KORRESPONDENZBLATT DES CANISIANUMS - Heft 2, Jahrgang 149 - Wintersemester 2016/2017 - Canisianum Innsbruck

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KORRESPONDENZBLATT DES CANISIANUMS - Heft 2, Jahrgang 149 - Wintersemester 2016/2017 - Canisianum Innsbruck
KORRESPONDENZBLATT
DES CANISIANUMS
Heft 2, Jahrgang 149 – Wintersemester 2016/2017
KORRESPONDENZBLATT DES CANISIANUMS - Heft 2, Jahrgang 149 - Wintersemester 2016/2017 - Canisianum Innsbruck
Inhaltsverzeichnis

Geleitwort des Rektors ................................................................................................................ 1

1. Herz-Jesu-Fest 2016
     Festprogramm ....................................................................................................................... 2
     Begrüssung von Rektor P. Friedrich Prassl SJ ..................................................................... 3
     Barmherzigkeit allein reicht nicht?
     Festvortrag von P. Dr. Klaus Vechtel SJ .............................................................................. 5
     Bilder vom Herz-Jesu-Fest 2016 . ....................................................................................... 16

2. Vorträge
     Impulse zum Triduum von Sr. Barbara Flad .......................................................................... 18
     1. Impuls: „Im Blickfeld Gottes“
     2. Impuls: „Mit sich versöhnt“
	Laudatio für Univ.-Prof. Dr. Józef Niewiadomski. ................................................................. 21

3. Neoingressi 2016/2017
	Aneto Emmanuel Onyinye......................................................................................................             24
     Baraza Amos Odhiambo........................................................................................................         24
	Enyam Couston Francis. ......................................................................................................            25
	Mlundi Michael ...................................................................................................................       29

4. Aktuelles und Chronik
	Alt-Canisianer-Konveniat 2016 in Amerika............................................................................                     27
	Mahamboro Bismoko – Bericht aus Indonesien. .....................................................................                        31
	Dies Facultatis 2016............................................................................................................         33
	Helvetia Oenipontana – 156. Stiftungsfest 2016...................................................................                        35
	Chronik von 10. Dezember 2015 bis 10. Dezember 2016.......................................................                               36
	Die Hausgemeinschaft des Collegium Canisianum 2015/2016 . ..............................................                                 45

5. Wir gratulieren . ..................................................................................................................... 46

6. Diözesenliste – Studienjahr 2016/17 . ..................................................................................... 51

7. Geburtstage und Weihejubiläen 2017 ...................................................................................... 53

8. Memento Mori ........................................................................................................................ 57

9. Briefe und Grüsse aus aller Welt ........................................................................................... 64

10. Rezensionen und Eingang von Büchern . ................................................................................. 68

11. Terminkalender ..................................................................................................................... 71

12. Wir danken unseren Spendern und Förderern ........................................................................ 73

13. Bankverbindungen ................................................................................................................. 76

14. Impressum.............................................................................................................................. 77
KORRESPONDENZBLATT DES CANISIANUMS - Heft 2, Jahrgang 149 - Wintersemester 2016/2017 - Canisianum Innsbruck
Geleitwort des Rektors

Liebe Alt-Canisianer, Freunde und Wohltäter, liebe Canisianer!
                                                unserem Dienst für die Weltkirche helfen.
                                                „Ich bin dankbar, nicht weil es vorteilhaft ist,
                                                sondern weil es Freude macht.“ Mit diesem
                                                Wort von Seneca habe ich im vergangenen
                                                Jahr oft danken dürfen – voll Freude, ohne
                                                den Vorteil für das Canisianum zu verges-
                                                sen!

„Echte Freude bleibt Freude!“
Diese Erfahrung haben wir am 8. Dezember,
an unserem „Besinnlichen Adventabend“ im
Canisianum, wieder gemacht. Ein internati-
onaler Chor des Canisianums und der Kam-
merchor Innsbruck haben dazu beigetra-                 Echte Freude bleibt Freude
gen, mitten in der Adventzeit inne zu halten,
um beim „adventlichen Laufschritt“ wieder              still und achtsam
zu Atem zu kommen. Über 170 Gäste nah-                 sie kommt aus dem Herzen
men unsere Einladung an, ihre Herzen und               und strahlt aus den Augen
Ohren zu öffnen, um die „Stimme des En-                sie kommt zu jenen,
gels zu vernehmen, der von Freude singt“.              die andere erfreuen
Mit diesen Gedanken von Tina Willms lade               sie nimmt nicht ab,
ich ein, im kommenden Jahr immer wie-                  wenn sie geteilt wird
der auf die Grundstimmung der Freude zu                echte Freude bleibt
achten. Neben vielem, das unsere Freude
manchmal trübt, gibt es doch immer wie-         „Freut euch – auf diese Weise!“ – diesen
der Anlässe, Gelegenheiten und besondere        herzlichen Wunsch spreche ich aus im Na-
Momente, bei denen wir die vielen Facetten      men der Hausgemeinschaft des Canisia-
der Freude im eigenen Leben spüren.             nums, im Geiste des „cor unum et anima
Ich freue mich über die Aufnahme von sechs      una“. Mit einem einfachen „Vergelt’s Gott“
neuen Mitbrüdern im Canisianum. Ich freue       für die treue Verbundenheit mit uns wün-
mich über den Abschluss von vier Disserta-      sche ich allen Freundinnen und Freunden
tionen und vier Magisterarbeiten. Ich freue     des Canisianums eine gesegnete Weih-
mich über die vielen Interessenten für ein      nachtszeit und ein friedvolles neues Jahr.
Studium im Canisianum.
Ich freue mich über die finanzielle Unter-
stützung des Canisianums durch zahlreiche
Alt-Canisianer, Spenderinnen und Spender
sowie dreizehn Patenpfarren, die uns bei                    P. Friedrich Prassl SJ

                                                                                              1
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Herz-Jesu-Fest

1. Herz-Jesu-Fest

1.1 Programm zum Herz-Jesu-Fest

       Herz-Jesu-Fest am 3. Juni 2016
                            Triduum am 1. und 2. Juni 2016
                             Impulse von Sr. Barbara Flad
                                 1. Im Blickfeld Gottes
                                  2. Mit sich versöhnt

                                       16:00 Uhr
                                     Festakademie

                            Theresa Sophia Tscholl, Klavier
               Frédéric Chopin (1810-1849), Etüde Nr. 1 in As-Dur Op. 25

                     Begrüßung durch Rektor P. Friedrich Prassl SJ

                            Theresa Sophia Tscholl, Klavier
                        Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791),
               aus der Sonate Nr. 11 in A-Dur, KV 331: 3. Satz „Alla Turca“

                                      Festvortrag

                                P. Dr. Klaus Vechtel SJ
                         Professor für Systematische Theologie
             an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen,
                                    Frankfurt a. Main

                        Barmherzigkeit allein reicht nicht?
               Überlegungen zum theologischen Wert der Barmherzigkeit

                             Theresa Sophia Tscholl, Klavier
                       Frédéric Chopin, Etüde Nr. 3 in E-Dur Op. 10

                                       17:30 Uhr
                        Eucharistiefeier mit P. Klaus Vechtel SJ
                               Kapelle des Canisianums
                                Johannes Blaas, Orgel

                                       19:00 Uhr
                                Festliches Abendessen
                                     Jesuitenkolleg
                                       Sillgasse 6

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Herz-Jesu-Fest

1.2 Begrüssung und Hinführung                seinen Bruder Bernhard Bürgler, unseren
                                             Provinzial, herzlich im Canisianum will-
P. Friedrich Prassl SJ                       kommen heißen. Ich freue mich sehr, dass
Herz-Jesu-Fest am 3. Juni 2016               Dr. Klaus Vechtel SJ, Professor an unserer
                                             Ordenshochschule St. Georgen in Frank-
                                             furt, heute den Festvortrag zum kirchlichen
                                             Herzensthema von Papst Franziskus halten
                                             wird. P. Vechtel hat auch hier in Innsbruck
                                             an seiner Habilitation in Dogmatik gearbei-
                                             tet und ist gerne in Tirol – lieber Klaus, ein
                                             herzliches Willkommen.

                                             Liebe Festgäste!
                                             Ich danke Ihnen von Herzen, dass Sie
                                             heuer wieder unserer Einladung zu einem
                                             Fest gefolgt sind. Wir sind heute wahrlich
                                             nicht die Einzigen, die das Herz-Jesu-
                                             Gedenken in den Mittelpunkt stellen. Bis
                                             heute Nachmittag hat es an der Theologi-
                                             schen Fakultät ein Symposion zum Thema
                                             „Barmherzigkeit – Geschenk und Auftrag“
                                             gegeben. Ich begrüße ganz herzlich die
                                             Teilnehmerinnen und Teilnehmer an diesem
                                             Symposium. Zum ersten Mal wird der Lan-
                                             desgelöbnisgottesdienst heute Abend um
                                             19.00 Uhr in der Jesuitenkirche gefeiert,
P. Friedrich Prassl SJ                       mit landesüblichem Empfang und Konzert.
                                             Der Bischof-Stecher-Gedächtnisverein, mit
Sehr geehrte Festgäste,                      seinem sehr aktiven Obmann Peter Jung-
ehrwürdige Schwestern, liebe Mitbrüder       mann, hat in diesen Tagen eine breitgefä-
aus dem Jesuitenorden und im gemein-         cherte Initiative für „eine Kultur der Herz-
samen priesterlichen Dienst, liebe Mitar-    lichkeit“ gestartet. Zahlreiche Institutionen
beiterInnen der Diözese Innsbruck, lie-      aus Kirche, Politik, Kunst und Kultur möch-
be ProfessorInnen und Lehrende an der        ten mit verschiedenen Aktionen und Veran-
Theologischen Fakultät, liebe Alt-Canisia-   staltungen den heutigen Herz-Jesu-Freitag
ner und Canisianer, liebe Freundinnen und    zu einem „Tag der Herzlichkeit“ werden
Freunde unseres Hauses, liebe Mitarbei-      lassen. Vorträge, Ausstellungen, Andach-
terinnen und Mitarbeiter des Canisianums     ten, Benefizkonzerte, Bergfeuer und vieles
und des Jesuitenkollegs!                     mehr wollen dazu einladen, gemeinsam
Im Namen der Hausgemeinschaft des Ca-        auf eine „Kultur der Herzlichkeit“ zu achten
nisianums begrüße ich Sie alle ganz herz-    und diese zu pflegen. Unsere Gesellschaft
lich zu unserem Hausfest. Es freut uns       und auch unsere Kirche brauchen herzli-
sehr, dass wieder so viele der Einladung     che Menschen, die offen auf andere zuge-
gefolgt sind, das Herz-Jesu-Fest – wie       hen und besonders Menschen in Not, auf
in den vergangenen Jahren – in diesem        der Flucht, auf der Suche nach einer neuen
altbekannten Haus zu feiern! Zu Beginn       Heimat, Menschen in ihrem Scheitern mit
dieser Feier möchte ich ganz besonders       Wohlwollen, Respekt und Mitgefühl be-
Diözesan­administrator Jakob Bürgler und     gegnen. Es braucht beherzte Menschen,

                                                                                         3
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Herz-Jesu-Fest

die sich vom Leid und von der Freude an-          der Vortrag und persönliche Erfahrungen
derer berühren lassen. Es braucht Men-            nachbesprochen werden.
schen, die ihrem Herzen folgen, anderen           Mit wenigen Worten begrüße ich Klaus
ihre Hilfe anbieten und sich für ein gutes        Vechtel noch einmal ganz herzlich und
Miteinander einsetzen – in persönlichen           stelle ihn kurz vor:
Beziehungen, in der Familie, in der Nach-
barschaft, am Arbeitsplatz, in der eigenen        P. Klaus Vechtel SJ wurde 1963 in Dorma-
Ordensgemeinschaft, in der Gesellschaft,          gen (NRW) geboren. 1983 begann er mit
in unserer Kirche.                                dem Theologiestudium für die Erzdiözese
Auch wir wollen mit unserer Feier dazu            Köln in Bonn und ab 1985 im Collegium
beitragen, ein Zeichen zu setzen für eine         Germanicum et Hungaricum in Rom. 1989
Kultur der Herzlichkeit, der Gastfreund-          wurde er in Rom durch Kardinal Joseph
lichkeit, der Hilfsbereitschaft und Solida-       Ratzinger zum Priester geweiht. Nach dem
rität – über viele kulturelle, soziale, religi-   Lizentiatsstudium in Rom trat er 1991 in die
öse und politische Grenzen hinweg. Viele          Gesellschaft Jesu in Münster ein. Ab 1993
Menschen unterstützen uns dabei. Unse-            war er viele Jahre in der Priesterausbildung
re Hausgemeinschaft im Canisianum ist             in Frankfurt und Rom tätig, unterbrochen
selbst so ein Zeichen. Wir sind derzeit 35        durch sein Promotionsstudium in Frank-
Studenten aus 13 Ländern und 28 Diöze-            furt. Das Tertiat verbrachte er in Australien.
sen der Weltkirche. In diesem Studienjahr         Seit 2007 lehrt er an der Hochschule Sankt
haben bereits zwei Studenten ihr Studium          Georgen in Frankfurt am Main. 2013 folgte
abgeschlossen, zwei weitere werden in             die Habilitation an der Universität Mainz.
den nächsten Monaten abschließen und in           Für seine Habilitationsarbeit wurde ihm
ihre Heimatländer zurückkehren, um ihren          der Karl-Rahner-Preis 2014 verliehen. Seit
Dienst in der Ausbildung bzw. in verschie-        2014 ist er Professor für Dogmatik an un-
denen Leitungsaufgaben zu leisten. Zwei           serer Philosophisch-Theologischen Hoch-
Studenten haben das Canisianum aus per-           schule Sankt Georgen, Frankfurt.
sönlichen Gründen vorzeitig verlassen. Im         Am besten entspannen kann er beim Gi-
September werden sechs neue Studenten             tarre Spielen – habe ich gehört. Vor dem
ins Haus kommen. Wir freuen uns auf sie –         Festvortrag hören wir jedoch nicht ihn an
die Nachfrage für ein Studium in Innsbruck        der Gitarre, sondern noch ein weiteres Kla-
ist weiterhin sehr stark.                         vierstück von Mozart, dargebracht von der
Mit dem herzlichen Dank, besonders an             Pianistin Theresa Sophia Tscholl, die uns
alle Förderer, an alle Freundinnen und            heute musikalisch begleitet. Liebe Frau
Freunde des Canisianums, für Ihre treue,          Tscholl, auch Ihnen herzlichen Dank für
langjährige Wegbegleitung, für Ihre viel-         Ihre Mitwirkung an unserem Fest. Lieber
fältige Unterstützung und Heimat, die             Klaus, darf ich Dich um Deinen Festvortrag
viele persönlich und als Patengemeinden           bitten.
schenken, wünsche ich uns allen ein erfüll-
tes Herz-Jesu-Fest, das unseren Glauben
stärkt und uns „Barmherzigkeit“ schenkt.
Klaus Vechtel wird uns dazu in seinem
Festvortrag sicher einige herzliche Anre-
gungen mitgeben auf unseren Weg. Nach
dem Festvortrag und nach der gemeinsa-
men Eucharistiefeier mit Klaus Vechtel in
der Hauskapelle werden wir miteinander
in der Sillgasse 6 ein Mahl halten. Beim
gemütlichen Spaziergang hinüber kann

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Herz-Jesu-Fest

1.3 Festvortrag zum Herz-Jesu-Fest              tung des Gesetzes einfordern. Die Gerech-
                                                tigkeit genügt nicht, und die Erfahrung lehrt
P. Dr. Klaus Vechtel SJ, Frankfurt              uns, dass, wer nur an sie appelliert, Gefahr
Habilitierter Professor für Systemati-          läuft, sie zu zerstören“2. Wie eine Antithese
sche Theologie an der Ordenshoch-               zu dem Papst-Wort „Gerechtigkeit genügt
schule der Jesuiten St. Georgen in              nicht“ mutet ein Interview an, das der re-
Frankfurt a. M.                                 nommierte Sozialethiker Friedhelm Hengs-
                                                bach gegeben hat: „Barmherzigkeit allein
                                                reicht nicht“3. Für Hengsbach hat sich die
                                                Kirche in eine Sackgasse manövriert, inso-
                                                fern sie an verpflichtenden Normen wie der
                                                Unauflöslichkeit der Ehe unbeirrbar fest-
                                                hält. Gegenüber diesen normativen Ord-
                                                nungen sei es ungenügend, mit der Barm-
                                                herzigkeit zu operieren. Die Barmherzigkeit
                                                wäre eine Art „Hintertür“. Man befinde sich
                                                hinsichtlich vieler Fragen kirchlicher Ehe-
                                                und Sexualmoral in einer unlösbaren Si-
                                                tuation, kaschiere diese aber, indem man
                                                sich auf die Barmherzigkeit Gottes beruft.
                                                Für Hengsbach reicht es nicht, auf der per-
                                                sönlich-individuellen Ebene Barmherzig-
                                                keit walten zu lassen. Vielmehr müsse sich
                                                die Kirche eine gerechtere Ordnung geben:
                                                „Eine Kirche, die nicht in sich Gerechtig-
                                                keit verwirklicht, die darf nicht so einseitig
                                                auf Barmherzigkeit setzen. Barmherzigkeit
P. Dr. Klaus Vechtel SJ                         ist nicht die Antwort auf Forderungen nach
                                                einer gerechten Kirche.“4

Barmherzigkeit allein reicht nicht?             Einige Punkte in diesen Äußerungen schei-
Überlegungen zum theologischen Stellen-         nen mir missverständlich zu sein: So muss
wert der Barmherzigkeit                         differenziert werden zwischen dem sakra-
                                                mentalen Charakter der Ehe einerseits und
Einleitung1                                     dem kirchlichen Umgang mit der Realität
In seiner Verkündigungsbulle „Misericordi-      des Scheiterns von christlichen Ehen an-
ae vultus“ hat Papst Franziskus eines seiner    dererseits. Kann ein solches Scheitern al-
wichtigen Anliegen – die Barmherzigkeit –       lein mit rechtlichen Kategorien bewältigt
in den Mittelpunkt eines außerordentlichen      werden, oder bedarf es dazu einer Dimen-
Jubiläumsjahres gerückt: Die Kirche soll zu     sion, die die Gerechtigkeit umfasst; einer
einem Raum der Barmherzigkeit werden.           Dimension, die die Möglichkeit der Um-
Der Papst ist überzeugt davon, dass das         kehr und eines neuen Anfangs einräumt
biblisch-christliche Gottesbild nicht auf die   – die der Barmherzigkeit? Auch scheint
Gerechtigkeit als Eigenschaft Gottes be-        mir die starke Entgegensetzung einer per-
schränkt bleiben darf, will man nicht in ei-    sönlich-individuellen Ebene des barmher-
nen Anthropomorphismus verfallen: „Wenn         zigen Verhaltens und der gesellschaftlich-
Gott bei der Gerechtigkeit stehen bliebe,       strukturellen Ebene der Gerechtigkeit nicht
dann wäre er nicht mehr Gott, sondern           treffend zu sein. Kann (und muss) nicht
vielmehr wie die Menschen, die die Beach-       gerade die Barmherzigkeit dazu führen,

                                                                                            5
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Herz-Jesu-Fest

dass auch kirchliche Norm und Disziplin         gen Vater; sie verpflichtet auch die Kirche
modifiziert werden? Trotz dieser Einwände       und jeden einzelnen Christen. Barmher-
sind Hengsbachs Überlegungen bedeut-            zigkeit erwächst aus der Sorge um die un-
sam, weil sie darauf aufmerksam machen,         verlierbare Würde des anderen Menschen.
wie Barmherzigkeit nicht zu denken ist: Die     Gottes Barmherzigkeit bedeutet eine Aner-
Frage nach der Barmherzigkeit darf nicht        kennung des Menschen in seiner Würde,
als ein „Trick“ verstanden werden, mit          eine Anerkennung als Geschöpf und Kind
dem man die (unbarmherzige) Rechtsord-          Gottes.7 Eine solche Barmherzigkeit wür-
nung umgeht. Barmherzigkeit muss mehr           de Gerechtigkeit einschließen, die struk-
sein als eine Nachsichtigkeit, die im Blick     turell zusichert, was die Barmherzigkeit
auf die Schuld ein Auge zudrückt. Eine          realisieren möchte. Barmherzigkeit stellt
solche Barmherzigkeit wäre eine „Gna-           somit kein asymmetrisches, den anderen
de nach Gutsherrenart“5. Sie würde den          demütigendes Verhalten dar, sondern eine
„Empfänger“ demütigen und seiner Wür-           Begegnung auf Augenhöhe zwischen Gott
de berauben. Barmherzigkeit wäre ein rein       und Geschöpf sowie auch zwischen den
asymmetrisches Verhältnis zwischen dem          Menschen. Aber entspricht eine solche
„Empfänger“ und dem „Geber“ der Barm-           Bestimmung der Barmherzigkeit tatsäch-
herzigkeit und hätte schwerwiegende Kon-        lich dem biblisch-christlichen Gottesbild?
sequenzen für das Gottesbild. Der barm-         Wie lässt sich theologisch verantwortlich
herzige Gott könnte sich eigentlich auch        von der Barmherzigkeit als einer Eigen-
ganz anders gegenüber dem Geschöpf              schaft Gottes sprechen? Dem möchte ich
verhalten, verzichtet aus unerfindlichen        in drei Punkten nachgehen:
Gründen jedoch darauf.
                                                • In einem ersten Punkt möchte ich darauf
Johannes Paul II. hat in seiner Enzyklika         eingehen, ob die Rede von der Barm-
„Dives in misericordia“6 Hinweise zu einem        herzigkeit „nur“ eine uneigentliche bzw.
differenzierten Verständnis von Barmher-          eine schwache Rede von Gott ist, weil
zigkeit gegeben. Ausgangspunkt ist das            mit dem Begriff der Barmherzigkeit me-
Gleichnis vom verlorenen Sohn. Auch               taphorisch von Gott gesprochen wird.
wenn das Begriffspaar Barmherzigkeit und          Reicht es auch deshalb nicht, von Got-
Gerechtigkeit nicht explizit genannt wird,        tes Barmherzigkeit zu sprechen, weil ein
so wird eine Situation beschrieben, in der        auf so menschliche Weise beschriebe-
der jüngere Sohn keine Ansprüche mehr an          ner Gott doch nicht Gott ist?
den Vater stellen kann, die der Gerechtigkeit   • In einem zweiten Punkt der Frage
entsprechen. Dennoch bleibt der Vater sich        möchte ich nachgehen, welchen Rang
und seinem Vatersein treu. Der Vater bleibt       die Barmherzigkeit innerhalb der unter-
Vater und der Sohn bleibt Sohn. Die Freude        schiedlichen Facetten des biblischen
des Vaters „weist auf ein unverletztes Gut        Gottesbildes einnimmt. Ist die Barmher-
hin: Ein Sohn hört nie auf, in Wahrheit Sohn      zigkeit nur eine von vielen Weisen, wie
seines Vaters zu sein, selbst dann nicht,         wir Gott erfahren? Reicht „Barmherzig-
wenn er sich von ihm trennt“. Barmherzig-         keit alleine“ auch deshalb nicht, weil das
keit stellt kein Verhältnis der Ungleichheit      biblische Gottesbild auch andere Züge,
dar. Sie demütigt den Menschen nicht, weil        etwa den des Zornes, kennt?
sie „auf der gemeinsamen Erfahrung jenes        • Schließlich möchte ich in einem Ausblick
Gutes beruht, das der Mensch ist, auf der         auf das „Situative“ der Barmherzigkeit
gemeinsamen Erfahrung der ihm eigenen             eingehen: Barmherzigkeit entsteht durch
Würde“. Die Sorge um die Würde des an-            die konkret erfahrene Not des anderen
deren, so Johannes Paul II., verpflichtet in      und impliziert eine Grenzüberschreitung.
einem bestimmten Sinne den barmherzi-             In der konkreten Situation kann dabei

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KORRESPONDENZBLATT DES CANISIANUMS - Heft 2, Jahrgang 149 - Wintersemester 2016/2017 - Canisianum Innsbruck
Herz-Jesu-Fest

  ein Ruf Gottes erfahrbar werden, wie es     bestimmte Lieblingsaussagen wie „Gott ist
  meiner Meinung nach das nachsynodale        Liebe“ (1 Joh 4,16) oder etwa das Hosea-
  Schreiben „Amoris laetitia“ impliziert.     Wort „Denn ich bin Gott, nicht ein Mensch
                                              […] Darum komme ich nicht in der Hitze
1. Barmherzigkeit: uneigentliche Rede         des Zorns“ (Hos 11,9) zu Spitzenaussagen
von Gott?                                     der Bibel zu stilisieren, denen man andere
In den biblischen Wissenschaften herrscht     Aussagen, wie etwa über den Zorn Gottes,
weitgehend Einigkeit darüber, dass die        unterordnen kann. Die verschiedenen bib-
Bibel nur selten Eigenschaften Gottes er-     lischen Aussagen über Gottes Eigenschaf-
wähnt und damit keinesfalls unveränder-       ten lassen sich für Groß nicht zu einem
liche oder zeitlose Eigenschaften meint.      einheitlichen Gottesbild zusammenfügen:
Wenn Gott Eigenschaften zugesprochen          „Die Gottesbilder, weil auf gegenläufigen
werden, dann geschieht das im Zusam-          Erfahrungen beruhend, bleiben disparat.“9
menhang von Gottes Geschichtshandeln.
Die Bibel spricht von menschlichen Er-        Wenn man davon ausgeht, dass die me-
fahrungen mit Gott und tut dies nicht sel-    taphorische Rede für das Sprechen über
ten in einer spontanen, vorrationalen und     den biblischen Gott eine wesentliche Be-
metaphorischen Weise. Dies gilt auch von      deutung besitzt, dann scheint sich ein Di-
der Barmherzigkeit Gottes. Barmherzig-        lemma zu ergeben: Unterschlägt man die
keit meint eine das Innerste einer Person     Metaphorizität von Gottesaussagen – wie
betreffende, von Herzen kommende Rüh-         etwa König, Vater oder Richter –, dann
rung, die im AT insbesondere durch den        wird aus der Metapher ein Idol, ein Göt-
Begriff rachamim ausgedrückt wird, der        ze: Sollte Gott tatsächlich im Wesentli-
sich von der Bezeichnung rechem für den       chen ein König oder ein Richter sein, nur
Mutterschoß ableitet, bzw. neutestament-      eben ein göttlicher, dann wird Gott anth-
lich durch den Begriff splanchna (Eingewei-   ropomorph gedacht. Wenn man umge-
de). Die Rede von der göttlichen Barmher-     kehrt jedoch anerkennt, dass wir keine
zigkeit ist eine metaphorische Rede: Der      „göttliche“ Sprache besitzen, sondern nur
Ort, wo Menschen Rührung oder Mitleid         bildhaft-metaphorisch unsere Erfahrung
empfinden – der Ort unterhalb des Brust-      von Gott ausdrücken können, wächst der
korbs (rachamim) bzw. die Eingeweide          Verdacht, dass menschliche Sprache über
(splanchna) – wird „in Gott hinein-getragen   eine Wirklichkeit spricht, über die nichts
(meta-pherein), weil Menschen das unaus-      Verbindliches gewusst und gesagt werden
sprechliche Geheimnis Gottes in ihrer Ge-     kann: Alle Aussagen über Gott wären „nur
schichte und in ihrem Leben so menschlich     Bilder“.10 Was folgt daraus für die Rede
barmherzig erfahren“8. Der Tübinger Alt-      von der Barmherzigkeit Gottes? Kann Got-
testamentler Walter Groß betont in diesem     tes Barmherzigkeit zur „Grundeigenschaft
Zusammenhang, dass die metaphorische          Gottes“11 (W. Kasper) bzw. „zum ersten At-
Redeweise unverzichtbar ist für die Art       tribut Gottes“12 (Papst Franziskus) erklärt
und Weise, wie Gottes Wirklichkeit erfasst    werden?
werden kann. Allerdings lassen sich die
verschiedenen metaphorischen Aussage-         Die Metapher gilt als ein uneigentlicher
weisen Gottes für Groß nicht einfach syste-   Wortgebrauch: „Metapher“ wird klassisch
matisieren. Ob man vom Zorn oder von der      so beschrieben, dass ein sprachlicher
Liebe Gottes spricht, es handele sich glei-   Ausdruck, der als Prädikat eines anderen
chermaßen um metaphorische Aussagen.          Ausdrucks fungiert (Alexander war tapfer),
Keinesfalls gibt es für ihn Gottesaussagen,   durch einen anderen ersetzt wird, der im
die mehr, und andere, die weniger meta-       Kontext uneigentlich gebraucht wird (Ale-
phorisch sind. Deshalb verbiete es sich,      xander war ein Löwe). Die Metapher wird

                                                                                       7
KORRESPONDENZBLATT DES CANISIANUMS - Heft 2, Jahrgang 149 - Wintersemester 2016/2017 - Canisianum Innsbruck
Herz-Jesu-Fest

als Bewegung (Übertragung) definiert, die       25,31-46) im Blick auf das Verhältnis von
sich gemäß der Analogie vollzieht. Die ei-      Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes
gentliche Bedeutung des zu ersetzenden          betrachtet, dann lässt sich sagen: Aus
Wortes steht zu dem Ersatz-Wort in einem        diesen Gleichnissen kann kein Modell he-
Ähnlichkeitsverhältnis. Die Metapher hat        rausdestilliert werden, das begrifflich ein-
traditionell ihren Platz in der Rhetorik: Sie   deutig das Verhältnis von Barmherzigkeit
soll einen Gedanken leichter einsichtig ma-     und Gerechtigkeit Gottes klärt oder eine
chen und die Aufmerksamkeit sowie das           kasuistische Anwendbarkeit von Barm-
Gefallen der Hörer steigern.13 Wie kann die     herzigkeit und Gerechtigkeit in jeder Si-
Metapher jedoch mehr sein als ein schmü-        tuation begründen könnte. Das Verhalten
ckendes Beiwerk der Rede?                       des barmherzigen Vaters gerät nicht nur
                                                in Konflikt mit den Prinzipien menschlicher
Eberhard Jüngel hat in seinem Artikel „Me-      Erziehung. Das Verhalten des Vaters steht
taphorische Wahrheit“ im Anschluss an           als göttliches Verhalten auch in einer deut-
die aristotelische Lehre von der Metapher       lichen Spannung zu den Gerechtigkeits-
und an Heideggers Existenzialhermeneu-          und Barmherzigkeitsszenarien der anderen
tik bedeutsame theologische Hinweise für        Gleichnisse. Dies stellt jedoch keinen Ver-
das Verständnis einer metaphorologischen        lust an Eindeutigkeit dar, weil diese Gleich-
Gottesrede gegeben.14 Weil die Metapher         nisse keine menschliche, sondern die gött-
eine Differenz aussagt zwischen den in der      liche Barmherzigkeit und Gerechtigkeit
Metapher genannten Subjekten, ist sie für       beschreiben wollen: Gottes Gerechtigkeit
die christliche Rede von Gott von großer        ist demnach kein letzter Wert in sich, son-
Relevanz. Für den christlichen Glauben          dern finalisiert hin auf den umfassenderen
wird nur dann von Gott geredet, wenn            Wert seines schöpferischen Lebenswillens
die fundamentale Differenz von Gott und         für die gesamte Schöpfung und für jeden
Welt nicht nivelliert wird. Gott wäre nicht     einzelnen Menschen.15
als Gott ausgesagt, wenn er dabei nur als
ein Teil der Wirklichkeit oder als ihre Ein-    Die metaphorische Ausdrucksweise wäre
heit ausgesagt wird. Nun gilt aber: Unsere      kein rhetorisches Zugeständnis an die
Sprache kennt nur weltliche Wörter, die auf     Grenzen der menschlichen Auffassungs-
weltlich Seiendes bezogen sind. Kein von        gabe, sondern, so Jürgen Werbick, ein
Gott redendes Wort kann von sich aus die        „Appell an die Einbildungskraft“16. Wir
Differenz von Gott und Welt bezeichnen.         empfinden geglückte Metaphern oft als
Im Sprechen von Gott muss deshalb eine          ansprechend, sie erleichtern unser Verste-
Übertragung von anderen Sachverhalten           hen. Das spezifisch „Ansprechende“ der
her stattfinden. Daraus folgt jedoch: Gott      metaphorischen Rede liegt darin, dass sie
kommt in seiner spezifischen Differenz zur      Menschen auffordert, sich neuen Eviden-
Welt insbesondere metaphorisch zur Spra-        zen zu öffnen und die Grenzen bisheriger
che. Metaphorische Rede erweist sich da-        Wahrnehmung zu überschreiten. Die meta-
mit nicht als uneigentliche Rede, sondern       phorische Rede führt zu einer neuen Sicht-
als eine – wenn auch nicht die einzige –        weise Gottes und der Art und Weise, wie
Form Gott gemäßer und entsprechender            er zu seinem Volk steht und an den Men-
Rede.                                           schen handelt. Im Buch Hosea beschreibt
                                                der Prophet das Erbarmen als eine Be-
Die Gleichnisse Jesu sind ein Ausdruck          kehrung Gottes im Unterschied zu seinem
metaphorisch-bildhafter Gott-Rede: Wenn         Volk, das nicht zur Umkehr bereit ist: „Wie
man die Gleichnisse vom barmherzigen            könnte ich dich preisgeben, Efraim, wie
Vater (Lk 15), von den Arbeitern im Wein-       dich aufgeben, Israel? Wie könnte ich dich
berg (Mt 20,1-16) und vom Weltgericht (Mt       preisgeben wie Adma, dich behandeln

8
Herz-Jesu-Fest

wie Zebojim? Mein Herz wendet sich ge-          kannt ist: Um die Metapher „Alexander war
gen mich, mein Mitleid lodert auf. Ich will     ein Löwe“ nachvollziehen zu können, muss
meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken        bekannt sein, wer Alexander ist und was
und Efraim nicht noch einmal vernichten.        ein Löwe ist. Vorausgesetzt, es ist klar, was
Denn ich bin Gott, nicht ein Mensch, der        ein Löwe ist, muss das Individuum „Alex-
Heilige in deiner Mitte. Darum komme ich        ander“ bekannt gemacht werden. Um me-
nicht in der Hitze des Zorns.“ (Hos 11,8-       taphorisch zu reden, muss erzählt werden
9). Gott wendet sein Herz gegen sich; er        und Vertrautheit hergestellt werden. Für
lässt sich durch sein Erbarmen umstimmen        die Möglichkeit theologischer Metaphorik
und besänftigt seinen Zorn. Der Unter-          folgt daraus: Damit Gott sinnvolles Subjekt
schied zwischen Gott und den Menschen           metaphorischer Prädikation werden kann,
besteht gerade darin, „dass er sich ändern      muss eine Vertrautheit mit Gott hergestellt
und gegen seine ursprünglichen Entschei-        werden. Wenn dies aber nur metaphorisch
de wenden kann“17. In dieser metaphori-         möglich ist, gerät man in einen Zirkel. Die-
schen Rede vom Erbarmen Gottes kommt            ser Zirkel ist nur zu vermeiden, wenn Gott
in „anthropomorpher Anstößigkeit“18 ein         sich selbst bekannt macht und Vertrautheit
„Mehr“ zur Sprache: Der transzendente           mit sich selbst herstellt: Gott muss sich als
und heilige Gott, der Gott, der nicht wie die   der erweisen, der zur Welt kommt; nur so
Menschen ist, dieser Gott transzendiert         kann er auch der zur menschlichen Spra-
sozusagen seine Transzendenz. Er erweist        che Kommende sein20. Anders formuliert:
sein Ganz-anders-Sein gegenüber allem           Wirklich treffend können Menschen von
Menschlichen nicht in seinem gerechten          Gott nur sprechen, wenn dieser Menschen
Zorn und seiner dem Menschen unzu-              so anspricht, dass diese wiederum Gott
gänglichen Transzendenz. Er erweist seine       entsprechen können in ihrer Sprache und
Heiligkeit und Transzendenz darin, dass er      ihrem Leben21. Meine Überzeugung ist in
sich menschlich anrührend zeigt und darin       diesem Zusammenhang: Durch sein barm-
anders ist als die hartherzigen Menschen:       herziges Tun stellt Gott eine Vertrautheit mit
Seine Barmherzigkeit erhebt ihn über alles      sich her, die unverbrüchlich ist und auch
Menschliche.19                                  durch andere Aspekte des biblischen Got-
                                                teshandelns nicht in Frage gestellt werden
Kommt damit im metaphorischen Spre-             kann. Das biblische Gottesbild bleibt in der
chen über Gottes Barmherzigkeit etwas           Vielfältigkeit seiner Aspekte nicht disparat.
Wesentliches über Gott zum Ausdruck?            Weil Gott sich in seiner Güte und Treue im-
Oder wird die Barmherzigkeit nicht doch         mer wieder als barmherzig erweist, kann
durch andere Züge des Gotteshandelns            er verlässlich und eindeutig zur Sprache
wieder relativiert? Bleibt das biblisch-        gebracht werden und als liebender Gott
christliche Gottesbild so disparat, dass        erkannt werden.
Gott doch als unberechenbar und willkür-
lich erscheinen muss, der nach „Gutsher-        Nun ist allenthalben bekannt: Wenn die Bi-
renart“ sein Anderssein manchmal auch im        bel von Gottes Erbarmen spricht, dann ist
Erbarmen zeigt?                                 oftmals auch von Gottes Zorn die Rede.
                                                Zorn und Erbarmen stehen unmittelbar
2. Erbarmen und Zorn:                           nebeneinander. Allerdings wird in dem
gleichberechtigte Wesenszüge Gottes?            schon zitierten 11. Kapitel bei Hosea deut-
Es ist nicht der Mensch, der von sich allein    lich, dass Gottes Erbarmen den Zorn be-
in sprachlicher Souveränität Gott zu Wort       grenzt. Der Zorn wird zurückgehalten von
bringen kann. Eberhard Jüngel betont,           der größ­eren Langmut und Güte Gottes
dass Metaphern nur dann sinnvoll sind,          (hesed). Dieses asymmetrische Verhält-
wenn das Subjekt der Übertragung be-            nis von Zorn und Erbarmen kommt vor

                                                                                            9
Herz-Jesu-Fest

allen Dingen in Psalm 30 zum Ausdruck:        sterbend für seine Peiniger gebetet“23.
„Denn sein Zorn dauert nur einen Augen-       Gott, so zeigte sich, muss sich selbst aus-
blick, doch seine Güte ein Leben lang“ (Ps    sagen und zur Sprache bringen, um eine
30,6). Zorn und Erbarmen, darauf wird aus     Vertrautheit mit sich zu ermöglichen. Dies
Sicht der Exegese hingewiesen, sind für       geschieht in der Geschichte und der Per-
die Bibel und ihre Umwelt auch politische     son Jesu dergestalt, dass Gott nicht nur
Kategorien. Ein Herrscher oder Gottkönig      menschlich-metaphorisch von sich spricht,
wird durch seinen Zorn zur Aufrichtung        sondern sich selbst als Mensch aussagt. In
des Rechts und der Gerechtigkeit bewegt.      der Hingabe Jesu bestimmt sich Gott un-
Ähnlich bewegt die Barmherzigkeit einen       widerruflich als bedingungslose Liebe: Der
Machthaber dazu, einen dauerhaften Frie-      Tod Jesu war Hingabe des Lebens für die
den zu errichten. Auch der Kerngehalt der     Brüder und Schwestern (Hebr 2,14-18),
Verkündigung Jesu – die Botschaft von         für die Freunde (Joh 51,13f.) und auch für
der Königsherrschaft Gottes – beinhaltet,     die Gottlosen, für die Feinde (Röm 5,6.10).
„dass Gottes Zorn und Barmherzigkeit, mit     Die Selbstaussage Gottes im gekreuzigten
denen ein Herrscher auf Ungerechtigkeit       Jesus ist „für eine hermeneutisch verant-
und Unfriede reagiert, nun endgültig zum      wortbare Rede vom Zorn Gottes zentral“24.
Zuge kommen“22. Beispielhaft kann dies an     Hinter Gottes Selbstmitteilung als Liebe
der Erzählung von der Heilung des Man-        bleibt kein unberechenbarer deus abscon-
nes mit der verdorrten Hand (Mk 3,1-6)        ditus zurück, vor dessen Zorn man Angst
veranschaulicht werden: In der barmherzi-     haben müsste. In der Proexistenz Jesu,
gen Zuwendung zu dem Kranken kommen           seiner barmherzigen Zuwendung zu den
die umfassende Güte und Huld von Got-         Menschen, die er auch im Tod nicht zu-
tes Herrschaft wirksam und sichtbar zum       rücknimmt, schafft Gott eine Vertrautheit
Zuge: Auch am Sabbat muss Leben ge-           mit sich, die alle menschlichen Gottesvor-
rettet werden (vgl. Mk 3,4). Der Zorn Jesu    stellungen durchkreuzt: Gott richtet seine
hingegen richtet sich gegen die Missach-      Herrschaft nicht durch seinen gerechten
tung seines lebensfördernden Tuns. Bleibt     Zorn auf, sondern durch seine gewaltlose
es jedoch neutestamentlich bei einer sol-     Hingabe und Liebe. Der Zorn ist „nicht im
chen Symmetrie von Gerichtszorn gegen-        Wesen Gottes verankert […] wie seine Lie-
über den Verstockten und Barmherzigkeit       be, die sein Erbarmen leitet“25.
gegenüber denjenigen, die ihr Vertrauen in
die Hände Jesu legen?                         Ist durch das Leiden und Sterben Jesu
                                              Gottes Gerechtigkeit so angebrochen,
Die Evangelien bezeugen, dass Jesus auch      dass endgültig kein Raum mehr bleibt für
angesichts des zunehmenden Widerstands        seinen Zorn, auch im Blick auf das Gericht
gegenüber seiner Person an der Gültigkeit     Gottes? Lässt sich eine Begrenzung des
seiner Heilsbotschaft festhält. Auch im       Zorns durch das Erbarmen Gottes auch
Angesicht des Todes nimmt er das ange-        eschatologisch rechtfertigen? Interessan-
kündigte Heil der Gottesherrschaft nicht      terweise hat kürzlich der Berliner Philo-
zurück, sondern schreibt seinem Tod in        soph Holm Tetens eine Begründung der
den Abendmahlsworten eine positive, süh-      Hoffnung auf einen Erlösergott, in dessen
nende Wirkung zu. Jesus bewahrt diese im      Macht allein es steht, die Übel und das
Abendmahlsgeschehen bezeugte Haltung          Leiden endgültig zu überwinden, aus phi-
in der „gewaltigen Gewaltlosigkeit“ (Gott-    losophischer Perspektive stark gemacht.26
hard Fuchs) seiner Hingabe am Kreuz:          Auf Tetens Argumentation kann an dieser
„Statt den Schrei der Opfer um die Ver-       Stelle nicht ausführlich eingegangen wer-
nichtung ihrer Feinde mitzuvollziehen (vgl.   den. Nur einen Gedanken möchte ich er-
Ps 137,7-9), hat er – nach Lk 23,34 – noch    wähnen: Die Vorstellung einer Erlösung

10
Herz-Jesu-Fest

von den Übeln und Leiden wäre für Tetens       gibt es im Gericht keine Symmetrie „zwi-
pervertiert, wenn das Leiden, das Men-         schen retten-wollender Barmherzigkeit und
schen einander angetan haben und antun,        verwerfen-müssender Gerechtigkeit“28. Um
einfach einem großen Vergessen anheim-         der Freiheit des Menschen willen ist zwar
fallen würde, wenn die erlöste Welt einfach    an der Möglichkeit festzuhalten, dass sich
so wäre, als ob nie etwas Schreckliches        der Mensch dem schmerzlich-läuternden
geschehen wäre. Insofern muss für den          Geschehen der Versöhnung mit Gott und
Philosophen Tetens der Gottes- und der         den Mitmenschen verweigern kann. Der
Erlösungsgedanke so etwas wie einen            Erlöser-Richter Jesus kennt von sich her
Gerichtsprozess einschließen: „Ohne den        nur die unbedingte Zuwendung zum Men-
Gedanken des Gerichts […] wäre Erlösung        schen als Gestalt des Gerechtigkeit schaf-
ein Geschehen, in dem die Menschen gar         fenden Versöhnungswillens Gottes. Wir
nicht als vernünftige und selbstverantwort-    dürfen für die Eschata optimistisch sein,
liche Wesen ernst genommen würden. Wer         dass die Lebenshingabe Jesu genügt, um
vom Gericht nicht reden will, sollte daher     die Menschen, die sich dem Versöhnungs-
von Erlösung schweigen“27.                     willen Gottes nicht endgültig verschließen,
                                               zu retten, so dass kein Raum mehr bleibt
Der Gerichtsgedanke beinhaltet für Tetens      für den Zorn Gottes. Die Art und Weise, wie
allerdings nicht, dass die Täter ihrerseits    Gott sich in der Geschichte seines Volkes
mit Leiden bestraft werden und von einem       und in der Geschichte Jesu durch sein Er-
besseren Leben ausgeschlossen werden.          barmen den Menschen vertraut macht, er-
Erlösungshoffnung impliziert Gerechtigkeit     möglicht es, Gott auch eschatologisch als
und einen Gerichtsprozess. Erlösungshoff-      Liebe zu bestimmen. Die barmherzige Zu-
nung darf jedoch nicht zu neuem Leiden         wendung zu den Armen, Elenden und Sün-
durch eine menschlich gedachte Straf-          dern ist keinesfalls ein uneigentlicher oder
Gerechtigkeit führen. Die Hoffnung auf Er-     ein marginaler Aspekt des christlichen Got-
lösung richtet sich vielmehr darauf, dass      tesbildes, sondern die heilsgeschichtliche
die Konfrontation mit der ungeschminkten       Konkretion seines Wesens, das Liebe ist.29
Wahrheit des eigenen Lebens die Men-
schen dazu führt, sich miteinander zu          3. Barmherzigkeit:
versöhnen, um Vergebung zu bitten und          der konkrete Anruf Gottes
einander zu vergeben. Eine solche philo-       In diesem letzten Punkt möchte ich im Sin-
sophisch postulierte Hoffnung entspricht       ne eines Ausblicks auf einige Folgerungen
dem christlichen Gerichtsgedanken: Aus         bzw. Konkretionen eingehen, die sich aus
christlicher Perspektive kann Gottes Ge-       dem Sprechen von Gottes Barmherzigkeit
richt nicht nach dem Modell menschlicher       ergeben, und die auch Papst Franziskus in
Strafjustiz verstanden werden. Im Unter-       seinem Schreiben „Amoris Laetitia“ andeu-
schied zur weltlichen Justitia, die mit ver-   tet. Zunächst: Wer barmherzig handelt, re-
bundenen Augen ohne Ansehen der Per-           agiert meistens in einer konkreten und un-
son richtet, erhofft der christliche Glaube    verwechselbaren Situation30. Das bedeutet
das Gericht als die unverhüllte Begegnung      unter Umständen auch, dass er Regeln und
mit Gottes richtender Liebe. Das Gericht       Normen der religiösen Tradition, der Sitte,
ist dem gekreuzigten und auferweckten Er-      der Moral und des Anstandes übertritt.
löser Jesus übertragen (vgl. Mt 25,31–46,      Diese Grenzüberschreitung erklärt sich
Apg 10,42): Der Erlöser-Richter hat die in-    daraus, dass vom anderen, notleidenden
neren Konsequenzen der Sünde an sich           Menschen ein einzigartiger Anspruch bzw.
selbst erfahren, um auch den gottverlas-       Anruf ausgeht: Der Notleidende statuiert
sensten Sünder mit der Barmherzigkeit          ein eigenes, hier und jetzt mit einer eigen-
Gottes in Berührung zu bringen. Deshalb        artigen Unbedingtheit geltendes „Gesetz“.

                                                                                        11
Herz-Jesu-Fest

Aus diesem Grund ist Barmherzigkeit nur       dieser Unterscheidung steht die „Logik
schwer institutionalisierbar. Vielmehr müs-   der pastoralen Barmherzigkeit“, die „im-
sen Institutionen mit ihren Normen einen      mer geneigt ist zu verstehen, zu begleiten,
Raum offen lassen, in dem sich Barmher-       zu hoffen und vor allen Dingen einzuglie-
zigkeit ereignen kann.                        dern“33.

Mir scheint, dass das Schreiben „Amoris       Den einen gehen diese Gedanken nicht
lae­titia“ nicht nur ein solches Verständ-    weit genug, sie wünschen sich konkrete
nis von Barmherzigkeit voraussetzt, son-      „Zugeständnisse“, während andere die
dern auch eine entsprechende theologi-        kirchliche Tradition aufgegeben sehen.
sche Basis zumindest implizit enthält. Im     Meiner Meinung nach ist hier etwas viel
8. Kapitel „Die Zerbrechlichkeit begleiten,   Grundsätzlicheres und Wichtigeres ausge-
unterscheiden und eingliedern“ steht die      sprochen als eine Pastoral relativierender
Forderung nach einem barmherzigen Han-        Nachsichtigkeit oder Zugeständnisse. Das
deln der Kirche im Kontext einer pasto-       Schreiben sagt: Es gibt einen Willen und
ralen Unterscheidung: Den Hirten obliegt      Anruf Gottes für Menschen in ihrer konkre-
eine „pastorale Unterscheidung der Situa-     ten Lebenssituation, die auf die ein oder
tion vieler Menschen, die die Wirklichkeit    andere Weise vielleicht nicht den kirchli-
[einer christlichen Ehe] nicht mehr leben     chen Normen entspricht. Dieser Wille Got-
können“31. Die unterschiedlichsten, un-       tes für einen einzelnen Menschen bzw. für
verwechselbaren Situationen, in denen         eine Familie oder ein Paar lässt sich nicht
Menschen leben, müssen dazu führen,           einfachhin aus allgemeinen Glaubenssät-
„Urteile zu vermeiden, welche die Komple-     zen oder Kirchengeboten ableiten. Das
xität der verschiedenen Situationen nicht     kann (und muss) dazu führen, dass Men-
berücksichtigen“32. Die Unterschiedlichkeit   schen mit Gott den Weg zu einer volleren
menschlicher Geschichten und Situatio-        Teilnahme am Leben der Kirche geführt
nen, die verschiedenen Grade, in denen        werden, die auch das sakramentale Leben
Menschen, dem christlichen Ideal (der         nicht ausschließt.34 Der Wille und das Wir-
Ehe) entsprechen können, impliziert, dass     ken Gottes in einer bestimmten Lebens-
die Synode und auch das Schreiben des         situation kann jedoch, wie Karl Rahner
Papstes keine neuen, auf alle Fälle anzu-     es ausdrückt, in einer Logik existentieller
wendenden gesetzlichen Regelungen ver-        Erkenntnis („Unterscheidung der Geister“)
abschieden will. An die Stelle von immer      vernommen werden.35 Dies scheint mir das
geltenden Gesetzen und einer Kasuistik,       eigentlich „Spannende“ an dem päpstli-
die für jeden Fall eine entsprechende Lö-     chen Schreiben zu sein: Es gibt eine Un-
sung bereit hält, tritt ein Prozess der Un-   mittelbarkeit Gottes und seines Willens
terscheidung und der Begleitung für die       zum Menschen, die sich in einzigartigen,
betroffenen Menschen, deren Lebensum-         unverwechselbaren Situationen eines Le-
stände kirchlichen Gesetzen nicht entspre-    bens manifestieren und nicht erschöpfend
chen, für die Seelsorgerinnen und Seel-       in allgemeinen Normen, sondern in der
sorger und für die Kirche als Ganze. Die      Bewegung der Geister, in Trost, in Hoff-
Einzelnen sollen – mit den Seelsorgerinnen    nung, Liebe und Glauben wahrgenommen
und Seelsorgern – nach dem Willen Gottes      werden kann. Eine solche Unmittelbarkeit
in ihrer jetzigen Situation fragen und su-    Gottes setzen wir etwa für die persönli-
chen: Wo ist Gott mitten in der Schwach-      che Berufung von Menschen voraus. Das
heit und Hinfälligkeit des Lebens präsent     päpstliche Schreiben geht davon aus,
mit seinem Geist? Wohin führt mich Got-       dass Gott auch darüber hinaus in vielfäl-
tes Anruf in meinem Leben, wie kann ich       tigen Situationen und Lebensumständen
ihm am besten entsprechen? Im Rahmen          am Werk ist und wahrgenommen werden

12
Herz-Jesu-Fest

kann. Hier scheint mir noch einmal in be-       1   Die einleitenden Überlegungen finden sich auch
sonderer Weise der theologische Ort der             unter K. Vechtel, Barmherzigkeit allein reicht
Barmherzigkeit zu sein: Die Barmherzigkeit          nicht?: GuL 89 (2016), 223–224.
reagiert auf den konkreten Anruf Gottes in      2   Papst Franziskus, Misericordiae vultus. Verkün-
der Situation der Not, der Hinfälligkeit des        digungsbulle von zum Außerordentlichen Jubi-
menschlichen Lebens. Die Barmherzigkeit             läum der Barmherzigkeit, (Verlautbarungen des
rechnet damit, dass der persönliche Gott            Apostolischen Stuhls Nr.200, Bonn 2015), Nr.21.
auch in individuellen, unverwechselbaren        3   F. Hengsbach, Barmherzigkeit allein reicht nicht;
Situationen Menschen anspricht und ruft,            http://www.rp-online.de/kultur/barmherzigkeit-
weil dieser Gott sich selbst von konkre-            allein-reicht-nicht-aid-1.5690529, letzter Aufruf
ten geschichtlichen Situationen berühren            14.04.16.
und ansprechen lässt. Aufgrund der Un-          4   Ebd.
verwechselbarkeit und Einzigartigkeit ge-       5   Th. Söding, Barmherzigkeit – Gottes Gabe und
schichtlicher Situationen lässt die Barm-           Aufgabe: G. Augustin (Hg.), Barmherzigkeit le-
herzigkeit auch die Grenzüberschreitung             ben. Eine Neuentdeckung der christlichen Beru-
religiöser, sittlicher und kultureller Normen       fung (Freiburg 2016), 19–34, hier 32.
zu: Hier in diesen Situation der Grenzüber-     6   Papst Johannes Paul II, Enzyklika Dives in Mi-
schreitung kann Gottes Barmherzigkeit an-           sericordia (Verlautbarungen des Apostolischen
getroffen werden.                                   Stuhls Nr.26, Bonn 1980), Nr.6.
                                                7   Ein solches Verständnis von Barmherzigkeit,
Ich komme zum Ausgangspunkt zurück:                 so Ursula Nothelle-Wildfeuer, lässt sich anthro-
Natürlich reicht Barmherzigkeit alleine             pologisch und sozialphilosophisch anhand der
nicht. Es bedarf gerechter Strukturen in            Vorstellung einer gegenseitigen Anerkennung
Gesellschaft und auch in Kirche. Allerdings         plausibilisieren. Anerkennung vollzieht sich auf
kann die Barmherzigkeit angemessen auf              der Ebene von Primärbeziehungen, wie Freund-
die unverwechselbaren, geschichtlichen              schaften oder Eltern-Kind-Beziehungen. Aner-
Situationen von Menschen reagieren, in-             kennung vollzieht sich auf der Ebene des Rechts
dem sie sich von der konkreten Not be-              und basiert auf der Erkenntnis und Erfahrung
rühren lässt und Grenzüberschreitungen              menschenrechtlicher Gleichheit, und schließlich
zulässt. Ist Barmherzigkeit damit eine              vollzieht sich Anerkennung als Solidarität, die
asymmetrische Gnade nach Gutsherren-                die unterschiedlichen Fähigkeiten und Möglich-
art? Ich darf zum Schluss noch einmal auf           keiten von Individuen wertschätzt und berück-
Karl Rahner verweisen und seine kurze,              sichtigt. Der Begriff der Anerkennung würde die
aber „dichte“ Abhandlung über den Preis             Barmherzigkeit und auch die Gerechtigkeit nicht
der Barmherzigkeit36: Barmherzigkeit, so            ersetzen, sondern als gemeinsames Fundament
Rahner, die sich über den anderen nicht er-         für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit fungieren.
hebt, den anderen nicht demütigt, kann nur          Vgl. U. Nothelle-Wildfeuer, Anerkennung statt
geschehen, wenn man sich selbst demü-               Barmherzigkeit?: Diakonia 47 (2016), 22–30.
tigt, leer wird und die Armut und Nichtigkeit   8   A. Wucherpfennig, Kein Zorn Gottes ohne sein
des anderen teilt. Menschen können dies             Erbarmen – biblische Perspektiven zur Barm-
in der Geschichte der Hingabe Jesu ent-             herzigkeit: Diakonia 47 (2016), 9–15, hier 11; vgl.
decken: Barmherzigkeit, die nicht demü-             auch L. Schwienhorst-Schönberger, Metapho-
tigt, schenkt sich selbst. Es wäre zu wün-          risch wahr – Offenheit und Eindeutigkeit alttes-
schen, dass die Kirche immer mehr diese             tamentlicher Gottesrede: G. Kruck – C. Sticher
Barmherzigkeit entdeckt, indem sie nicht            (Hg.), „Deine Bilder stehn vor dir wie Namen“.
vorschnell (ver)urteilt, sondern das Leben          Zur Rede von Zorn und Erbarmen Gottes in der
der Menschen in ihren unverwechselbaren             Heiligen Schrift (Mainz 2005), 115–124.
Situationen teilt und begleitet.

                                                                                                   13
Herz-Jesu-Fest

9    W. Groß, Keine Gerechtigkeit Gottes ohne Zorn             neuen Wortgebrauch vollzieht sich eine Wis-
     Gottes – Zorn Gottes in der christlichen Bibel: G.        senserweiterung, und nach Aristoteles gelingt
     Kruck – C. Sticher (Hg.), „Deine Bilder stehn vor         der Metapher eine solche Wirkung in besonderer
     dir wie Namen“, 13–29, hier 15.                           Weise. Aristoteles beschränkt die Bedeutung der
10   Die biblischen Metaphern, so skizziert Veronika           Metapher dennoch auf den Bereich der rhetori-
     Hoffmann dieses Missverständnis metaphori-                schen Funktion der Sprache. Im Bereich der auf
     scher Gottesrede, würden damit nicht zu Grund-            Richtigkeit zielenden Dialektik – für das Definie-
     metaphern, sondern nur zu Beispielen werden,              ren – ist die Metapher ungeeignet. Diese Ein-
     wie metaphorisch von Gott gesprochen werden               schränkung hängt für Jüngel damit zusammen,
     kann. Eine solche Einsicht würde die Grundlage            dass der grundsätzliche Anrede-Charakter der
     religiöser Toleranz bilden und dazu führen, dass          Sprache nicht genügend beachtet wird.
     wir de facto diejenigen Metaphern vorziehen, die     15   So R. Miggelbrink, Die Barmherzigkeit Gottes: G.
     in unser Weltverständnis passen und dieses ab-            Kruck – C. Sticher (Hg.), „Deine Bilder stehn vor
     sichern. Vgl. V. Hoffmann, Alles nur Bilder. Zum          dir wie Namen“, 69–85, hier 75; zum Ganzen vgl.
     Verständnis metaphorischer Rede von Gott: St.             auch Hoffmann, Alles nur Bilder, 72–73.
     Orth – S. Kleymann (Hg.), Die neue Lust für Gott     16   J. Werbick, Prologomena: Th. Schneider (Hg.),
     zu streiten (Freiburg 2006), 69 –79, hier 73–76.          Handbuch der Dogmatik Bd.1 (Düsseldorf 1992),
11   Walter Kardinal Kasper, Barmherzigkeit. Grund-            1–48, hier 31.
     begriff des Evangeliums – Schlüssel christlichen     17   Wucherpfennig, Kein Zorn Gottes ohne sein Er-
     Lebens (Freiburg 2012), 89.                               barmen, 10.
12   Papst Franziskus, Der Name Gottes ist Barmher-       18   Söding, Barmherzigkeit, 21.
     zigkeit. Ein Gespräch mit Andrea Tornielli (Mün-     19   Vgl. Kasper, Barmherzigkeit. Grundbegriff des
     chen 2016), 110.                                          Evangeliums, 57–59.
13   Vgl. J. Hartl, Metaphorische Theologie, Gram-        20   Vgl. Jüngel, Metaphorische Wahrheit, 146–150.
     matik, Pragmatik und Wahrheitsgehalt religiöser      21   Vgl. Werbick, Prologomena, 31–33; Hoffmann,
     Sprache (Berlin 2008), 95–101; M. Titzmann u.a.,          Alles nur Bilder, 76–78.
     Art. Metapher: LThK³ Bd.7, 187–190.                  22   Wucherpfennig, Kein Zorn Gottes ohne sein Er-
14   Vgl. zum Folgenden E. Jüngel, Metaphorische               barmen, 13.
     Wahrheit. Erwägungen zur theologischen Rele-         23   J.-H. Tück, Der Zorn – die andere Seite der Liebe
     vanz der Metapher als Beitrag zur Hermeneu-               Gottes: ThPh 83 (2008), 385–409, hier 401.
     tik einer narrativen Theologie: Entsprechun-         24   Tück, Der Zorn, 404.
     gen. Gott, Wahrheit, Mensch (München 1980),          25   W. R. Dietz, Biblische und systematisch-theolo-
     103–157. Jüngel macht darauf aufmerksam,                  gische Aspekte zur Rede von Gottes Zorn und
     dass bereits Aristoteles, der das Verständnis der         Erbarmen: G. Kruck – C. Sticher (Hg.), Deine
     Metapher als Übertragung geprägt hat, wichti-             Bilder stehn vor dir wie Namen, 31–54, hier 39.
     ge Ansätze bietet, die über das Verständnis der           Der Zorn kann hingegen als Verhältnisbegriff be-
     Metapher als uneigentlicher Rede hinausweisen.            stimmt werden. Gottes Zorn bezeichnet den ent-
     Metaphern müssen glücken bzw. sie müssen                  schiedenen Widerstand Gottes gegen die Sünde,
     stimmen. Damit sie stimmen, ist es notwendig,             wo sie sich sozial-gesellschaftlich und individuell
     eine Ähnlichkeit zu erkennen. Wenn Metaphern              manifestiert. Vgl. Tück, Der Zorn, 388–396. Weil
     stimmig sind, dann folgt die Sprache einer Ent-           die biblischen Schriften immer wieder festhal-
     sprechung, die die Wirklichkeit durchwaltet. Die          ten, dass der Zorn durch Gottes Erbarmen be-
     Stimmigkeit der Metapher entspringt der Ana-              grenzt wird, kommt Wolfhart Pannenberg zu dem
     logie. Es kommt darauf an, dass Metaphern die             Schluss: „Der Zorn ist keine Eigenschaft Gottes,
     Wirklichkeit zur Sprache bringen und das, weil            denn sein Handeln ist nicht generell durch Zorn
     (bzw. obwohl) sie mehr als das Wirkliche sagen.           bestimmt. […] Er ist die gleichsam naturgesetz-
     Das metaphorische Reden hat gerade darin sei-             liche Folge der Untreue gegen Gott (Ps 78,7-60;
     nen Sinn, dass es mehr zur Sprache bringen                Ri 2,10-22), die aber immer wieder unterbrochen,
     kann als das begriffliche Reden: Durch einen              aufgebrochen oder abgewendet wird durch sein

14
Herz-Jesu-Fest

     Erbarmen (Ps 78,83, Amos 7,2ff., Hos 11,8ff.).“     30 So H. Zaborowski, Vom Anderen berührt. Die Re-
     W. Pannenberg, Systematische Theologie Bd.1            volution der Barmherzigkeit: Diakonia 74 (2016),
     (Göttingen 1988), 474.                                 39–44, hier 41–42.
26   Für Tetens gilt: Wer die Meinung vertritt, dass     31 Papst Franziskus, Nachsynodales Apostolisches
     die Erfahrungswelt, wie sie von den empirischen        Schreiben Amoris Laetitia über die Liebe in der
     Wissenschaften beschrieben wird, die ganze             Familie (Freiburg 2016), Nr. 293; vgl. dazu auch
     Wirklichkeit ist, für den wird der Tod das unwi-       J. Knop, Leben und Lehre im Licht des Evangeli-
     derrufliche Verlöschen des Welterlebens und der        ums. Das nachsynodale Schreiben „Amoris laeti-
     Personalität des Menschen darstellen. Wer so           tia“: IKaZ Communio 45 (2016), 378–387.
     denkt, kann sich für eine Verbesserung der Welt     32 Papst Franziskus, Amoris Laetitia, Nr. 296.
     einsetzen und alle verfügbaren Kräfte dafür ein-    33 Ebd. Nr. 312.
     setzen, dass die Leiden und die Übel abnehmen.      34 Weil zu unterscheiden ist zwischen einer Situa-
     Was jedoch ist mit den unzähligen Opfern von           tion, die objektiv nicht den Anforderungen des
     Verbrechen, von Schrecken und Katastrophen?            Evangeliums entspricht und der subjektiven
     Für sie muss jede Überwindung von Leid zu spät         Schuldhaftigkeit eines Menschen, ist es nicht
     kommen. Im Grunde werden die Opfer in Kauf             möglich zu behaupten, „dass alle, die in einer
     genommen im Bemühen, eine bessere Welt zu              sogenannten „irregulären“ Situation leben, sich
     realisieren. Letztlich kann für Holm Tetens nur        in einem Zustand der Todsünde befinden und die
     Theismus die Hoffnung begründen, dass die              heiligmachende Gnade verloren haben“. Ebd. Nr.
     Welt gut wird, ohne dass die Leiden und Übel in        301; Nr. 305, Anmerkung 355.
     Kauf genommen werden für eine Verbesserung          35 Vgl. K. Rahner, Die Logik der existentiellen Er-
     der Welt. Vgl. zum Ganzen H. Tetens, Gott den-         kenntnis. Über einige theologische Probleme in
     ken. Ein Versuch über rationale Theologie (Stutt-      den Wahlregeln der Exerzitien des heiligen Ig-
     gart 2015).                                            natius: F. Wulf (Hg.), Ignatius von Loyola. Seine
27   Ebd. 70.                                               geistliche Gestalt und sein Vermächtnis (Würz-
28    M. Kehl, Und was kommt nach dem Ende? Von             burg 1956), 345–405; K. Rahner, Wesensbestim-
     Weltuntergang und Vollendung, Wiedergeburt             mung und Darbietung der Exerzitien heute: Wag-
     und Auferstehung (Freiburg 1999), 130.                 nis des Christen (Freiburg 1974), 95–101.
29   Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Bd.1,      36 K. Rahner, Preis der Barmherzigkeit: Schriften
     466ff; Kasper, Barmherzigkeit, 89–96.                  zur Theologie Bd. VII (Einsiedeln 1966), 259–264.

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