Nur die Harten kommen in den Garten? Von wegen - Ein Heft über Männer - Nummer 38 | 18. September 2020 - sz-media
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I N H A LT NR. 38 18. SEPTEMBER 2020 14 Vor zehn Jahren eskalierte ein Polizeieinsatz auf einer Demonstration gegen den Bahnhofsbau Stuttgart 21. Jener »schwarze Donnerstag« hat das Leben einiger Beteiligter bis heute radikal verändert. 28 Der Rock-Pionier Achim Reichel spricht über die Gründerjahre mit den Rattles und seinen großen Überraschungserfolg, der Menschen auf Tanzflächen ins Rudern bringt. 36 Unser Autor konnte lange Zeit kaum etwas hören – bis er beschloss, technisch endlich mit der Zeit zu gehen. 38 Garten und Balkon sind voll kleiner Wunder – und mittendrin: die neue Wintermode. 44 Jonathan Anderson gilt als einer der besten Modedesigner seiner Generation. Ein Interview über den Fluch erreichter Ziele und die guten Seiten seiner sehr schwierigen Kindheit. Titel: Creative Direction & Styling: Rottingdean Bazaar; Model: Tex @ Brother Models; Regenponcho von Raeburn. Braune Fleecedecke: privat; Illustration Inhalt: QuickHoney 10 Sagen Sie jetzt nichts 12 Gute Frage, Gefühlte Wahrheit, Gemischtes Doppel, Die drei großen Lügen 52 Kosmos 54 Das Koch- quartett 55 Getränkemarkt 56 Hotel Europa, Gewinnen, Impressum 57 Das Kreuz mit den Worten 58 Das Beste aus aller Welt W W W. / SZ-SHOP.DE IM SHOP MAGA ZIN Regenschirm »Lots of Pigeons« Je nach Geschmack verbinden Sie mit einem Regenschirm vielleicht Gene Kelly, Rihanna – oder Pan Tau. Der niederländische Künstler Rop van Mierlo hat für das SZ-Magazin auf diesem Regenschirm seine Liebe zu Tieren und Wasserfarben vereint. Maße: geschlossen ca. 88 cm lang, geöffnet ca. 112 cm Durchmesser. Bambusstock, Bezug aus recycelten Kunststoffen. 75 Euro. sz-shop.de/schirm Z E I C H E N D E R Z E I T • Emojis für Erwachsene (156) Achtung, Corona! Bitte bei spontanen Besuchen Tür nicht öffnen, nur zu uns runterwinken! Titelfoto: Annie Collinge SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN 7
A U F S Z- M A G A Z I N . D E Die Geister, die ich rief making Auch nach einem halben Jahr Corona sitzen viele Menschen places weiter im Homeoffice fest. Wer dort das Gemurmel der Kollegen vermisst, findet auf diversen Web seiten eine Geräuschkulisse, die balanced dem Heimarbeitsplatz eine An mutung von Großraumbüro ver leiht. Hilft das? Ein Selbstversuch: sz-magazin.de/homeoffice Der Baumeister Gottfried Böhm ist einer der bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts, seine Kirchen und brutalistischen Beton bauten haben ihn weltberühmt gemacht. Wir haben mit ihm über Schönheit und das Göttliche in der Welt gespro chen, oder sagen wir: Wir haben es versucht. Böhm ist nämlich schon hundert Jahre alt und sagt nur noch, was er wirklich wichtig findet: THE sz-magazin.de/boehm JEANS Fotos: Mark Bowden/iStock by Getty Images, Julia Sellmann; Illustration: Peng & Hu » A L L E S L I E B E « - N E WS L E T T E R Liebesbriefe CHINO Manchmal ist alles ganz einfach mit der Liebe. Meis tens allerdings nicht – doch zum Glück gibt es unseren »Alles Liebe«-Newsletter: Artikel darüber, wie die Beziehung auf Dauer romantisch bleibt, wie man beim Online-Dating die Nerven behält und Konfigurieren Sie wann man sich doch besser trennen sollte. Ihr individuelles Versendet wird der Newsletter immer USM Möbelstück online! Sonntagfrüh, Anmeldung auf: sz-magazin.de/allesliebe Besuchen Sie unsere autorisierten Handelspartner oder unsere USM Showrooms: Bern, Hamburg, London, München, New York, Paris, Tokio
SAG E N S I E J E T Z T N I C H TS Löwe haben sie ihn beim Royal Ballet genannt, weil er sich den sozialen Netzwerken mit durchfeierten Nächten. Sergei Polunin so geschmeidig auf die Sprünge zubewegt. Weil er höher Schließlich, mit 22, kündigt er beim Royal Ballet. Ist noch springt als die anderen. Und vielleicht auch, weil er sich nicht vorgekommen, dass jemand aus dem Osten, der es so nicht zähmen lässt. Versucht haben es viele. Seine Mutter weit in den Westen geschafft hat, über Nacht verschwindet Galina zuerst. Sie lässt ihn in Kiew an der Ballettschule vor- und lieber im russischen Reality-TV auftritt. »Bad Boy of tanzen, mit neun. Vier Jahre später wechselt er auf die Royal Ballet«, betiteln sie ihn seitdem. Er fällt immer wieder auf Ballet School in London, ein Stipendium. Er trainiert härter mit homophoben und sexistischen Tweets – die er natürlich 20. November 1989 GE B O R E N als die anderen. Oft ist es der Hausmeister, der sagt: Junge, alle nicht so verstanden haben will, die ihn trotzdem auch B E RU F Balletttänzer AUS B I L DU N G Royal Ballet School London geh schlafen. Mit 17 gehört er zur Kompanie, mit 20 ist er der jüngste Hauptsolist in der Geschichte des Royal Ballet. mal ein Engagement kosten. Eindeutig ist das Putin-Tattoo auf seiner Brust, aber das wird nun häufig von seinem Baby STATUS Der aus der Reihe tanzt Und da schert Sergei Polunin aus. Nimmt Drogen, prahlt in verdeckt. Mir heißt der Kleine, auf Deutsch: Frieden. Wie stehen Kunst und Politik derzeit Sie drücken sich durch Ihren Körper Wie schließen Sie mit sich selber zueinander? aus. Wann ist er still? Freundschaft? Fotos: Tibor Bozi Was muss ein echter Held können? 28 Millionen Klicks auf Youtube. Das größte Opfer, das Sie dem Was wird der Westen nie über den Und Sie? Tanz bringen? Osten begreifen? 10 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN Weitere Fragen und Bilder finden Sie in unserer App und auf sz.de/magazin/ssjn
G E F Ü H LT E WA H R H E I T G U T E F R AG E MEINUNGSFREIHEIT »Meine engsten Freundinnen und ich sind Gäste einer Hochzeit, zu der auch mein Exfreund eingeladen ist. Er WAS MIT RUSSLAND schlug mich, ich war jahrelang in Therapie. Braut und Bräu- Unbekannte LEUTEN PASSIERT, setzen tigam hielten Kontakt zu ihm, meine einst enge Freund- DIE DAS »ENDE Nervengift DER DIKTATUR« ein. schaft zur Braut ist deshalb distanziert. Sie war damals FORDERN die Erste, bei der ich Hilfe suchte. Ihr Verrat schmerzt nach wie vor, von ihr wusste er auch, wo ich nach der Trennung BELARUS HONGKONG hinzog, wo ich mir dann von ihm verfolgt vorkam. Ich Lebenslange Werden in der Zelle Überwachung und kann in Anwesenheit meines Ex nicht ausgelassen feiern. drei Tage lang Berufsverbot. von der Polizei Das habe ich der Braut gesagt. Antwort: Schweigen. Soll verprügelt. ich dennoch hin?« ANONYM DEUTSCHLAND Kommentatoren fordern den Dialog, Talkshows schicken Einladungen, der örtliche Bundestagsabgeordnete schaut auf ein Gespräch vorbei. DIE DREI GROSSEN LÜGEN BEIM BACKEN MIT KINDERN 1. »Ja, das wird ein prima Teig, E Fotos: imago images/Petra Schneider, imago images/CTK Photo; Illustration: Serge Bloch; alle Autoren-Illustrationen: Grafilu den du da mischst.« s gab mal eine Folge der Serie diese Seinfeld-Episode schrieb, die auf eine 2. »Mmmmmh, lecker!« Seinfeld, in der ans Licht kam, wirkliche Tradition seiner Familie zurück- 3. »Und jetzt machen wir alle dass Georges Vater Frank Costan- geht. Es soll Menschen geben, die den Fes- zusammen sauber.« za, gespielt von Jerry Stiller, im wahren tivus tatsächlich begehen, traditionell am Leben der Vater von Ben Stiller (Jerry 23. Dezember. starb im Mai), ein Gegenfest zu Weihnach- Ich möchte Ihnen vorschlagen, etwas Ähn- ten erfunden hatte, weil er die religiösen liches zu machen: Erfinden Sie ein Gegen- GEMISCHTES DOPPEL und kommerziellen Aspekte daran so fest, das Sie am Tag dieser Hochzeit feiern. von hasste. Er nannte es Festivus, mit dem Falls niemand kann, feiern Sie allein. Das PATRICK FISCHER Slogan: »A Festivus for the rest of us« (ein sind nicht immer die schlechtesten Feste. Feiertag für alle anderen von uns). Pop- Den Namen denken Sie sich aus. Der Slo- kulturell versierte Menschen wissen, dass gan könnte in folgende Richtung gehen: beim Festivus anstelle eines Baumes eine Endlich bin ich die falsche Freundin los. Aluminiumstange aufgestellt wird, unge- Die scheint sich nämlich nicht sonderlich schmückt, und dass der Vater vor dem für Sie zu interessieren. Für Ihren gewalt- Abendessen bekannt gibt, wer ihn im tätigen Exfreund schon eher. Pfeifen Sie vergangenen Jahr womit enttäuscht hat auf ihre Hochzeit. Es wird lustigere Feste (dieser Programmpunkt heißt »Airing of für Sie geben. Es gibt so viele Menschen Grievances«, seinem Unmut Luft machen), auf der Welt, man muss wirklich nicht an und nach dem Essen gibt es noch die welchen hängen, die einem nicht guttun. Braucht Schlüssel Schlaucht Brüssel »Feats of Strength«, die Heldentaten der Stärke, bei der ein vom Vater auserkorener Anwesender mit ihm Kräfte messen muss. Der Festivus gilt als bekanntester erfun- JOHANNA ADORJÁN Weitere Gemischte Doppel finden Sie auf sz-magazin.de; um eigene Vorschläge dener Feiertag zumindest der USA, es gibt einzureichen, schreiben Sie an viele Einträge im Internet darüber und Welches Problem treibt Sie um? Schreiben Sie an gemischtesdoppel@sz-magazin.de sogar ein Buch des Drehbuchautors, der gutefrage@sz-magazin.de 12 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN
Dietrich Wagner, 76, der am 30. September 2010 von einem Wasserwerfer Text PATRICK BAUER Fotos JULIAN BAUMANN an beiden Augen schwer verletzt wurde, demons triert noch heute fast jeden Montag gegen den neuen Bahnhof in seiner Heimatstadt. In seinen Augen Vor zehn Jahren, als gegen den Bahnhofsbau »Stuttgart 21« protestiert wurde, eskalierte der Polizeieinsatz zur Räumung des Schlossgartens. Dieser »schwarze Donnerstag« hat bis heute tiefe Spuren hinterlassen – und das Leben einiger Menschen schlagartig verändert SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN 15
A Manche Demonstranten sagten, erinnert sich und zack, raus aus dem Bus, los. Umso Perrey: Tut uns leid, dass ihr wegen uns Über- schwieriger, als die Aktion kurzfristig von 14 stunden macht! Es ging gegen die Bahn, die Uhr auf 10 Uhr vorverlegt wird. Der ur- Politik, aber nie gegen Perrey persönlich. sprüngliche Termin hatte sich bis zu den Doch der Tag X musste kommen. Ab »Parkschützern« – Motto: »Bei Abriss Auf- 1. Oktober durfte gerodet werden. An jenem stand!« – herumgesprochen. 30. September, das war intern seit Tagen klar, Um 10.25 Uhr lösen diese ihren »Alarm« Am 30. September 2010 sind, unter Tausen- sollten sie den Schlossgarten absperren. Ein aus, alle Unterstützer werden aufgefordert, den, drei Männer im Mittleren Schlossgarten Großeinsatz, geleitet vom Stuttgarter Polizei- sofort in den Schlossgarten zu kommen. Die von Stuttgart. Dietrich Wagner, Daniel Kart- präsidenten Siegfried Stumpf persönlich, Ersten sind Hunderte Schülerinnen und mann und Ralf Perrey. einem Mann, den Perrey immer als sehr be- Schüler, die gerade in der Nähe demonstrie- Ralf Perrey ist damals 46 Jahre, Erster sonnen erlebt hatte, maßgeblich beteiligt an ren. Einige klettern auf die Polizei-Lastwagen, Hauptkommissar, stellvertretender Leiter des der »Stuttgarter Linie«, die für Deeskalation in denen die Absperrgitter liegen. Die zwei Polizeireviers 2, seit zwei Monaten erst. Er stand. Stumpf hatte noch im April, von der Wasserwerfer, die Siegfried Stumpf doch von hatte lange die Motorradstaffel verantwortet, Stuttgarter Zeitung gefragt, ob er mit dem Ein- der Bereitschaftspolizei angefordert hat, ha- aber irgendwann kennsch halt den Arafat satz von Wasserwerfern oder Tränengas rech- ben den Park noch nicht erreicht. Ralf Perrey und Mick Jagger und alle Spieler vom VfB. ne, geantwortet, davon halte er gar nichts, erzählt, wie er damals dachte: Dumm. Jetzt Gleich an seinem ersten Arbeitstag im »weil das einen starken symbolischen Cha- sind die Leute vor den Wasserwerfern da. Die- August, morgens um sechs, trat Perrey seinen rakter hat und uns keine Sympathien ein- se sind mit ihrer Wucht gut, um Menschen Dienst aber nicht im Büro in der Wolfram- bringen würde«. auf Distanz zu halten, aber mit ihrer Unbe- straße 36 an, sondern einen Kilometer Luft- Ralf Perreys Aufgabe ist es an diesem Tag, weglichkeit schlecht, um Menschen zu be- linie entfernt im Hauptbahnhof, wo 300 Geg- dafür zu sorgen, dass die vielen Einheiten, drängen. Wenn du verhindern willst, so er- ner von »Stuttgart 21« wegen des anstehenden die zur Unterstützung aus Bayern, Nord klärt es Perrey, dass ein Haus besetzt wird, Abrisses des Nordflügels eine Einfahrt blo- rhein-Westfalen oder Schleswig-Holstein an- reichen fünf Kollegen, das ist einfach. Willst ckiert hatten, mal wieder. reisen, zur richtigen Zeit am richtigen Ort du ein besetztes Haus räumen, brauchst du Es war ein anstrengender Sommer. Die sind. Das heißt: Kolleginnen und Kollegen, fünfmal so viele, das ist der Horror. Einsatzhundertschaften, die Jungen, mussten die teils zehn Stunden Fahrt hinter sich ha- Perrey sieht, wie immer mehr kommen, fast täglich wegen solcher S21-Einsätze aus ben, durch eine unbekannte Stadt lotsen, Alte, Kinder, Brüllende, Weinende, mit Fahr- radhelm auf dem Kopf, Plakaten vor dem Bauch, Trommeln, Trillerpfeifen. Er steht hundert Meter hinter den Kollegen in Mon- Der Polizist Ralf Perrey tur, die Mühe haben, im Chaos die Absper- rung zu errichteten. Sie hören ihn nicht. Es weiß, dass es zwei Möglich- ist keine Zeit mehr zu schwätzen. Er riecht den Pfeffer in der Luft. Er sieht, wie das Was- Dietrich Wagner kurz bevor ihn der Strahl des Wasserwerfers frontal ins Gesicht geschaut zu haben. Als er Anfang 2002, in einer WG mit Architekten lebend, zum ers Er will da raus. Rennt einfach los, prallt ge gen die Schilde der Polizisten, die sie um keiten gibt: Sie ziehen das ser aus dem WaWe9000, 26 Tonnen schwer, traf. Wagner sagt, er habe die demons ten Mal von diesem Projekt hörte, fand er ringt haben. Er schreit in den Lärm hinein. trierenden Schüler schützen wollen. in der Luft zerstäubt und sich mit ihrem das ganz lustig, so einen spacigen Bahnhof. Ich bin verletzt! Lasst mich durch! Ich bin durch – oder sich zurück Schweiß vermischt. Er weiß, dass es zwei Möglichkeiten gibt: Entweder sie ziehen das Seine Mitbewohner entwarfen für die alte Ankunftshalle 3D-Animationen der neuen blind! Er stolpert weiter, taumelt, spürt das vertraute Gras, aber wo ist er? durch oder sich zurück. Das wäre eine Nie- ihm wichtig, dass die Kinder das miterleben. unterirdischen Bahnsteige. So was wird eh Alles ist dunkel, und er weint aus hohlen derlage, hässliche Bilder, vor allem für den Ihnen zu sagen: Wir finden falsch, was mit nie gebaut, dachte Kartmann. Als er verstand, Augen. CDU-Ministerpräsidenten Stefan Mappus, dem Bahnhof passiert, all das verschwendete dass so was sehr wohl gebaut wird und dass Fotos: Marijan Murat/dpa/Picture-Alliance, Daniel Maurer/dapd/ddp images Göppingen oder Bruchsal anreisen, 60, 100 der im Wahlkampf unnachgiebig bleiben Geld, das in eure Zukunft investiert werden das Irrsinn ist, städtebaulich, finanziell, da Dietrich Wagner, Jahrgang 1944, will sich Kilometer über die Autobahn und runter will. Kanzlerin Merkel hat zwei Wochen vor- könnte, deswegen erheben wir unsere Stim war höchste Eisenbahn. Im Frühling 2010 am 30. September 2010, so erzählt er es durch den Stau, im Wissen, dass es wieder her im Bundestag gesagt, »Stuttgart 21« sei me, das ist Demokratie. war Daniel Kartmann erstmals auf einer der später, ein Bild von der Jugend von heute kompliziert werden wird. Denn Perrey weiß der Maßstab für die Zukunftsfähigkeit An diesem Tag aber kommt das Gerücht bunten Protestaktionen. machen, man hört ja viel. Deswegen geht er damals schon: Du kannst gegen eine 80-jäh- Deutschlands. auf: Die schicken Wasserwerfer! Sollen sie, Kartmann erinnert sich, wie ihm am zu dieser Schülerdemo auf der Lautenschla rige Hausfrau nicht vorgehen wie gegen einen Ralf Perrey denkt: Warum gehen die nicht denkt Kartmann, sie werden sehen, wer hier 30. September eine ältere Dame entgegen gerstraße, gleich beim Park, dappscht da 20-Jährigen, selbst wenn sie dieselbe Straftat weg? Lautsprecherdurchsage nach Lautspre- ist, keine Chaoten, alles wie immer. Aber kommt, aus Richtung Biergarten. Das Ge halt mal mit, denkt er sich. begeht. Hooligans erkennst du wenigstens, cherdurchsage. Warum bleiben die stehen? diesmal ist es anders, merkt er schnell. Die sicht wie verbrannt. Er geht weiter. Angezo Wagner ist erst einen Monat vorher zum die wollen schlägern. Aber das waren ganz Als er in der Nacht um zwei abgelöst Leute wirken geschockt. Die schiere Präsenz gen von dem Gefühl, dass das nicht wahr ersten Mal auf einer Kundgebung gegen normale Leute, die wollten reden. Über den wird, sieht er die ersten Bäume fallen. der kampfbereiten Polizisten. Die schubsen sein darf. Vom Himmel tropft Wasser, aber es Stuttgart 21 gewesen, seit seiner Zeit in Frust darüber, dass die da oben machen, was da lachende Jugendliche herum! regnet nicht. Als die Polizisten sie einkesseln, Tübingen hatte er nicht mehr demonstriert. sie wollen, über Machbarkeitsstudien und sel- Der Mann mit den blutenden Augen: Nachdem Daniel Kartmann, damals 33, Musiker, Vater Er ruft seine Frau an, die sich mit dem wird es unübersichtlich. Von hinten trifft ihn Als er Ende August mit Erika, die er »meine tene Juchtenkäfer, wegen denen keine Bäume dieses Foto entstanden war, lag Dietrich Wagner von drei Söhnen, geht mit seinem jüngsten, Sohn in sicheren Abstand begibt. Aber Da der Strahl des Wasserwerfers, Kartmann ver Erika« nennt, aus dem Spanienurlaub heim gefällt werden dürften. Und wer stand vor zwei Wochen im Katharinenhospital. Dort be ein Jahr alt, am 30. September 2010 wie so niel Kartmann will weiter in den Park, durch liert seine Brille. Er bückt sich in den Matsch, kehrte, radelte er am Abend zum Haupt suchte ihn der baden-württembergische CDU- ihnen? Ralf Perrey, eine Stimme wie Maschi- Innenminister Heribert Rech. Wagner beschimpfte oft im Schlossgarten spazieren, zufällig. Die den er schon alle seine Söhne in den Schlaf richtet sich wieder auf, da knallt etwas in sei bahnhof. Die Protestierenden gefielen ihm nenöl, konnte seine schärfste Waffe einsetzen: ihn nur. Ministerpräsident Stefan Mappus sagte, älteren hat er vorher aber auch mal mit auf geschoben hat. Er will dabei sein, aus Zivil ne Augen. »Wir sind friedlich, was seid ihr«, gleich. Sie zeigten eine Gegnerschaft zum Die Leut’ wegschwätzen, wie er es nennt. er habe »keinerlei Schuldgefühle«. die friedlichen Demos genommen. Es ist courage, und weil er glaubt, zu lange weg schreien die anderen. Kartmann sieht nichts. Kapitalismus, die er selbst so nie formuliert, 16 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN 17
aber immer empfunden hatte. Wagner ist Er machte sich, ohne Abschluss, selbststän- Im Park vor zehn Jahren beginnen die Was- nicht religiös. Bloß: Wenn er in der Zeitung dig, als Autodidakt spezialisierte sich Wagner serwerfer, ihren Strahl senkrecht in die Luft las, durch diesen neuen Bahnhof, der keinen auf die elektromagnetische Verträglichkeit, zu schießen. Die Kastanien rieseln von den Kopf mehr haben soll, würden Pendler eine er sorgte dafür, dass ein Gerät mit seinen Bäumen. Wagner steht in Sandalen und So- Viertelstunde früher am Arbeitsplatz sein, Signalen andere Geräte nicht störte. Er hei- cken in einer Pfütze und sammelt die Kasta- fand er, es müsse doch einen höheren Sinn ratete. Versuchte, sich anzupassen in diesem nien auf, stopft sie in die Taschen seines geben als das. Staat, der ja nicht der schlechteste war, wenn Ganzkörper-Trainingsanzugs. Einige wirft er Seine Mutter, eine Krankenschwester, man die Klappe hielt. Seine Unangepasstheit nach einem der Wasserwerfer, so sieht man war enttäuscht, als sie verstand, dass der beschränkte sich in dieser Zeit darauf, sich es auch auf Videoaufnahmen. Klonk. Immer Sohn in Möhringen keiner zum Vorzeigen nicht auf die Ehefrau zu beschränken. Er wieder. Klonk. Warum gehen die nicht weg? war. Seinen Vater, Physiker, mit der SS in wurde geschieden. Heiratete erneut. Mal Lautsprecheransage nach Lautsprecheran Russland gewesen, juckte das weniger. Wag- kam bei ihm Geld rein, dann wieder nicht. sage. Warum lassen die uns nicht? ner war kein guter Schüler, eigentlich hielt Auch die zweite Ehefrau hätte am liebsten Dietrich Wagner steht in einem Meer aus er nur in Mathe und Physik mit. Er sah es einen Beamten gehabt, der ein sicheres Ein- Körpern, Planen und Nässe, und winkt un- so, dass das Gymnasium bloß dafür da ist, kommen zur »Brutaufzucht«, wie Wagner aufhörlich mit beiden Armen, als bitte er um Menschen auszubilden, die in diesen Staat sagt, nach Hause bringt. Wagner wollte keine Hilfe. Zweimal schickt ihn ein Polizist zur passen. 1963 brachte Wagner sein Abitur am Kinder. Wozu? Um brave Bürger aus ihnen Seite, um genau 13.22 Uhr und um 13.38 Uhr, Wilhelms-Gymnasium hinter sich. An der zu machen? Die zweite Scheidung. Er fing sie filmen aus dem Wasserwerfer die ganze TU Stuttgart studierte er Elektrotechnik. In wieder an, über Marx nachzudenken. Szenerie. Dietrich Wagner tritt immer wieder seinem Fach saßen nur strebsame Techniker. Zurück in Stuttgart lernte Dietrich Wag- zurück in die Menge. Er wird vom Strahl Wagner fühlte sich den revoltierenden Stu- ner seine Erika kennen, eine kluge, unbeug- getroffen, es tut kaum weh. Er ahnt nicht, denten anderswo näher, bloß nicht dem same Frau, die sich mit zwei Kindern, aber dass der Druck erhöht werden kann, auf bis Terrorismus, den die verteidigten. Wagner ohne Männer, weil die immer zuschlugen, zu 16 Bar. war Pazifist. Jedes Morden ist falsch, auch als Putzfrau durch dieses System geschrubbt Er sieht den Knall nicht kommen. Ein wenn es die Richtigen trifft, so sah er es. Als hatte. Heiraten wollten beide nie wieder. Strahl trifft ihn von vorn, direkt vor die Stirn. er zur Bundeswehr sollte, verweigerte er. Wagner zog zu Erika in die Drei-Zimmer- Er fällt um. Zack. Bis gerade eben waren die Auf dem Schlossplatz verbrannte Wagner Wohnung, 78 Quadratmeter in der Trauben- Bäume, die dafür weichen sollen, das Symbol mit Gleichgesinnten seinen Wehrpass. straße im Westen der Stadt. für den Protest gegen den milliardenschwe- ren neuen Bahnhof von Stuttgart. Jetzt sind Daniel Kartmann es die blutigen Augen von Dietrich Wagner. kann heute wie- Das Bild von dem Mann, gestützt von der sehen – und zwei anderen, dem, man kann es nicht an- fühlt sich trotz allem in Stutt- ders beschreiben, die Augen raushängen, gart wohl. Er geht um die Welt. Zerrissene Augenlider, sagt: »Der Augenbodenbruch, eingerissene Netzhaut, Schwabe hat zerstörte Linsen. Blut, das in Dietrich Wag- eine renitente ners grauen Bart fließt. 100 000 Menschen Ader. Nicht ohne Grund kamen gehen am nächsten Tag auf die Straßen, viele viele NS-Wider- haben ihre Augen rot geschminkt. Wagner standskämpfer wird an diesem 30. September 2010, der fort- wie etwa Georg an »schwarzer Donnerstag« heißt, das ent- Elser von hier.« stellte Gesicht des Streits um Stuttgart 21. Nach diesem tragischen Höhepunkt der Proteste scheint es, als könne das aus dem Ruder gelaufene Bauvorhaben tatsächlich von einem bürgerlichen Bündnis, das nach den Szenen aus dem Schlossgarten noch breiter wird, verhindert werden, trotz aller politischen und wirtschaftlichen Verflech- tungen. Aus heutiger Sicht, unter dem Ein- druck von »Corona-Demonstranten«, die den Kaiser zurück wollen, an kinderfres- sende Eliten glauben oder Reichsflaggen schwenken, erscheint es sonderbar, dass die S21-Gegner vor zehn Jahren als erste Exem- plare derselben Spezies »Wutbürger« galten, waren ihre Forderungen doch denkbar konkret und sachlich. Im Winter 2010 wird Heiner Geißler als Schlichter zwischen den 18 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN
Immer noch »oben Stuttgarter Fronten eingesetzt. Und ohne die Dietrich Wagner, der auch mit dem rechten von dem Geld, das Wagner bekam, noch da bleiben« – Montags Zäsur, die der »schwarze Donnerstag« bedeu Auge nur noch Schleier sieht, und seine Erika, ist, kommen sie gerade durch. demo auf dem tete, wäre es wahrscheinlich nicht zu jener die wegen einer altersbedingten Netzhaut Erika ist kürzlich, allein unterwegs, in der Stuttgarter Marktplatz am 27. Juli 2020. historischen Zäsur im März 2011 gekommen, erkrankung plötzlich nur gerade noch so Straßenbahn einfach umgekippt. Es ist zu als mit Winfried Kretschmann ein Grüner erkennen kann, ob eine Ampel grün oder rot viel für sie. Um sie, die ihn so lange umsorgt im ewig schwarzen Ländle Ministerpräsident ist, sitzen am 27. Juli 2020 wie immer unter hat, sorgt sich Dietrich Wagner in diesen wird. Die Euphorie unter den Aktivisten ist der Laterne vor dem Rathaus am Stuttgarter Wochen, was sie gar nicht gern hört. Wie so jedoch kurz. In der alles entscheidenden Marktplatz, gleich hinter dem Infostand der oft streiten sie ein bisschen unter der Later Volksabstimmung über Stuttgart 21 im No S21-Gegner. Es ist die 522. Montagsdemons ne, Wagner will aufbrechen, Erika noch vember 2011 sind 58,9 Prozent der Baden- tration, der Informatiker Prof. Dr. Wolfgang nicht, so meckern sie sich liebevoll in den Württemberger für den Weiterbau. Hesse, einer der kompetentesten S21-Gegen Abend. Am Anfang kam Erika nur selten mit Der »schwarze Donnerstag« selbst, nach rechner, beginnt seine Rede an die gut auf die Demos, und bis heute kann sie nicht dem die Polizei 16 verletzte Beamte und 200 Versammelten in Fahrradfahrerkluft lange reden über den »schwarzen Donners 114 verletzte Demonstranten meldet, die oder im praktischen Beige, graue Schöpfe tag«, als ihr Sohn sie anrief und fragte, ob sie Demonstranten jedoch mindestens 400, be schäftigt im Landtag zwei Untersuchungs ausschüsse. Zwei Polizisten der Wasser werfer-Besatzung erhalten im Jahr 2013 In den ersten Jahren nach Freiheitsstrafen von sieben Monaten auf Be währung. Ein Wasserwerferkommandant dem »schwarzen Donnerstag« wird zu einer Geldstrafe verurteilt. Das Land gericht Stuttgart stellt ein Jahr später einen war aus Dietrich Wagners Wut Hass geworden Prozess gegen zwei Polizeiführer gegen eine Geldbuße von je 3000 Euro ein. Zu den fünf Nebenklägern gehören Dietrich Wagner, fast vollständig erblindet, und Daniel Kartmann, an beiden Augen verwundet, die zwei und bunte Halstücher, mit: »Liebe Oben- die Nachrichten gesehen habe. Aber jetzt bekanntesten Schwerverletzten aus dem Bleiber, liebe Unverzagte und Unentwegte begleitet sie Dietrich Wagner, wenn das Wet Schlossgarten, sie müssen wegen einer »Mit im Kampf gegen Dummheit, Ignoranz und ter gut ist, jeden Montag. Die Linie 4 fährt schuld« ein Drittel der Prozesskosten tragen. Profitgier!« Zwei Wochen vorher hat nach von ihnen, vom Hölderlinplatz, direkt hier Im Prozess taucht ein Zeuge auf, der einen dem gemeinsamen Singen des »Linsen-Spätzle- her. Jeden Schritt, jede Stufe, jede Rolltreppe Stein präsentiert, von dem er behauptet, Blues« der junge S21-Veteran Hannes von der Haustür bis zum Marktplatz kennen Dietrich Wagner habe ihn geworfen, was Rockenbauch hier gesprochen, der dieses sie auswendig. So ziehen sie, jeder mit dem widerlegt werden kann. Jahr, recht aussichtslos, aber trotzig, als Langstock über das Trottoir tastend, los. Der Der Polizeipräsident Siegfried Stumpf bit Oberbürgermeister kandidieren will. Der einzige Weg, auf dem sie sich sicher fühlen tet im April 2011 um Versetzung in den vor grüne Amtsinhaber Fritz Kuhn ist, wie der durch ihre Stadt, die sie nicht mehr sehen, zeitigen Ruhestand, viele Gegner sehen in Ministerpräsident Kretschmann, bei den führt sie zum Protest. Es gibt nur noch zu ihm, der eine Einflussnahme der Politik auf Dauergästen am Marktplatz schon lange in Hause und die Demo, das zweite Zuhause, den Einsatz stets bestreitet, ein »Bauern Ungnade gefallen, weil doch alles gleich wo sie von vertrauten Stimmen empfangen opfer«. Im März 2015 wird gegen Stumpf blieb. Sie riefen nach oben zu seinem Fens werden, »Mensch, Dieter!« wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt ter, was sie schon nach oben riefen, als Kuhn Im vorigen Jahr gab es hier auf dem in vier Fällen ein Strafbefehl über 120 Tages noch als »Bahnhofskritiker« galt und noch Marktplatz ein bisschen Ärger für Wagner, da sätze à 130 Euro erlassen. Im selben Jahr ver nicht im Amt war: »Ihr werdet uns nicht los, hatte er in einem Zeitungsinterview verkün öffentlicht der Stern Polizeivideos vom 30. wir euch schon!« Kuhn wird dieses Jahr im det, er sei nun, da schon so viele Milliarden September 2010, auf denen zu erkennen ist, November nicht wieder zur Wahl antreten. Euro des kleinen Mannes dafür ausgegeben dass von den Versammelten keine Aggressi Diesen Januar erlitt Dietrich Wagner wurden, für die Fertigstellung von Stuttgart 21. on ausging, und zu hören, wie ein Polizist einen Schlaganfall. Morgens trat er zu Erika Es stimmt doch, sagt Dietrich Wagner auch Kollegen auffordert, Pfefferspray auf dem an den Frühstückstisch, wollte Guten Mor heute, falsch ist es immer noch, aber nicht Handschuh zu verteilen und Demonstrie gen sagen, konnte aber nicht. Nun kommen mehr zu ändern. Er ist erschöpft. renden ins Gesicht zu reiben, und wie im die Worte nur noch schleppend aus seinem In den ersten Jahren nach dem »schwar Wasserwerfer (»Jetzt gang a mol dera a bissle Mund, er ist, sagt er, ein zweites Mal einer zen Donnerstag« war aus der Wut, die auf die Beine«) anvisiert wird. Am 18. No Selbstverständlichkeit beraubt worden. Aber Wagner verspürt hatte, als der Wasserwerfer vember 2015 urteilt das Verwaltungsgericht viel mehr plagt ihn, dass nun auch Erika, in ihn traf, Hass geworden. Alles andere war Stuttgart, der Polizeieinsatz zur Räumung all den Jahren sein Auge in die Welt, erblin ihm durch die Erblindung genommen, sein des Schlossgartens sei rechtswidrig und die det. Dem Fernseher können sie nur noch Motorrad, seine Feinwerkzeuge für die Ge Härte unverhältnismäßig gewesen, das Land zuhören. Ein Freund liest Dietrich Wagner räte, seine Bücher, die Sonne. Er wollte nicht Baden-Württemberg muss in zwei Fällen Ent jede Woche am Telefon den Spiegel vor. Einer untätig sein. Wagner, der am 30. September schädigung zahlen: 14 000 Euro an Daniel von Erikas Söhnen wohnt über ihnen, ver 2010 ein Demo-Neuling war, wurde danach Kartmann, 120 000 Euro an Dietrich Wagner. sorgt sie mit dem Nötigsten. Mit dem, was eine der präsentesten Figuren im S21-Wider SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN 21
Polizeihaupt ein. »Es wurde oft mehr hineingesehen in kommissar Ralf mich, als drin ist«, sagt Wagner, um die Ecke Perrey ist auch von zu Hause, in einem Café vor dem seit zehn Jahren bei den Montags Arbeitsgericht, zu dem er auch ohne Erika demos dabei, findet. Er wurde, sagt Wagner, der so viele heute braucht er Bilder aus seinem alten Leben vergessen hat, dabei kaum für ein Foto bekannt, von dem alle sagen, Verstärkung. dass man es nie vergesse. Aber Wagner hat dieses Bild von sich nie klar gesehen. Daniel Kartmann sitzt im Juli 2020 in sei- nem Viertel im Stuttgarter Süden und ärgert sich über Baden-Württembergs Innenminis ter Thomas Strobl, vor zehn Jahren CDU- Generalsekretär. Damals traf Kartmann Strobl im Fernsehstudio von stern-TV, zu Gast bei Günther Jauch, wo Strobl unbeirrt die Polizei verteidigte. Nach den Ausschrei- tungen auf der Königstraße, bei denen im Juni 19 Polizisten verletzt wurden, hat Strobl nun von einer »nie dagewesenen Dimension der Gewalt« gesprochen. DEINE »Das klingt in meinen Ohren wie Hohn«, sagt Kartmann. »Ich habe im Schlossgarten eine ganz andere Dimension von Gewalt erlebt. Es war ein Wunder, dass damals nie- PERFEKTE mand gestorben ist!« Eine Freundin fand Daniel Kartmann, so erinnert er sich, am 30. September 2010 im CHINO Park, verloren und verzweifelt. Sie half ihm in ein Taxi. In der Charlottenklinik für Au- genheilkunde konnte man zunächst nicht stand, Teil einer kleinen, radikalen Gruppe, Tage vorher gewusst, dass im Schlossgarten viel machen, weil so viel Blut in den Augen der Wagners Vorschläge oft zu radikal waren. etwas passiert. Es klang, als glaube er an die war. Nach zwei Wochen, Kartmann sah nach »Ich war fanatischer als andere«, sagt Wagner. ganz große Verschwörung. Heute sagt er, dass wie vor nur schwarz, stellte man fest, dass die Er wollte, dass jeder von ihnen ans neu er- nun mal Erikas Sohn, der für die Amerikaner Netzhaut im rechten Auge gerissen und da- richtete Gebäude des »Grundwassermanage- in der Kaserne arbeitet, vorab einen Sicher- bei war, sich abzulösen. Das Auge wurde in ments«, von wo aus die Bewässerung der heitshinweis für die Stuttgarter Innenstadt einer Notoperation gerettet. Ohne Brille hat Baustelle kontrolliert wird, dran kackt oder an jenem Donnerstag erhalten habe. Wagner Kartmann rechts nur noch zwanzig Prozent pinkelt, denn »so was hat man ja immer da- stellte sich bei einer Demo auch mal mit Sehkraft, und die Pupille und Iris sind derart bei«. Er wollte, dass in ICEs in ganz Deutsch- einem Schild hin, auf dem stand: »30.9. zerstört, dass sich das Auge den Lichtverhält- land im selben Moment die Notbremse CDU-KZ ungesühnt«. Aus dem Staatsskepti- nissen nicht anpassen kann, jede Sonnenein- gezogen wird. Er wollte, gibt er heute zu, ker Dieter Wagner war ein Staatsgegner ge- strahlung ist eine Qual, und auf der Bühne dass sie alte, leicht radioaktive Glühstrümpfe worden. Noch heute sagt Wagner: »Mir muss er wegen der Scheinwerfer aufpassen für Gaslampen aus Rumänien bestellen, sie riecht S21 nach Korruption und Großkapi- bei den Auftritten, von denen er anfangs zerbröseln und daraus Molotow-Cocktails tal!« Aber er sagt auch: »Die Wut in mir ist fürchtete, er würde nie wieder welche haben. basteln, die dann die Polizei ein bisschen verraucht. Ich habe anderen Menschen Feh- Er hatte gedacht, die Augen und der Beruf verstrahlen würden, atomarer Widerstand. ler zugestanden.« Er habe die Entschuldi- seien seine größte Sorge. Aber die schwerste Wagner ist heute froh, dass sie das nicht ge- gung von Winfried Kretschmann, fünf Jahre Verletzung, sagt Kartmann, blieb lange un macht haben. Er hätte sich nie verziehen, nach dem »schwarzen Donnerstag« im bemerkt. Wie die Wasserwerfer in den Park wenn ein Polizist oder eine Polizistin des Staatsministerium, mit Handschlag und An- schob sich die erlebte Gewalt in den Alltag wegen an Krebs erkrankt wäre. sprache, als »ehrlich« empfunden. der Familie. Plötzlich gab es viel Streit. Seine Da er ein Symbol geworden war, wurde »Die Leute brauchen immer jemanden, zu Überforderung. Die Wut, wenn er sich bei der langjährige Eigenbrötler Dietrich Wag- dem sie aufschauen können«, sagt Wagner, Kleinigkeiten übergangen fühlte, ohnmäch- ner nach dem »schwarzen Donnerstag« oft »das war zufällig ich mit den rausquellenden tig, wie im Polizeikessel. Es brauchte thera- gebeten, öffentlich zu reden, vielleicht zu oft, Augen. Aber ich habe ja keine große Leis peutische Hilfe, die sich die Familie holte. Wagner redete sich manchmal um Kopf und tung erbracht.« Man verlieh ihm in München Kartmann verstand, dass nicht nur er Angst Kragen. Er wurde damit zitiert, die in Stutt- den Georg-Elser-Preis, eine englische Initia- um seine Frau und seine Kinder hatte in gart stationierten US-Truppen hätten schon tive gegen Wasserwerfer lud ihn nach London dieser Zeit, sondern sie genauso um ihn. GEFERTIGT IN PORTUGAL 17 FARBEN ELASTISCHER HOSENBUND REISSVERSCHLUSSTASCHE KOSTENLOSER VERSAND 22 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN BESTELLE JETZT DEINE MR MARVIS CHINOS AUF MRMARVIS.DE
Als beim Mittleren im Kindergarten ein Dietrich Wagner heit nicht alles korrekt. Oder anders: Der Tag, der Eckensee, von dem aus es in der Nacht kämpft hat. Standhaft war. Ich, sagte Kart Polizist vorbeisah, um seinen Beruf vorzu und seine Lebens- war scheiße. Natürlich hat auch Perrey mit vom 20. auf den 21. Juni 2020, nach einer mann, hätte auch aufgeben können. Nach gefährtin Erika stellen, meldete sich der Sohn: Ich mag keine bekommen, kurz nach dem »schwarzen Don Drogenkontrolle, zu den Krawallen in der Berlin gehen oder so. Aber ich wollte hier Kalweit-Roth, 82, Polizisten! Und als der Mann erstaunt fragte, sind jetzt beide nerstag«, dass es Zweifel an der Rechtmäßig Innenstadt kam – und mal wieder zu bundes sein, bei diesen renitenten Schwaben. Weil warum, rief der Sohn: Ihr habt meinem Papa fast blind. Wagner keit der Rodungserlaubnis gab, die sie gerade weiten Diskussionen, diesmal über Gewalt ich selber einer bin. Weil ich gemerkt habe, das Auge ausgeschossen! sagt: »Hätte ich durchgesetzt hatten. Natürlich hat er eine gegen Polizisten, nicht von. Ach je, sagt Per das ist meine Heimat. Es hat zehn Jahre gedauert, das alles zu gewusst, wie es Meinung zu dem ganzen Projekt, nur tut sie, rey. Nun geht es darum, dass die Übergriffe ausgeht, wäre ich verarbeiten, sagt Kartmann. An den Schmerz sagt er, nichts zu Sache. Das Differenzieren sei gegen Polizisten immer schlimmer würden. Dietrich Wagner, er bereut das nun, hat in nicht in den Park wird er oft erinnert: Zwischen Schlossgarten gegangen.« ja das Härteste, was man in seinem Beruf An der Debatte will er sich gar nicht beteili den dunkelsten Stunden seiner Erika oft ge und Bahnhof, wo die Baustelle dort beginnt, lernen müsse. Es sind nicht seine Beschlüsse, gen. Auch nicht an der über eine vermeint sagt, dass er diesem blinden Leben ein Ende wohin die Wasserwerfer vorrückten, klafft, die er umsetzt. Es sind nicht seine Gegner, ge liche »Stammbaum-Recherche« gegen Tatver setzt. Sie hat ihm das ausgeredet. Aber jetzt, durchzogen von Rohren und Kabeln, die gen die er sie durchsetzt. dächtige. Die Betrachtung des »sozialen Um da sie selbst kaum sieht und so oft in das glei Wunde der Stadt. Gut, eines muss man dann doch sagen, felds« sei immer Teil der Ermittlungsarbeit. che Loch fällt wie er einst, ist es Erika, die so Kartmann brauchte Abstand von der meint Perrey: Vieles, was damals auf den Es geht ihm nur darum, dass die Eskalation redet. Das darfst du gar nicht denken, sagt Bewegung. Auf den Demos ließ jeder Polizist großen Montagsdemos, die sie mit bis zu 500 am Eckensee nicht überraschend kam. Seit Dietrich Wagner dann, auch an diesem Tag, in ihm Panik aufsteigen. Manche Rede Kollegen umstellten, von der Bühne gesagt Wochen hatten die Kollegen geklagt: Ein in der Linie 4, nach Hause. Nicht nur weil er stürzte ihn in tiefe Trauer: Warum ändern wurde, habe sich bewahrheitet, da sprachen Treffpunkt für junge Männer, ja, die meisten nicht weiß, was er ohne sie machen soll. Sie unsere Argumente nichts? Er brauchte auch ja auch Ingenieure. Stuttgart 21 wurde im von ihnen noch nicht lange in Deutschland, sagt, dann würde er endlich mal staubsau Abstand von Dietrich Wagner, neben dem mer teurer, noch eine Milliarde und noch die demonstrativ dealten und aggressiv fei gen. Nein, er weiß jetzt, was er lange nicht Daniel Kartmann bei den vielen Presseauf eine, bis es statt 2,45 dann 8,2 waren. Es kam erten. Mit ihrem deeskalierenden Ansatz ka wusste, sagt Wagner, er hat es verstanden, als tritten stehen musste, nun ja, wie der Zweit so schlimm wie die Gegner sagten, aber es men die Kollegen da nicht weit. Wenn sie er anfangs mit seiner selbstgebauten Lupe schwerstverletzte, und zuhören. Wagner kam. 2025 soll der Bahnhof fertig sein. nicht gerade mit Flaschen beworfen wurden, noch mal die alten Philosophen lesen konn redete, als verteidigten sie noch immer den Nach dem Bürgerentscheid 2012, sagt Per ist zu hören, seien sie dafür ausgelacht wor te und als er dann, als alles Licht weg war, Schlossgarten. Nur weil man das selbe rey, war die Luft raus aus dem Kessel. Wegen den, mit den jungen Männern reden zu wol mit seinen Gedanken allein war. Mord und Schicksal hat, sagt Kartmann, versteht man der Nachrichten über Stuttgart 21, von de len, als Schlappschwänze beschimpft. Das Totschlag gehören zur Menschheit, leider. sich nicht unbedingt. Kartmann wollte nicht nen es immer noch genug gibt – mangelnder Schwätzen, einst die Stärke, war nun die Aber man kann dem etwas entgegensetzen. mehr das Wasserwerferopfer sein. Er war Brandschutz oder die Klage der Bahn AG Schwäche der Polizisten. Manche sagen, man Dietrich Wagner ist nicht mehr nur gegen beim Wahlkampfauftakt der Grünen einge gegen Projektpartner auf Mitzahlung der hätte am Eckensee rechtzeitig durchgreifen das Leben, das er falsch findet. Er tut jetzt laden, bevor W infried Kretschmann im März Mehrkosten –, kommen nicht mehr Demons müssen. Aber das wären wohl hässliche Bil auch etwas für das Leben, das sich richtig 2011 zum Ministerpräsidenten gewählt wur tranten, es bleibt bei den paar hundert ganz der geworden, die will keiner, bis in die Poli anfühlt. Er, der nie Kinder wollte, ist froh de, und fühlte sich wie ein »schlagzeugspie Hartgesottenen. tik. Also zog man sich zurück. Und so wur um die Zeit, die er mit Erikas Enkeln ver lender Invalide«, sagt Kartmann, mit seiner Jetzt reicht es, wenn Ralf Perrey einen ein den die Bilder am Ende viel hässlicher. Und bringt. Er, der nie hineinpassen wollte, hat Band, im Hintergrund. Alle schauten ihn Stadt um, aber die Leute, sagt Kartmann, Tatort zu sein: Brüllt eine Frau aus dem zigen Kollegen mit zu den Montagsdemos die Empörung war wieder groß. Und Perrey gemerkt, dass er seinen Platz lange vor dem mitleidig an. Aber dass einer gekommen haben ihre Stadt auch umgegraben. Nachbarhaus, ob sie glauben, sie könnten nimmt, die er »Kult« nennt. Er lässt sich das sitzt wieder hier und muss schwätzen. Daran 30. September 2010 gefunden hatte. Er war wäre, um zu fragen, wie es ihm geht? Als sich alles erlauben. Die Beschwerden gegen nicht nehmen. Dann steht er auf den Trep wird sich wohl nie was ändern. nicht mehr allein unzufrieden mit dem, was schämten sie sich. Es gab von Anfang an Grü Ralf Perrey sitzt in der Wolframstraße 36, im Polizeibeamte vervielfachten sich im Jahr pen zum Rathaus, und vor ihm, an der Later das Leben bisher für ihn bereit gehalten ne, die gar nicht gegen Stuttgart 21 waren; Revier, dessen stellvertretender Leiter er noch nach dem »schwarzen Donnerstag«. ne, sitzt Dietrich Wagner, wenn zum Ab Daniel Kartmann war 1989, zwölf Jahre alt, hatte. Nicht mehr allein frei. Er will, sagt die Demos für das Obenbleiben halfen ih ist. Sein damaliger Vorgesetzter, der um 12.58 Und Ralf Perrey? Ihm blieb nur das Schwät schluss, beim »Schwabenstreich«, alle pfeifen mit der Familie aus Rumänien nach Baden- Dietrich Wagner, einfach noch unbeschwerte nen bloß, nach oben zu kommen. Uhr den Einsatz der Wasserwerfer befahl, zen. So traf er auch Dietrich Wagner. Das und brüllen und auf Töpfe hämmern, gegen Württemberg gekommen, nach Böblingen. Momente haben mit seiner Erika. Mittlerweile war Kartmann immer mal weil der Polizeipräsident Siegfried Stumpf Gesicht kannte er ja aus den Medien. Der das Vergessen. In Siebenbürgen war es für die deutsche wieder auf einer Montagsdemo. Es hat ihm gleichzeitig auf einer Pressekonferenz der Mann war überall. Am Südflügel, und wie Manche Protestler fragen Perrey erstaunt: Minderheit immer schwer gewesen. Der Ralf Perrey, Daniel Kartmann und Dietrich gefallen, dass es nicht mehr nur um den Bahn reden sollte, musste ein halbes Jahr der im Schlossgarten. Sie mussten auch Wag Sind Sie immer noch da? Großvater wurde in den Fünfzigerjahren von Wagner. Alle drei sagen dann wirklich, man Bahnhof geht. Sondern ums große Ganze, nach dem »schwarzen Donnerstag« gehen. ner weggetragen, man konnte ja nicht sagen: Und Perrey fragt zurück: Sie auch? den Kommunisten eingesperrt. Kartmanns muss das »wirklich« dazuschreiben, weil es um eine lebenswerte Stadt, um die Verkehrs Perrey hat Stumpf nur noch einmal gesehen Den nicht! Aber, so erinnert sich Perrey, er Auf dem Flur vor Perreys Dienstzimmer Vater, evangelischer Pfarrer, wollte seinen ja in Bezug auf diesen Donnerstag, der so wende, um bezahlbaren Wohnraum, denn nach dessen Verabschiedung in den vor habe den Wagner immer als Letzten holen steht eine Glasvitrine. Darin: Erinnerungen Kindern ein freies Leben ermöglichen. Nach vieles schwarz färbte, ein unwirklicher Satz der fehlt, obwohl es einst hieß, nur durch das zeitigen Ruhestand, auf einer Beerdigung. lassen. So, Herr Wagner, jetzt wäret Sie an der an die S21-Einsätze. Eines der kleinen roten dem »schwarzen Donnerstag« war der Vater ist – sie sagen, jeder aus anderen Gründen, Projekt entstehe genug davon. »Auch da haben Stumpf will heute keine Interviews geben. Reihe! Am Anfang, sagt Perrey, habe Wagner Kreuze, von den Gegnern verteilt, mit der dann richtig verbittert. Obwohl er, der aber doch genau so: Dieses Erlebnis habe sie uns gelinkt«, sagt Kartmann. Wegbegleiter sagen, er leide noch immer ihn mit Anzeigen überhäuft, Beihilfe zum Aufschrift »15.02.2012«, dem Datum der wegen des Verlassens seiner rumänischen ihnen die Augen geöffnet. Er sagt, er erinnere sich wieder daran, was unter den Umständen, die seine Karriere be Betrug, Nötigung, Körperverletzung, Tod zweiten Räumung des Mittleren Schlossgar Gemeinde zwei Jahre Berufsverbot bekam, so schön war, vor dem Tag X. Das Flirren. Das endeten. Perrey sagt, Stumpf sei nach dem und Teufel, alles unhaltbar. Das hörte auf. tens, damit noch mal 250 Bäume gefällt wer es alles andere als leicht hatte in Deutsch Diskutieren. Das Mitmachen. Vielleicht ist 30. September ein anderer Mensch gewesen. Wagner erkenne ihn heute auf fünf Meter an den konnten. Ein Button mit der Aufschrift land, empfand sein Sohn nach dem Vorfall PATRICK BAUER mehr von den Träumen geblieben, die der Ohnehin gab es, sagt Perrey, in Stuttgart der Stimme. »Mit dem kann man schwät »Polizeistaat 21«. Man könnte fast meinen, im Schlossgarten den unausgesprochenen Wasserwerfer zerfetzte, als Kartmann lange eine Zeit vor dem 30. September 2010 und zen«, sagt Perrey. Dietrich Wagner habe ihm dieses kleine, verstaubte Museum erzähle Vorwurf: Warum legst du dich mit diesem Der Reporter des SZ-Magazins wurde in Stuttgart ge- geglaubt hat. Wenn er an seine Musikschüler eine danach. Es sei damals zu einem Bruch immer leid getan. Nichts, sagt Perrey, recht vom Stolz, dabei gewesen zu sein, als Ge Land an? Warum kann nicht endlich Frieden boren, wuchs aber nicht dort auf. Mit dem Konflikt denkt, damals noch Kinder, die heute bei zwischen der Bevölkerung und der Polizei fertige das, was dem Mann widerfahren ist. schichte geschrieben wurde. Aber da liegt sein? Bis er seinem Vater eines Tages, an um Stuttgart 21 wurde er dennoch früh konfrontiert. Auf der Heckscheibe des kleinen Autos seiner in »Fridays for Future« besonders eifrig mitma gekommen. Auf einmal wurde alles, was sie Oft wurde Perrey auf den Demos danach auch ein Zeitungsartikel mit der Überschrift: dessen Ende sie sich in den Armen lagen, Stuttgart lebenden Großmutter prangt bis heute ein chen. In Stuttgart, sagt Kartmann, haben wir taten, hinterfragt. Ein Einbruch in einer gefragt, was er von dem Fiasko im Schloss »Demonstranten drohen zu erblinden«. sagte: Du hast mir immer von deinem Vater »Oben bleiben«-Sticker. Bauer war sehr froh, dass damals gelernt, Missstände zu benennen und Wohngegend, nachts um zwei, die Kollegen garten halte. Was sollte er antworten? Kein Ralf Perrey hat längst neue Sorgen. Im erzählt, mit Tränen in den Augen, dass er für sein Onkel seine Oma am 30. September 2010 auf eigene Ideen zu finden. Dieser Bau gräbt die parken eilig auf dem Gehweg, um schnell am Zweifel, sagt er auch heute, da lief mit Sicher Einsatzbereich seines Reviers befindet sich seine Überzeugung und sein Zuhause ge Abstand zu den Wasserwerfern hielt. 24 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN 25
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»MICK JAGGER FRAGTE, Mit ihm fing alles an: Rock-Pionier Achim Reichel im Interview über seine wilden Anfangsjahre mit den Rattles, Verrat an der Künstlerseele und die Frage, warum sein erfolgreichster Song fast in einer Kiste vergammelt wäre WAS WOLLT IHR DENN HIER?« Interview JOHANNES WAECHTER Zwei Hamburger Institutionen: Fotos Achim Reichel vor der Kneipe ROBIN HINSCH »Zum Silbersack« auf St. Pauli. Nicht weit davon, in der Hafen- straße, wuchs Reichel auf. 28 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN
SZ-MAGAZIN Ihre Autobio Schiffe beobachtet und gedacht, Viele Ruinen. Vor allem auch im offener Ort. Es war ja auch kein dies der Beginn einer Musik- ACHIM REICHEL grafie, die gerade erschienen Wahnsinn, der fährt jetzt hier Hafen. Da sah man zerbombte Zufall, dass sich der Rock ’n’ Roll, Die erste Single mit den Rattles erschien karriere sein könnte? ist, trägt den Titel: Ich hab das die Elbe hoch, durch die Nord- Lagerschuppen, ausgebrannte Gü- als er aufs europäische Festland 1963, das bisher letzte Album 2019 – kein Nein, überhaupt nicht. Wir wa- Paradies gesehen. Wo liegt es see, den Ärmelkanal und übern terwaggons, versunkene Schiffe, schwappte, ausgerechnet auf anderer deutscher Rockmusiker blickt auf ren wilde Minderjährige, die auf eine derart lange Karriere zurück denn, das Paradies? Atlantik nach Brasilien! Und von denen nur der Schornstein St. Pauli festsetzte: Als ich 16 der Bühne Gas gegeben haben. ACHIM REICHEL Das trage ich dann die Postkarten, die wir be- und ein paar Masten aus dem war, gab es quasi vor meiner Die Musik war ein Hobby, für mit mir herum. kamen: Großvater schrieb aus Wasser ragten. Auch das hat mei- Haustür schon mehrere Clubs, das wir sogar noch ein bisschen Was ist das für ein Ort? Australien, Vater aus Ägypten, ne Fantasie enorm angeregt. in denen jeden Abend Rock ’n’ Schmalzlocke Geld bekamen. Dass sich daraus Ein bestimmter Ort ist es gar und Onkel Oskar war vielleicht Und die Vergnügungs Roll gespielt wurde – den »Kai- Wie Millionen andere Teenager auch wird Achim Reichel, irgendetwas Längerfristiges erge- nicht. Gemeint sind die vielen gerade in Amiland. Bei einem industrie auf St. Pauli? serkeller«, das »Top Ten« und das geboren im Januar 1944, Ende der Fünfzigerjahre zum ben könnte, kam uns nicht in Glücksmomente, die ich erleben kleinen Jungen sind dadurch Die lief längst wieder. Und wir »Indra«. Später kam der »Star- Rock-’n’-Roll-Fan. Da darf die Halbstarken-Tolle nicht fehlen. den Sinn. Man war damals ja durfte. Mein Leben hat mir die ständig Lichter im Kopf ange- waren mehr oder weniger ein Club« dazu. auch bei den Plattenfirmen Möglichkeit geboten, etwas aus gangen. Manchmal kam es mir Teil davon. Die Mutter meines Bob Dylan hat mal gesagt, überzeugt, dass der Hype um meinem Talent zu machen und vor, als würde ich selbst auf die- besten Freundes arbeitete im zum ersten Mal Elvis zu den Rock ’n’ Roll im nächsten mich auf recht vielfältige Weise sen Schiffen mitfahren. »Hippodrom« auf der Großen hören, sei für ihn gewesen, Jahr wieder vorbei sein würde. musikalisch auszutoben. Oft ha- Ihr Vater starb, als Sie acht Freiheit. Und nachdem mein wie aus dem Gefängnis aus Was war Ihr schönstes Erleb- ben sich die Dinge auf fast schon waren. Was für Erinne Vater gestorben war, hat meine zubrechen. War das bei nis mit den Rattles? wundersame Weise gefügt, und rungen haben Sie an ihn? Mutter ein Zimmer unserer Woh- Ihnen auch so? Im gelobten Land der Popmusik ich habe auch für ungewöhn- Leider nur ganz wenige. Ich nung an Artisten aus dem »Allo- Bei mir war es Little Richard. Er angenommen zu werden. liche Projekte, bei denen anfangs habe ihn nur ein paarmal ge tria« vermietet, einem Varieté- sang, wie wenn er seinen Dämon Sie meinen die England-Tour alle skeptisch waren, ein Publi- sehen – er ist der große Unbe- Theater auf der Reeperbahn. Auf ausspucken würde. Das hat mich der Band 1964. kum gefunden. Das empfinde kannte in meinem Leben. Als er einmal haben Jongleure und tief bewegt! Ja, dreißig Doppelkonzerte an ich im Rückblick in der Tat als starb, mit nicht mal fünfzig Jah- Akrobaten bei uns im Flur ihre Haben die englischen Bands, Beat-Brüder dreißig Tagen, mit Little Mit den Rattles veröffentlicht paradiesisch. Die Gefahr ist aller- ren, war ich in erster Linie er- Nummern geprobt. Da habe ich die nun in den Clubs von Reichel (links) mehrere Sing- Richard, Bo Diddley und den dings, dass man sich, wenn man schüttert darüber, dass meine zum ersten Mal eine Nähe zum St. Pauli auftraten, Sie und les, Alben und sogar einen Everly Brothers. Alle echte Göt- viel Glück hat, irgendwann für Mutter so verzweifelt war. Ich Künstlermilieu verspürt und Ihre Freunde auf die Idee Spielfilm namens Hurra, die ter für uns. Und die Rolling den tollen Hecht hält, dem alles habe versucht, sie zu trösten, eine Ahnung davon bekommen, gebracht, die Rattles zu Rattles kommen. »Da dampft Stones waren auch noch dabei. gelingt. und nicht umgekehrt. dass der Beruf des Kellners, den gründen? die Leinwand! Da wackelt das Mick Jagger fragte, was wollt ihr Kino!«, verspricht das Plakat. Verfasst haben Sie Ihr Buch Haben Sie das Gefühl, dass meine Mutter für mich vorge Ich würde eher sagen: Die haben denn hier? Als deutsche Band größtenteils als Passagier er Ihnen trotzdem etwas sehen hatte – auch Vater war ja uns bekräftigt. Wir hatten ja be- waren wir natürlich das letzte auf einem Frachtschiff, das mitgegeben hat? Schiffssteward gewesen –, viel- reits hinter der Reeperbahn in Rad am Wagen. Mit den Stones von Hamburg nach Namibia Sicherlich das Herz, den Sinn für leicht doch nicht das Richtige einer Jugendfreizeitstätte einen haben wir uns gestritten, weil fuhr. Wieso ausgerechnet die Seefahrt und eine gewisse für mich wäre. Übungskeller, wo wir bei null wir, genau wie die, Chuck-Berry- dort? Abenteuerlust. Aber vielleicht Würden Sie sagen, dass der angefangen haben, mit Mutters Nummern im Programm hat- Ich habe anfangs versucht, das hätte er auch gesagt: Was willst sprichwörtliche Muff der Tastenradio als Gitarrenverstär- ten. Das gefiel denen gar nicht. Buch nebenher zu schreiben. Bis du machen? Musik? So ein Blöd- Fünfzigerjahre auf St. Pauli ker. Als dann die englischen Aber wir haben uns behauptet etwas weniger bedrückend ich nach ein paar Jahren merkte, sinn! Letzten Endes bin ich es Bands kamen, waren wir schon Der Spieler und uns einen Platz unter all die- dass ich viel zu langsam voran- doch selbst gewesen, der die über den Dingen lag als im in der Lage, Vergleiche zu zie- Ab Anfang der Achtzi- sen Weltstars erkämpft. kam und irgendwo in Klausur Chancen ergriffen hat, die sich Rest des Landes? hen. Das Tolle war: Man konnte ger bringt Reichel Wie hat das britische Publi- gehen musste. Auf so einem boten. Das denke ich schon. Aber we- mit denen reden. Man konnte zu etliche erfolgreiche kum auf Sie reagiert? Schiff stört dich keiner, und du Wie sah Hamburg in den gen des Hafens war St. Pauli Paul McCartney sagen, sag mal, Solo-Alben heraus. Die fanden unseren Akzent ir- kannst auch nicht weglaufen. Fünfzigerjahren aus? schon immer ein relativ welt wie geht bei dieser Nummer das Sein Song Der Spieler gendwie schnuckelig, und uns Fotos: imago/United Archives, Peter Clay/all4prices, imago stock&people, privat (Text: Jörg Fauser) Hinzu kam, dass ich mich dort Gitarren-Intro, kannst du mir das auch, glaube ich. Aber wir waren steht 1983 13 Wochen auf besondere Weise meinen mal ganz langsam vorspielen? in den Charts. schon auch eine gute Band. Viel Vorfahren verbunden fühlte – Wie oft haben Sie damals die Energie, von der kantigen, eher mein Vater, mein Großvater und der Bruder meiner Mutter waren alle einst zur See gefahren. »MEIN VATER IST Beatles live gesehen? Das weiß ich nicht mehr. Das war ja nichts Besonderes, wir wa- Die Dichter Neben Jörg Fauser (Foto) arbeitet Reichel in den Achtzigern auch mit dem unbehauenen Sorte. Im Sommer 1966 mussten Sie zur Bundeswehr. Wie hat das Seefahrer-Milieu auf Sie als kleinen Jungen gewirkt, der nach dem Krieg DER GROSSE ren ständig in diesen Clubs, be- stimmt mehrmals pro Woche. Die Beatles waren zu der Zeit Dichter Peter-Paul Zahl zusammen. Einige Jahre zuvor hatte er bereits drei Und ich war fest davon über- zeugt, dass sich keiner mehr an mich erinnert, wenn ich nach 18 UNBEKANNTE in Hamburg-St. Pauli auf eine Band von vielen, aber doch Alben des Underground- Monaten wieder rauskomme. wuchs? einen Tick besser als die anderen. Poeten Kiev Stingl Deshalb habe ich zugestimmt, produziert. Mein Elternhaus steht in der Der Durchbruch der Rattles als meine Plattenfirma mir nahe- kam im Februar 1963, als Sie Die Erinnerungen IN MEINEM LEBEN« Hafenstraße, von unserer Woh- legte, einen Song zu singen, den Reichels Memoiren Ich hab das nung hatten wir den vollen Elb- im »Star-Club« einen Wett- Paradies gesehen sind gerade im ich eigentlich furchtbar fand: blick. Als Schuljunge saß ich oft bewerb für deutsche Nach Rowohlt Verlag erschienen. Trag es wie ein Mann, die deut- mit meinem Flaggenlexikon am wuchsbands gewannen. sche Version eines Gene-Pitney- Fenster, habe die auslaufenden Hofften Sie da schon, dass Titels. Passt doch wie Arsch auf 30 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN 31
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