen Wohnräume werden in
Architektur mitbestimmt hat. «Das sind weder     leichtem Grün gestrichen und als Besprechungszimmer der
Quadrate noch Rechtecke, sondern Rhom-           Bevölkerung zur Verfügung stehen, der Dachstuhl soll künftig
ben. Die Kassetten wurden so angeordnet,         einen Pädagogikraum beherbergen. Viel Potenzial also, das hier
dass sie den Raum vergrössern. Eine Spiele-      eröffnet wird: Denk-Mal!

                                                                                                                                      11
KULTURHAUS OBERE STUBE

     Ausufernde Skulpturen

12
Im Innenhof des neuen Kulturhauses
Text Daniela Palumbo Bilder Roberta Fele
Obere Stube in Stein am Rhein entsteht ein hängender Garten.
Der Künstler Jamie North schafft mit Schlacke und Grünpflanzen
eine Symbiose zwischen zwei gegensätzlichen Welten.

                                                                 13
Wand des Innenhofs befestigt sein, eineinhalb
                                                                        Meter über dem Boden und nicht wie ur-
                                                                        sprünglich geplant wandfüllend. «So hat es
                                                                        der Gesetzgeber bestimmt, damit niemand
                                                                        darauf herumklettert», sagt Adam Spencer
                                                                        augenzwinkernd. Als Klettergerüst sind die
                                                                        Steinfelsen natürlich nicht gedacht. Sie bilden
                                                                        das Gefäss für Pflanzen, die in winzigen
                                                                        Höhlen auf wenig Humus wachsen, um die
                                                                        Mauer zu begrünen.
                                                                               Doch der erste Eindruck vom Material
                                                                        täuscht. Die Brocken stammen nicht aus
                                                                        einem Vulkan, sondern aus einem Stahlwerk
                                                                        im Kanton Luzern. Sie sind aus Schlacke und
                                                                        fallen als industrielles Abfallprodukt bei der
                                                                        Gewinnung von Metallen an: Glühend wie
                                                                        Lava fliesst die nicht metallische Schla-
                                                                        cke auf die Müllhalde, wenn der Laster sie
                                                                        aus seiner Mulde kippt. Danach erstarrt sie
                                                                        glasig oder kristallin. Sechsmal ist Jamie
                                                                        North nach Emmen gefahren, wo er mithilfe
                                                                        eines Ingenieurs auf den grossen Schlacke­
                                                                        hügeln Brocken auswählte, die dann von einer
                                                                        Maschine zerkleinert wurden und schliesslich
                                                                        nach Hemishofen ins Atelier gelangten.

                                                                              GESTEINSKETTEN, DIE IN DER
                                                                              LUFT ZU HÄNGEN SCHEINEN

                                                                               Seit zehn Jahren arbeitet der Künstler
Der Australier Jamie North schafft Skulpturen aus einem Abfallprodukt   mit Schlacke. «Es ist ein provozierendes
der Stahlwerke: Schlacke als Gefässe für Pflanzen.                      Material», sagt er. «Ein Ausschussprodukt.»
                                                                        Sein Interesse für römischen Beton, der in der
                                                                        Antike zum Bau von Mauern verwendet wurde
       Acht Reihen mit 50 erlesenen Exemplaren, also insgesamt          und aus vulkanischem Material besteht, brachte
400 Brocken liegen ausgebreitet auf dem Vorplatz des Ateliers in        ihn auf die Schlacke, weil beide ähnliche
Hemishofen. Sie sind faustgross und sehen aus wie vulkanisches          Eigenschaften besitzen. Doch das vulkanische
Gestein, porös, glänzend in Rot- und Silbertönen.                       Gestein kommt natürlich vor, die Schlacke
       Im ehemaligen Stall riecht es hartnäckig nach Kuhmist.           entsteht durch menschliche Einwirkung. Dieser
«Deshalb arbeiten wir viel an der frischen Luft», sagt der australi-    Gegensatz zwischen Natur und Kultur liess
sche Künstler Jamie North unbekümmert in seiner ruhigen Art. Der        ihn nicht mehr los. Er stellte eine Verbindung
50-Jährige hat mit seinem Assistenten Adam Spencer die Brocken          her und schuf etwas Neues – Skulpturen aus
nach draussen getragen. Jeder einzelne wiegt sieben Kilogramm.          Schlacke, die von Pflanzen erobert werden.
       Schweiss rinnt von Jamie Norths Stirn, die Arbeit erfordert      Als langjähriger Fotograf hat er oft Bilder von
Kraft, und so trägt er statt eines Künstlerkittels blaue Handwerker­    verlassenen Gebäuden, Häuserruinen und
kleider, ein Käppi und Stahlkappenschuhe, genauso wie der               Betonpfeilern gemacht, bei denen sich die Na-
20 Jahre jüngere Adam Spencer. Für die Erschaffung der ausla-           tur wieder einen Weg gebahnt und deren
denden Installation, eines hängenden Gartens, fürs neue                 Flächen mit Efeu oder Moos überdeckt hatte.
Kulturhaus in Stein am Rhein braucht es viel Platz, den sie hier               Angetan ist er ausserdem von geome­
in Hemishofen gefunden haben. Einquartiert sind die beiden              trischen Formen – Säulen, Kugeln, Reihen. Zu
Australier in der Künstlerresidenz Chretzeturm im Städtchen von         Beginn schuf er mannshohe, erodierte Säulen
Mai bis Ende Juli 2022. Dann wird die Skulptur installiert sein – die   aus Schlacke, später verlängerte er mit Metall-
Pflanzen übernehmen ihren Part in Eigenregie.                           stangen die Säulen bis zu über fünf Meter und
       Bei der Eröffnung des Kunsthauses Obere Stube werden             liess Kletterpflanzen in die Höhe wachsen.
die Brocken genau in dieser achtreihigen Formation an einer             Dann wechselte er zu Kugeln als Behälter und

14
schliesslich zu einer Art Gesteinsketten, bei denen die Brocken an
einer Stange aufgezogen sind und ohne Sockel in der Luft zu hängen
scheinen. «Ich passe die Form der Skulptur an, um ein System zu
schaffen, welches das Leben der Pflanzen unterstützt.» Im Kultur-
haus wird er einige dieser Elemente zu einer Installation gruppieren.

      PFLANZEN, DIE MIT WENIG
      HUMUS ÜBERLEBEN

       Die Brocken auf dem Ateliervorplatz sind noch nicht exakt
ausgerichtet. Sie liegen in leicht gekrümmten Reihen da. Ihre           Moos, Sedum und Farn: Jamie North sammelt anspruchslose
Rot- und Silbertöne sind erst im Wissen um ihre Herkunft als Rost       Pflanzen, die er zum Beispiel auf seinen Kugelskulpturen
und Kalk erkennbar. Jamie North hat auch eine persönliche               aus Schlacke einpflanzt und die in Eigenregie ausufern.
Beziehung zu diesem Material, der Schlacke, mit der er all seine
Skulpturen erschafft. Seine Grosseltern waren Stahlarbeiter in
Wales und migrierten nach Australien, um dort in einem Stahlwerk
zu arbeiten. Er besuchte sie oft in ihrer Arbeitersiedlung, denn
seine Eltern wohnten in der Nähe, aber im ländlichen Busch.
       «Als ich zum ersten Mal die Schlacke in der Hand hielt, um
sie zu einem Kunstwerk zu formen, war das ein sehr emotionaler
Moment», sagt Jamie North gerührt. «Ich hatte eine Verbindung zu
meiner Familiengeschichte gefunden.» Das zweite Element seiner
Skulpturen, die Pflanzen, hat mit seiner Mutter zu tun, die sich
leidenschaftlich für Botanik interessierte. «All meine Werke
habe ich mit Pflanzen beheimatet», sagt er. Dafür recher-
chiert er im Internet ausgiebig die einheimische Flora und Fauna
des jeweiligen Landes, in dem er seinen Gastaufenthalt verbringt.
Er sucht vor allem nach Lithophyten, Pflanzen, die auf oder im
Gestein wachsen und mit wenig Humus überleben. So verarbeitet
er mit zwei sehr gegensätzlichen Materialien gleichzeitig zwei                      Jamie North
Stränge seiner Familiengeschichte.                                                  Innenhof des Kulturhauses Obere Stube.
       Jamie North hat nicht nur Erfolg in Australien, er ist auch                  AB 24 SEP 22
bekannt auf den anderen Kontinenten und wurde bereits in die
USA, die Türkei, nach Singapur, China und nun in die Schweiz ein-­
geladen, um sich Inspiration für neue Werke zu verschaffen und          Adam Spencer, sein Studiomanager, packt
solche zu kreieren. Helga Sandl, die künstlerische Leiterin des         nicht nur beim Handwerk mit an, er organisiert
Kulturhauses, hat ihn nach Stein am Rhein geholt. «Er ist zwar          auch den Zugang zu Materialien und Lieferan-
nicht der Einzige, der mit Abfallprodukten arbeitet», sagt Helga        ten. Die Steine sind zum Beispiel schwerer als
Sandl, «aber die Kombination ist sehr spannend. Er ist geometrisch      in Australien. Deshalb brachen einige Stangen,
exakt. Das steht im Gegensatz zum nicht vorhersagbaren Wachs-           die sie in die Steine steckten. Nun warten sie
tum der Pflanzen. Es ist faszinierend, wie er den Dingen ihren          auf kräftigere Stangen aus Deutschland. Ohne
Lauf lässt.»                                                            diese können die Steine nicht an der Wand
                                                                        des Innenhofs befestigt werden.
      DIE FÜLLUNG BLEIBT GEHEIM,                                               Im Stall, wo sich Schwalben gemütlich
      UM NACHAHMER ABZUWEHREN                                           eingenistet haben, stehen noch andere
                                                                        Materialien in Säcken und Kübeln herum, die
       Wer die Felsbrocken vor dem Atelier betrachtet, kann sich        Jamie North für sein Werk benötigt: Blähton,
nicht vorstellen, wie aus der Schlacke mit ihren unwirtlichen           Ton, Grafit. Damit befüllt er grosse, leere
Bedingungen jemals Pflanzen spriessen können. Bis grüner Flaum          Kugeln aus durchsichtigem Kunststoff, die
die Brocken belebt, liegt noch viel Arbeit vor ihm. Jamie North         unter einem Balken in der Mitte des Ateliers
greift zu einem Hochdruckreiniger und spritzt die Steine ab. Ein        lagern. Woraus genau die Mischung besteht,
Salamander huscht zum Stall. «Die Tierchen jagen in den Höhlen          bleibt sein Geheimnis. «Ich habe schon einige
der Schlacke nach Insekten», erklärt er.                                Nachahmer, vor allem aus den USA und
       Er muss sich jeweils auf seine neue Umgebung einlassen           China», sagt er. Sobald die Füllung hart ist,
und Probleme lösen, die sein komplexes Werk mit sich bringt.            entfernt er die Acrylhülle. Dadurch entstehen

                                                                                                                            15
IM SPIEGEL DER ZEIT                                                     ZIMOUN
              24.9.2022–31.10.2024                                          24.9.2022–16.4.2023

              ERÖFFNUNG
              24./25.9.2022                                                          JAMIE NORTH
                                                                                       ab 24.9.2022

    KULTURHAUS OBERE STUBE
    OBERSTADT 7, 8260 STEIN AM RHEIN                                                     WWW.KULTURHAUS-OBERESTUBE.CH

         Eine geballte Ladung Schweizer Kultur – im Kleinformat!
                                       Die Miniaturwelt am Rheinfall.   smilestones.ch

PRÄSENTIERT

                                                             Vergangene Zeiten neu erleben
                                                                                                   • Dauer- und
                                                                                                     Sonderausstellungen
                                                                                                   • Führungen
                                                                                                     nach Absprache
                                                                                                     Tel. 079 333 91 55
                                                                                                   • Öffnungen:
                                                                                                     am letzten Sonntag des
                                                                                                     Monats, 14 – 17 Uhr

               WIR SEHEN UNS IM                                                                    • Eintritt gratis

              AUGUST 2023 WIEDER
                                                                                                   Der Museumsverein freut sich
                                                                          www.museum-beringen.ch   auf Ihren Besuch.
KULTURHAUS OBERE STUBE

Acht Reihen mit erlesenen Exemplaren liegen auf dem Vorplatz des Ateliers in Hemishofen: Jamie North und Adam Spencer (v. l.) haben sie
von Hand ausgewählt. In dieser Formation zieren sie eine Wand im Innenhof des Kulturhauses Obere Stube.

runde, poröse Skulpturen, die Jamie North ebenfalls bepflanzt.
Vier dieser Kugeln sollen unter dem Wandgarten im Innenhof zu
                                                                                           Jakob und Emma
stehen kommen. Eine Skulptur, mit kleineren Brocken zu einer                               Windler-Stiftung
Gesteinskette zusammengefügt, wird am Vordach hängen.
       Der einfachste Teil seiner Arbeit ist für ihn die Bepflanzung.                      Stein am Rhein verdankt das neue Kultur-
                                                                                           haus Obere Stube, das am 24. September
In Stein am Rhein sammelte Jamie North Sedum – auch Mauer-
                                                                                           2022 die Tore öffnet (siehe S. 66), der Jakob
pfeffer oder Fette Henne genannt –, verpflanzte die Dickblattge-                           und Emma Windler-Stiftung. Die finanz-
wächse in einen Topf, um sie zu vermehren. Gesichtet hat er an                             kräftige Stiftung mit Sitz in Stein am Rhein
einer alten Wand im Städtchen einen weiteren selbstgenügsamen                              leistet seit 1989 einen immensen Beitrag zur
Kandidaten für seine Skulptur: den Braunstieligen Streifenfarn, der                        Kulturförderung im Kanton Schaffhausen.
eine Wuchshöhe von 30 Zentimetern erreichen kann. «Er braucht                              So wollten es Jakob und Emma Windler, die
                                                                                           mit ihrem Nachlass – der ursprünglich aus
wenig Erde, ist resistent und ästhetisch», sagt Jamie North. «Die
                                                                                           310 Sandoz-Aktien bestand – diese Stiftung
schmalen Blätter sollen wie Bonsai eine Illusion von                                       begründeten. Mittlerweile stehen für die
Grösse erwecken. Der glücklichste Teil meines Werkes ist, die                              Förderung von Kultur, Sozialem und Ge-
Pflanzen sich selbst zu überlassen.»                                                       meinnützigem und die Erhaltung des Orts-
                                                                                           bildes von Stein am Rhein 30 bis 35 Millio-
       SELBSTGENÜGSAME SPOREN,                                                             nen Franken pro Jahr zur Verfügung, die
       DIE AUF SCHLACKE GEDEIHEN                                                           die Stiftung voll ausschöpfen möchte.
                                                                                           Auf der Website www.windler-stiftung.ch
                                                                                           stehen Antragsformulare zum Download
       Der schwarze Kübel vor dem Stall stammt von seiner Reise                            bereit, für Kreative aus allen Kultursparten
nach Emmen. Statt Erde ist er voll körniger Schlacke, auf der                              mit guten Projekten, die einen Bezug zum
dürre, braune Fäden in die Luft ragen. Die Moossporen sehen                                Kanton Schaffhausen oder Auswirkungen
aus, als wären sie bereits vertrocknet, leblos. Noch einmal greift                         auf ihn haben. Der Stiftungsrat stellt die
der Künstler zum Hochdruckreiniger. Die Brocken auf dem Vor-                               Fördergelder zur Verfügung (für Kultur
                                                                                           waren es im Jahr 2021 insgesamt 1 085 750
platz werden dunkel durch das Wasser. Ein Spritzer gelangt in den
                                                                                           Franken). Gesuche werden von der sechs-
schwarzen Kübel mit der verdorrten Bepflanzung. Ein paar Minu-                             köpfigen Kulturkommission aus Steiner
ten später leuchten die braunen Moossporen auf der Schlacke                                Persönlichkeiten bearbeitet, die regelmäs-
grün. Sie sind wie durch ein Wunder wieder voller Leben.                                   sig zusammenkommt. dp

                                                                                                                                          17
Raus aus dem Schutzraum

18
KUNST

                       Matthias Wohlgemuth, Kurator am
Interview und Bilder Jeannette Vogel
Kunstmuseum St. Gallen und Vorstandsmitglied des Kunstvereins
Schaffhausen, über Kunst, die sich im öffentlichen Raum
bewähren muss, die DNA von Graffiti und einen Jubiläumswunsch.

        MATTHIAS WOHLGEMUTH, EIN MUSEUM                      künstlerischen Schaffens. Anfang des 20. Jahrhunderts
        GILT ALS «DAS VISUELLE GEDÄCHTNIS»                   allerdings erfolgte ein Bruch. So spülte beispielsweise
        EINER REGION. WELCHE BEDEUTUNG HAT                   1917 Marcel Duchamp mit einem gewöhnlichen, in­
        KUNST UNTER FREIEM HIMMEL FÜR SIE?                   dustriell gefertigten Pissoir den Kunstbegriff regelrecht
Ich möchte nicht werten. Eine gotische Kathedrale ist        durch, eine Aktion, die viel später noch das Werk von
gewissermassen auch eine grosse Skulptur, sie ist innen      Andy Warhol beeinflusste. Vor dieser «Fountain» war
wie aussen bedeutungsvoll. Kunst in Museen oder in           Kunst von zentralen ästhetischen Kriterien geprägt, mit
Galerien hat es eigentlich viel einfacher als Kunst im       der Erhebung von Alltagsgegenständen zur Kunst fegte
öffentlichen Raum. Objekte im Freien sind ständig ex­        Marcel Duchamp solche Gewissheiten weg. Ein Beispiel
poniert: Sie müssen sich einer kritischen Öffentlichkeit     aus jüngerer Zeit ist die Banane, die Maurizio Cattelan
stellen, sprich einem breiten Publikum, und nicht bloss      mit einem Klebeband an einer Wand befestigte. Sie
einer kleinen, meist wohlwollenden Minderheit. Kunst im      war 2019 Kunstkäufern an der Art Basel in Miami einen
öffentlichen Raum ist wie ein Wegkreuz, ein Kruzifix.        sechsstelligen Betrag wert. Für mich persönlich ist die
                                                             angemessene handwerkliche Umsetzung einer künstle­
        WAS MEINEN SIE DAMIT?                                rischen Idee aber immer noch wichtig.
Das Wegkreuz ist ein spiritueller Erinnerungsposten
unterwegs. Häufig tragen Wegkreuze ein Kruzifix, die                BRAUCHT DIE KUNST ÜBERHAUPT
Darstellung des gekreuzigten Christus – es ist Kunst                DIE ÖFFENTLICHKEIT?
im öffentlichen Raum. Die Herausforderung bleibt im          Für mich ist es klar, wer Kunst als Beruf auffasst, der
Kern immer, sich mit etwas auseinanderzusetzen, ob           braucht die Menschen, braucht das Publikum und
im religiösen oder in einem anderen Sinn. Die Kons­          braucht auch Geldgeber, das war immer schon so.
tante ist, dass man als Passant «notgedrungen» daran         Früher gab es noch klare funktionelle Zusammenhänge,
vorbeigehen und sich Gedanken machen muss, wäh­              denken Sie an all die Kunstwerke in den Kirchen oder –
rend der Besuch eines Museums freiwillig erfolgt. Das        in Schaffhausen – die kunstvollen Brunnen mit Figuren.
macht Outdoorkunst anders, und dieses Hinaustreten           Das fehlt heute weitgehend, Kunst ist quasi funktions­
aus dem Schutzraum ist eine grosse Chance, Kunst zu          los, weil in ihrer Aussage offen geworden. Dennoch
vermitteln, sie im Alltag wirken zu lassen, die Diskussion   kann sie weiterhin Anlass zu Begegnung, zu Auseinan­
anzuregen. Deshalb hat der Kunstverein Schaffhausen          dersetzung und Gespräch sein – und zu unserem Ver­
den Hochrheinkunstweg initialisiert. Zwischen Schaff­        ständnis der Welt beitragen.
hausen und Stein am Rhein wurden für das Projekt
vorerst 24 Kunstorte und Kunstwerke aus der Zeit nach               HAT DIE PANDEMIE DEN BLICK AUF
1960 erfasst. Inzwischen sind mit Roman Signers «Ver­               DIE KUNST VERÄNDERT?
doppelung» und einem Werk von Josef Maria Odermatt           Es gab diesen Moment, von dem an die Kunstwelt still­
zwei weitere dazugekommen. Das soll so weitergehen.          stand. Plakate zu Ausstellungseröffnungen wurden am
                                                             Anfang der Coronakrise noch optimistisch mit «Verscho­
       WELCHES IST IHR LIEBLINGSKUNSTWERK                    ben»-Zetteln überklebt. Kunst in Museen und Galerien,
       «OHNE MUSEUMSDACH»?                                   in Schutzräumen quasi, war für das Publikum plötzlich
Neben Roman Signers «Verdoppelung» sind das die              nicht mehr zugänglich. Objekte im öffentlichen Raum
wunderlichen Fabelwesen nahe dem Rheinufer von Kurt          hingegen erfuhren dadurch mehr Beachtung und mehr
Bruckner. Bei ihm vereinen sich perfektes Handwerk           Wertschätzung.
und Kenntnis der Kunstgeschichte mit Schalk und
künstlerischer Aussage.                                           HAT KUNST UNTER FREIEM
                                                                  HIMMEL AUCH BEI UNS AN BODEN
       WAS IST FÜR SIE KUNST?                                     GEWONNEN?
Schöpferisch Gestaltetes ... Talent, Kreativität und hand­   Aus meiner Sicht, ja. Die Einweihung der Plastik «Ver­
werkliches Können waren seit jeher Grundbausteine des        doppelung» von Roman Signer im September 2021

                                                                                                                      19
stiess auf grosses Interesse. Roman Signer
hat die Stahlplastik extra für den Standort
Münstersenke konzipiert. Diese Dauerleihgabe
des Kunstvereins an die Stadt Schaffhausen
ist ein wichtiges Werk im öffentlichen Raum.
Die Aufstellung während der Pandemie war
allerdings eine Koinzidenz, nicht Absicht. Übri-
gens war nach Auffassung unseres Vorstands
die kurze Zweckentfremdung des Werks als
Sauna im November gleichen Jahres eine
originelle Aktion, sie war schonungsvoll, nicht
zerstörerisch, und sie steigerte die Aufmerk-
samkeit. Wiederholung ist trotzdem nicht er-
wünscht, denn der Grat zwischen Spass und
Schaden ist schmal.

       GIBT ES ZU VIEL KUNST
       IM ÖFFENTLICHEN RAUM?
Es gibt sicher nicht zu viel. Mir gefällt, dass es
in Schaffhausen prominent platzierte Kunst-          diesem Punkt trennt sich bereits die Spreu vom Weizen, wenn wir
werke gibt. Es wäre noch schöner, gäbe es            Graffitiwände anschauen.
mehr Werke von international bekannten
Künstlern, das ergäbe aus meiner Sicht ein                 HARALD NAEGELI IST EINE AUSNAHME­
ideales Miteinander mit regionalen Kunstschaf-             PERSÖNLICHKEIT. WÜRDEN SIE SICH WÜNSCHEN,
fenden. Einen eher unbekannten Namen mit                   DASS ER AUCH SCHAFFHAUSEN SEINE
einem bedeutenden zu verbinden, das stützt.                KÜNSTLERISCHE AUFWARTUNG MACHT?
                                                     Ich würde es schon begrüssen, wenn er inkognito vorbeikäme
       SIND SIE FÜR DIE KREATIVE                     und eines Morgens so ein sensibler «Naegeli» an einem promi-
       NUTZUNG VON BRACHLIEGENDEN                    nenten Ort schweben würde. Das wäre eine herrliche Überra-
       FLÄCHEN?                                      schung zum 175-Jahr-Jubiläum des Kunstvereins.
Man kann solche Flächen vielseitig nutzen,
natürlich auch für gute Architektur. Ich könnte              WIE STEHEN SIE ZU LEGALEN
mir aber vorstellen, dass solche Orte vermehrt               UND WIE ZU ILLEGALEN GRAFFITI?
mit Wechselausstellungen von Installationen          Da bin ich wahrlich kein Experte. Aber für mich wirft die Graffiti-
und Skulpturen bespielt werden, das würde            kunst eine spannende grundsätzliche Frage auf: die ursprüngliche
das Kunstschaffen fördern und immer wieder           Motivation. In den Anfängen ging es um Frust und Protest einer
Aufmerksamkeit generieren.                           Subkultur – und soll im New York der Siebzigerjahre das Ende
                                                     der sauberen Hauswände eingeleitet haben. Nun ist das Sprayen
       WAS HALTEN SIE VON                            sozusagen zum Mainstream geworden. Graffiti prägen auf der
       GRAFFITI BEZIEHUNGSWEISE                      ganzen Welt die Stadtbilder mit, die Künstler werden gefeiert. Da
       VON STREET-ART?                               frage ich mich: Gehört zur DNA von Graffiti vielleicht nicht doch
Wir haben in der Schweiz mit Harald Naegeli          die Illegalität? Sobald man die Namen der Urheber kennt und
ein wunderbares Beispiel, er war ein Vorreiter       Wände zur Verfügung stellt, fällt für mich ein Hauptmotiv dieser
der Street-Art. Die Werke des «Sprayers von          Kunstform weg, der anonyme Protest und der Ausbruch von
Zürich» wurden Ende der Siebzigerjahre eher          unterdrückter Kreativität.
dem Bereich der Sachbeschädigung als jenem
der Kunst zugeordnet. Früher geschmäht,                    DIE STADT SCHAFFHAUSEN STELLT
heute gepriesen: 2020 wurde Harald Naegeli                 GRAFFITIKÜNSTLERN AM RHEINUFERWEG
(Bild oben rechts) mit dem Kunstpreis der                  EINE WANDFLÄCHE, DIE SOGENANNTE
Stadt Zürich geehrt. Das zeigt sehr klar den               HALL OF FAME A4, ZUR VERFÜGUNG. SIND
Wandel des allgemeinen Geschmacks. Sogar                   SIE DAMIT NICHT EINVERSTANDEN?
einem «altmeisterlichen» Kunsthistoriker wie         Doch, doch, die Idee gefällt mir durchaus, und zwar vor allem aus
mir gefallen seine fliessenden Linien, vor           folgendem Grund: Es geht um Vergänglichkeit und Erneuerung.
allem, wie sensibel er sich auf die architek-        Die «Hall of Fame» ist zum Be- und Übermalen freigegeben. Die
tonischen Rahmenbedingungen einlässt. An             Mauer bleibt, die Graffiti verschwinden wieder, neue kommen.

20
KUNST

                                                                   175 Jahre Kunstverein
                                                                   Schaffhausen
                                                                   Auf einem Sockel vor dem Pavillon im Park in Schaff-
                                                                   hausen steht das neueste Outdoorkunstwerk für den
                                                                   vom Kunstverein initiierten Hochrheinkunstweg. Die
                                                                   Installation des Eisenplastikers Josef Maria Odermatt
                                                                   folgt auf die Skulptur «Verdoppelung» von Roman Sig-
                                                                   ner. Damit hat der Kunstverein sein 175-Jahr-Jubiläum
                                                                   eingeläutet, das er 2023 feiern wird. Der Kunstverein mit
                                                                   seinen mehr als 1000 Mitgliedern setzt sich engagiert
                                                                   mit der Gegenwartskunst auseinander, regt Ausstellun-
                                                                   gen wie die jurierte «Ernte» oder das Format «Doppio»
                                                                   an (S. 46) und sammelt
                                                                   regionale sowie Schwei-         DOPPIO IV
                                                                   zer Kunst. Dabei ist er
                                                                                                   Sandra Böschenstein, Zilla
                                                                   keineswegs ein elitärer
                                                                   Club. Alle zwei bis drei        Leutenegger, Museum zu
                                                                   Jahre organisiert er in den     Allerheiligen.
                                                                   Hallen am Rhein die             3 SEP–30 OKT 22
                                                                   «SHKunst», den mit bis zu
                                                                   120 Ausstellenden gröss-        ERNTE 22
                                                                   ten und beliebtesten
                                                                                                   Jurierte Kunstausstellung,
                                                                   Kunstanlass in Schaff-
                                                                   hausen. Bekannte und            Museum zu Allerheiligen
                                                                   unbekannte Künstlerin-          30 OKT 22–26 FEB 23
                                                                   nen und Künstler reichen
Für die Ewigkeit: Die Installation von Josef Maria Odermatt beim
                                                                   sich dort die Hand. Auch        SHKUNST22
                                                                   dieses Jahr können sich         Unjurierte Kunstausstellung,
Pavillon im Park (o.) und «Der Horchende» von Rudolf Blättler
(u. r.) im Kreuzganggarten des Klosters Allerheiligen sind zwei
                                                                   Interessierte in einer zwei
                                                                                                   Hallen am Rhein.
von mehreren Skulpturen, die den öffentlichen Raum der Region      Meter breiten Koje für we-
                                                                   nig Geld einmieten, ihre        4–13 NOV 22
zieren. Vergangen: Graffiti an den Fischerhäusern am Rhein.
                                                                   Werke präsentieren und
                                                                   verkaufen. Im Jubiläums-       175 Jahre
                                                                   jahr finden Anlässe im         Kunstverein
                                                                   Museum zu Allerheiligen        Jubiläumsausstellung
                                                                   statt, aber auch Exkursio-
                                                                                                  mit Buchpublikation,
                                                                   nen, Führungen und
                                                                   Filmabende. dp                 Museum zu Allerheiligen.
                                                                   kunstverein-sh.ch               25 NOV 23–28 APR 24

                                                                                                                                  Andrea Helbling

                                                                                                                            21
Die Geschichte
PRAXEDIS KASPAR SCHMID

von Frau Monje und ihren acht
Briefen an mich

                                           «Sie sind
1967. Ich bin siebzehn Jahre alt und
schreibe Gedichte. Ganz dringend
                                           siebzehn Jahre alt,
Gedichte. Ich bin überzeugt, dass
mein Leben aus Schreiben bestehen
wird, nichts als Schreiben. Rilke,
                                           Kind! Leben Sie!»
Hölderlin, Celan: meine Götter, sie
alle haben es getan, sie alle hatten nichts anderes zur    und Holocaustüberlebende Arnold Daghani und seine
Verfügung als sich selbst, ihre Sprache und diesen         Frau. Er bemalte die Fenster des Gartenpavillons mit
merkwürdigen Trieb, dessentwegen sie ohne Schreiben        Blumen und zeigte uns Kindern seine Skizzenbücher,
keine Ruhe fanden und mit Schreiben erst recht nicht.      voll von dunklen Erinnerungen an Krieg und
Ich muss werden wie sie, auch wenn ich nicht bin wie       Zwangsarbeit in der Ukraine. Der Theaterkritiker
sie. Ich schreibe also nach meinen Hausaufgaben fast       Herbert Jhering, der sich wie ein Schatten im Haus
jeden Tag ein Gedicht, ein schlechtes, natürlich, aber     bewegte und so still, wie er gekommen war, wieder
ein Gedicht. Es ist mir bitterernst. Ich denke nicht im    fortging. Die Eheleute Friedel und August Winter,
Traum daran, dass mein inneres Erglühen etwas mit          geflüchtet auch sie, die Jahr für Jahr auf dem Grünfels
meinem Jungsein zu tun haben könnte, mit meinem            zu Gast waren, ein freundliches, liebenswürdiges Paar,
Hingerissensein von der Welt.                              das, wie mir schien, aus fremden Welten auftauchte
        Ich wohnte in den Sechzigerjahren mit meinen       und nach einer Weile in ihnen verschwand.
Eltern und Geschwistern in der Villa Grünfels in Jona,             Und eben sie, Freya Monje-Sturmfels (1896 bis
einem grossen, weissen, 1822 erbauten Haus mit             1981), die Schauspielerin und Rezitatorin, mit Lotte
doppelseitigem Treppenaufgang, das einen Brustlatz         Stiefel befreundet seit ihren Jahren in Berlin. Sie
aus Wiesland trug, auf dem Margeriten blühten, roter       stammte nicht aus jüdischer Familie, war persönlich
Klee und am Rand der kriechende Günsel. Das Haus           nicht verfolgt, aber sie hatte zwei Kriege erlebt, Ost-
gehörte der eleganten, lustigen und geheimnis-             preussen gesehen … Genaueres vertraute sie mir, der
vollen Lotte Stiefel, sie wohnte im Parterre, wir als      Siebzehnjährigen, nicht an. Sie kam oft auf den Grün-
ihre Mieter im ersten Stock. Die alte Dame war in jungen   fels, wann immer sie sich auf ihren Vortragstouren ein
Jahren Schauspielerin gewesen, hatte auf der Bühne         paar Tage herausnehmen konnte zum Textlernen und
gestanden im Berlin der Dreissigerjahre und war eng        zum Zusammensein mit Menschen, die ihr Ruhe
verbunden mit dem jüdischen Schauspieler und Schrift-      schenkten. Ich habe diese grosse, strenge Frau innig
steller Alexander Granach. Dem geliebten Freund            bewundert und geliebt, und ich habe ihr, Gott sei’s
ermöglichte sie die rettende Flucht in die Schweiz, in     geklagt, meine Gedichte geschickt – mit ihrer gütigen
ihr Elternhaus in Jona. Alexander Granach war einer von    Erlaubnis. Frau Monje: Auch sie hatte die Theaterbühne
vielen jüdischen Kulturschaffenden, die in der Nazizeit    verlassen und sich in Vortragssälen landauf, landab eine
bei Lotte Stiefel Zuflucht fanden. Noch in den Sechzi-     neue gebaut, eine ohne Podest und in unmittelbarer
gerjahren, als wir bei ihr wohnten, beherbergte sie über   Nähe der Menschen, die sie hören wollten. Noch mit
Wochen ihre Freundinnen und Freunde von damals. Sie        über achtzig stand sie vor ihrem Publikum, hoch aufge-
kamen im Sommer oder über Weihnachten, sie waren           richtet, in sich gekehrt, nur durch ein kleines Lächeln
die Zaungäste unserer Kindheit, wir erahnten die           Kontakt aufnehmend. Mit nichts als einem Spitzenta-
dunklen Schatten in ihrem Rücken, während sie auf der      schentuch in den verschränkten Händen stand sie da
Haustreppe mit uns scherzten: der rumänische Maler         und trug vor, mehr als eine Stunde lang ohne jedes

22
LITERATUR

Hilfsmittel, mit nichts anderem gewappnet als ihrem           alten Puppe. Ich hatte vergessen, sie mitzunehmen,
stupenden Gedächtnis und ihrer Sprechkunst. Sie               der Weg, sie zu holen, blieb versperrt. Jahre gingen
rezitierte deutsche Literatur vom Feinsten, beherrschte       dahin, und noch immer hatte ich die grosse, schwung-
abendfüllende Programme, die sie nach ausgewählten            volle Schrift auf den Umschlägen mit Absender Bad
Themen selbst zusammenstellte und einübte. Die                Nauheim vor Augen, Freya Monjes Rat von damals,
Klassiker. Die Droste, die sie besonders liebte. Und          er blieb mein Menetekel, meine Schrift an der Wand.
Kafka. Und Rilke. Hölderlin. Wenn sie ihn lernte, war sie     Manchmal glühte sie, manchmal glaubte ich sie erlo-
für nichts anderes ansprechbar, dann ging sie leise für       schen. Ich lernte, an Texten zu arbeiten, Überflüssiges
sich sprechend im Grünfels-Park auf und ab, und wir           wegzulassen, die Dinge zuzuspitzen. Wellenlos war
wagten nicht, uns zu nähern. «Ich bin ganz in Hölderlin       mein Leben nicht geworden, in diesem Punkt hätte ich
versunken», schrieb sie mir. «Ich kann im Augenblick          sie beruhigen können. Als ich von ihrem Tod erfuhr,
nichts sagen zu Ihren Gedichten.» Ich verstand und            war für einen Augenblick alles wieder da, ich sah sie
nahm es hin. Und lernte, selbst versunken zu sein.            stehen, das Spitzentaschentuch in Händen, ich hörte
        Unsere Freundschaft über die Jahrzehnte hinweg        sie sprechen.
begann damit, dass sie mir erzählte, wie sie im Krieg die             Sommer 2021. Es erreicht mich eine Mail. Ein
Puppe ihrer Kindheit verlor. Ich habe sie ihr nachge-         junger Mann ist eben eingezogen an jener Adresse, von
strickt, ich, die ich stricken nicht mochte. Sie erlaubte     der ich vor 35 Jahren fortgezogen war. Er findet eine
mir also, ihr meine Gedichte zu schicken und ich, hélas,      Bananenschachtel auf dem Estrich, die stört ihn. Er liest
ich wagte es, dieser hochgebildeten und von feinsten          meinen Namen, stöbert mich im Internet auf und fragt
Texten täglich ernährten Künstlerin meine Anfänger-           mich, ob ich die sei, die ich bin. Es stehe eine Bananen-
verse zu unterbreiten. Sie antwortete mir über drei Jahre     schachtel in seinem Estrich, darin Zeitungsartikel aus
hinweg in sorgfältig geschriebenen Briefen voll kriti-        den frühen Siebzigerjahren, ein Bündel alter Briefe, ein
schen Interesses. Immer wieder legte sie mir nahe,            Käthe-Kruse-Püppchen. Mir stockt der Atem. Eine
meine Texte zu überprüfen auf ihre Dringlichkeit. An der      Woche später fahre ich hin. Ich erzähle dem jungen
Form zu feilen. Und nochmals zu feilen. Misslungenes          Mann in Umrissen die Geschichte, er staunt und freut
ohne Bedauern fallen zu lassen. «Kunst ist es erst            sich an den Pralinen, die ich ihm zum Dank überreiche.
dann, wenn man nichts mehr weglassen kann.»                   Ich räume meine Fundstücke in eine Tasche um und
Sie riet mir, von den Grossen zu lernen, strengste            setze mich in den nahen Park, der sich so wenig verän-
Massstäbe anzulegen und den Leichtschreibern auszu-           dert hat wie das Haus, auf dessen Dachboden meine
weichen. «Wollen Sie, liebe Praxedis, ein glattes,            Schachtel 35 Jahre lang unberührt auf mich gewartet
wellenloses Leben haben?» Sie war unerbittlich                hat. Ich packe aus: Der Körper der Puppe löst sich in
und, wie mir schien, ein wenig gnadenlos. Mit                 Brösel auf, sobald ich sie an die Luft hebe, meine
ausgesuchter Höflichkeit machte sie mir klar, dass sie        Zeitungsartikel aus den Siebzigerjahren sind vergilbt.
mir hier und da nicht folgen könne, dass die «aufgelös-       Frau Monjes Briefe aber sind perfekt erhalten. Ich
ten Formen» meiner Versuche sie ratlos liessen, dass          beginne zu lesen. Aus der ganzen Fallhöhe meiner
ich meine Inhalte erweitern solle, weg von meinen             Lebensjahrzehnte stürzen ihre Gedanken noch
eigenen Turbulenzen hin zur eigentlichen Betrachtung          einmal auf mich ein, jetzt, wo ich so alt bin,
des Gegenstandes. Oft genug musste ich leer schlu-            wie sie damals war, als sie mir schrieb: «Rück-
cken, öffnete ihre Briefe mit zitternden Fingern. Sie aber    schläge, Enttäuschungen dürfen nicht länger
tröstete mich, indem sie mir von ihrem eigenen Weg            als zwei Tage gelten, dreimal schlucken und
erzählte, von Enttäuschungen, Rückschlägen und                weiter!» – «Sie tasten sich nun zu der grossen Kunst
Zweifeln. Selbst Goethe und erst recht Mörike, den fast       des Weglassens vor, zur Vermeidung nichtssagender
Vollkommenen, hätten Misserfolge quälend begleitet.           Füllworte – und Sie prüfen Ihre Arbeit und sich selbst.
Nach drei Jahren, 1970, begann mein Leben fern vom            Das ist entscheidend.» – «Schreiben Sie, feilen Sie, aber
Haus Grünfels und seinen Gästen, die Jugend raffte ihre       quälen Sie sich nicht. Seien Sie nicht bedrückt, nicht
Schleier und verliess mich für immer. Das Erwachsen-          bedrängt! Liebes Kind, Sie sind 17 Jahre alt! Leben Sie!»
sein begann, unser Briefwechsel hörte auf. Nur das                    2022. Diese Geschichte schreiben. Ich schnup-
Schreiben blieb bei mir. Ich feilte, feilte und verwarf. Da   pere an den Briefen, befühle sie, lese. Es steigt ein Bild
und dort eine Veröffentlichung, ein paar Gedichte,            auf, ich sehe mich selbst, am Anfang. Ad astra, Frau
wahrhaftig gedruckt. Vor allem aber wurde das Schrei-         Monje, mit Gruss und Dank.
ben Broterwerb – und das war gut so. Die Briefe von
Freya Monje-Sturmfels zogen mit mir um, zu Menschen           Praxedis Kaspar: «Palimpsest». Das Gedichtheft aus dem Verlag Alla chiara
hin, von Menschen weg. Eines Tages aber liess ich sie         fonte ist in wenigen Exemplaren vorhanden und auf Wunsch bei der Autorin
                                                              erhältlich. «Wildermann – Geschichten vom Hörensagen über Johann Fuchs, den
auf einem Dachboden stehen, in einer Bananenschach-           Bölere-Bueb». Das Buch erscheint diesen Herbst in vierter Auflage. Zu beziehen
tel zusammen mit meinen Zeitungsartikeln und meiner           in Buchhandlungen und beim Verlag Appenzeller Volksfreund.

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Tauchen Sie ein in die Welt des Theaters und erfahren Sie mehr über die Menschen
                       und Geschichten die auf der Bühne des Stadttheaters zu erleben sind.

                                  Hören Sie rein unter: www.stadttheater-sh.ch/podcast
                            oder auf Spotify, Apple Podcast sowie auf unserem YouTube-Kanal.

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Die allerersten Schaffhauser Kulturtage
                                                                          SAISON 2022/2023

scHAFf
15.– 18. Juni 2023

haus e r
kultuR
 2023
 t AGe                                                                                       DER KULTUR-
                                                                                             TREFFPUNKT
Zusammenkommen. Kultur erleben. Neues entdecken.
                                                                                             MIT CHARME
Ein Kulturfestival von und mit Schaffhauser Kulturschaffenden.
Ein Kulturfestival mit allen Kultursparten.                                                   UND WITZ
Ein Kulturfestival für alle.
                                                                                             Aktuelles Programm unter:
                                                         Save the Date!

Mehr Infos: www.kulturtage.sh
Ein Pilotprojekt des Kulturamts der Stadt Schaffhausen
in Kooperation mit dem Kanton Schaffhausen
                                                                                              www.trottentheater.ch
KUNST

                          Derzeit bereitet Julian Denzler
Text Maria Gerhard Bilder Melanie Duchene

eine grenzüberschreitende Gruppenausstellung zu junger
Malerei im deutschsprachigen Raum vor. Wer den Kurator
für Gegenwartskunst im Museum zu Allerheiligen bei
der Arbeit begleitet, ob beim Auswahlprozess oder Atelier­
besuch, trifft auf einen Menschen, dessen Ernsthaftigkeit
und Begeisterung für sein Metier ansteckend sind.

Der Suchende

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KUNST

Julian Denzler ist nicht leicht zu finden. Wer sich einmal in die                              Seit Stunden sind der Kurator des Mu-
Tiefen des einstigen Klosters Allerheiligen verirrt hat, fürchtet,                      seums zu Allerheiligen und Christoph Bauer
nicht mehr herauszufinden. Um die Ecke. Die Treppe hoch. Wieder                         vom Kunstmuseum Singen mit der Auswahl
eine Ecke. Da, endlich! Eine Holztür öffnet sich, und der Kurator                       beschäftigt: Die Tische sind übersät mit DIN-
für Gegenwartskunst, an seinem dichten Lockenschopf unver-                              A4-Blättern. 220 Dossiers – jedes ist dem Werk
kennbar, kommt einem entgegen. Der Händedruck des                                       einer Künstlerin oder eines Künstlers gewid-
32-Jährigen ist herzlich-fest, die Augen hinter den Brillen-                            met – wurden über Monate sorgfältig vorberei-
gläsern haben etwas Warmes.                                                             tet. Um infrage kommende aufzulisten, haben
       In diesen abgeschiedenen Raum hat er sich mit dem Leiter                         sie ihre Netzwerke aktiviert, Akademien und
des Kunstmuseums Singen, Christoph Bauer, zurückgezogen, um                             Galerien kontaktiert, Empfehlungen entgegen-
die grenzüberschreitende Ausstellung zur jungen Malerei in der                          genommen und Ausstellungen gesichtet.
deutschsprachigen Region, die ab Dezember in beiden Häusern                                    Julian Denzler geht reihum, beugt sich
zu sehen sein wird, aus der Taufe zu heben. Die Idee für diese                          tief über die Fotos, studiert sie genau. Ge-
Kooperation stammt von Julian Denzler. Er gibt das aber nur bei                         meinsam mit Christoph Bauer wägt er ab, sie
wiederholtem Nachfragen zu. Im Mittelpunkt steht er nicht gern.                         diskutieren … Sie machen es sich nicht leicht.

Einer, der es genau wissen will: Kurator Julian Denzler betrachtet die Rückseite dieses neuen Werks von Nadja Kirschgarten. In diesem Fall
hat sie mit verschiedenen Gelbtönen experimentiert. Letztlich ist die Ente dann doch schwarz geworden.

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«Im Werk steckt viel vom Künstler, von der Künstlerin selbst, man             Nadja Kirschgarten ist im Kom-
muss verantwortungsvoll damit umgehen», sagt er dazu. Am Ende         men, wie man sagt. Seit Anfang des Jahres
werden künstlerische Positionen von etwa 60 Malerinnen und            wird sie in Basel von einer Galerie repräsen-
Malern gezeigt.                                                       tiert. Ein wichtiger Schritt für sie. Teilzeitarbeit
                                                                      sichert ihr bis heute das Einkommen. Doch
      EIN AMBITIONIERTER                                              ihre letzte Ausstellung war ein Erfolg, wie sie
      VERMITTLER                                                      Julian Denzler nach herzlicher Begrüssung
                                                                      erzählt. Sie hat alle Bilder aus ihrem Pferd-
        Julian Denzler konnte in Schaffhausen, trotz Coronaein-       Fohlen-Zyklus verkauft. «Alle verkauft?», fragt
schränkungen, bereits einiges umsetzen: Da wäre zum Beispiel          er nach und jubelt: «Hey, richtig cool!»
die gelobte Ausstellungsserie «Doppio». Zwei Künstler, zwei sich              Er freut sich für sie. Auf der Autofahrt
gegenüberstehende Positionen. Auch hier der Bezug zur Region          hat er noch erzählt, wie hart es sei, sich auf
mit Ausweitung aufs Nationale. Vor allem junge Menschen fühlten       dem Kunstmarkt durchzusetzen: «Das Feld
sich von dem Format angezogen. Julian Denzler ist das wichtig.        hat sich brutal professionalisiert, die Konkur-
Er will vermitteln zwischen der Kunst, die für ihn kein isoliertes    renz ist gross, der Druck nach Sichtbarkeit in
Universum ist, und der Gesellschaft, deren Teil sie ist.              den sozialen Medien ist gestiegen. Gleichzei-
        Aber was macht Kunst zu Kunst? Wonach suchen Julian           tig, will man ein Werk kontinuierlich entwi-
Denzler und Christoph Bauer eigentlich? Was macht einen               ckeln, braucht es so etwas wie Fokus und
Künstler «besser» als den anderen? Julian Denzler schaut              Zurückgezogenheit.»
von einem Dossier auf, und sein sonst milder Blick hat etwas                  Diese findet Nadja Kirschgarten in
Strenges, als er antwortet: «Nach der künstlerischen Eigenstän-       ihrem alten renovierten Bauernhaus. Die
digkeit.» Zumindest sei das ein Kriterium. Aber ein entscheiden-      Räume sind hell gestrichen und minimalistisch
des. Es sind solche Momente, die einem zu verstehen geben, wie        dekoriert. Sie führt den Besuch in ein schma-
ernst er seine Arbeit nimmt.                                          les Zimmer, das ihr als Atelier dient. «Wobei
        Seine Wochenenden verbringt er damit, Kunstausstellungen      ich eigentlich im ganzen Haus male», sagt sie.
zu besuchen. «Wenn nicht gerade Fussball läuft», wirft er ein und     In der Mitte steht ein Tisch, bedeckt mit Tuben
zwinkert freundlich. Von Anfang an war es ihm wichtig, ein schar-     und Pinseln. Es riecht nach Terpentin und Öl-
fes Bild der lokalen Kunstszene zu erhalten. «Das gehört schliess-    farben. Derzeit arbeitet sie an den «fallenden
lich dazu, und darum bemühe ich mich aktiv», sagt er. Deshalb         oder schwebenden Pferden».
kennt er einige der Künstlerinnen und Künstler, die Teil der Aus-
stellung sein werden, persönlich. So wie Nadja Kirschgarten aus              KREATIVITÄT BRAUCHT
Stein am Rhein. Sie wird im Kunstmuseum Singen zu sehen sein.                VIEL FREIHEIT
        Zwei Wochen nach seinem Treffen mit Christoph Bauer
macht sich Julian Denzler auf den Weg zu ihr. Er will sie in Wagen-          Julian Denzler geht ungezwungen
hausen besuchen. «Ich fühle mich im Atelier eines Künstlers           umher. Tritt nah an die bemalten Leinwände
immer wie ein Spurensucher», sagt er, «es ist schön, wenn man         heran, verharrt einen Moment davor. Eines der
Neues entdeckt, etwas, das man mit dem bereits bestehenden            neueren Werke zeigt stilisiert einen grossen
Werk anscheinend nicht direkt in Verbindung bringen kann.» Er         und einen kleinen Laubbaum mit runder
rätsle dann immer gern: Wie passt das nun zusammen? Knüpft es         Krone. «Die haben ja meine Frisur», sagt
irgendwo an? Erwartungen lasse er bewusst aussen vor.                 er und lacht. Nadja Kirschgarten stimmt ein.
                                                                             «Und das da? Ist da eine neue Frauen-
      LOSGELÖST                                                       serie im Werden?», fragt Julian Denzler inter-
      VON VORBILDERN                                                  essiert und zeigt auf ein Blatt Papier mit flä-
                                                                      chigen Bleistiftzeichnungen. «Im Moment
       Nadja Kirschgartens Werke sind Julian Denzler zuerst in        gerade nicht … also, vielleicht, vielleicht auch
der Sammlung des Kunstvereins aufgefallen, dann bei einer Aus-        nicht», antwortet Nadja Kirschgarten. Als
stellung in Olten. Schliesslich ist er auf sie zugegangen und         Künstlerin hält sie so für sich Referenzpunkte
konnte sie für «Doppio III» gewinnen. Bei ihr spürt er stark diese    fest, die ihr später helfen sollen, einen einst
Eigenständigkeit, die er für sehenswert hält. Dabei geht es um das    angedachten Weg wieder aufzunehmen …
künstlerische Loslösen von Vorbildern. Man mag vielleicht die         oder eben auch nicht. Ihre «Bibliothek» nennt
Referenz noch erkennen, aber das Werk kann für sich bestehen.         sie das. «Kreativität braucht wahnsinnig viel
«Nadja ist ein gutes Beispiel dafür, dass ernsthafte Malerei über     Freiheit. Deshalb ist es nicht gut, sich zu stark
den Schönheitsbegriff hinausgeht. Oder anders: Es geht nicht nur      festzulegen. Sobald ich sie kontrollieren will,
um die Frage, ob man sich das Bild gern ins Wohnzimmer hängen         geht das auf Kosten der Qualität der Bilder.»
würde. Es geht um die verschiedenen Dimensionen, die es hat.»         Julian Denzler nickt verständnisvoll.

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