NEUE mobiliTÄT IN DER REGION STUT TGART

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NEUE mobiliTÄT IN DER REGION STUT TGART
APRIL 2014 | ausgabe 2

NEUE mobilITÄT IN DER REGION STUT TGART

  Persönliche Verbindung So funktioniert die Fahrgastinformation | Seite 16
  Bei Wind und Wetter Ansichten eines Ganzjahresradlers | Seite 20
  Elektrisierende Probefahrt Begegnung mit dem Tesla Model S | Seite 26
  Wo die Reise hingeht Interview über die Zukunft der Mobilitätsregion | Seite 8
NEUE mobiliTÄT IN DER REGION STUT TGART
Inhalt
 20                                                                 32                                                                  36

REPORTAGE NACHHALTIGES WIRTSCHAFTEN   Die Drei von der Stromstelle 4
INTERVIEW FRANZ LOOGEN UND WALTER ROGG Auf Augenhöhe mit den Besten 8

PORTRÄT DIE PROFESSORIN NEJILA PARSPOUR Fortschritt ist ihr Antrieb 12

THEMA BUS UND BAHN IM BLICK Pendeln nach Plan 16

ERFAHRUNGSBERICHT DAS FAHRRAD ALS ALTERNATIVE Von wegen armer Konrad 20

SELBSTVERSUCH UNTERWEGS MIT DEM NEUEN TESLA Elektrisierende Probefahrt 26

REPORTAGE EXOTEN DES NAHVERKEHRS Der Berg ruft 32

ESSAY ZEITENWENDE IM BALLUNGSRAUM Quo vadis Region Stuttgart? 36

AUS DER REGION PROJEKTE MIT POTENZIAL Ideen für heute und morgen 40

PORTRÄT DER PROFESSOR LUTZ FÜGENER Zukunft formen 44

Impressum
Herausgeber Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH (WRS) · Friedrichstraße 10 · 70174 Stuttgart · Telefon 0711 - 228 35-0 · nemo@region-stuttgart.de · www.region-stuttgart.de
Geschäftsführer Dr. Walter Rogg Verantwortlich Holger Haas Konzept und Redaktion Michael Ohnewald Gestaltung Michel Holzapfel/felantix.de Realisierung Lose Bande/www.lose-bande.de
Mitarbeit Alexandra Bading, Holger Haas Druck Bechtle Druck&Service GmbH & Co. KG Die Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH ist eine Tochter des Verbands Region Stuttgart.
Bildnachweis Reiner Pfisterer (1, 2, 4 –23, 28 – 36, 42 – 44, 47, 48) ); Verband Region Stuttgart (3); M.Häußermann (24); Tesla Motors (26, 31); SSB (41); Studio FT (46); Stuttgart Tourist (47)

DIE NÄCHSTE AUSGABE ERSCHEINT IM HERBST 2014

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NEUE mobiliTÄT IN DER REGION STUT TGART
Editorial
W
           as hat Detroit in den USA mit Stuttgart in good old Ger-
           many zu tun? Auf den ersten Blick nicht allzu viel. Auf den
           zweiten aber vielleicht doch eine ganze Menge. Detroit
war bis Mitte des 20. Jahrhunderts die bedeutendste Industriestadt
der Welt und stolze Wiege der amerikanischen Autoindustrie. Die
drei großen US-Autobauer General Motors, Ford und Chrysler pro-
duzierten an diesem Ort Fahrzeuge für die Welt, viele Zulieferer sie-
delten sich in einer Stadt an, die sich gerne mit dem Attribut „Motor
City“ schmückte. So legte sich Detroit in den fünfziger Jahren einen
gewaltigen Speckgürtel zu, 1,8 Millionen Einwohner hatten hier ihr
Zuhause. Lange her. Heute ist Detroit ein Schatten seiner selbst. Nur
noch 700.000 Menschen wohnen in der Autostadt, Tendenz fallend.
Fast 80.000 Gebäude stehen leer. Der Zahn der Zeit nagt an vielen
Bauten, Risse klaffen an den Wänden, Fenster sind zerbrochen. Fast
ein Drittel des Stadtgebiets gilt inzwischen als unbewohnbar.
     Der Niedergang der ehemaligen Autostadt Detroit ist das beste         [·] Dr. Walter Rogg                  [·] Dr. Nicola Schelling
Beispiel dafür, was passieren kann, wenn die Entwicklung verschlafen       Geschäftsführer Wirtschaftsförderung Regionaldirektorin
wird und man die Zeichen der Zeit ignoriert. Auch die Region Stuttgart     Region Stuttgart GmbH                Verband Region Stuttgart
lebt im Kern vom Auto, namhafte Firmen haben hier ihren Sitz, viele
Zulieferer partizipieren an einer Autoregion, in welcher die Arbeits-
plätze von mehr als 190.000 Menschen unmittelbar vom Wohl der              Im Angesicht solcher Dimensionen kann und darf es in den Mobili-
Mobilitätsindustrie abhängen. Keine Angst: Stuttgart ist nicht Detroit.    tätskonzepten von morgen nicht nur darum gehen, Modelle für we-
Auf absehbare Zeit sind weder die Arbeitsplätze noch der Wohlstand         niger Verkehr zu gestalten. Gefragt sind vielmehr intelligentere und
gefährdet. Aber gilt das auch in zehn oder zwanzig Jahren noch?            flexiblere Lösungen für alle. Es gilt, die Bedürfnisse der Menschen
     „Wer aufhört, besser zu werden, hat aufgehört, gut zu sein“, befand   mit den Anforderungen der Wirtschaft in Einklang zu bringen und
einst der Unternehmer Philip Rosenthal, der in Porzellan machte. Da-       gleichzeitig das Klima zu schonen. Dabei kommt den öffentlichen
mit solches nicht zu Bruch geht und die Region Stuttgart europaweit        Verkehrssystemen eine tragende Rolle zu. Andere Optionen heißen
ihre Rolle als Motor der Mobilität behält, gibt es vielfache Anstrengun-   Elektromobilität, Carsharing oder Fahrrad, um nur einige zu nennen.
gen, die gezielt gebündelt werden. Es geht darum, die Entwicklungen

                                                                           E
von morgen zu prägen und sich weitsichtig auf eine neue Zeit einzu-                ines steht freilich schon jetzt fest: In der historischen Zäsur, auf die
richten, die der alten nicht sehr gleicht. Vor diesem Hintergrund hat              wir gegenwärtig zusteuern, werden die einzelnen Verkehrsmittel
eines der vier bundesweiten „Schaufenster Elektromobilität“ in der                 zunehmend weniger in Konkurrenz zueinander stehen, sondern
Region Stuttgart und in Karlsruhe seine Heimat gefunden. 180 Kom-          sich besser ergänzen müssen. Obgleich das Auto weiterhin eine domi-
munen sind hier an einem gewaltigen Forschungs- und Entwicklungs-          nierende Rolle spielt, ändert sich vor allem in den größeren Zentren der
projekt beteiligt, das seinesgleichen sucht.                               Mobilitätsmix. Heute Carsharing, morgen Bahn, übermorgen E-Bike.
     Der Weg ist nicht vorgezeichnet. Wie er letztlich genau ver-          Mobilität wird immer öfter individuell und nach Bedarf kombiniert. Die
läuft, kann niemand mit Bestimmtheit sagen. Das Ziel ist es aber,          Kraft der sozialen Netzwerke wirkt für diesen Trend beschleunigend.
wichtige Koordinaten zu sammeln. Dafür gilt es, Entwicklungen zu               Städte und Gemeinden müssen sich neuen Mobilitätskonzepten
begleiten, Trends sichtbar zu machen und Projekte zu fördern, die          ebenso öffnen wie Verkehrsbetriebe und Autokonzerne. Begleitet wer-
das Zeug haben, unseren Alltag und unser Leben zukunftsweisend             den die 179 Kommunen in der Region Stuttgart dabei vom Verband
zu verändern. Das Auto bleibt dabei vorerst in der Pole-Position. In       Region Stuttgart, der sich gemeinsam mit der regionalen Wirtschafts-
den 27 EU-Ländern hat der Personenverkehr seit 1990 um ein gu-             förderung dem Ziel verschrieben hat, Impulse zu setzen und Ideen zu
tes Drittel zugenommen. Bis zum Jahr 2030 rechnet die Europäi-             vernetzen. Dabei ist die Information der Bevölkerung eine zentrale
sche Kommission mit einer Zunahme des Personenverkehrs um                  Aufgabe. Nachdem das Erstlingswerk für ein enorm positives Echo
ein weiteres Drittel. Allein in der Region Stuttgart werden jährlich       gesorgt hat, gehen wir diesen Weg mit der zweiten Ausgabe von nemo
rund 15 Milliarden Kilometer mit dem Auto zurückgelegt. Das bleibt         weiter. Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre eines Maga-
nicht ohne Folgen, wie allmorgendlich in den Staumeldungen zu              zins, das sich mit der Fahrgastinfo in Bussen und Bahnen ebenso be-
hören ist. Nicht nur im Nadelöhr am Stuttgarter Neckartor werden           schäftigt wie mit den Autos der Zukunft, hartgesottenen Ganzjahres-
die zulässigen Grenzwerte für Feinstaub regelmäßig überschritten.          radfahrern, alten Seilschaften und jungen Mobilitätstrends, auf dass
Stuttgart gilt als Stauhauptstadt Deutschlands und liegt im europä-        die Autoregion Stuttgart weiter die Nase vorn hat und niemals Gefahr
ischen Vergleich noch vor Metropolen wie London, Berlin oder Wien.         läuft, so zu enden wie die Motor City Detroit. [·]

                                                                                                                                               nemo 3
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REPORTAGE · NACHHALTIGES WIRTSCHAFTEN

      Die Drei von
      der Stromstelle
       Deutschlands erster mobiler Pflegedienst
       mit elektrischem Fuhrpark: Dieses Prädikat
       spart der Arbeiterwohlfahrt in Göppingen
       nicht nur einiges an Energiekosten, sondern
       rückt sie auch medial in den Fokus.
       TEXT MARKUS HEFFNER   FOTOS REINER PFISTERER

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REPORTAGE · NACHHALTIGES WIRTSCHAFTEN

E
       r summt wie ein Bienenschwarm, der                                                                  auch eine Kostenfrage ist. Die E-Smarts seien
       GP-AW2022, während er auf dem Hof                                                                   mit knapp 18.000 Euro pro Auto zwar zunächst
       rückwärts zwischen seine beiden Artge-                                                              in der Anschaffung teurer, betont er. Durch die
nossen rollt. Knapp 60 Kilometer lang war die                                                              Einsparung bei den Energiekosten würde sich
Runde, die er gerade zurückgelegt hat, wes-                                                                die Investition je nach Kilometerleistung aber
halb er sich jetzt erst einmal richtig vollsaugen                                                          schon nach knapp sechs Jahren amortisieren.
muss. Nicht mit Honig, sondern mit frischem                                                                    Im Falle der Göppinger Arbeiterwohl-
Ökostrom, der aus einer futuristisch anmu-                                                                 fahrt fahren die Elektro-Smarts nach dieser
tenden Kunststoffbox fließt, die an der Haus-                                                              vergleichsweise kurzen Betriebszeit sogar Ge-
wand hängt. Tankdeckel auf, Kabel aus dem                                                                  winne ein, wie Mario Schmidt errechnet hat.
Kofferraum, Klick, Klack. Den Elektro-Smart                                                                Weil die Awo an ihrem Haus am Rande des
aufzutanken ist für Alisa Dannenmann längst                                                                Göppinger Stadtzentrums gleichzeitig schon
zur vertrauten Routine geworden, wie der Griff                                                             seit Jahren eine Fotovoltaikanlage betreibt
zum Desinfektionsmittel. „Einfacher geht es                                                                und den damit gewonnenen Sonnenstrom zu
nicht“, sagt die 25-jährige Altenpflegerin.                                                                „sehr guten Konditionen“ verkauft, könnten die
     Drei schneeweiße Elektro-Smarts hat die                                                               Energiekosten fürs Auftanken weiter gesenkt
Göppinger Arbeiterwohlfahrt im November                                                                    werden, erklärt der gelernte Monteur und Fach-
2012 angeschafft – und sich damit gleichzeitig                                                             kaufmann, der das Projekt „E-Fuhrpark“ als
einen stolzen Titel erworben: Deutschlands            [·] Mario Schmidt setzt auf Innovation.              Abschlussarbeit bei seiner Weiterbildung zum
erster mobiler Pflegedienst mit elektrischem                                                               Technischen Betriebswirt entwickelt und dann
Fuhrpark. Die Idee dazu stammt vom stellver-          gen stellen. Und selbst die Patienten stünden        dem Vorstand der Awo vorgestellt hatte.
tretenden Geschäftsführer Mario Schmidt, der          zwischenzeitlich teilweise neugierig am Fens-

                                                                                                           S
sich Gedanken darüber gemacht hatte, „an wel-         ter um zu sehen, womit die Pfleger da vorfah-               chmidt konnte die Führungsetage des
chen betriebswirtschaftlichen Stellschrauben          ren, berichtet der 44 Jahre alte Betriebswirt.              Wohlfahrtsverbandes überzeugen, unter
ein soziales Unternehmen wie die Awo auch                  Augenfällig sind sie zweifellos, die Drei von          anderem mit einer simplen Rechnung:
angesichts zahlreicher Konkurrenz noch dre-           der Stromstelle, und zwischenzeitlich auch zu        Bei einer Laufleistung von 17.000 Kilometern
hen kann“, wie er sagt. Knapp 40 Pflegedienste        hören, seit sie als nachträgliche Sonderausstat-     im Jahr verursachen die drei Elektro-Fahrzeuge
bieten alleine im Landkreis Göppingen unter-          tung ein etwas lauteres Soundmodul verpasst          zusammen 1.290 Euro an Stromkosten. Abzüg-
schiedliche Leistungen in diesem Bereich an.          bekommen haben. Dieses sorgt für ein smartes         lich der Gutschrift von 875 Euro für den selbst
„Ein hohes Maß an Flexibilität und Mobilität          Summen, damit die Fußgänger nicht zu sehr            produzierten Strom stehen noch ganze 415 Euro
sind enorm wichtig, um konkurrenzfähig zu             erschrecken, wenn die E-Mobile auf leisen Rä-        Energiekosten für die drei E-Smarts pro Jahr in
bleiben“, betont Schmidt, der die drei Stromer als    dern um die Ecke rollen. „Dass das Auto kaum         der Ausgabenbilanz. Eine Summe, die im direk-
„Investition in die Zukunft“ sieht, die sich gleich   Geräusche macht, war am Anfang noch etwas            ten Vergleich überzeugt: „Für drei herkömm-
aus mehreren Gründen lohnt. Einerseits müsse          fremd“, sagt Alisa Dannenmann, die sich aber         liche Autos fallen bei gleicher Laufleistung
ein soziales Unternehmen auch einen Beitrag           bereits nach wenigen Tagen genauso an die            6.800 Euro Benzinkosten an“, sagt Schmidt, der
zum Klimaschutz leisten. Gleichzeitig spare           Stille gewöhnt hat wie an die spezielle Auto-        deshalb auch gemeinsam mit dem Geschäfts-
man unterm Strich einiges an Energiekosten.           matik mit ihren Raffinessen. Geht die Fahrt          führer Jürgen Hamann darüber nachdenkt, die
     Noch dazu fallen die weißen Flitzer auf          bergab, kann sie beispielsweise per Knopfdruck       hauseigene Fotovoltaikanlage zu einer autarken
wie die bunten Hunde, was ebenfalls nicht zum         steuern, dass über die Motorbremse Energie für       Stromversorgung auszubauen.
Schaden der Arbeiterwohlfahrt in Göppingen            die Batterie zurückgewonnen wird.                         Den beiden überzeugten Umweltschützern
ist. „Sie sind doch die mit den E-Smarts?“, hat                                                            und Mitgliedern des Göppinger Grünen-Kreis-

                                                      Z
ihn erst jüngst eine junge Frau am Telefon ge-              wischen 60 und 90 Kilometer fahren die         verbandes geht es bei alledem nicht zuletzt auch
fragt, die ein Freiwilliges Soziales Jahr leisten           Mitarbeiter der Awo jeden Tag auf ihren        um die Vorbildfunktion, die das E-Mobilitäts-
will – und sich dafür den Pflegedienst mit den              Runden zu den derzeit knapp 60 Pati-           Projekt, das von der Kreissparkasse Göppingen
schicken Smarts ausgesucht hat. Und auch Jo-          enten des Pflegeunternehmens, die teilweise          unterstützt wird, im gesamten Landkreis hat.
nathan Scheifele, der nach absolviertem Abitur        mehrfach am Tag auf Hilfe angewiesen sind,           „Wir haben als Unternehmen auch die Verant-
im September vergangenen Jahres mit seinem            beispielsweise Insulinspritzen und Medika-           wortung für unsere Umwelt, nicht nur eine
freiwilligen Jahr bei der Awo begonnen hat, ist       mente verabreicht bekommen, gewaschen,               soziale Pflicht“, sagt Schmidt, der sich darüber
nicht zufällig dort gelandet, wie der junge Mit-      rasiert und auf einen Spaziergang ausgeführt         freut, dass bereits durch die Umstellung auf drei
arbeiter, der unter anderem in der inklusiven         werden. Die wendigen Smarts mit ihrer Reich-         Elektro-Autos im Jahr 2013 etwa 4,5 Tonnen
Schulbetreuung eingesetzt wird, beim Einstel-         weite von bis zu 120 Kilometern pro Aufladung        Kohlendioxid vermieden werden konnten. „Das
lungsgespräch erzählt hat.                            eignen sich für diese Kurzstreckeneinsätze ide-      können wir noch steigern“, sagt er. Und auch die
     „Es hat sich herumgesprochen, dass wir           al. „Wir schaffen damit locker eine Tour, ohne       Mitarbeiter der Awo, derzeit sind 14 Pflegekräf-
hier besondere Autos haben“, sagt Schmidt,            zwischendurch Auftanken zu müssen“, sagt             te beschäftigt, würden sich über weitere sum-
der die Geschichte von den Hausbesuchen mit           Mario Schmidt, der nach den durchweg guten           mende Neuzugänge auf dem Hof der Göppinger
elektrischen Dienstfahrzeugen auch schon              Erfahrungen des ersten Jahres darüber nach-          Arbeiterwohlfahrt freuen. Anfangs habe noch
einigen Filmteams erzählt hat. Seit die drei          denkt, auch den restlichen Fuhrpark der Awo          Skepsis und teilweise sogar Angst vor der neuen
Smarts mit dem Aufdruck „electric drive“ auf          mit der Zeit auf Elektroantrieb umzustellen.         Technologie überwogen, sagt Schmidt. „Zwi-
dem Hof parken, würden immer wieder Pas-              Noch stehen 15 Autos auf dem Hof, die Benzin         schenzeitlich reißen sich die Mitarbeiter darum,
santen stehen bleiben und alle möglichen Fra-         tanken müssen, was für Schmidt nicht zuletzt         wer mit einem Elektro-Smart fahren darf.“ [·]

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NEUE mobiliTÄT IN DER REGION STUT TGART
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I N T E R V I E W · F R A N Z LOO G E N U N D W A L T E R R O G G

           Auf Augenhöhe
           mit den Besten
           Die Region Stuttgart bildet mit der Stadt
           Karlsruhe eines von bundesweit vier
           Schaufenstern für Elektromobilität.
           Mittlerweile sind 40 Forschungsprojekte
           angelaufen. Wirtschaftsförderer Walter Rogg
           und Franz Loogen von der Landesagentur
           für Elektromobilität ziehen Zwischenbilanz.
           I N T E R V I E W M A R K U S H E F F N E R U N D MI C H A E L O H N E W A L D   FOTOS REINER PFISTERER

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I N T E R V I E W · F R A N Z LOO G E N U N D W A L T E R R O G G

                                                             bilität existentiell wichtig. Wir haben im Jahr     die Gelegenheit, mitzureden und mitzumachen.
                                                             2,8 Milliarden Wege, die von Menschen in der        Wir müssen den Menschen die Möglichkeit ge-
                                                             Region zurückgelegt werden. Dabei kommen            ben, dass sie selber spüren, wie viel Spaß die
                                                             15 Milliarden Kilometer zusammen. Und bis           Technologie macht, mit welch positivem Image-
                                                             2030 wird der Verkehr laut Prognosen um ein         faktor Elektromobilität verbunden ist.
                                                             Drittel zunehmen. Wir müssen also schon al-
                                                             lein aus ökologischen Gründen auf E-Mobilität       Haben Sie ihre Bekannten und Nachbarn schon
                                                             und intermodalen Verkehr setzen.                    alle davon überzeugt?
                                                                                                                 Rogg: Zumindest wollten alle einmal selber mit
                                                             Loogen: Wir sind sehr stolz darauf, dass eines      so einem Elektromobil fahren, nachdem sie es
                                                             der vier bundesweiten Schaufenster in der           gesehen hatten, und alle waren hinterher rest-
                                                             Region Stuttgart und in Karlsruhe seine Hei-        los begeistert. Von der Beschleunigung, vom
                                                             mat gefunden hat. In der Summe sind nun 180         geräuschlosen Fahren, einfach von allem. Beim
                                                             Kommunen an dem Forschungs- und Entwick-            Kaufverhalten gibt es allerdings noch Spiel-
                                                             lungsprojekt beteiligt. Am Ende werden alle ge-     raum für Überzeugungsarbeit, was …
                                                             sellschaftlichen Gruppen davon betroffen sein
                                                             und ihren Nutzen daraus ziehen, auch Men-           … ja für viele Bürger gilt.
                                                             schen, die gar nicht Auto fahren. Eines unserer     Rogg: Daimlerchef Dieter Zetsche hat beim
[·] Franz Loogen, Chef der Landesagentur für                 größten Projekte ist die Service Card, mit der      Sommerempfang der Region Stuttgart gesagt:
Elektromobilität und Brennstoffzellentechnologie             man Carsharing machen kann, Pedelecs aus-           „Das Auto der Zukunft fährt elektrisch.“ Es ist
                                                             leihen, Bus und S-Bahn fahren, die Bankkarte        nicht das Wichtigste, wie schnell welche Zahlen
                                                             sein kann, Eintrittskarte fürs Schwimmbad           erreicht werden. Am Ende wird es so sein. Kein
Herr Loogen, als überzeugter Verfechter einer                und Leihausweis in der Bibliothek. Und wir          Mensch kann sich vorstellen, dass die nächste
nachhaltigen Mobilität sind Sie sicher auf um-               forschen an einem Energiehaus, das voll recy-       Milliarde Autos, die in Deutschland, Indien, Chi-
weltfreundlichem Weg angereist?                              clingfähig ist und so viel Energie erzeugt, dass    na oder Brasilien verkauft werden, wieder mit
Loogen: Das versteht sich von selbst, ich fahre              Menschen darin wohnen können, die Fahrzeu-          Diesel und Benzin fahren, also Verbrennungs-
nahezu immer elektrisch. Auf langen Strecken                 ge gespeist werden und sogar noch etwas ins         motoren haben. Das würde der Planet nicht
mit Hybridfahrzeugen, innerstädtisch rein                    Netz abgegeben werden kann. Und natürlich ist       überstehen. Die Entwicklung hin zu einer nach-
elektrisch oder mit dem Fahrrad. Heute bin ich               die gesamte Palette an E-Fahrzeugen vertreten,      haltigen Mobilität ist nicht aufzuhalten.
mit dem E-Smart unterwegs.                                   vom Pedelec über den PKW bis zum Hybridbus.
                                                                                                                 Loogen: Wir sind ja bereits in einer Phase ange-
Und Sie, Herr Rogg?                                          Im Herbst 2012 sind die ersten Projekte ange-       kommen, in der immer mehr unterschiedliche
Rogg: Für mich gilt das Gleiche, wobei ich sogar             laufen, wie fällt die Zwischenbilanz aus?           Fahrzeuge angeboten werden. Alleine in die-
noch Carsharing gemacht habe – Herr Loogen hat               Loogen: Die Menschen freuen sich, wenn sie in       sem Jahr kommen 14 neue Elektromobile von
mich mitgenommen. Nachhaltiger geht’s kaum.                  einen Hybridbus steigen, der völlig geräuschlos     deutschen Herstellern auf den Markt. Dabei
                                                             anfährt. Sie nehmen diese neue Generation an        zeichnet es sich deutlich ab, dass die Hybrid-
Machen Sie das aus Pflichtbewusstsein oder                   Fahrzeugen mit Stolz im Stadtbild wahr. Zwi-        modelle eine ganz wesentliche Rolle spielen
aus Überzeugung?                                             schenzeitlich gibt es bereits über 30 000 Nutzer,   werden. Autos, bei denen der elektrische An-
Rogg: Aus Spaß an der Sache. Ich fahre einfach               die sich bei den unterschiedlichen Anbietern        triebsanteil den Verbrennungsmotor immer
gerne mit einem Elektroauto. Bei meiner ersten               Elektroautos leihen. Und es gibt ein Ladesys-       stärker unterstützen wird.
Fahrt saß im Königsträßle vor mir plötzlich                  tem mit weit über tausend Ladepunkten. Wir
ein Eichhörnchen auf der Fahrbahn, das mich                  sind also bereits voll in der Nutzungsphase. Al-    Im Alltag ist leider noch vergleichsweise wenig
nicht bemerkt hat, weil ich völlig geräuschlos               lerdings reden wir immer noch von einem For-        Elektromobilität zu sehen. Warum sind die Elek-
ankam. Ich musste aussteigen und es verscheu-                schungs- und Entwicklungsprojekt. Es geht noch      troautos nicht längst Massenprodukt?
chen, damit ihm nichts passiert. Ein unver-                  nicht um Marktanteile und Massenproduktion.         Loogen: Wir vergleichen uns über alle Konti-
gessenes Erlebnis. Unabhängig davon hat die                                                                      nente hinweg mit den weltweiten Erfolgen auf
Wirtschaftsförderung Region Stuttgart zwi-                   Für die weitere Entwicklung entscheidend ist        diesem Gebiet und können sagen, dass wir so-
schenzeitlich nahezu ihren ganzen Fuhrpark                   auch, dass es gelingt, die Menschen mitzuneh-       wohl im Bereich Forschung wie auch bei der
auf Elektrofahrzeuge aller Art umgestellt.                   men. Wie wollen Sie das angehen?                    Industrialisierung der Elektromobilität auf
                                                             Rogg: Das ist der Kernpunkt. Die neue Technik       Augenhöhe mit den Besten agieren. Sie dürfen
Die Region Stuttgart steht beispielhaft für                  muss erfahrbar werden – im wahrsten Sinne des       dabei aber nicht übersehen, dass wir uns noch
den Wandel einer Automobilregion zur Mo-                     Wortes. Jeder soll die Chance bekommen, even-       bis Ende 2014 in einer Vorbereitungsphase be-
bilitätsregion. Davon zeugt das Schaufenster                 tuelle Vorbehalte zu überwinden, etwa in Bezug      finden, in der die Technologie entwickelt wird.
LivingLab. Versuchen Sie mal in zwei Sätzen zu               auf Reichweite, Sicherheit oder das Netz an La-     Gleichzeitig kommen derzeit auch außerhalb
sagen, was sich dahinter verbirgt.                           destationen. Wir wollen die Menschen am Tech-       solcher Projekte die ersten Fahrzeuge auf den
Rogg: Das Schaufenster dient zunächst dazu,                  nologiewandel aktiv beteiligen und ihre Mei-        Markt. Die großen Stückzahlen erwarten wir in
Produkte, Projekte und Ideen vorzustellen, die               nungen hören. Dafür haben wir das Web-Portal        den Jahren 2017 bis 2020 – bis dahin sollen laut
zeigen, wie Elektromobilität funktioniert. In                „Online Schaufenster Elektromobilität“ gestar-      Vorgabe eine Million Plug-In Hybrid- und Elek-
einem verkehrsreichen Ballungsraum wie der                   tet. Hier gibt es nicht nur umfangreiche Infor-     trofahrzeuge zugelassen sein. Dann wird der
Region Stuttgart ist das Thema nachhaltige Mo-               mationen zu den Projekten, sondern wir bieten       Anteil sukzessive weiter steigen. Das ist auch

10 nemo
notwendig, weil Deutschland die von der EU          festgelegt. Aber auch in den Kommunen muss
beschlossenen CO2-Grenzwerte gar nicht ein-         der Wille da sein, die neue Technologie zu nut-
halten kann ohne Elektrifizierung der Antriebe.     zen, sich mit seinen jeweiligen Möglichkeiten
                                                    zu beteiligen.
Der Technologiewandel zur Elektromobilität
wird nicht nur als Chance für den Wirtschafts-      Wo sehen Sie Potential?
standort gesehen, sondern auch als Bedrohung.       Loogen: Beispielsweise müsste der Öffentliche
Immerhin erwirtschaftet die Autoindustrie auf       Nahverkehr viel stärker genutzt werden. Der
konventionellem Weg seit Jahrzehnten enorme         tägliche Pendlerverkehr nach Stuttgart und
Gewinne. Wie überzeugen Sie die Skeptiker?          wieder hinaus ist immens. Wir haben uns vor
Rogg: Gerade weil so viel an der Automobilindu-     Ort angesehen, wie die großen Städte in Korea,
strie hängt, sind Projekte wie diese so wichtig.    China oder Japan mit diesem Thema umgehen.
Der Niedergang der ehemaligen Autostadt De-         An diesen Beispielen können wir noch viel ler-
troit ist das beste Beispiel dafür, was passieren   nen. In diesen Ballungsräumen spielt der Nah-
kann, wenn die Entwicklung verschlafen wird         verkehr eine viel wichtigere und tragendere
und man die Zeichen der Zeit ignoriert. Jetzt       Rolle im Alltag der Menschen.
kann die Stadtverwaltung der einst reichen
Metropole nicht einmal mehr die Müllabfuhr          Rogg: Herr Loogen hat unbedingt recht. Laut Sta-
bezahlen. In der Region Stuttgart haben derzeit     tistik sind in der Region 75 Prozent der Beschäf-     [·] Dr. Walter Rogg, Geschäftsführer der
190.000 Menschen ihren Arbeitsplatz in der          tigten Pendler. Und die überwiegende Mehrheit         Wirtschaftsförderung Region Stuttgart
Mobilitätsindustrie. Die sind nicht morgen oder     fährt mit dem Auto zur Arbeit. Bei einer Million
übermorgen in Gefahr, aber vielleicht in zehn       Beschäftigten macht das 750.000 tägliche Pend-
Jahren. Also müssen wir rechtzeitig schauen,        ler auf der Straße. Und das ist längst nicht alles.   ausreichend preiswert. Umsteigen wird zur
wo der Trend hingeht, womit künftig Geld in         Der Berufsverkehr macht nämlich nur 30 Pro-           Selbstverständlichkeit. Die Fuhrparks und
der Mobilitätswirtschaft verdient wird.             zent am Gesamtanteil aus, die übrigen 70 Pro-         Privathaushalte werden voll sein mit Hybrid-
                                                    zent werden durch den so genannten Freizeit-          modellen und Elektroautos. Und die Menschen
Nämlich womit?                                      verkehr verursacht. Nicht zuletzt, um die Region      werden viel mehr mit Bus und Bahn oder auch
Rogg: Ich halte es beispielsweise für unbedingt     bei diesem wichtigen Thema voranzubringen,            dem Fahrrad unterwegs sein als heute.
nötig, neben dem reinen Fahrzeugbau den Be-         haben wir das Förderprogramm für nachhaltige
reich der Mobilitäts-Dienstleistungen voran-        Mobilität ins Leben gerufen.                          Rogg: Und noch ein anderer Gedanke. Ich glau-
zutreiben und zu stärken. Dieses Thema wird                                                               be, dass die Menschen sich im Jahr 2030 viel
eine immer wichtigere Rolle spielen, etwa die       Was sind die nächsten Schritte im Schaufenster?       umweltbewusster verhalten werden. Die Ener-
Informationstechnologie, angefangen bei den         Rogg: Nachdem alle Projekte genehmigt sind,           giewende wird ein gutes Stück realisiert und
intermodalen Navigationssystemen, die den           beginnt jetzt die spannende Phase der Um-             die Frage beantwortet sein, woher der Strom
Nutzern über alle Verkehrsträger hinweg ihre        setzung. Und dann freuen wir uns auch schon           kommt. Nämlich aus nachhaltigen Quellen. Alle
Wege suchen. Solche Systeme müssen ent-             auf die ersten Ergebnisse. Das Schöne dabei           Lebens- und Arbeitsbereiche werden verstärkt
wickelt, eingeführt und verkauft werden und         ist, dass in diesem Fall richtiges Handeln auch       mit Umweltthemen wie Energieeffizienz oder
wenn Baden-Württemberg dabei Standard               noch Spaß macht. Wann hat man das schon?              Schadstoffvermeidung zu tun haben. Und es
bleiben will, brauchen wir einen Markt dafür.                                                             wird viele neue Arbeitsplätze in diesem Umfeld
Als Wirtschaftsförderer bin ich daher froh,         Loogen: Die Schaufensterprojekte laufen bis           geben, gemäß dem griffigen Slogan: „Mit grünen
dass über die Hälfte der Bürgermeister im Land      Anfang 2016. Bis dahin werden alle Forschungs-        Ideen schwarze Zahlen schreiben.“ Das ist auch
hinter diesem Thema stehen und eigene Projek-       projekte und ihre Ergebnisse die Technologie ein      meine Vorstellung einer mobilen Zukunft. [·]
te auf den Weg bringen. Genau das sichert letzt-    gutes Stück weiterbringen. Und in der Anwen-
lich die Arbeitsplätze.                             dung werden sie dafür sorgen, dass wir sehr viel       Schaufenster Elektromobilität
                                                    mehr Sicherheit bekommen, wie man Elektromo-           Das Schaufenster Elektromobilität LivingLab BWe
Loogen: Nur wer Veränderungen selber voran-         bilität künftig besser am Markt verankern kann.        mobil führt einem breiten Publikum vor Augen,
treibt und vorne dabei ist bei einem Technolo-      Deutschland, insbesondere Baden-Württemberg,           dass nachhaltige Mobilität schon heute erfahrbar
giewandel, kann später auch davon profitieren       steht in Sachen Know-how mit Japan und den             ist. Ziel des Projektverbunds, der von der Landes-
und sich signifikante Marktanteile sichern. Es      USA gemeinsam an der Spitze. Jetzt müssen wir          agentur für Elektromobilität und Brennstoffzel-
ist wichtig, dass in Forschung und Entwicklung      daraus eine Spitzenposition in Wirtschaftskraft        lentechnologie e-mobil BW GmbH und der Wirt-
investiert wird. Baden-Württemberg muss             und Marktanteil machen.                                schaftsförderung Region Stuttgart koordiniert
aber unbedingt auch Produktionsstandort blei-                                                              wird, ist die Erarbeitung vernetzter Mobilitätssys-
ben. Nur dann werden wir auch in Zukunft eine       Wie sieht die Mobilität im Ballungsraum am Ne-         teme. Bis 2015 werden in der Region Stuttgart und
Führungsposition haben. Die öffentliche Hand        ckar wohl im Jahr 2030 aus? Wagen Sie doch bitte       der Stadt Karlsruhe über 2.000 E-Fahrzeuge auf
zeigt dabei wie viele private Unternehmen auch      einmal einen Blick in die Zukunft.                     die Straße gebracht und über 1.000 Ladepunkte
schon etliche vorbildliche Ansätze, etwa im Be-     Loogen: Immer mehr Menschen werden ih-                 installiert. Gebündelt werden die Aktivitäten von
reich der Dienstwagenflotten. Es gibt einen Ka-     ren Verkehrsweg über das Smartphone oder               mehr als 100 beteiligten Partnern aus Wirtschaft,
binettsbeschluss, dass bis 2020 zehn Prozent        ein vergleichbares Gerät organisieren. Und             Wissenschaft und der öffentlichen Hand.
des Landesfuhrparks elektrifiziert sein müs-        sie werden dabei verstärkt unterschiedliche            www.e-mobilbw.de
sen. Außerdem wurden interne CO2-Grenzen            Verkehrsmittel nutzen – wohl organisiert und           www.livinglab-bwe.de

                                                                                                                                                 nemo 11
P O R T R Ä T · D I E P R O F E S S O R I N N E J IL A P A R S P O U R

12 nemo
Fortschritt ist
ihr Antrieb
Nejila Parspour versucht der Zeit voraus zu
sein: An der Universität Stuttgart lehrt sie
Elektrotechnik und forscht an effizienten
E-Motoren und kabellosem Energietransfer.
TEXT MARKUS HEFFNER   FOTOS REINER PFISTERER

                                               nemo 13
P O R T R Ä T · D I E P R O F E S S O R I N N E J IL A P A R S P O U R

E
       ine Forscherin aus Leidenschaft ist Nejila                 zu studieren begann, lag der Anteil an Ingenieu-     schung und Wachstum umweltfreundlich und
       Parspour schon immer gewesen, lange                        rinnen im Iran bei 25 Prozent – zwischenzeit-        nachhaltig sein soll, sagt sie: „Elektrisch ange-
       bevor sie sich auf diesem Gebiet Meriten                   lich sind es sogar über 50 Prozent. Warum die        triebene Fahrzeuge in Kombination mit rege-
und akademische Titel verdient hat. Schon als                     Frauen in ihrer Heimat schon immer selbstver-        nerativen Energiequellen dienen dazu, diesem
Schulkind hat sie diesen unbändigen Drang in                      ständlich naturwissenschaftliche Fächer wie          Ziel ein gehöriges Stück näher zu kommen.“
sich verspürt, den Dingen auf ihre Weise auf                      Maschinenbau oder Elektrotechnik studieren,               Auch die 49 Jahre alte Wissenschaftlerin
den Grund zu gehen, Maschinen aller Art zu                        kann sie sich auch nicht wirklich erklären. Fi-      hat einst einigen Antrieb benötigt, um ihrem
zerlegen, um zu verstehen, was sie antreibt.                      nanzielle Unabhängigkeit sei wichtig für Frau-       Ziel nahe zu kommen. Weil nach der islami-
Ihr erstes Forschungslabor war das Haus ih-                       en im Iran, die sehr kämpferisch seien, sich         schen Revolution im Iran und dem Ende des
rer Großmutter im Iran, die ihrer neugierigen                     behaupten und etwas im Leben erreichen wol-          Schahregimes Ende der 70er Jahre die Uni-
Enkelin erlaubt hat, mit dem Schraubenzie-                        len, sagt sie. Das Interesse für Technik werde       versitäten im Land für lange Zeit geschlossen
her auf Staubsauger, Kassettenrekorder und                        zudem schon in der Schule geweckt, in der auch       waren, hatte die junge Frau keine andere Wahl,
Saftmaschinen loszugehen. „Strom und elek-                        Mädchen Löten und Sägen lernen.                      als im Ausland zu studieren. Viele Möglich-
trische Geräte haben mich schon als Kind fas-                          Den Lötkolben nimmt sie derweil noch heu-       keiten gab es aus politischen Gründen nicht:
ziniert und ich wollte unbedingt wissen, wie                      te gern in die Hand, ihre „Bastelstunde“ nennt       Österreich, die Schweiz, Deutschland. Nejila
sie funktionieren“, sagt die Professorin der Uni                  sie das. Wie sehr sie das braucht, die handfeste     Parspour landete zunächst in Budapest, wo
Stuttgart, deren gutmütige Großmutter damals                      Beschäftigung mit Technik, hat sie während           sie 14 Monate auf ihr Visum warten musste. Ab
mitunter den Techniker rufen musste, weil die                     ihres fünfjährigen Ausflugs in die Industrie         und zu erreichte sie etwas Geld, das ihre Eltern
Zehnjährige in ihrem Forscherdrang nicht im-                      gemerkt, bei Philips in Hamburg, wo sie von          aus der Heimat schickten. Ansonsten war die
mer alles wieder zusammengebracht hat. Als                        der Abteilungsleiterin schnell in die oberste        Iranerin im Exil weitgehend auf sich alleine ge-
nach etlichen Experimenten kein Elektriker                        Managementetage aufgestiegen war. Glücklich          stellt. „Ich habe eine ganze Woche lang an der
mehr im Haus gebraucht wurde und die Schüle-                      geworden ist sie dabei allerdings nicht. „Ich        Donau gesessen und nur geweint“, erzählt sie.
rin problemlos auch den elektrischen Türöffner                    habe nur noch geleitet und delegiert, war völlig

                                                                                                                       G
der Nachbarn reparieren konnte, habe sie ihrer                    weg von der Technik, der Antrieb hat immer                    eholfen haben schließlich die Gene.
Großmutter eröffnet, erzählt sie, eines Tages                     mehr gefehlt“, erzählt die Professorin, die also              Von der Linie des Vaters, der Agrar-
Elektrotechnik zu studieren.                                      dem Ruf ihres Herzens folgte und sich für den                 wissenschaftler im iranischen Mi-
     Mehr als drei Jahrzehnte später ist Nejila                   schwierigen Weg zurück von der Industrie an          nisterium war und fast jedes Jahr mit der
Parspour eine gefragte Expertin in Sachen E-                      die Hochschule entschied. An der Uni Bremen          ganzen Familie umziehen musste, hat Nejila
Mobilität, eine erfolgreiche und renommierte                      begann sie zunächst ihre wissenschaftliche           Parspour die Entschlossenheit geerbt. Müt-
Forscherin, deren Arbeiten am neu geschaffe-                      Karriere als Oberingenieurin, bevor sie sich         terlicherseits hat sie den Geist der Wissen-
nen Institut für Elektrische Energieumwand-                       2006 an der Stuttgarter Universität auf eine         schaftler mitbekommen, die Fähigkeit, noch
lung weltweit Aufmerksamkeit erfahren.                            Professorenstelle bewarb und auf Anhieb ge-          so große Probleme in Ruhe zu analysieren.
Entwickelt werden hier unter anderem hoch-                        nommen wurde. Dort, auf dem Campus in Vai-           Fast alle im Stammbaum waren Mediziner,
effiziente E-Motoren und kontaktlose Energie-                     hingen, leitet sie nun seit 2011 das neu gegründe-   Philosophen und Physiker, wie etwa Onkel
übertragungssysteme, die in verschiedenen                         te Institut für Elektrische Energieumwandlung.       George, das große Vorbild, der nach New
Anwendungsfeldern einsetzbar sind – wie                                Maschinen aller Art und die berührungslo-       York auswanderte und als junger Student
beispielsweise im Bereich Medizintechnik, In-                     se Übertragung elektrischer Energie sind dabei       einen Kaffee mit Einstein getrunken hat.
dustrieautomation und Elektromobilität. Bei                       nicht nur ihr Spezialgebiet, sondern auch ihre       Von dieser Mischung an Eigenschaften an-
allem Praxisbezug sei es ihr aber besonders                       große Leidenschaft, wie sie bekennt. Auch in         getrieben, setzte sich die junge Frau an den
wichtig, betont die Professorin, „dass nicht                      ihrer Freizeit schraubt und lötet die Naturwis-      Vormittagen mit einem alten DDR-Buch hin
nur die anwendungsorientierte Entwicklung                         senschaftlerin am liebsten in ihrer Werkstatt        und brachte sich selbst Deutsch bei. Nach-
vorangetrieben wird, sondern auch eine inten-                     an komplizierten Maschinen und brütet neben-         mittags ging sie in die Bibliothek und lern-
sive Grundlagenforschung erfolgt“. Nur mit                        bei über physikalischen Phänomenen wie der           te Mathe und Physik. Und abends drehte
einer soliden Basis, sagt sie, seien innovative                   Relativitätstheorie oder macht sich Gedanken         sie ihr kleines Transistorradio an, um das
Entwicklungen für die Zukunft möglich.                            über die Zukunft der Elektromobilität. Trotz         Nachtprogramm der ARD zu hören, meist
                                                                  der noch geringen Reichweite seien die umwelt-       den saarländischen Rundfunk, damit sie an

D
         er Rückblick auf die Geschichte der ge-                  freundlichen Stromer bereits heute eine echte        ihrer Aussprache arbeiten konnte. „Eines
         bürtigen Iranerin führt an die Techni-                   Alternative für den urbanen Verkehr, betont          Tages“, so erinnert sie sich, „ist dann endlich
         sche Universität Berlin, an der sie einst                sie. Prädestiniert seien dafür insbesondere öf-      der Brief von der deutschen Botschaft ge-
an ihrem ersten Vorlesungstag voller Erwar-                       fentliche Verkehrsmittel, Zweitwagen sowie           kommen und ich durfte nach West-Berlin.“
tungen die Treppen zum Hörsaal hinaufstieg                        Flottenfahrzeuge von Dienstleistern und Un-               Noch immer liebt sie den Geruch von Ma-
– und dann voller Schrecken in der Türe stehen                    ternehmen. Im privaten Personenverkehr dage-         schinenöl und das Brummen der Motoren und
blieb: 600 Studenten im Hörsaal, darunter keine                   gen komme die Einführung von E-Fahrzeugen            Generatoren wie Musikliebhaber eine Sympho-
einzige Frau. „Es saßen nur Jungs im Hörsaal.                     leider nur schleppend voran, da die Entwick-         nie von Beethoven. Jedes Gerät ist ein kleines
Ich bin extra nochmal raus, um auf das Schild                     lung jahrzehntelang teilweise vernachlässigt         Kunstwerk für sie, eine Komposition in Metall.
zu schauen, ob ich in der richtigen Vorlesung                     worden sei, so Nejila Parspour. „Ich bin aber        Ein paar Dutzend solcher Miniaturmotoren hat
bin, Physik für Elektrotechniker“, erzählt sie.                   sehr zuversichtlich, dass hier in den nächsten       sie in ihrem Büro auf einer Vitrine stehen, an
Es war eine „heftige Überraschung“ für die                        fünf bis zehn Jahren eine positive Entwicklung       der Wand gegenüber hängt ein Bild vom Ham-
junge Frau, die aus ihrer Heimat ganz anderes                     eintreten wird.“ Inzwischen sei unbestritten,        burger Hafen, Maschinenromantik mit Fracht-
gewohnt war. 1985, als Nejila Parspour in Berlin                  dass moderne Mobilität als Antrieb für For-          kränen. Ihr liebster Ort an der Stuttgarter Uni

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liegt aber einige Etagen tiefer. Die große Maschinenhalle mit ihren Prüf-
ständen, Messgeräten und anderen Apparaturen ist das Herz des Insti-          „Strom und elektrische
tuts, der Antrieb und große Unterschied zu anderen vergleichbaren Lehr-
anstalten. „Die Ausstattung unseres Instituts ist großartig“, sagt sie. Von   Geräte haben mich schon
unschätzbarem Vorteil ist zudem, dass im Bereich der Elektrotechnik
namhafte Weltmarktführer ihren Standort in der Region haben, darunter         als Kind fasziniert.“
auch kleine Firmen, wovon die Uni extrem profitiere, so die Professorin.
Nicht von ungefähr bekommt das Institut regelmäßig Forschungsaufträ-
ge, die sich einerseits bezahlt machen und für die Studenten obendrein        Ideen schon etliche Preise gewonnen hat, darunter auch den Übermorgen-
viel spannender und lehrreicher sind als Trockenübungen im Labor.             macher-Preis des Landes Baden-Württemberg für eine Technik, die das
     Ein Motor, der ohne Getriebe auskommt, wurde an diesem Ort eben-         Aufladen von Elektroautos während der Fahrt ermöglichen könnte.
so entwickelt wie eine Steuerung für einen Motor ohne Sensoren. Mit dem

                                                                              S
Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt tüfteln Nejila Parspour und                eit dem Wintersemester 2012/2013 gibt es an der Uni Stuttgart
ihre wie sie findet „großartigen“ wissenschaftlichen Mitarbeiter momen-              nun den neuen Master-Studiengang Elektromobilität, dessen
tan an der kontaktlosen Übertragung von Energie auf Schnellzüge, ein vom             Studiendekanin natürlich Nejila Parspour heißt. Vor zwei Jah-
Bund gefördertes Projekt namens „The Next Generation Train“. Gleichzei-       ren hat die Professorin an ihrem Institut eine Lern- und Forschungs-
tig wird an dem Institut derzeit neben der Entwicklung von kabellosen,        werkstatt eingerichtet, in der Studierende und Institutsmitarbeiter
induktiven Ladesystemen für E-Autos an zwei weiteren Industrieprojekten       verschiedener Disziplinen „mit großer Begeisterung und viel Eigen-
gearbeitet, bei denen es um einen sehr speziellen Motor mit hoher Dreh-       initiative“ zusammenarbeiten, um innovative und effiziente E-Fahr-
momentdichte für E-Bikes und Kleinwagen geht. Und in naher Zukunft            zeuge der Zukunft zu entwickeln und praxisnah auszuprobieren, so
soll hier an der Entwicklung energieeffizienter Motoren für Roboter und       die Forscherin aus Leidenschaft, die auf ihre Weise immer unter
Nutzfahrzeuge geforscht werden. „Wenn man etwas entwickeln und bauen          Strom steht und dabei vor allem von einem Gedanken angetrieben
kann, das auch praktisch eingesetzt wird, läuft man nicht Gefahr, sich im     wird: „Wir haben hier und heute die einmalige Chance, die Mobilität
Elfenbeinturm zu verlieren“, sagt die Professorin, die für ihre innovativen   von morgen entscheidend mitzugestalten.“ [·]

                                                                                                                                        nemo 15
T H E M A · B U S U N D B A H N IM BLI C K

          Pendeln nach Plan
          Wer wissen will, ob seine S-Bahn pünktlich
          kommt, kann dies heute auf vielen Wegen
          erfahren. Immer mehr Pendler lassen sich
          die Abfahrtszeiten auf dem Handy anzeigen.
          Einblicke ins System Fahrgastinformation.
          T E X T M A R K U S H E F F N E R U N D MI C H A E L O H N E W A L D   FOTOS REINER PFISTERER

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T H E M A · B U S U N D B A H N IM BLI C K

                                                                                    Zu verdanken hat der Musikschul-        unterwegs sind – bis zu 52 gleich-
                                                                                    lehrer dieses neue Lebensgefühl         zeitig in Spitzenzeiten. Dazu be-
                                                                                    einer App, die er sich zusammen         kommen sie angezeigt, ob und wie
                                                                                    mit zwischenzeitlich schon mehr         viele Minuten einzelne Bahnen
                                                                                    als einer halben Million Bahnfah-       Verspätung haben.
                                                                                    rern auf sein Handy geladen hat.             Gleichzeitig können an den
                                                                                    Sie kennt sämtliche Verbindungen        Arbeitsplätzen auch Livebilder
                                                                                    von Bus, Stadtbahn und S-Bahn           von rund 70 Haltestellen in der
                                                                                    im VVS-Verbund, rechnet ihm die         Region aufgeschaltet werden. Die
                                                                                    günstigsten Anschlüsse aus und          restlichen zwölf Stationen sollen
                                                                                    zeigt vor allem in Echtzeit die je-     bis zum Sommer mit Kameras
                                                                                    weils aktuellen Abfahrtszeiten an.      ausgestattet werden. „Für eine

                                             S
                                                   einen Morgenkaffee kann          „Information ist alles“, sagt Win-      gute Fahrgastinformation ist es
                                                   Helmut Winter neuerdings         ter. Und alles ist Information. Jede    manchmal wichtig, einen Blick
                                                   in aller Ruhe austrinken.        Verspätung, jede Störung, jede          direkt auf die Bahnsteige zu ha-
                                             Kein Grund für übertriebene Eile.      Fahrplanänderung.                       ben“, sagt Nikolaus Hebding, der
                                             Und auch den Weg zwischen                   „Unser Ziel muss sein, die         zuständige Leiter des Bahnhofs-
                                             Stadtbahnhaltestelle und Bahn-         Fahrgäste auf allen Kanälen mit         managements Stuttgart.
                                             hof muss er nicht mehr auf gut         allen relevanten Informationen zu            Mehr als fünf Millionen Euro
                                             Glück im Laufschritt zurücklegen.      versorgen“, erklärt Jürgen Wurmt-       sind bisher schon in den Ausbau der
                                             Getrieben von der Sorge, etwas zu      haler vom Verband Region Stutt-         Fahrgastinformation gesteckt wor-
                                             verpassen, einen Moment zu spät        gart (VRS), dem politisch verant-       den, in Bildschirmarbeitsplätze,
                                             dran zu sein. Die meist unnötige       wortlichen Aufgabenträger für           Kameras, größere Datenleitungen
                                             Hektik am Morgen gehört der Ver-       den S-Bahn-Verkehr in der Region.       und zusätzliches Personal. Ziel sei
                                             gangenheit an, seit sich der Berufs-   Eine verspätete S-Bahn sei schon        letztlich, so Hebding, das gesamte
                                             pendler schon am Frühstückstisch       ärgerlich genug. „Da müssen die         S-Bahn-Netz lückenlos vom An-
                                             minutengenau anzeigen lassen           Fahrgäste wenigstens ganz genau         sagezentrum aus mit relevanten
                                             kann, wann seine S-Bahn vom            wissen, wann und wie es weiter-         Reiseinformationen zu beliefern,
                                             Feuerbacher Bahnhof nach Lud-          geht“, betont der Verkehrsdirektor,     sowohl über die Anzeigetafeln und
                                             wigsburg fährt, wann die Stadt-        der die mobilen Angebote selber         die Laufbänder an den Haltestellen
                                             bahn kommt, in die er zuvor noch       täglich nutzt und neben der weit        als auch per Lautsprecheranlage.
                                             einsteigen muss, und ob es an die-     verbreiteten VVS-App auch die

                                                                                                                            B
                                             sem Morgen irgendwelche Verspä-        etwas neuere Anwendung „Navi                    ereits jetzt übernehmen die
                                             tungen im Nahverkehrsnetz gibt.        S-Bahn Stuttgart“ auf seinem                    Mitarbeiter in der Zentrale
                                             „Das Leben ist damit sehr viel ent-    Smartphone laufen hat – ein wei-                etwa 80 Prozent der Ansa-
                                             spannter geworden“, sagt Winter.       terer Beitrag zur morgendlichen         gen, die per Mausklick vom Band
                                                                                    Entspannung. Ist seine „Stamm-          eingespielt oder speziell für einzel-
                                                                                    bahn“, mit der er täglich um 7.26       ne Bahnhöfe direkt ins Mikrofon
                                                                                    Uhr von Renningen nach Stuttgart        gesprochen werden. „Wegen eines
                                                                                    fährt, wegen einer Störung aus dem      Notarzteinsatzes verspätet sich
                                                                                    Takt, meldet sich automatisch der       die S 1 nach Kirchheim/Teck heu-
                                                                                    Verspätungsalarm. „Komfortabler         te um fünf Minuten.“ Den Rest der
                                                                                    geht es kaum“, sagt Wurmthaler.         Ansagen erledigen derzeit noch
                                                                                         Das mobile Angebot via             die jeweiligen Fahrdienstleiter der
                                                                                    Smartphone ist die derzeit mo-          Stellwerke, die früher im Störungs-
                                                                                    bilste Variante im weiten Feld der      fall neben ihrem eigentlichen Job
                                                                                    Fahrgastinfos, dabei aber nur eine      auch noch für die gesamte Fahr-
                                                                                    von vielen. Das Herz der Fahrgast-      gastinformation zuständig waren.
                                                                                    information schlägt im Stuttgarter      „Die Philosophie von heute ist, das
                                                                                    Hauptbahnhof, im so genannten           eigentliche Störfallmanagement
                                                                                    regionalen Ansagezentrum, das           und die Informationsversorgung
                                                                                    einst zur Fußball-WM 2006 einge-        personell zu trennen, damit sich
                                                                                    richtet worden ist. Mittlerweile sit-   jeder voll auf seinen wichtigen Be-
                                                                                    zen die Mitarbeiter der Bahn hier       reich konzentrieren kann“, erklärt
                                                                                    an vier Arbeitsplätzen mit jeweils      Nikolaus Hebding. „Wer mit Hoch-
                                                                                    einem guten Dutzend an Bild-            druck Weichen stellen und Züge
                                                                                    schirmen, über die Informationen        umplanen muss, kann nicht noch
                                                                                    aller Art flimmern. Auf dem Stre-       gleichzeitig Fahrgäste über Ver-
                                                                                    ckenspiegel sehen sie, welche Züge      spätungen informieren.“ Der Auf-
[·] Im Ansagezentrum des Hauptbahnhofs laufen die Informationen zusammen.           aktuell auf der Stammstrecke            wand, der bei der Suche nach den

18 nemo
[·] Jürgen Wurmthaler, Direktor für Wirtschaft und Infrastruktur beim Regionalverband mit Nikolaus Hebding, dem Leiter des Bahnhofsmanagements in Stuttgart.

verlorenen Minuten betrieben wird, ist enorm.        Bahnfahrer muss im Störungsfall auch darüber           nur die Anforderungen im Nahverkehr werden
Über Transportleitungen werden die aktuel-           informiert werden, wie er wieder weg kommt             immer höher, weiß Wurmthaler, sondern vor al-
len Koordinaten sämtlicher S-Bahnen im Netz          und wann. Das ist um einiges anspruchsvoller.“         lem auch die Ansprüche der Fahrgäste, die Zu-
zunächst permanent an die Bahn-Verkehrslei-                                                                 hause am Computer informiert werden wollen,

                                                     U
tung in Karlsruhe übermittelt, dem zentralen                  m die letzten Lücken im System zu schlie-     unterwegs per Smartphone oder eben direkt
Schaltknoten für die Netzinfrastruktur. Von                   ßen und auf wirklich allen Kanälen die        im Bus. „Eine dynamische Fahrgastinfo wird
dort aus werden die gewaltigen Datenmengen                    gleichen Informationen an die Fahrgäste       nicht mehr als besonderer Service gesehen“,
dann weiterverteilt, unter anderem an das            liefern zu können, soll die Infrastruktur konse-       sagt der Leitende Direktor, „sondern als zwin-
Stuttgarter Ansagezentrum im Hauptbahnhof.           quent weiter ausgebaut werden. Vor diesem Hin-         gende Voraussetzung.“ Nicht von ungefähr hat
     Derzeit laufen die Informationen teilwei-       tergrund wurde erst Ende vergangenen Jahres            der Verband Region Stuttgart daher ein Förder-
se noch über verschiedene Computerkanäle.            ein vierter Arbeitsplatz im regionalen Ansage-         programm aufgelegt, damit auch die Bushalte-
Ziel sei aber, so Jürgen Wurmthaler, sämtliche       zentrum eingerichtet, in dem jetzt 19 Mitarbeiter      stellen in der Region mit Anzeigetafeln bestückt
Fahrgastinformationen auf Basis der gleichen         im Schichtbetrieb Fahrgastinformationen ver-           werden – was sich in Waiblingen und Korntal
Daten gleichzeitig auf alle Systeme zu verteilen,    teilen. Dazu ist die Bahn derzeit unter anderem        bereits bewährt hat. „Wir zahlen als Anreiz ei-
damit nicht beispielsweise die Elektronische         dabei, bis 2016 knapp 60 S-Bahnen nachzurüsten         nen Zuschuss an den Kosten“, sagt Wurmthaler,
Fahrplanauskunft im Internet einen Zug als           und mit Anzeigemonitoren auszustatten. Bei den         der indes schon den nächsten Schritt in Rich-
ausgefallen meldet, den die Anzeigetafel am          87 Zügen der neuen Generation gehört die Fahrgas-      tung Zukunft im Sinn hat: Eine Zusatzinforma-
Bahnsteig noch ankündigt. „Die Verteilung der        tinformation mit Echtdaten bereits zum Standar-        tion darüber, welche Bahnen in den Stoßzeiten
Informationen muss noch besser laufen“, sagt         dinventar. Bereits bis zum Sommer dieses Jahres        ganz besonders voll sind. Es habe einen guten
der Verkehrsdirektor. „Leider sind wir mit dem       sollen zudem alle Linienbusse im VVS mit Fahr-         Grund, weshalb er jeden Morgen seinen Stamm-
Ausbau nicht in allen Punkten so schnell voran       gastinfos beliefert werden, was die Anschlusssi-       zug um 7.26 Uhr nehme, erzählt Wurmthaler.
gekommen, wie wir uns das gewünscht haben.“          cherheit deutlich erhöhe, so Wurmthaler. Bisher        „Die Bahn davor ist deutlich voller.“ Wer etwas
Es sei in den Jahren einiges dazu gekommen,          würden bei einer Verspätung der S-Bahn von nur         flexibel sei und ausweichen könne, müsse ja
was Zeit und Geld gekostet habe, insbesondere        einer Minute 55 Prozent der Busanschlüsse ver-         nicht unbedingt und ohne es zu wissen mit dem
bei der Infrastruktur, der Computertechnologie       passt werden. Nach Einführung der Fahrgastinfo         vollsten Zug fahren, sagt Jürgen Wurmthaler:
und der immer komplizierteren Software, so           seien es nur noch 35 Prozent. „Immerhin 20 Pro-        „Jede sinnvolle Information kann das Bahnfah-
Wurmthaler: „Einem Autofahrer reicht die In-         zent der Fahrgäste bekommt ihren Bus dann. Das         ren letztlich noch ein Stück entspannter und
formation, dass die Autobahn gesperrt ist. Ein       ist die Chance, die hinter der Technik steht.“ Nicht   komfortabler machen.“ [·]

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ERFAHRUNGSBERICHT · DAS FAHRRAD ALS ALTERNATIVE

      Von wegen
      armer Konrad
       Es soll Menschen geben, die ausnahmslos
       jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren
       und darin auch noch die Erfüllung sehen.
       Ich gehöre zu dieser seltenen Spezies.
       Ansichten eines Ganzjahresradlers.
       TEXT KONRAD WEYHMANN     FOTOS REINER PFISTERER UND MARTIN HÄUSSERMANN

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ERFAHRUNGSBERICHT · DAS FAHRRAD ALS ALTERNATIVE

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R
        adfahren ist schön und macht Spaß –         Ich habe den besten Scheinwerfer mit Naben-
        sagen Radfahrer wie ich. Andere Ver-        dynamo, den man für Geld bekommen kann.
        kehrsteilnehmer, ob Autofahrer oder         Den sollte man auch haben, wenn im Schein-
Benutzer von Bus und Bahn, mögen das anders         werferkegel plötzlich unbeleuchtete Herr-
sehen. Und sie haben sicher ihre Gründe da-         schaften im grau-braunen Mantel aus der
für. Ich habe mich vor langem für das Fahrrad       Dunkelheit auftauchen, den Hund an einer
entschieden. Das war nicht immer so. Täglich        vier Meter langen Flexileine, die sich diagonal
zwischen Ludwigsburg und Stuttgart mit dem          über den Weg spannt. Apropos Fahrradfahrer
Rad pendeln? Schwitzen, frieren, duschen, Zeit      und Hundehalter: Diesem Thema werde ich
verlieren? No way, dachte ich, das ist nichts für   an anderer Stelle ein Buch widmen, eventuell
mich. Ganz zu schweigen von den respektablen        einen Fortsetzungsband, der auch Begegnun-
Höhenunterschieden zwischen dem Neckartal           gen mit Spaziergängern beinhaltet – nebst
und Ludwigsburg-Hoheneck. Und außerdem:             eigenem Kapitel für die Kopfhörerträger. Die
Welchen Reiz sollte es haben, abends müde aus       Quintessenz vorneweg: In diesem Leben wer-
dem Büro in Bad Cannstatt zu kommen und             den Radfahrer und Hundehalter keine Freun-
anschließend strampelnderweise knapp 20 Ki-         de mehr. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Ich
lometer den Neckarwindungen zu folgen?              maße mir an, das beurteilen zu können, weil
     Nun ja, es sollte anders kommen. Ich ar-       ich beiden Parteien angehöre, mal mein Rad
beite bei einer fahrradaffinen Firma. Fahr-         ausführe, mal meinen Hund. Selbstverständ-
radverrückt trifft es wohl eher. Fast zwangs-       lich kann man Rücksicht nehmen, langsam
läufig setzte ich mich daher mit dem Thema          fahren und autistisch wirkende Kopfhörer-
„zur Arbeit radeln“ auseinander und lernte          träger umfahren. Also umkurven. Doch bei
die Vorteile der Pendelei per Rad kennen – zu-      der Dichte gemeinsam genutzter Wege ist ir-
nächst allerdings nur in der Theorie. Irgend-       gendwann einmal Schluss mit Lustig.
wann probierte ich es selbst aus und komme
                                                                                                      „Irgendwann
                                                    A
seither nicht mehr davon los. Sommer wie                    ber zurück zu den positiven Aspekten
Winter. Tag für Tag. 17.30 Uhr, Startpunkt                  des Radelns. In Mühlhausen trennen
Bad Cannstatt. Im firmeneigenen Umklei-                     sich meine Wege. Im Sommer genieße        probierte ich es
deraum packe ich meine Fahrradtasche aus            ich „the long way home“ am Neckar entlang
und wähle je nach Temperatur die passende           bis Althoheneck und bin nach einem Anstieg        aus – und komme
Bekleidung aus. Nicht erst seit der Allgemei-       schon fast zu Hause. Meistens aber wähle ich
ne Deutsche Fahrradclub (ADFC) meinen               die Anliegerstraße durch das schöne Natur-        seither nicht
Arbeitgeber, die Firma Paul Lange & Co., als        schutzgebiet „Unteres Feuerbachtal“, die nach
„Fahrradfreundlichen Betrieb“ zertifiziert          Zazenhausen führt. Welche Anliegen die (zu)       mehr davon los.“
hat, haben wir Duschen, Spinde und teils            vielen Autos auf dieser Straße haben, ist mir
überdachte Abstellplätze direkt neben der           unklar. Anlieger sind es nicht. Das Rad kennt
Eingangstür. 1:0 für das Fahrrad. Immer wie-        den Weg, der Kopf wird frei, die Automatis-
der ist zu hören, dass fehlende Umkleideka-         men beim Kurbeln greifen, alles geht und dreht
binen und Trockenräume Haupthindernisse             sich wie von selbst. Das ist ein Gefühl, das
sind, mit dem Velo zur Arbeit zu radeln. Ver-       meiner Meinung nach unterschätzt wird. Die
ständlich. Gerade im Winter ist der Grat zwi-       meisten Gründe für das Radfahren sind ganz
schen Schwitzen und Frieren sehr schmal, zu-        praktischer Natur. Auf der Kurzstrecke bis
mal, wenn man wie ich abwechselnd schnell           etwa sechs Kilometer spart man Zeit – in der
auf der Ebene fährt oder langsam anspruchs-         morgendlichen Rush Hour liegen Fahrrad und
volle Steigungen überwinden muss.                   Auto auf meiner Strecke fast gleichauf. Man
                                                    muss zudem weder einen Parkplatz suchen,

K
       lick, Klack, in die Pedale einrasten und     noch ihn bezahlen, hält sich fit und das Ge-
       los geht’s. Über eine Brücke ans linke       wicht in Grenzen. Manche fahren aus ökologi-
       Neckarufer. Der Belag auf dem breiten        schen Gründen und sagen von sich, dass sie auf
Radweg ist super und wenn der Westwind              diese Weise das eigene Gewissen streicheln.
weht, zeigt der Computer schnell 30 Stun-               Für mich persönlich ist die Entspannung
denkilometer und mehr an. So macht Radeln           ein ganz wesentlicher Aspekt des Radfahrens.
Spaß. Warum noch immer gut ein Viertel der          Morgens den Tag in Ruhe vorbereiten und ihn
Radler den parallelen hubbeligen Dammweg            abends in Ruhe Revue passieren lassen. Dazu
benutzt, auf dem betagte Zweibeiner mit ih-         kommt noch ein positiver Effekt: Ich habe auf
ren Vierbeinern unterwegs sind, gehört zu           dem Rad die besten Ideen. Andere mögen die-
den Mysterien, die ich nicht verstehen muss.        ses Erlebnis beim Laufen haben, ich genieße es
Links Weinberge, rechts der Neckar und vor          auf dem Fahrrad. Ich bin kein Psychologe, bin
mir einige Jogger und Spaziergänger. Alles          aber überzeugt, dass durch die regelmäßige
wunderbar – wenn nicht gerade Winter ist.           Bewegung in Verbindung mit dem intensiven

                                                                                                                   nemo 23
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