Scheinbar belanglos, letztlich aber frech, genial und alles erklärend
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Andreas Gormans (Aachen) "Scheinbar belanglos, letztlich aber frech, genial und alles erklärend" Zur Bedeutung der Rückenfiguren in den gemalten Kircheninnenräumen Emanuel de Wittes Da die habituelle Sicht auf die Vorder- und Rückseiten des menschlichen Körpers ein wichtiges Referenzmodell für die Bewertung von Rückseiten ar- chitektonischer Körper darstellt, wendet sich der vorliegende Beitrag den mitunter ostentativ zur Schau gestellten Rückenfiguren in den gemalten Kircheninnenräumen des niederländischen Malers Emanuel de Witte (1617- 1692) zu. Sie rechtfertigen die These von einer eigenen Hermeneutik der Rückseite, deren epistemisches Potenzial bisweilen immer noch stark un- terschätzt wird: Nicht nur, dass die Kontextualisierung der Rückenfiguren De Wittes höchst aufschlussreiche Erkenntnisse über den wohl bedeutends- ten Architekturmaler in den Niederlanden des Goldenen Zeitalters, über sein Selbstverständnis und sein Verständnis von Architekturmalerei liefert – mit Begriffen wie Verbergen und Enthüllen, wie Wahrnehmung, Wahrneh- mungsgewohnheit und Betrachterstandpunkt wird zugleich ein Spektrum von Aspekten in den Fokus gerückt, das sich mit großem Gewinn auch in die Rückseiten-Diskurse der Architektur selbst einbringen lässt. http://www.archimaera.de ISSN: 1865-7001 urn:nbn:de:0009-21-52234 März 2021 #9 "Rückseiten" S. 217-240
Es gibt keine Rückseiten ohne Vorder- bebauung. Denn während nur ihre seiten, keine Vorderseiten ohne Rück- den Straßen zugewandten Seiten in seiten. Das Reflektieren über die Be- der Lage waren, Ansprüche zu kom- deutung der einen geht nicht ohne das munizieren und deswegen in besonde- Denken der anderen. Auch räumlich rem Maße Stil und Kanon, Proportion betrachtet bilden beide eine Einheit, und Material verpflichtet waren, sind denn das, was zwischen ihnen liegt, ist ihre Rückseiten genau das Gegenteil. nicht nur das, was sie trennt, sondern Ihre bewusste Abkehr von den Gestal- auch das, was sie verbindet und zu- tungsprinzipien ihrer Vorderseiten sammenhält. Rück- und Vorderseite führte in der Folgezeit, vor allem im haben also immer denselben Bezugs- 19. Jahrhundert, zu den immer glei- punkt, liefern Ansichten ein und der- chen beengten Hinterhöfen, schlecht selben Sache. Was diese Ansichten un- belüftet und belichtet, durchsetzt von terscheidet, wird deutlich, wenn man Handwerk und Gewerbe, zu Orten das Wort Rückseite von linguistischer von entlarvender, mitunter erschüt- Warte aus betrachtet. Die Sprachwis- ternder Ehrlichkeit,1 die heute nur senschaft nämlich rechnet den Begriff deswegen erträglich sind, weil Archi- bezeichnenderweise zur Gruppe der tekten und Planer ihre Gestaltungs- so genannten Determinativkompo- notwendigkeit, aber auch ihr Gestal- sita. Danach ist dieses Wort eine Zu- tungspotenzial erkannt haben. Rück- sammensetzung aus zwei Wörtern, seiten der Architektur sind aber auch bei der der erste Teil, das untergeord- all jene Rückseiten, die anfangs mit nete Determinans, rück, den zweiten guten Absichten, nicht aber von vorn- Teil, das dominante Determinatum herein als Rückseiten geplant waren, Seite, in seiner spezifischen Bedeu- sondern sich erst im Laufe von Jahr- tung einschränkt und zugleich nä- zehnten zu Rückseiten in einem me- her bestimmt. In diesem Sinne sind taphorischen Sinne entwickelt haben. Rückseiten durch ihre rückwärtige Dies sind die vernachlässigten Groß- Ansicht in ihrer wesenhaften Spezifik wohnsiedlungen in den Banlieues näher bestimmt. Diese äußert sich da- etwa von Paris, Lyon und Marseille, rin, dass sie sich von der wesenhaften die Vororte von Amsterdam oder Ber- Spezifik der von ihr abgewandten lin, die politisch nur allzu gerne aus- Vorderseite grundlegend unterschei- geblendeten Pendants zu den städ- den. V isuell manifest wird der Unter- tischen Vorder- und Vorzeigeseiten, schied in einem ästhetischen Gefälle, die Kehrseiten der herausgeputzten denn Rückseiten sind den Vordersei- eleganten Plätze, Flaniermeilen und ten eigentlich ausnahmslos nach- und Boulevards, der Alleen und Parks, untergeordnet, in der Regel weniger die Synonyme für die sozialen Brenn- aufwändig und ansehnlich, zumin- punkte, für Zonen der Brache, der dest anfangs immer verborgen, dem Ver- und Entsorgung;2 nicht zu ver- direkten Zugang des menschlichen gessen ihre wohl extremsten Ausprä- Auges entzogen. Wenngleich die- gungen, die Favelas in den Randlagen ser Sachverhalt auf zahllose Kontexte der Metropolen Südamerikas und die übertragbar ist, zeigt er sich jedoch Slums und Elendsquartiere Fernosta- besonders eindringlich bei Gebäuden. siens, die Orte architektonischer Sub- Allerdings sind nicht alle Gebäude für kultur, an denen Armut architekto- eine Rückseiten-Hermeneutik in glei- nisch erfinderisch macht, Architektur cher Weise empfänglich. Gänzlich un- sich als kreative Kultivierung des ma- geeignet sind freistehende, richtungs- teriell Verfügbaren definiert und zu- autarke Solitäre von hoher gestalte- gleich auch lehrreich ist, weil die Lek- rischer Konformität wie etwa Palla- tionen in Sachen Nachhaltigkeit nicht dios Villa Rotonda oder Ledouxs Haus eindringlicher sein könnten. des Flurwächters, bei denen zwischen einzelnen Ansichten kaum oder so- Der menschliche Rücken und die gar gar nicht unterschieden werden architektonische Rückseite kann. Deutlich höher hingegen ist die Aussagekraft von Rückseiten all jener Diese wenigen Beispiele bestätigen, Gebäude, die die Unterschiede ihrer dass die visuellen und semantischen Ansichten zelebrieren, wie etwa städ- Spielformen dessen, was Rückseiten tische Wohnbauten seit dem 17. Jahr- umfassen können, im Bereich der Ar- hundert in geschlossener Blockrand- chitektur höchst facettenreich sind. 218
Die Grundidee der Rangfolge, des sich die Männer, von ihrer Neugier ge- qualitativen Unterschieds oder der Hi- trieben, auch diese von einer Tempel- erarchie, die all diesen Varianten in- dienerin öffnen. Nach Durchschrei- härent ist und dabei zugleich mit dem ten dieses Hintereingangs ist es jetzt Begriff Rückseite operiert, sucht man Kallikratidas, der zweite Begleiter des in der Architekturtheorie allerdings Lykinos, der ein enthusiastisches Lob- vergeblich. Eine ganz grundsätzliche lied auf das Ebenmaß des Rückens Position findet man im Buch Erotes und die Schönheit von Gesäß und Bei- des Pseudo-Lukian, verfasst um 170 nen anstimmte. Von der Schönheit n. Chr., in Form eines Berichtes über des marmornen Bildwerks ganz in ih- drei junge Männer, die das Heiligtum ren Bann gezogen, war die Wahrneh- der Aphrodite in Knidos besichtigten. mung der drei jedoch noch nicht so Beim Anblick der Vorderseite dieser weit getrübt, dass ihnen auf der Rück- berühmten Statue des Praxiteles, so seite des Oberschenkels der Statue "ein berichtet Lykinos, sei Charikles, einer Fleck wie ein Makel auf einem Kleide" seiner Begleiter, in Begeisterung aus- entgangen wäre. Lykinos, der in die- gebrochen, auf das Standbild zuge- ser "schlechten Stelle im Marmor" noch rannt, um es von oben bis unten mit einen Materialfehler erkennen wollte, glühenden Küssen zu bedecken. Da wurde von der Tempeldienerin eines sich neben dem für alle Besucher of- Besseren belehrt: Den Makel habe fenen Haupteingang des Tempels auf nämlich ein Jüngling aus bester Fa- dessen Rückseite eine zweite, kleine- milie zu verantworten, der sich in die re, verschlossene Tür befand, ließen Statue verliebt hat. "Durch die heftigen Abb. 1: Emanuel de Witte, Inneres der Oude Kerk in Delft mit Predigt, 1651, Öl auf Eichenholz, 60,5 x 44 cm, London, Wallace Collection, P 254. Bild: © bpk | Trustees of the Wallace Collection, London 219
Reizungen seiner Begierde ganz von Gebäuden.6 Auch sie senden Signale, Sinnen", habe sich dieser über Nacht ziehen die Augen ihrer Betrachter im Tempel einschließen lassen und auf sich und betreiben Kommunika- hinterrücks an der Statue vergangen. tion, weil sich eben nicht am Rücken, Den Fleck, der nach Angabe der Tem- sondern gerade in den Gesichtern der peldienerin also in Wirklichkeit von Bauwerke, in den Fassaden, Architek- der leidenschaftlichen Hingabe des tur von ihrer besseren Seite zeigt. Da Jünglings zeugte, trage die Göttin als der Blick auf das makellose Bildwerk Zeichen und Spur der ihr widerfah- nur von vorne und nach Durchschrei- renen Schmach.3 ten des repräsentativen Hauptein- gangs des Tempels gewährt wird, der Dieser erzählerische Höhepunkt aus Blick auf die mit Makel behaftete Sei- einem Buch mit dem Untertitel Ge- te der Statue hingegen nur von hinten spräch über die Liebe scheint zunächst und nur nach Durchschreiten einer nur ein Narrativ über die beiden gän- deutlich kleineren Tür im Rückraum gigsten Formen sexueller Orientie- möglich ist, wird die dichotome, mit rung in der Antike gewesen zu sein. klaren Valenzen belegte Ansichtigkeit Wie Friedrich Weltzien zeigen konn- der Skulptur zur Matrix für die dicho- te, ist diese Statuen-Episode jedoch tome, mit ebensolchen Valenzen be- weitaus mehr, nämlich zugleich auch legte Ansichtigkeit der Architektur, eine Abhandlung über das grundsätz- die sie beherbergt. Die Eloquenz des liche Verhältnis von Vorder- und Rück architektonischen Körpers folgt der seiten. Während die als offizielle Zone Eloquenz des menschlichen. bezeichnete Vorderseite des Kultbildes für Sichtbarkeit, uneingeschränkte, Aus diesen Gründen ist es legitim, in freie Zugänglichkeit und ein makel- einem Diskurs über Rückseiten in der loses Erscheinungsbild steht, ist die Architektur auch die Rückseite des Rückseite, die inoffizielle und eigent- menschlichen Körpers in den Blick lich verbotene Zone des Bildwerks, un- zu nehmen. Die mit Abstand bedeu- sichtbar, nur unter erschwerten Bedin- tendsten Kunstwerke aus der Gattung gungen zugänglich, mit Mängeln be- der Malerei, die daran keinen Zwei- haftet und Tatort eines schändlichen fel lassen, sind die Innenraumdarstel- Vergehens. Klarer könnte die Rangord- lungen der Hauptkirchen von Delft nung zwischen Vorder- und Rücksei- und Amsterdam, die der Spezialist für te, die Überlegenheit der einen und die Kirchendarstellungen in den Nieder- Nach- bzw. Unterordnung der anderen landen der zweiten Hälfte des 17. Jahr- kaum beschrieben werden, pointierter hunderts, Emanuel de Witte (1617- könnten die kontrahierenden Eigen- 1692), gefertigt hat.7 Was sie an dieser schaften und moralischen Wertungen, Stelle für eine ausführliche Diskus- die man mit ihnen verbindet, nicht auf sion prädestiniert, sind die in ihnen Kollisionskurs gebracht werden: high leitmotivisch auftretenden und gera- trifft auf low, Recht auf Unrecht, Moral dezu ostentativ in Szene gesetzten Rü- auf Unmoral.4 ckenfiguren (Abb. 1-5). Methodisch w iederum sind sie höchst aufschluss- Dieser schlüssigen Deutung nach ist reich, weil das Lesen der Rückseiten der menschliche Körper nicht nur dieser Figuren eine Fülle von Erkennt- Richtschnur für die Maßverhält- nissen liefert, die sich für die Diskus- nisse der Architektur,5 sondern auch sion ihrer architektonischen Pendants Referenzmodell für die Dichotomie als fruchtbar erweisen. Maßgeblich architektonischer Ansichten, für die nämlich geht es in beiden Diskursen klare Rangfolge der Seiten, den qua- um dieselben Begriffe und Katego- litativen Unterschied, der zwischen rien, um Sicht- und Unsichtbarkeit, Vorder- und Rückseite besteht. So wie Verbergen und Enthüllen, um die der Mensch pausenlos seine Gesichts- Motivation und die rhetorische Le- muskeln bewegt und seine Mimik gitimation dieser intentionalen Akte verändert, so wie er mit seinen Au- sowie um die standpunktabhängigen gen blinzelt, seine Nase rümpft und Wahrnehmungsgewohnheiten gebau seinen Mund zuckt, um Signale und ter Architektur. Botschaften zu senden und Kommu- nikation zu ermöglichen, so verhält Die bewusste Reflexion über die mei- es sich auch mit den Vorderseiten von sten dieser Punkte setzt jedoch erst 220
spät ein, denn während Repoussoir doch davon ausgehen können, dass figuren schon in Antike und Mit- die subjektivistische Deutung der Rü- telalter nachweisbar sind,8 ist es erst ckenfigur des Haarlemer Landschafts Johann Wolfgang von Goethe, der malers auch für die Rückenfiguren in Form eines Bildkommentars erste des nur wenige Jahre älteren Amster richtungsweisende Überlegungen damer Kirchenmalers gilt. Hier wie über die Bedeutungsdimensionen von dort fungieren diese Figuren als Iden- Rückenfiguren angestellt hat. Er be- tifikationsangebote, als innerbildliche schreibt ein von Jacob van Ruisda- Regieanweisungen für den außerbild- el 1650/55 gemaltes Bild mit dem Ti- lichen Betrachter; ihre Rücken sind tel Das Kloster (Abb. 6),9 das er an- an den Bildbetrachter gerichtete Auf- lässlich seiner Besuche der Dresdener forderungen, sich der Sichtweise des Gemäldegalerie 1768, 1790 und 1794 Raumbetrachters im Bild anzuschlie- bewundert hat, in seiner 1816 erschie- ßen. In diesem Sinne hat Ursula Pan- nen Schrift R uysdael als Dichter wie hans-Bühler die Rückenfiguren in De folgt: "Indem nun ein sanftes Licht von Wittes Kirchenstücken schon vor lan- dem Kloster zu den Linden und weiter ger Zeit als visuelle Metaphern des op- hin sich zieht, […] sitzt nah am Was- tischen Erlebens beschrieben.11 Ver- ser im Vordergrund, uns den Rücken mutlich, weil es sich bei dem durch die- zukehrend, der zeichnende Künstler se Figuren verkörperten Raumerleben selbst, und diese so oft missbrauchte letztlich nur um das Raumerleben De Staffage erblicken wir mit Rührung Wittes handeln kann, glaubte Thomas hier am Platze, so bedeutend als wirk- Ketelsen, in den Rückenfiguren des sam. Er sitzt hier als Betrachter, als Re- Amsterdamers Raumspezialisten "Si- präsentant von allen, welche das Bild gnaturen des Künstlers" erkennen zu künftig beschauen werden, welche sich können.12 Diese Vermutung drängte mit ihm in die Betrachtung der Ver- sich nicht nur auf, weil Rückenfiguren gangenheit und Gegenwart, die sich so per se ein hohes enigmatisches Poten- lieblich durch einander webt, gern ver- zial aufweisen und weil vor allem Rät- tiefen mögen."10 Ist Goethes Vermu- sel um verborgene Identitäten gelöst tung, dass in der Rückenfigur dieses werden wollen; diese Vermutung ist, Gemäldes der Maler selbst zu erken- wie sich zeigen wird, auch zutreffend. nen ist, zwar spekulativ, so wird man Dass K etelsen sie nicht stichhaltig be- Abb. 2: Emanuel de Witte, Innenhof der Börse von Amsterdam, 1653, Öl auf Eichenholz, 49 x 47,5 cm, Rotterdam, Museum Boijmans Van Beuningen, Inv.-Nr. VdV 91. Bild: © bpk 221
gründete, dürfte vor allem darauf zu- öse Überzeugungen. Impulsiv wie er rückzuführen sein, dass sich ihre Ve- war, prügelte er sich sogar mit einem rifizierung situationsbedingt schwie- seiner größten Widersacher, sogar rig gestaltete. Warum nämlich sollte den dänischen König Christian IV. es sich bei dem Rücken der Kirchen- vergraulte er, indem er die Fertig besucher in De Wittes Gemälden um stellung von Kirchenstücken zusagte, den Rücken des Künstlers handeln? deren Auslieferung allerdings zeit- – Oder anders gefragt: Wie kann der lebens schuldig blieb. Seine Tendenz überindividuelle, stereotype Rücken zu cholerischen Ausbrüchen wiede- Erkennungszeichen eines Individu- rum äußerte sich darin, dass er ein ums sein, wenn doch Individualität für die Tochter von Michiel De Ru- meist an unverwechselbaren Physio- yter gemaltes Bild mit dem Grabmal gnomien festgemacht wird und Selbst- des verdienten Admirals in der Nieu- porträts von Malern den Bildbetrach- we Kerk in Amsterdam mit dem Mes- ter in der Regel direkt anblickten, ihr ser zerfetzt haben soll;19 dieser ikono- Antlitz zeigten, sich nicht verbargen klastische Akt gegen das eigene Werk und nicht darauf abzielten, unerkannt ist allerdings fragwürdig, da sich ein und anonym zu bleiben?13 Bild mit diesem Thema erhalten hat (Abb. 7). Wenngleich Diogenes und Ausgangspunkt für den Nachweis, De Witte somit Bürgerschrecke er- dass das zunächst Abwegige doch sten Ranges waren, ein jeder für sich zutreffend ist, liefert die bisher zu das Skandalon seiner Zeit darstellte, wenig beachtete De Witte-Vita in der ist die ähnliche charakterliche Dispo von Arnold Houbraken verfassten, sition nicht die einzige und – wie 1718/21 erschienen Groote Schou- sich herausstellen wird – auch nicht burgh der Schilderkonst.14 Wie ein uni- die maßgebliche Kategorie gewesen, versales, alle Facetten seines Künstler- die beide miteinander vergleichbar lebens überschreibendes Motto wird machen sollte. Zudem ist es an die- De Witte direkt im ersten Satz dieser ser Stelle wichtig, sich bewusst zu ma- Lebensbeschreibung als "een tweede chen, dass die Charakterzüge weder Diogines Cynicus", also als ein zwei- des Philosophen noch des Malers am ter Diogenes, bezeichnet.15 Was Hou- Rücken der auffällig positionierten braken zu diesem Vergleich moti- Figuren in den Kircheninterieurs De viert haben mag, sind auf den ersten Wittes ablesbar gewesen sind. Um in Blick zunächst die zahllosen, über- den Rückenfiguren der Kircheninteri- deutlichen charakterlichen Parallelen, eurs De Wittes den Maler der Bilder die sich zwischen dem Begründer in der Rolle eines Diogenes alter er- des Kynismus und dem Architektur- kennbar werden zu lassen, musste der maler aufzeigen lassen. So nämlich, Amsterdamer folglich auf eine andere wie die von Diogenes Namensvetter Strategie setzen. und Biographen Diogenes Laertius zusammengetragenen Konventions- Ein Rücken sagt mehr als tausend brüche das Leben des antiken Philo- Gesichter sophen leitmotivisch durchzogen ha- ben, so durchziehen diese auch das Dieses planvolle Vorgehen verfolgte Leben des großen Kirchenmalers.16 De Witte, indem er seine Rücken Diogenes beispielsweise urinierte völ- figuren immer die gleiche Kleidung lig ungeniert, aß öffentlich, was im an- tragen ließ. Stets handelte es sich tiken Griechenland verpönt war, war hierbei um einen Mantel und damit aggressiv, unverschämt, vergriff sich um ein Kleidungsstück, das etymolo- im Ton und verhielt sich selbst Ale- gisch vom lateinischen Wort mantel- xander dem Großen gegenüber völlig lum abzuleiten ist, so viel wie Decke respektlos. Kurzum – D iogenes war oder Hülle bedeutete und schon des- ein egoistischer, exzentrischer, asozi- wegen dazu prädestiniert war, seinen aler Querulant, der normale Bürger Träger nahezu vollständig zu verhül- anpöbelte, anbettelte und verhöhnte, len.20 Vor allem wegen dieses Klei- für den Freiheit und Unabhängig- dungsstücks war der Maler als ein keit die höchsten Ziele waren.17 Nicht zweiter Diogenes erkennbar, war der viel anders verhielt sich Emanuel De Mantel doch das wichtigste unter den Witte.18 Auch er provozierte und stritt äußeren Erkennungszeichen des an- unentwegt, mit Vorliebe über religi- tiken Philosophen.21 Folgt man Dio- 222
genes Laertius, so trug Diogenes den dass dieser Mantel den Bildbetrach- so genannten tríbōn doppelt über- tern nicht immer, aber doch mit auf- einandergeschlagen zu allen Zeiten fälliger Häufigkeit in der Farbe Rot und Gelegenheiten, als einfaches präsentiert wird; diese war gewisser- Kleidungsstück am Tag und als eine maßen die Farbe des Diogenes. Zu er- vor Kälte schützende Decke in der innern ist nämlich daran, dass Dio- Nacht.22 Dieser Gepflogenheit tru- genes in Sinope zur Welt gekommen gen auch die Rückenfiguren De Wit- ist und damit in jener Hafenstadt am tes Rechnung, denn genau genom- Schwarzen Meer, in der, wie schon men sollten auch sie das besagte Klei- Plinius berichtet, die so genann- dungsstück zu keiner Zeit ablegen: te Sinopeerde (lat. sinopis) abgebaut Ob bei der Darstellung einer Predigt wurde, aus der das Pigment zur Her- in einer reformierten Kirche oder bei stellung der Farbe Rot (Zinober-Rot) der Darstellung des jüdischen Ge- gewonnen wurde.23 Nicht nur der betsdienstes in der Esnoga, der groß- Mantel, sondern auch dessen Farbe en Synagoge in Amsterdam (Abb. liefert damit ein weiteres Argument 8), nahezu ausnahmslos sind die ins für Ketelsens Vermutung. Was die- Auge stechenden Rückenfiguren in se Vermutung zur Gewissheit werden den von De Witte gemalten Kulträu- lässt, sind schließlich die Vierbeiner, men in einen Mantel gehüllt. Wenn die die Rückenfiguren häufig beglei- Houbraken De Witte also als einen ten, an diesen emporschauen und mit zweiten Diogenes bezeichnet und ihnen zusammen eine ikonische Ein- wenn zudem ein schwerer Mantel heit bilden. Neben dem Mantel war das wichtigste Erkennungszeichen der Hund das zweite, wichtige Erken- des Begründers des Kynismus war, nungszeichen der Kyniker, die sich spricht bereits einiges dafür, dass es ihres freimütigen, einfachen aber sich bei den Rückenfiguren, die in auch schamlosen und unverschämten den Interieurs des Raumillusionisten Verhaltens wegen selbst mit Hunden auftreten und einen solchen Mantel (kýnes) verglichen haben, als Hunde tragen, um Darstellungen De Wittes bezeichnet wurden, den Spottnamen handelt. Zusätzlich bekräftigt wird Hund gleichsam zu ihrem Ehrenna- diese Deutung durch den Umstand, men machten.24 Abb. 3: Emanuel de Witte, Inneres der Nieuwe Kerk in Amsterdam, 1656, Öl auf Leinwand, 33,8 x 35,2 cm, Rotterdam, Museum Boijmans Van Beuningen, Inv.-Nr. 1990. Abb. aus: Emanuel de Witte 1616/17-1691/92 Meester van het licht, Ausst.-Kat. Stedelijk Museum Alkmaar 2017/18, Zwolle 2017, Nr. 3.6. 223
Liegt die Verschmelzung der beiden bekannten Delfter Kirchenmann, Identitäten nahe, so war diese aller- wie jüngst in der Literatur vermutet dings nicht die Idee Houbrakens, auch wurde.26 Vielmehr ist es eine gemal- Abb. 4: Emanuel de Witte, wenn er der erste und einzige gewe- te Exegese dessen, was Predigt aus- Inneres der Oude Kerk in sen sein dürfte, der De Witte expressis macht,27 vor allem aber – bezogen auf Delft mit Predigt, 1669, Öl auf verbis als "een tweede Diogines Cyni- die Person De Wittes – ein Bild ge- Eichenholz, 79,2 x 65,8 cm, cus" bezeichnet hat. Vielmehr stammt wordenes Manifest seines Selbstver- Privatsammlung. diese Idee von De Witte selbst. Kei- ständnisses, eine programmatische Abb. aus: Walter A. Liedtke, nen Zweifel daran lässt sein erstes Kir- Selbstinszenierung des Künstlers als Architectural Painting in cheninterieur, die 1651 datierte Dar- Malerrebell, das Coming out des Ma- Delft, Gerard Houckgeest, stellung einer Predigt, die heute in lers als Diogenes. Denn so, wie der Hendrick van Vliet, Emanuel der Wallace Collection in London be- antike Philosoph in drastischen Ad- de Witte (Aetas Aurea, Mo- wahrt wird (Abb. 1).25 Dieses Gemäl- oculos-Beweisen die Grenzen des gu- nographs on Dutch & Flemish de ist sicherlich kein Prädikanten- ten Geschmacks immer wieder ver- Painting 3), Groningen 1982, Porträt, keine posthume Hommage letzt hat, so inszeniert auch De Witte Taf. XIII. an einen verstorbenen, namentlich als Diogenes pictor in diesem Meister- 224
werk einen denkbar kühnen Konven- te, wird zur klugen Verkleidung, zum tionsbruch, einen Dekorum-Verstoß, Bild der Unverfrorenheit und Frech- der sehr gut durch Rembrandt inspi- heit seines Malers. Es ist die Diatri- riert gewesen sein könnte:28 Indem De be, die Kombination aus Ernst und Witte nämlich ausgerechnet im Kon- Scherz, verbunden mit Hohn und Sa- Abb. 5: Emanuel de Witte, text einer Predigt, also der Verkündi- tire, typisch für den Kynismus und Inneres der Nieuwe Kerk gung und Exegese des verbum domi- zugleich rhetorische Figur der christ- in Delft mit dem Grabmal ni, links vorn einen defäkierenden, lichen Predigt, die De Witte sei- Willems des Schweigers, von einem Artgenossen aufmerksam ner Predigt zu Grunde legte, die kei- 1655-1660, Öl auf Eichenholz, beobachteten Hund darstellt, wid- ne gesprochene, sondern eine gemal- 107,5 x 90, 5 cm, Winterthur, met er der Verrichtung der tierischen te war.29 Folglich hat der Biograph De Museum Oskar Reinhart, Notdurft augenscheinlich mehr Auf- Wittes das Wissen um das selbst kre- Inv.-Nr. 96. merksamkeit als dem ehrenwerten ierte alter ego des Kirchenmalers nur Bild: Kunst Museum Prädikanten auf der Kanzel im Hin- aufgegriffen. Kenntnis davon erlangt Winterthur, Geschenk der tergrund. Die vermeintliche Unver- hatte er sehr wahrscheinlich durch Stiftung Jakob Briner, 2018 frorenheit des Hundes, die darstellbar Vermittlung des einzigen De Witte- © SIK-ISEA, Zürich (Lutz war, weil sie dem Instinkt gesteuerten Schülers, Hendrik van Streek (1659- Hartmann). Tier nicht angelastet werden konn- 1720).30 Während dieser kommentiert 225
haben dürfte, was De Witte in seinen gewöhnlichen Todesumstände aus der Bildern selbst initiiert hatte, war es Feder des Biographen rechtfertigte die Aufgabe Houbrakens, den in Bil- Houbraken damit, dass der unnatür- dern und Erzählungen überlieferten liche Tod des Malers nur die logische Spagat zwischen De Wittes künstle- Konsequenz seines unkonventionellen rischem Ich und seinem alter ego in Lebens gewesen sei.35 klug und phantasiereich konzipierten Anekdoten anschaulich werden zu Der Blick über die Schulter des lassen, literarisch weiter auszumalen. Malers und das Werben für eine Vor allem zwei dieser Anekdoten be- neue Sicht dürfen in diesem Zusammenhang der Erwähnung, da sie auf paradigma- Es liegt daher nahe, dass in den auffal- tische Weise Aspekte illustrieren, die lend positionierten Rückenfiguren der nicht zufällig schon immer mit Rü- Kircheninterieurs De Wittes Selbst- ckenfiguren in Verbindung gebracht porträts ihres Malers erkannt werden wurden, nämlich die Frage nach der müssen, der sich zudem als neuer Di- Identität und Identifizierbarkeit der ogenes verstanden hat. Weniger ein- dargestellten Person und die Dialek- leuchtend ist vielleicht die Wahl dieser tik des Ver- und Enthüllens. In diesen Referenz, denn anders als die meisten Episoden setzte Houbraken nur in Li- seiner Malerkollegen, kehrte De Witte teratur um, was in den Bildern, wenn den traditionellen Identifikationsmu- man sie richtig zu lesen verstand, zu stern den Rücken zu. Er wählte kei- sehen war. Kein Zufall kann es je- nen der bekannten Malerhelden der denfalls sein, dass sich die Zeitgenos- Antike, weder Zeuxis, noch Parrha- sen De Wittes von diesem abwandten, sios oder Apelles, sondern einen an- dass sie ihn mieden und wegen seiner tiken Philosophen. Damit signalisier- gefürchteten Unbeherrschtheit ver- te er, dass er seine Architekturbilder mutlich lieber von hinten als von vor- nicht in erster Linie mit der Schönheit ne gesehen haben, also als Rücken und der illusionistischen Großartig- figur.31 Ebenso ist es kein Zufall, dass keit antiker Meisterwerke verglichen der Maler nach einer Prügelei mit sehen wollte. Vielmehr unterstrich seinem Erzrivalen, dem Klassizisten er mit dieser Wahl seinen Willen, als Gérard de Lairesse, am Morgen nach ein Freund der Weisheit betrachtet zu der Auseinandersetzung nur noch an werden, der danach strebte, in seinem seiner Kleidung wiedererkannt wor- Metier, der Architekturmalerei, neue, den ist, weil sein Gesicht, also das, wo- richtungsweisende Antworten auf ran man einen Menschen normaler- Fragen zu geben, die ihn offensicht- weise erkennt, bis zur Unkenntlich- lich schon längere Zeit intensiv be- keit entstellt war.32 Nicht anders ver- schäftigt haben. Dass er sich dazu bei hält es sich auch mit dem wohl spekta- Diogenes Rückendeckung holen sollte, kulärsten Baustein der Vita, mit dem hatte seinen Grund und war Kalkül. angeblichen Suizid De Wittes, der kei- De Wittes Wahl ist nämlich nicht al- ne freie Entscheidung des Malers, son- lein darauf zurückzuführen, dass er dern vielmehr eine Erfindung seines sich habituell in dem antiken Rebell Biographen war. Wenngleich Houbra- wiedererkannte. Viel entscheidender ken das Vorbild für den Selbstmord war, dass sich der Blick auf Diogenes des Künstlers konsequent und plausi- im 17. Jahrhundert grundlegend ge- bel noch im überlieferten Selbstmord wandelt hatte.36 Aus Diogenes, dem des Diogenes fand, also bei der Person, exemplum virtutis, dem Inbegriff für die De Witte als sein alter ego erkoren Bescheidenheit und Anspruchslosig- hatte, konnte der Biograph die höchst keit, so wie ihn beispielsweise noch sonderbaren Umstände des Selbst- das christliche Mittelalter gedeu- mordes an sich – nämlich die Ab- tet hatte, war nämlich, wie Nikolaus sicht des Malers, sich an einer Brücke Largier höchst beeindruckend darle- zu erhängen, um dann nach Reißen gen konnte, der Exponent eines radi- des Strickes noch einmal tragischer kal neuen Sehens geworden.37 Vertre- im Fluss zu ertrinken33 – nur aus der ter eines solchen neuen Sehens war Diogenes-Vita in den Variae histori- auch De Witte, der die Sehtheorie des ae des römischen Sophisten und Rhe- berühmten Kynikers zu seiner eige- toriklehrers Claudius Aelianus (um nen machte, indem er sie auf die Ar- 170-222) gelesen haben.34 Die außer- chitekturmalerei übertrug. Den Kern 226
dieser Theorie hatte Diogenes Laerti- und 1660 entstanden sind, sahen ganz us in den scheinbar lapidaren aber le- anders aus. Nahezu ausnahmslos han- gendären Satz "Geh mir aus der Son- delte es sich bei ihnen um Kirchen ba- ne!" gefasst, den der subversive Kyni- silikalen Querschnitts, die sofort als ker Alexander dem Großen selbstbe- solche erkennbar waren, denn darge- wusst, provokant und respektlos auf stellt wurden sie immer in planper- die Frage, was er sich von ihm wün- spektivischem Schnitt, obwohl nichts sche, erwidert haben soll.38 Betrachtet in ihnen nach einer solchen Darstel- man die Sonne in dieser Anekdote als lungsform verlangte. Immer ging der Inbegriff der Wahrheit und Alexand- Blick von Westen nach Osten, vor- er den Großen als Inbegriff von Au- bei an scheinbar endlosen Pfeilerrei- torität und Macht, dann ist Diogenes' hen, um am tiefsten und entlegensten Sehnsucht nach einer unverstell- Punkt des Raumes, dem Chor, per- ten, unvoreingenommenen und von spektivisch maximal entrückt, zu übermächtigen Konventionen befrei- enden, so als ob das Sakrament der ten Sicht auf die Sonne Prototyp und Eucharistie, das am Hochaltar gefeiert Sinnbild für die Sehnsucht De Wittes wurde, einmal mehr als entrücktes, nach einer ebenso revolutionären, ra- unverständliches Mysterium hätte in- dikal neuen Sicht auf den architekto- szeniert werden sollen.39 An diesem, nischen Innenraum. Dieses Verlan- zu einer festen Formel erstarrten Bild- gen, das De Witte zum Rebellen seines typus, der maßgeblich durch Hans Metiers, zum Verfechter einer neuen Vredeman de Vries inspiriert worden Sicht auf den gemalten Kircheninnen- ist, hielten die Van Steenwijcks, Peeter raum und damit zugleich zum Neu- Neeffs I. und II. und viele andere Ver- Abb. 6: Jacob van Ruisdael, erer der niederländischen Architek- treter der Architekturmalerei der süd- Das Kloster, 1650/55, Öl auf turmalerei machte, war mehr als be- lichen Niederlande jedenfalls bis weit Leinwand, 75 x 96,3 cm, gründet. So wie De Witte Kirchenin- in die zweite Hälfe des 17. Jahrhun- Dresden, Galerie der Alten nenräume ab 1650 darstellen sollte, derts unbeirrt fest (Abb. 9).40 Diese Meister, Gal.-Nr. 1494. hatte diese vor ihm noch kein Maler Beharrlichkeit ist vermutlich darauf Bild: © bpk / Staatliche dargestellt. Gemalte Interieurs bei- zurückzuführen, dass man in diesen Kunstsammlungen Dresden / spielsweise katholischer Gotteshäu- Kirchenstücken weitreichende Aufga- Elke Estel ser, die in Antwerpen zwischen 1600 ben erfüllt sehen wollte. Selbst wenn 227
diese Gemälde die Kathedrale von der Kirchen in Haarlem oder Utrecht, Antwerpen oder andere Kirchen der Alkmaar, Rhenen oder Assendelft, sa- Schelde-Metropole darstellten oder hen nicht so aus, wie die Gemälde Pie- die Bilder konkrete Veränderungen, ter Saenredams (1596-1665) glauben die Bau und Ausstattung betrafen, machen wollten (Abb. 10),42 denn so antizipierten und anschaulich mach- chromatisch reduziert, steril und kalt, ten,41 ist davon auszugehen, dass in ih- so frei von Atmosphäre, zeitlos und nen niemals nur realistische Abbilder menschenleer, wie die Kirchen dieses gebauter Architektur erkannt werden Haarlemer Raumspezialisten in sei- sollten. Immer schimmerten hinter nen Gemälden vorgeben zu sein, sind den Gemälden gebauter Gotteshäuser, ihre gebauten Vorbilder keineswegs hinter den Bildern der ecclesia qua Ge- gewesen. Dass sie dennoch diesen Ein- bäude, Bilder der ecclesia qua Institu- druck vermitteln, ist der Tatsache ge- tion durch. Vor diesem Hintergrund schuldet, dass auch Saenredams Ma- fällt es schwer zu glauben, dass in die- lerei bestimmte theoretische Vorent- sen Kirchenstücken immer gleicher scheidungen zu Grunde lagen.43 Bauart nicht zugleich auch Instru- mente gesehen wurden, die der wie- Letztlich hat also die Ablehnung so- dergewonnenen Autorität und dem wohl der süd- als auch der nordnie- zentralistisch organisierten Machtan- derländischen Formen der Archi- spruch von Kirche und Papsttum im tekturmalerei dazu geführt, dass De Anschluss an das Konzil von Trient Witte in Delft, nicht zufällig in der (1545-1563) Anschaulichkeit verlie- Stadt, in der Jan Vermeer, Carel Fabri- hen haben. Aber nicht nur von den tius und Pieter de Hooch in ihrer Ma- Darstellungskonventionen dieser Kir- lerei vornehmlich Fragen des Raumes, chenbilder sollte sich De Witte distan- der Perspektive und der Optik nach- zieren. Auch die Innenräume der Kir- gegangen sind, seine Vorstellungen chen in den nördlichen, calvinistisch von Interieurmalerei propagierte.44 geprägten Niederlanden, die Räume Hier entstanden unter dem Einfluss Abb. 7: Emanuel de Witte, Chor der Nieuwe Kerk in Amsterdam mit dem Grabmal Michiel de Ruyters, 1683, Öl auf Leinwand, 123,4 x 105 cm, Amsterdam, Rijksmuseum, Inv.-Nr. SK-A-1642. Bild: © Amsterdam, Rijksmuseum 228
von Gerard Houckgeest (um 1600- schien allerdings nicht nur konfes- 1661) bis spätestens etwa 1652, danach sionsgeschichtlich geboten. Sie ent- in Amsterdam, Innenansichten von sprach auch der Grundmethode wis- Kirchen, in denen De Witte mit seis- senschaftlicher Exploration, mit der mographischem Gespür anschaulich das 17. Jahrhunderts allen Räumen be- machte, was seiner Meinung nach den gegnete.46 Qua Raum, als dreidimensi- reformierter Kirchenraum ausmachte onale Größe und Ausdehnung, wollte und wie man das, was dessen Wesen der Kirchenraum durchschritten, in bestimmte, künstlerisch adäquat dar- Bewegung erlebt, von immer wieder stellen konnte.45 anderen Standpunkten aus entdeckt und wahrgenommen werden. Bewe- Die alte, über ein Jahrtausend, näm- gung als wesentliche Bedingung der lich bis zur Reformation Gültig- Raumrezeption machte aus dem einen keit besitzende Vorstellung von einer statischen Bild vom Raum eine Se- mächtigen und nach außen hin ge- quenz von Bildern, die als Folge die- schlossen auftretenden Kirche hätte in ser Bewegung zugleich Bewegung in De Wittes Kirchenstücken nicht ein- längst überkommene Darstellungs- dringlicher in Frage gestellt werden konventionen brachte. Für die Dik können. Bildbestimmend war nicht tatur des immer gleichen Blickes ent- mehr länger die Macht suggerierende, lang der Hauptfluchtlinie bedeutete alles überschaubar machende Raum- diese Neuerung das Ende. An seine totale Antwerpener Provenienz, bild- Stelle trat mit De Witte die diagonal bestimmend war nunmehr das in ana- perspektivische Raumerschließung tomischer Manier meist diagonal an- aus nächster Nähe, traten die Blicke geschnittene Raumfragment, die Au- auf die neuen Zentren der Aufmerk- topsie einzelner Teilräume aus näch- samkeit. Sie richteten sich fortan auf ster Nähe, welche Teilschauplätze Predigtlauscher, Flaneure und spie- produzierte und die frühere, streng- lende oder Graffiti kritzelnde Kinder, dogmatische, orthogonale Richtungs- auf Connoisseure, Kirchenmeister bezogenheit aufhob. Diese Sprengung und Totengräber bei der Arbeit, auf Abb. 8: Emanuel de Witte, Inneres der Portugiesischen Synagoge in Amsterdam, um 1680, Öl auf Leinwand, 100 x 99 cm, Amsterdam, Jüdisches Museum (leihweise), Amsterdam, Rijksmuseum, Inv.-Nr. SK-A-3738. Bild: © Amsterdam, Rijksmuseum 229
urinierende Hunde, streunende Vier- respondierte diese Raumerfahrung beiner auf Spurensuche, auf Kanzeln, mit der Erfahrung, die auch der "Bau Prunkgrabmäler, Epitaphien und ein- des Weltalls" vermittelte, welches, so fache Grabplatten, auf prachtvolle Or- Francis Bacon, "seiner Struktur nach geln oder im Krieg errungene Tro- dem Menschengeist, der es betrachtet, phäen. Durch dieses Spektrum wur- wie ein Labyrinth" erscheinen musste, de der Kirchenraum als ein primär ge- in dem sich "überall unsichere Wege, sellschaftlich, konfessionell und histo- täuschende Ähnlichkeiten zwischen risch konditionierter Raum definiert, Dingen und Merkmalen, krumme und der sich damit als ein relationaler verwickelte Windungen und Verschlin- Raum zu erkennen gab. Relational war gungen der Eigenschaften" zeigten.49 dieser auch in phänomenologischer Um diesem Eindruck Anschaulichkeit Hinsicht, weil sein Inneres maßgeb- zu verleihen, hatte Bacon in seinem lich von äußeren Umständen, von sich Novum Organon von 1620 das Bild stets verändernden meteorologischen des "sylva experientiae", das Bild vom Verhältnissen, vom Zug der Wolken, Wald und Dickicht der Erfahrungen, vom Stand der Sonne und der Intensi- gewählt, mit dem sich auch der Raum tät ihres Scheinens abhängig war. Un- eindruck der gemalten niederlän- ter diesen Prämissen wurde das tra- dischen Kirchenstücke nach 1650 äu- ditionelle Mittel der Evozierung von ßerst treffend umschreiben ließ.50 Tiefenräumlichkeit, die geometrisch- mathematische Perspektive, nahezu De Wittes diagonalperspektivische bedeutungslos. An ihre Stelle trat als Raumerschließung war mithin klug zweite wichtige Neuerung die von De gewählt, denn sie leistete zweier- Witte klar favorisierte optische Per- lei: Zum einen war diese Art der Er- spektive.47 Deren naturwissenschaft- schließung ein Modus, der im gemal- lich inspirierte Anwendung führte ten Raum jenen Eindruck von Verwir- dazu, dass seine Kirchenräume vor- rung reflektierte, der in den gebauten nehmlich aus Licht, Schatten und Far- Räumen selbst erfahrbar war, zum an- be moduliert waren, zum Ende seiner deren war es eben dieser Modus, der Schaffenszeit hin sogar den Eindruck den Raum und das Überangebot sinn- erweckten, nur noch aus nebeneinan- licher Wahrnehmungsoptionen epi- der gesetzten Farbflächen zu beste- stemisch beherrschbar machte. Was hen.48 Durch das, was De Witte in den De Wittes Kirchenstücke gewisserma- Blick nahm und wie er mit dem in den ßen zu Leseanleitungen von Gottes- Blick Genommenen künstlerisch um- häusern machte, waren die unmittel- ging, zeigte er in seinen Kirchenstü- bar an diesen Modus gekoppelten Per- cken den Kirchenraum als einen mit spektivierungen. Dieses Instrument künstlerischen Mitteln obduzierten der intentionalen Blicklenkung, das Wahrnehmungs- und Ereignisraum, aus der Fülle des Präsenten etwas zum in dem sich vor allem visuelle, aku- Besonderen erhob, über den sinn- stische und olfaktorische Eindrücke lichen Erfahrungsraum ein normati- überlagerten, welche die Bilder nicht ves Raster legte, um in ein verdichte- zuletzt auch zu einem Diskurs über tes hypertrophes Gewebe aus Wahr- Aufmerksamkeit und die Lenkung nehmungsangeboten Ordnung zu von Aufmerksamkeit machten. Diese bringen, war typisch für das 17. Jahr- Dichte unterschiedlicher Wahrneh- hundert.51 In einer Zeit, in der die Op- mungsangebote, der sich brechende tik eine Leitwissenschaft war und eine Schall, die lange Nachhallzeit akus- alle Lebensbereiche erfassende curio- tischer Signale, vor allem aber die sitas visuell befriedigt wurde, schlug Durchblicke, die sich beim Durch- die Perspektivierung in die besagten schreiten der immer gleichen Pfeiler- Pfeilerwälder der gotischen Kirchen wälder ständig neu auftaten, um nur Sichtachsen wie Schneisen der Er- einen Augenblick später direkt wie- kenntnis, war die Perspektivierung der zu verschwinden, forcierten bei das von De Witte favorisierte Instru- Kirchenbesuchern den Eindruck, sich ment der Raumnavigation. in einem Zustand der Orientierungs- losigkeit zu befinden. Da sich diese Da diese gemalten Raumreflexionen Durchblicke unentwegt veränderten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun- und da sie Bilder generierten, die zum derts einzigartig waren und in dieser Verwechseln ähnlich aussahen, kor- künstlerischen Qualität nur von De 230
Witte betrieben wurden, ist es mehr anders malen musste, weil er ihm so als wahrscheinlich, dass der selbstbe- und nicht anders erschienen war. Die wusste Maler seine persönliche Über- Rückenfigur bekräftigte also die Kor- zeugung in seinen Kircheninterieurs rektheit der Erscheinung des Raumes, zur persönlichen Standpunktfrage sie authentifizierte dessen Wahrneh- gemacht hat. Sichtbarer Reflex die- mung durch Augenzeugenschaft.53 ses Selbstverständnisses ist der Um- Zugleich definierte sie den Malakt als stand, dass der Maler in den Fällen, einen Akt der Rekapitulation des zu- in denen er als Rückenfigur auftrat, vor persönlich in Augenschein Ge- ausnahmslos für sich allein, im Ab- nommenen. Schließlich sorgte sie so- seits, wie ein Außenseiter und Einzel- gar dafür, dass De Witte mit seiner gänger dastand, und damit genauso, revolutionären Sichtweise von Archi- wie Houbraken ihn auch umschrie- tekturmalerei dauerhaft in Verbin- ben hatte, nämlich als eine Person, dung gebracht werden konnte, da der die im eigenen Land als Fremdling Maler mit der Rückenfigur eine Form betrachtet wurde.52 De Wittes wich- persönlicher Memoriasicherung ge- tigster Adjutant, um der Korrektheit wählt hatte, wie sie seinen ureigenen seiner Sichtweise von Architektur- Absichten nicht besser hätte entspre- malerei Nachdruck zu verleihen, war chen können. die Rückenfigur. Da sie dem Bildrezi- pienten den Rücken zuwandte, warb Zwar hätte sich De Witte – in einen De Witte mit ihr bei den Betrachtern roten Mantel gehüllt und von einem seiner Bilder für seine Überzeugung. Hund begleitet – auch mit einem dem Ihre Implikationen waren allerdings Betrachter zugewandten Gesicht dar- weitaus subtiler. Die Tatsache näm- stellen können. Unter memorativen lich, dass sich De Witte in Gestalt ei- Gesichtspunkten wäre dieser Fokus Abb. 9: Hendrik van ner Repoussoirfigur zum Seher und allerdings kontraproduktiv gewesen, Steenwijck, Inneres einer Beobachter des Kircheninnenraumes denn so wäre De Witte als der Maler gotischen Kirche, um 1585, gemacht hat, in dem er selbst anwe- mit der vergessenen Physiognomie in Öl auf Leinwand, 90,5 x 121 send war, implizierte, dass der Maler Erinnerung geblieben. Eine Memoria cm, Hamburger Kunsthalle, den Raum, so wie er ihn malte, wahr- sicherung durch physiognomische Inv.-Nr. HK-196. genommen hat. Unter diesen Voraus- Unverwechselbarkeit war nämlich, Bild: © bpk / Hamburger setzungen konnte er darauf insistie- wie schon Michelangelos Porträt- Kunsthalle ren, dass er den Raum so und nicht Aversion deutlich machen musste, 231
nur von begrenzter Dauer. Sie hatte besucher erschienen, letztlich aber die nur so lange Bestand, wie Menschen wahre Identität des Künstlers, den Ma- lebten, die den Porträtierten persön- ler Emanuel de Witte als Diogenes al- lich kannten und wiedererkennen ter, dem direkten Zuschauerblick ent- konnten.54 Schon vor diesem Hinter- zogen. Das unverzichtbare Requisit grund, noch mehr aber wegen seines dieser Inszenierung war der Mantel, alter ego, stand für De Witte das eige- unter dem sich die Dinge ebenso gut ne Gesicht als Garant der Wiedererin- verbergen ließen, wie hinter dem Rü- nerung nicht zur Debatte. Stattdessen cken der Person, die diesen trug. rückte der Maler seinen Rücken in den Fokus des Betrachters. Von hinten, als Die theoretische Legitimation für die- Rückenfigur, fast vollständig gehüllt ses höchst intelligente Vorgehen fand in ein Kleidungsstück, das als Signet De Witte in der dissimulatio artis, in des bedeutendsten Kynikers gelten der Kunst des Verbergens und Ver- musste, konnte De Witte auf D auer stellens, einer Strategie der antiken der Philosoph unter den Architektur Rhetorik, welche das Ziel verfolgte, malern bleiben, der er sein wollte; nur die Inszenierung einer Sache zu ver- so war es ihm möglich, sich unter dem bergen, sodass der Eindruck von Un- Alias "tweede Diogenes Cynicus" Zeit inszeniertheit, von Spontaneität und überdauernd einen Namen zu ma- Authentizität entsteht.56 Auch das chen. De Wittes Philosophie war also Wissen um diese ars musste De Witte paradox und genial zugleich: Indem wichtig gewesen sein, jedenfalls ver- er sich unkenntlich machte, gab er säumte es Houbraken nicht, den Kir- sein alter ego zu erkennen; indem er chenmaler auch als einen in der Rede- sein Gesicht verhüllte, enthüllte er sei- kunst bestens unterwiesenen Künstler ne wahre Identität. Sein Rücken, jene zu beschreiben.57 Woher De Witte die- unpersönliche, unter ikonischen Ge- ses Wissen hatte, ist allerdings nicht sichtspunkten gemeinhin auswechsel- mit letzter Sicherheit zu sagen. Lesen bare Seite des menschlichen Körpers, konnte er über diese Kunst jedenfalls machte ihn unverwechselbar. schon in der Rhetorik des Aristoteles, der forderte, die Rede nicht als ge- Verhüllen und Verbergen als macht, sondern als natürlich erschei- Strategien nen zu lassen, um mehr Glaubwürdig- keit zu erwecken.58 In diesem Sinne Damit dürften sich alle Hoffnungen postulierte auch Quintilian, die Be- des Malers erfüllt haben. In Gestalt der redsamkeit zu verstecken, wobei er – Rückenfigur spielte De Witte mit dem ganz wie De Witte – im Hinblick auf Betrachter ein intellektuelles Spiel, das die Formen der Verstellung zwischen ihm angesichts ihrer wiederholten, dem "Verbergen des Wahren" (dissi- programmatischen Verwendung äu- mulatio) und dem "Vorspielen des Fal- ßerst wichtig gewesen sein muss. Im- schen" (simulatio) unterschied.59 Zu- merzu ging es dabei um das Verbergen dem berichtet Plinius über Apelles, und Verstellen in der Kunst, denn De dass sich der antike Maler hinter sei- Witte verbarg sich in seinen Interieurs nem Gemälde versteckt habe, um zu gleich auf zweifache Weise: Einerseits erfahren, wie Betrachter über seine traf das seit dem 15. Jahrhundert be- Kunst urteilten.60 Am reichsten je- kannte Motto "ogni pittore dipinge se", doch sind die Belegstellen in der Gat- wonach jeder Maler sich selbst male, tung der frühneuzeitlichen politi- indem er sein Verständnis von Kunst schen und fürstlichen Erziehungs- in seiner Kunst versteckt und unbe- literatur. In Macchiavellis Il Princi- merkt mit einfließen lässt, auch für De pe von 1513, in dem es heißt, dass es Witte zu.55 Denn während seine Inte- zur Staatskunst eines Fürsten gehöre, rieurs, objektiv betrachtet, atmosphä- ein großer Simulator und Dissimula- rische Darstellungen der Kirchen von tor zu sein, wird dem Fürsten empfoh- Delft oder Amsterdam zeigten, verbarg len, sich die Fuchs- und die Löwenna- der "pictor doctus" hinter diesen Ge- tur anzueignen, weil man ein Fuchs mälden die ausgefeilte Theorie der Gat- sein muss, um die Schlingen zu er- tung, der er sich wie kein anderer Ma- kennen, und ein Löwe, um die Wölfe ler seiner Zeit zuwandte. Andererseits zu verschrecken. Den Akt des Verber- versteckte er sich hinter den Rückenfi- gens einer solchen Fuchsnatur um- guren, die zwar wie einfache Kirchen- schreibt Macchiavelli zudem bezeich- 232
nenderweise mit dem Wort colorire, höchst aufschlussreich. Da ein solches was Einfärben, mit Farbe bedecken Verzeichnis unter den Architektur- meint, den Akt der dissimulatio also malern allerdings nur für Pieter Saen- mit einer künstlerischen Technik er- redam überliefert ist,64 lassen sich für klärte.61 Ihre Fortsetzung fanden diese De Witte lediglich Inspirationsquel- Ideen in Baldassare Castigliones Il Li- len höherer oder weniger hoher Wahr- bro del Cortegiano von 1528, im Kon- scheinlichkeit ausmachen. Eine wich- Abb. 10: Pieter Saenredam, zept der sprezzatura, wonach es sich tige, vielleicht sogar die wichtigste Be- Inneres der St Bavokerk in empfiehlt, eine gewisse Lässigkeit an- zugsperson in diesem Zusammen- Haarlem mit Blick aus dem zuwenden, die die Kunst verbirgt und hang, scheint jedoch René Descartes Chor auf die große Orgel, zeigt, dass das, was man tut oder sagt, gewesen sein. Nicht nur, dass er von 1648, Öl auf Eichenholz, mühelose und fast ohne Nachdenken 1629 bis 1647 in den Niederlanden 172,7 x 142,2 cm, Edinburgh, zustande gekommen sei.62 Da es also lebte – seit jeher verbindet die Philo- National Gallery of Scotland, zu allen Zeiten viel über die dissimula- sophiegeschichte mit ihm, ebenso wie NG 2413. tio artis zu lesen gab, vor allem im 17. die Kunstgeschichte mit De Witte, Bild: © bpk | RMN - Grand Jahrhundert,63 wäre ein Verzeichnis eine Zäsur im Sinne eines radikalen Palais der Bücher aus dem Besitz De Wittes methodischen Neuanfangs. Wie Des- 233
cartes zweifelte auch De Witte an der erschien nämlich anonym.69 Die- Richtigkeit dessen, was in seinem Me- se Anonymität ist jedoch genau ge- tier lange Zeit unstrittig war und für nommen keine, denn dadurch, dass richtig erachtet wurde; beide sollten es keinen Autornamen gibt, prokla- auf der Suche nach Wahrheit allein miert der Anonymus explizit und in ihre subjektiven Erfahrungen und besonderem Maße, dass es einen Au- Wahrnehmungen zum Maßstab des tor gibt, und zwar nicht irgendeinen, eigenen Urteils und zur Grundlage sondern einen einzigartigen, un- ihres Neuanfangs machen. beugsamen, unanfechtbaren, dessen Name der Name desjenigen ist, der Doch unabhängig von dieser all- sich als einziger selbst auf die Metho- gemeinen methodologischen Ver- de der Gewissheit fokussierte, was – gleichbarkeit lässt sich für Descartes wiederum bezogen auf die Architek- noch darüber hinaus eine auffällige, turmalerei – auch De Witte tat, der stringent verfolgte dissimulatio-Ver- sich – sich selbst verbergend – nur an pflichtung nachweisen.65 So schreibt das hielt, was seine Augen ihm eröff- der Philosoph etwa in seinen Préam- neten. Beide folgten dem Gesetz des bules, den Vorreden, in einem Text- Sehens des Subjekts, dem Gesetz der fragment vom 1. Januar 1619, dass die Evidenz, dem Gesetz der unmittel- Schauspieler, die auf die Bühne geru- baren Einsichtigkeit, welches die Ge- fen werden, eine Maske anlegten, um wissheit ihrer je eigenen Perspektive zu vermeiden, dass man die Röte auf begründete. ihren Gesichtern sehe, und dass auch er selbst in dem Moment, in dem er Was auch immer De Witte von Des- die Bühne des Welttheaters betrete, cartes, den man methodisch als des- maskiert auftreten werde.66 Aber sen Bruder im Geiste bezeichnen nicht nur in diesem Punkt ist Des- muss, wusste, was auch immer der cartes Vorbild für De Witte, der die Maler in der Rolle des antiken Philo- Kirche, die Bühne seiner Selbstdar- sophen vom Philosophen seiner Zeit stellung, gewissermaßen auch "mas- möglicherweise in einem persön- kiert" betreten sollte. In einem Brief lichen Gespräch erfahren, was er viel- vom 8. Oktober 1629 an seinen Pa- leicht auch über ihn gehört oder von riser Freund Marin Mersenne weiht ihm gelesen hatte – auch für De Witte Descartes den Theologen und Ma- waren Verbergen und Enthüllen je- thematiker in seinen geheimen Plan denfalls die zentralen Begriffe, die ein, seine Philosophie als Probestück sein Malen und seine Kunsttheorie ähnlich einem Gemälde in der Öf- bestimmten. Wie ein Kirchenführer fentlichkeit auszustellen, hinter dem führte er, unerkannt und wissend zu- er sich dann verstecken wolle, um zu gleich, durch seine Gotteshäuser, öff- hören, was man dazu sage.67 Genau nete er den Betrachtern seiner Gemäl- diese Absicht verfolgte er dann auch de die Augen für die Wahrheit über mit seiner Erstlingsschrift, den Di- die Wahrnehmung von Architektur. cours de la Méthode, die 1637 in Lei- Die Frage nach der Legitimation und den erschienen sind, genau in dem nach dem Erfolg dieser Aufgabe ent- Jahr, in dem sich Descartes nach- schied sich an der Figur, die er für weislich in der Geburtsstadt De Wit- sein alter ego ersonnen hatte, an der tes, nämlich in Alkmaar, aufgehal- Rückenfigur, genau genommen sogar ten hat und dem 20-jährigen Maler am Rücken selbst. Denn in diesem möglicherweise persönlich begegnet Zusammenhang wird man nunmehr ist. In dieser wichtigen Schrift wollte auch auf den letzten, auf einen bis- Descartes jedenfalls, wie er sagt, die lang vorenthaltenen Aspekt zu spre- Wege, denen er gefolgt sei und die er chen kommen müssen, den Friedrich beschritten habe – kurzum, sein gan- Weltzien im Kontext seiner Analyse zes Leben – wie auf einem Gemälde von R ücken und Rückseite in Pseudo- darstellen, damit jeder darüber ur- Lukians Erotes thematisiert hat, das teilen könne und er erfahre, was man Moment der Zeitlichkeit; auch dieses davon denke.68 Nichts anderes tat im ist auf die Rückenfiguren De Wittes Prinzip auch De Witte in seinen In- übertragbar. Die Unmöglichkeit, Vor- terieurs. Hinzukommt, dass der Phi- der- und Rückseite gleichzeitig sehen losoph in dieser Schrift seine Iden- zu können, macht es nämlich mög- tität unterschlagen sollte, das Buch lich, das Hinten und Vorn, mit Ver- 234
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