Scheinbar belanglos, letztlich aber frech, genial und alles erklärend

Die Seite wird erstellt Leon Geißler
 
WEITER LESEN
Scheinbar belanglos, letztlich aber frech, genial und alles erklärend
Andreas Gormans
(Aachen)

"Scheinbar belanglos,
letztlich aber frech, genial
und alles erklärend"
Zur Bedeutung der Rückenfiguren in den gemalten
Kircheninnenräumen Emanuel de Wittes

Da die habituelle Sicht auf die Vorder- und Rückseiten des menschlichen
Körpers ein wichtiges Referenzmodell für die Bewertung von Rückseiten ar-
chitektonischer Körper darstellt, wendet sich der vorliegende Beitrag den
mitunter ostentativ zur Schau gestellten Rückenfiguren in den gemalten
Kircheninnenräumen des niederländischen Malers Emanuel de Witte (1617-
1692) zu. Sie rechtfertigen die These von einer eigenen Hermeneutik der
Rückseite, deren epistemisches Potenzial bisweilen immer noch stark un-
terschätzt wird: Nicht nur, dass die Kontextualisierung der Rückenfiguren
De Wittes höchst aufschlussreiche Erkenntnisse über den wohl bedeutends-
ten Architekturmaler in den Niederlanden des Goldenen Zeitalters, über
sein Selbstverständnis und sein Verständnis von Architekturmalerei liefert
– mit Begriffen wie Verbergen und Enthüllen, wie Wahrnehmung, Wahrneh-
mungsgewohnheit und Betrachterstandpunkt wird zugleich ein Spektrum
von Aspekten in den Fokus gerückt, das sich mit großem Gewinn auch in die
Rückseiten-Diskurse der Architektur selbst einbringen lässt.

http://www.archimaera.de
ISSN: 1865-7001
urn:nbn:de:0009-21-52234
März 2021
#9 "Rückseiten"
S. 217-240
Scheinbar belanglos, letztlich aber frech, genial und alles erklärend
Es gibt keine Rückseiten ohne Vorder-     bebauung. Denn während nur ihre
seiten, keine Vorderseiten ohne Rück-     den Straßen zugewandten Seiten in
seiten. Das Reflektieren über die Be-     der Lage waren, Ansprüche zu kom-
deutung der einen geht nicht ohne das     munizieren und deswegen in besonde-
Denken der anderen. Auch räumlich         rem Maße Stil und Kanon, Proportion
betrachtet bilden beide eine Einheit,     und Material verpflichtet waren, sind
denn das, was zwischen ihnen liegt, ist   ihre Rückseiten genau das Gegenteil.
nicht nur das, was sie trennt, sondern    Ihre bewusste Abkehr von den Gestal-
auch das, was sie verbindet und zu-       tungsprinzipien ihrer Vorderseiten
sammenhält. Rück- und Vorderseite         führte in der Folgezeit, vor allem im
haben also immer denselben Bezugs-        19. Jahrhundert, zu den immer glei-
punkt, liefern Ansichten ein und der-     chen beengten Hinterhöfen, schlecht
selben Sache. Was diese Ansichten un-     belüftet und belichtet, durchsetzt von
terscheidet, wird deutlich, wenn man      Handwerk und Gewerbe, zu Orten
das Wort Rückseite von linguistischer     von entlarvender, mitunter erschüt-
Warte aus betrachtet. Die Sprachwis-      ternder Ehrlichkeit,1 die heute nur
senschaft nämlich rechnet den Begriff     deswegen erträglich sind, weil Archi-
bezeichnenderweise zur Gruppe der         tekten und Planer ihre Gestaltungs-
so genannten Determinativkompo-           notwendigkeit, aber auch ihr Gestal-
sita. Danach ist dieses Wort eine Zu-     tungspotenzial erkannt haben. Rück-
sammensetzung aus zwei Wörtern,           seiten der Architektur sind aber auch
bei der der erste Teil, das untergeord-   all jene Rückseiten, die anfangs mit
nete Determinans, rück, den zweiten       guten Absichten, nicht aber von vorn-
Teil, das dominante Determinatum          herein als Rückseiten geplant waren,
Seite, in seiner spezifischen Bedeu-      sondern sich erst im Laufe von Jahr-
tung einschränkt und zugleich nä-         zehnten zu Rückseiten in einem me-
her bestimmt. In diesem Sinne sind        taphorischen Sinne entwickelt haben.
Rückseiten durch ihre rückwärtige         Dies sind die vernachlässigten Groß-
Ansicht in ihrer wesenhaften Spezifik     wohnsiedlungen in den Banlieues
näher bestimmt. Diese äußert sich da-     etwa von Paris, Lyon und Marseille,
rin, dass sie sich von der wesenhaften    die Vororte von Amsterdam oder Ber-
Spezifik der von ihr abgewandten          lin, die politisch nur allzu gerne aus-
Vorderseite grundlegend unterschei-       geblendeten Pendants zu den städ-
den. V­ isuell manifest wird der Unter-   tischen Vorder- und Vorzeigeseiten,
schied in einem ästhetischen Gefälle,     die Kehrseiten der herausgeputzten
denn Rückseiten sind den Vordersei-       eleganten Plätze, Flaniermeilen und
ten eigentlich ausnahmslos nach- und      Boulevards, der Alleen und Parks,
untergeordnet, in der Regel weniger       die Synonyme für die sozialen Brenn-
aufwändig und ansehnlich, zumin-          punkte, für Zonen der Brache, der
dest anfangs immer verborgen, dem         Ver- und Entsorgung;2 nicht zu ver-
direkten Zugang des menschlichen          gessen ihre wohl extremsten Ausprä-
Auges entzogen. Wenngleich die-           gungen, die Favelas in den Randlagen
ser Sachverhalt auf zahllose Kontexte     der Metropolen Südamerikas und die
übertragbar ist, zeigt er sich jedoch     Slums und Elendsquartiere Fernosta-
besonders eindringlich bei Gebäuden.      siens, die Orte architektonischer Sub-
Allerdings sind nicht alle Gebäude für    kultur, an denen Armut architekto-
eine Rückseiten-Hermeneutik in glei-      nisch erfinderisch macht, Architektur
cher Weise empfänglich. Gänzlich un-      sich als kreative Kultivierung des ma-
geeignet sind freistehende, richtungs-    teriell Verfügbaren definiert und zu-
autarke Solitäre von hoher gestalte-      gleich auch lehrreich ist, weil die Lek-
rischer Konformität wie etwa Palla-       tionen in Sachen Nachhaltigkeit nicht
dios Villa Rotonda oder Ledouxs Haus      eindringlicher sein könnten.
des Flurwächters, bei denen zwischen
einzelnen Ansichten kaum oder so-         Der menschliche Rücken und die
gar gar nicht unterschieden werden        architektonische Rückseite
kann. Deutlich höher hingegen ist die
Aussagekraft von Rückseiten all jener     Diese wenigen Beispiele bestätigen,
Gebäude, die die Unterschiede ihrer       dass die visuellen und semantischen
Ansichten zelebrieren, wie etwa städ-     Spielformen dessen, was Rückseiten
tische Wohnbauten seit dem 17. Jahr-      umfassen können, im Bereich der Ar-
hundert in geschlossener Blockrand-       chitektur höchst facettenreich sind.

                        218
Scheinbar belanglos, letztlich aber frech, genial und alles erklärend
Die Grundidee der Rangfolge, des          sich die Männer, von ihrer Neugier ge-
                                qualitativen Unterschieds oder der Hi-    trieben, auch diese von einer Tempel-
                                erarchie, die all diesen Varianten in-    dienerin öffnen. Nach Durchschrei-
                                härent ist und dabei zugleich mit dem     ten dieses Hintereingangs ist es jetzt
                                Begriff Rückseite operiert, sucht man     Kallikratidas, der zweite Begleiter des
                                in der Architekturtheorie allerdings      ­Lykinos, der ein enthusiastisches Lob-
                                vergeblich. Eine ganz grundsätzliche       lied auf das Ebenmaß des Rückens
                                Position findet man im Buch Erotes         und die Schönheit von Gesäß und Bei-
                                des Pseudo-Lukian, verfasst um 170         nen anstimmte. Von der Schönheit
                                n. Chr., in Form eines Berichtes über      des marmornen Bildwerks ganz in ih-
                                drei junge Männer, die das Heiligtum       ren Bann gezogen, war die Wahrneh-
                                der Aphrodite in Knidos besichtigten.      mung der drei jedoch noch nicht so
                                Beim Anblick der Vorderseite dieser        weit getrübt, dass ihnen auf der Rück-
                                berühmten Statue des Praxiteles, so        seite des Oberschenkels der Statue "ein
                                berichtet Lykinos, sei Charikles, einer    Fleck wie ein Makel auf einem Kleide"
                                seiner Begleiter, in Begeisterung aus-     entgangen wäre. Lykinos, der in die-
                                gebrochen, auf das Standbild zuge-         ser "schlechten Stelle im Marmor" noch
                                rannt, um es von oben bis unten mit        einen Materialfehler erkennen wollte,
                                glühenden Küssen zu bedecken. Da           wurde von der Tempeldienerin eines
                                sich neben dem für alle Besucher of-       Besseren belehrt: Den Makel habe
                                fenen Haupteingang des Tempels auf         nämlich ein Jüngling aus bester Fa-
                                dessen Rückseite eine zweite, kleine-      milie zu verantworten, der sich in die
                                re, verschlossene Tür befand, ließen       Statue verliebt hat. "Durch die heftigen

Abb. 1: Emanuel de Witte,
Inneres der Oude Kerk in
Delft mit Predigt, 1651, Öl
auf Eichenholz, 60,5 x 44 cm,
London, Wallace Collection,
P 254.
Bild: © bpk | Trustees of the
Wallace Collection, London

                                                        219
Scheinbar belanglos, letztlich aber frech, genial und alles erklärend
Reizungen seiner Begierde ganz von         Gebäuden.6 Auch sie senden Signale,
Sinnen", habe sich dieser über Nacht       ziehen die Augen ihrer Betrachter
im Tempel einschließen lassen und          auf sich und betreiben Kommunika-
hinterrücks an der Statue vergangen.       tion, weil sich eben nicht am Rücken,
Den Fleck, der nach Angabe der Tem-        sondern gerade in den Gesichtern der
peldienerin also in Wirklichkeit von       Bauwerke, in den Fassaden, Architek-
der leidenschaftlichen Hingabe des         tur von ihrer besseren Seite zeigt. Da
Jünglings zeugte, trage die Göttin als     der Blick auf das makellose Bildwerk
Zeichen und Spur der ihr widerfah-         nur von vorne und nach Durchschrei-
renen Schmach.3                            ten des repräsentativen Hauptein-
                                           gangs des Tempels gewährt wird, der
Dieser erzählerische Höhepunkt aus         Blick auf die mit Makel behaftete Sei-
einem Buch mit dem Untertitel Ge-          te der Statue hingegen nur von hinten
spräch über die Liebe scheint zunächst     und nur nach Durchschreiten e­iner
nur ein Narrativ über die beiden gän-      deutlich kleineren Tür im Rückraum
gigsten Formen sexueller Orientie-         möglich ist, wird die dichotome, mit
rung in der Antike gewesen zu sein.        klaren Valenzen belegte An­sichtigkeit
Wie Friedrich Weltzien zeigen konn-        der Skulptur zur Matrix für die dicho-
te, ist diese Statuen-Episode jedoch       tome, mit ebensolchen Valenzen be-
weitaus mehr, nämlich zugleich auch        legte Ansichtigkeit der Architektur,
eine Abhandlung über das grundsätz-        die sie beherbergt. Die Eloquenz des
liche Verhältnis von Vorder- und Rück­     architektonischen Körpers folgt der
seiten. Während die als offizielle Zone    Eloquenz des menschlichen.
bezeichnete Vorderseite des Kultbildes
für Sichtbarkeit, uneingeschränkte,        Aus diesen Gründen ist es legitim, in
freie Zugänglichkeit und ein makel-        einem Diskurs über Rückseiten in der
loses Erscheinungsbild steht, ist die      Architektur auch die Rückseite des
Rückseite, die inoffizielle und eigent-    menschlichen Körpers in den Blick
lich verbotene Zone des Bildwerks, un-     zu nehmen. Die mit Abstand bedeu-
sichtbar, nur unter erschwerten Bedin-     tendsten Kunstwerke aus der Gattung
gungen zugänglich, mit Mängeln be-         der Malerei, die daran keinen Zwei-
haftet und Tatort eines schändlichen       fel lassen, sind die Innenraumdarstel-
Vergehens. Klarer könnte die Rangord-      lungen der Hauptkirchen von Delft
nung zwischen Vorder- und Rücksei-         und Amsterdam, die der Spe­zialist für
te, die Überlegenheit der ­einen und die   Kirchendarstellungen in den Nieder-
Nach- bzw. Unterordnung der anderen        landen der zweiten Hälfte des 17. Jahr-
kaum beschrieben werden, pointierter       hunderts, Emanuel de Witte (1617-
könnten die kontrahierenden Eigen-         1692), gefertigt hat.7 Was sie an dieser
schaften und moralischen Wertungen,        Stelle für eine ausführliche Diskus-
die man mit ihnen verbindet, nicht auf     sion prädestiniert, sind die in ihnen
Kollisionskurs gebracht werden: high       leitmotivisch auftretenden und gera-
trifft auf low, Recht auf Unrecht, Moral   dezu ostentativ in Szene gesetzten Rü-
auf Unmoral.4                              ckenfiguren (Abb. 1-5). Methodisch
                                           ­w iederum sind sie höchst aufschluss-
Dieser schlüssigen Deutung nach ist         reich, weil das Lesen der Rückseiten
der menschliche Körper nicht nur            dieser Figuren eine Fülle von Erkennt-
Richtschnur für die Maßverhält-             nissen liefert, die sich für die Diskus-
nisse der Architektur,5 sondern auch        sion ihrer architektonischen Pendants
Referenz­modell für die Dichotomie          als fruchtbar erweisen. Maßgeblich
architektonischer Ansichten, für die        nämlich geht es in beiden Diskursen
klare Rangfolge der Seiten, den qua-        um dieselben Begriffe und Katego-
litativen Unterschied, der zwischen         rien, um Sicht- und Unsichtbarkeit,
Vorder- und Rückseite besteht. So wie       Verbergen und Enthüllen, um die
der Mensch pausenlos seine Gesichts-        Motivation und die rhetorische Le-
                                            ­
muskeln bewegt und seine Mimik              gitimation dieser intentionalen Akte
verändert, so wie er mit seinen Au-         sowie um die standpunktabhängigen
gen blinzelt, seine Nase rümpft und         Wahrnehmungs­gewohnheiten gebau­
seinen Mund zuckt, um Signale und           ter Architektur.
Botschaften zu senden und Kommu-
nikation zu ermöglichen, so verhält Die bewusste Reflexion über die mei-
es sich auch mit den Vorderseiten von sten dieser Punkte setzt jedoch erst

                        220
Scheinbar belanglos, letztlich aber frech, genial und alles erklärend
spät ein, denn während Repoussoir­            doch davon ausgehen können, dass
                            figuren schon in Antike und Mit-              die subjektivistische Deutung der Rü-
                            telalter nachweisbar sind,8 ist es erst       ckenfigur des Haarlemer Landschafts­
                            Johann Wolfgang von Goethe, der
                            ­                                             malers auch für die Rückenfiguren
                            in Form eines Bildkommentars erste            des nur wenige Jahre älteren Amster­
                            richtungsweisende          Überlegungen       damer Kirchenmalers gilt. Hier wie
                            über die Bedeutungsdimensionen von            dort fungieren diese Figuren als Iden-
                            Rückenfiguren angestellt hat. Er be-          tifikationsangebote, als innerbildliche
                            schreibt ein von Jacob van Ruisda-            Regieanweisungen für den außerbild-
                            el 1650/55 gemaltes Bild mit dem Ti-          lichen Betrachter; ihre Rücken sind
                            tel Das Kloster (Abb. 6),9 das er an-         an den Bildbetrachter gerichtete Auf-
                            lässlich seiner Besuche der Dresdener         forderungen, sich der Sichtweise des
                            ­Gemäldegalerie 1768, 1790 und 1794           Raumbetrachters im Bild anzuschlie-
                             bewundert hat, in seiner 1816 erschie-       ßen. In diesem Sinne hat Ursula Pan-
                             nen Schrift R ­ uysdael als Dichter wie      hans-Bühler die Rückenfiguren in De
                             folgt: "Indem nun ein sanftes Licht von      Wittes Kirchenstücken schon vor lan-
                             dem Kloster zu den Linden und weiter         ger Zeit als visuelle Metaphern des op-
                             hin sich zieht, […] sitzt nah am Was-        tischen Erlebens beschrieben.11 Ver-
                             ser im Vordergrund, uns den Rücken           mutlich, weil es sich bei dem durch die-
                             zukehrend, der zeichnende Künstler           se Figuren verkörperten Raum­erleben
                             selbst, und diese so oft ­missbrauchte       letztlich nur um das Raumerleben De
                             Staffage erblicken wir mit Rührung           Wittes handeln kann, glaubte Thomas
                             hier am Platze, so bedeutend als wirk-       Ketelsen, in den Rückenfiguren des
                             sam. Er sitzt hier als Betrachter, als Re-   Amsterdamers Raumspezialisten "Si-
                             präsentant von allen, welche das Bild        gnaturen des Künstlers" erkennen zu
                             künftig beschauen werden, welche sich        können.12 Diese Vermutung drängte
                             mit ihm in die Betrachtung der Ver-          sich nicht nur auf, weil Rückenfiguren
                             gangenheit und Gegenwart, die sich so        per se ein hohes enigmatisches Poten-
                             lieblich durch einander webt, gern ver-      zial aufweisen und weil vor allem Rät-
                             tiefen mögen."10 Ist Goethes Vermu-          sel um verborgene Identitäten gelöst
                             tung, dass in der Rückenfigur dieses         werden wollen; diese Vermutung ist,
                             Gemäldes der Maler selbst zu erken-          wie sich zeigen wird, auch zutreffend.
                             nen ist, zwar spekulativ, so wird man        Dass K ­ etelsen sie nicht stichhaltig be-

Abb. 2: Emanuel de Witte,
Innenhof der Börse von
Amsterdam, 1653, Öl
auf Eichenholz, 49 x 47,5
cm, Rotterdam, Museum
Boijmans Van Beuningen,
Inv.-Nr. VdV 91.
Bild: © bpk

                                                      221
Scheinbar belanglos, letztlich aber frech, genial und alles erklärend
gründete, dürfte vor allem darauf zu-       öse Überzeugungen. Impulsiv wie er
rückzuführen sein, dass sich ihre Ve-       war, prügelte er sich sogar mit einem
rifizierung situationsbedingt schwie-       seiner größten Widersacher, sogar
rig gestaltete. Warum nämlich sollte        den dänischen König Christian IV.
es sich bei dem Rücken der Kirchen-         vergraulte er, indem er die Fertig­
besucher in De Wittes Gemälden um           stellung von Kirchenstücken zusagte,
den Rücken des Künstlers handeln?           deren Auslieferung allerdings zeit-
– Oder anders gefragt: Wie kann der         lebens schuldig blieb. Seine Tendenz
überindividuelle, stereotype Rücken         zu cholerischen Ausbrüchen wiede-
Erkennungszeichen eines Individu-           rum äußerte sich darin, dass er ein
ums sein, wenn doch Individualität          für die Tochter von Michiel De Ru-
meist an unverwechselbaren Physio-          yter gemaltes Bild mit dem Grabmal
gnomien festgemacht wird und Selbst-        des verdienten Admirals in der Nieu-
porträts von Malern den Bildbetrach-        we Kerk in Amsterdam mit dem Mes-
ter in der Regel direkt anblickten, ihr     ser zerfetzt haben soll;19 dieser ikono-
Antlitz zeigten, sich nicht verbargen       klastische Akt gegen das eigene Werk
und nicht darauf abzielten, unerkannt       ist allerdings fragwürdig, da sich ein
und anonym zu bleiben?13                    Bild mit diesem Thema erhalten hat
                                            (Abb. 7). Wenngleich Diogenes und
Ausgangspunkt für den Nachweis,             De Witte somit Bürgerschrecke er-
dass das zunächst Abwegige doch             sten Ranges waren, ein jeder für sich
zutreffend ist, liefert die bisher zu       das Skandalon seiner Zeit darstellte,
­wenig beachtete De Witte-Vita in der       ist die ähnliche charakterliche Dispo­
 von Arnold Houbraken verfassten,           sition nicht die einzige und – wie
 1718/21 erschienen Groote Schou-           sich herausstellen wird – auch nicht
 burgh der Schilderkonst.14 Wie ein uni-    die maßgebliche Kategorie gewesen,
 versales, alle Facetten seines Künstler-   die beide miteinander vergleichbar
 lebens überschreibendes Motto wird         ­machen sollte. Zudem ist es an die-
 De Witte direkt im ersten Satz dieser       ser Stelle wichtig, sich bewusst zu ma-
 Lebensbeschreibung als "een tweede          chen, dass die Charakterzüge weder
 Diogines Cynicus", also als ein zwei-       des Philosophen noch des Malers am
 ter Diogenes, bezeichnet.15 Was Hou-        Rücken der auffällig positionierten
 braken zu diesem Vergleich moti-            Figuren in den Kircheninterieurs De
 viert haben mag, sind auf den ersten        Wittes ablesbar gewesen sind. Um in
 Blick zunächst die zahllosen, über-         den Rückenfiguren der Kircheninteri-
 deutlichen charakterlichen Parallelen,      eurs De Wittes den Maler der Bilder
 die sich zwischen dem Begründer             in der Rolle eines Diogenes alter er-
 des ­Kynismus und dem Architektur-          kennbar werden zu lassen, musste der
 maler aufzeigen lassen. So nämlich,         Amsterdamer folglich auf eine andere
 wie die von Diogenes Namensvetter           Strategie setzen.
 und Biographen Diogenes Laertius
 zusammen­getragenen Konventions-           Ein Rücken sagt mehr als tausend
 brüche das Leben des antiken Philo-        Gesichter
 sophen leitmotivisch durchzogen ha-
 ben, so durchziehen diese auch das         Dieses planvolle Vorgehen verfolgte
 Leben des großen Kirchenmalers.16          De Witte, indem er seine Rücken­
 Diogenes beispielsweise urinierte völ-     figuren immer die gleiche Kleidung
 lig ungeniert, aß öffentlich, was im an-   tragen ließ. Stets handelte es sich
 tiken Griechenland verpönt war, war        hierbei um einen Mantel und damit
 aggressiv, unverschämt, vergriff sich      um ein Kleidungsstück, das etymolo-
 im Ton und verhielt sich selbst Ale-       gisch vom lateinischen Wort mantel-
 xander dem Großen gegenüber völlig         lum abzuleiten ist, so viel wie Decke
 respektlos. Kurzum – D    ­ iogenes war    oder Hülle bedeutete und schon des-
 ein egoistischer, exzentrischer, asozi-    wegen dazu prädestiniert war, seinen
 aler Querulant, der normale Bürger         Träger nahezu vollständig zu verhül-
 anpöbelte, anbettelte und verhöhnte,       len.20 Vor allem wegen dieses Klei-
 für den Freiheit und Unabhängig-           dungsstücks war der Maler als ein
 keit die höchsten Ziele waren.17 Nicht     zweiter Diogenes erkennbar, war der
 viel anders verhielt sich Emanuel De       Mantel doch das wichtigste unter den
 Witte.18 Auch er provozierte und stritt    äußeren Erkennungszeichen des an-
 unentwegt, mit Vorliebe über religi-       tiken Philosophen.21 Folgt man Dio-

                         222
Scheinbar belanglos, letztlich aber frech, genial und alles erklärend
genes Laertius, so trug Diogenes den     dass dieser Mantel den Bildbetrach-
                                   so genannten tríbōn doppelt über-        tern nicht immer, aber doch mit auf-
                                   einandergeschlagen zu allen Zeiten       fälliger Häufigkeit in der Farbe Rot
                                   und Gelegenheiten, als einfaches         präsentiert wird; diese war gewisser-
                                   Kleidungsstück am Tag und als eine       maßen die Farbe des Diogenes. Zu er-
                                   vor Kälte schützende Decke in der        innern ist nämlich daran, dass Dio-
                                   Nacht.22 Dieser Gepflogenheit tru-       genes in Sinope zur Welt gekommen
                                   gen auch die Rückenfiguren De Wit-       ist und damit in jener Hafenstadt am
                                   tes Rechnung, denn genau genom-          Schwarzen Meer, in der, wie schon
                                   men sollten auch sie das besagte Klei-   Plinius berichtet, die so genann-
                                   dungsstück zu keiner Zeit ablegen:       te Sinopeerde (lat. sinopis) abgebaut
                                   Ob bei der Darstellung einer Predigt     wurde, aus der das Pigment zur Her-
                                   in einer reformierten Kirche oder bei    stellung der Farbe Rot (Zinober-Rot)
                                   der Darstellung des jüdischen Ge-        gewonnen wurde.23 Nicht nur der
                                   betsdienstes in der Esnoga, der groß-    Mantel, sondern auch dessen Farbe
                                   en ­ Synagoge in Amsterdam (Abb.         liefert damit ein weiteres Argument
                                   8), nahezu ausnahmslos sind die ins      für Ketelsens Vermutung. Was die-
                                   Auge stechenden Rückenfiguren in         se Vermutung zur Gewissheit werden
                                   den von De Witte gemalten Kulträu-       lässt, sind schließlich die Vierbeiner,
                                   men in einen Mantel gehüllt. Wenn        die die Rückenfiguren häufig beglei-
                                   Houbraken De Witte also als einen        ten, an diesen emporschauen und mit
                                   zweiten Diogenes bezeichnet und          ihnen zusammen eine ikonische Ein-
                                   wenn zudem ein schwerer Mantel           heit bilden. Neben dem Mantel war
                                   das wichtigste Erkennungszeichen         der Hund das zweite, wichtige Erken-
                                   des Begründers des Kynismus war,         nungszeichen der Kyniker, die sich
                                   spricht bereits einiges dafür, dass es   ihres freimütigen, einfachen aber
                                   sich bei den Rückenfiguren, die in       auch schamlosen und unverschämten
                                   den Interieurs des Raumillusionisten     Verhaltens wegen selbst mit Hunden
                                   auf­treten und einen solchen Mantel      (kýnes) verglichen haben, als Hunde
                                   tragen, um Darstellungen De Wittes       bezeichnet wurden, den Spottnamen
                                   handelt. Zusätzlich bekräftigt wird      Hund gleichsam zu ihrem Ehrenna-
                                   diese Deutung durch den Umstand,         men machten.24

Abb. 3: Emanuel de Witte,
Inneres der Nieuwe Kerk
in Amsterdam, 1656, Öl
auf Leinwand, 33,8 x 35,2
cm, Rotterdam, Museum
Boijmans Van Beuningen,
Inv.-Nr. 1990.
Abb. aus: Emanuel de Witte
1616/17-1691/92 Meester van
het licht, Ausst.-Kat. Stedelijk
Museum Alkmaar 2017/18,
Zwolle 2017, Nr. 3.6.

                                                          223
Scheinbar belanglos, letztlich aber frech, genial und alles erklärend
Liegt die Verschmelzung der beiden         bekannten Delfter Kirchenmann,
                                Identitäten nahe, so war diese aller-      wie jüngst in der Literatur vermutet
                                dings nicht die Idee Houbrakens, auch      wurde.26 Vielmehr ist es eine gemal-
Abb. 4: Emanuel de Witte,       wenn er der erste und einzige gewe-        te Exegese dessen, was Predigt aus-
Inneres der Oude Kerk in        sen sein dürfte, der De Witte expressis    macht,27 vor allem aber – bezogen auf
Delft mit Predigt, 1669, Öl auf verbis als "een tweede Diogines Cyni-      die Person De Wittes – ein Bild ge-
Eichenholz, 79,2 x 65,8 cm,     cus" bezeichnet hat. Vielmehr stammt       wordenes Manifest seines Selbstver-
Privatsammlung.                 diese Idee von De Witte selbst. Kei-       ständnisses, eine programmatische
Abb. aus: Walter A. Liedtke,    nen Zweifel daran lässt sein erstes Kir-   Selbstinszenierung des Künstlers als
Architectural Painting in       cheninterieur, die 1651 datierte Dar-      Malerrebell, das Coming out des Ma-
Delft, Gerard Houckgeest,       stellung einer Predigt, die heute in       lers als Diogenes. Denn so, wie der
Hendrick van Vliet, Emanuel der Wallace Collection in London be-           antike Philosoph in drastischen Ad-
de Witte (Aetas Aurea, Mo-      wahrt wird (Abb. 1).25 Dieses Gemäl-       oculos-Beweisen die Grenzen des gu-
nographs on Dutch & Flemish de ist sicherlich kein Prädikanten-            ten Geschmacks immer wieder ver-
Painting 3), Groningen 1982, Porträt, keine posthume Hommage               letzt hat, so inszeniert auch De Witte
Taf. XIII.                      an einen verstorbenen, namentlich          als Diogenes pictor in diesem Meister-

                                                        224
Scheinbar belanglos, letztlich aber frech, genial und alles erklärend
werk einen denkbar kühnen Konven-        te, wird zur klugen Verkleidung, zum
                                tionsbruch, einen Dekorum-Verstoß,       Bild der Unverfrorenheit und Frech-
                                der sehr gut durch Rembrandt inspi-      heit seines Malers. Es ist die Diatri-
                                riert gewesen sein könnte:28 Indem De    be, die Kombination aus Ernst und
                                Witte nämlich ausgerechnet im Kon-       Scherz, verbunden mit Hohn und Sa-
Abb. 5: Emanuel de Witte,       text einer Predigt, also der Verkündi-   tire, typisch für den Kynismus und
Inneres der Nieuwe Kerk         gung und Exegese des verbum domi-        zugleich rhetorische Figur der christ-
in Delft mit dem Grabmal        ni, links vorn einen defäkierenden,      lichen Predigt, die De Witte sei-
Willems des Schweigers,         von einem Artgenossen aufmerksam         ner Predigt zu Grunde legte, die kei-
1655-1660, Öl auf Eichenholz,   beobachteten Hund darstellt, wid-        ne gesprochene, sondern eine gemal-
107,5 x 90, 5 cm, Winterthur,   met er der Verrichtung der tierischen    te war.29 Folglich hat der Biograph De
Museum Oskar Reinhart,          Notdurft augenscheinlich mehr Auf-       Wittes das Wissen um das selbst kre-
Inv.-Nr. 96.                    merksamkeit als dem ehrenwerten          ierte alter ego des Kirchenmalers nur
Bild: Kunst Museum              Prädikanten auf der Kanzel im Hin-       aufgegriffen. Kenntnis davon erlangt
Winterthur, Geschenk der        tergrund. Die vermeintliche Unver-       hatte er sehr wahrscheinlich durch
Stiftung Jakob Briner, 2018     frorenheit des Hundes, die darstellbar   Vermittlung des einzigen De Witte-
© SIK-ISEA, Zürich (Lutz        war, weil sie dem Instinkt gesteuerten   Schülers, Hendrik van Streek (1659-
Hartmann).                      Tier nicht angelastet werden konn-       1720).30 Während dieser kommentiert

                                                       225
Scheinbar belanglos, letztlich aber frech, genial und alles erklärend
haben dürfte, was De Witte in seinen         gewöhnlichen Todes­umstände aus der
Bildern selbst initiiert hatte, war es       Feder des Biographen rechtfertigte
die Aufgabe Houbrakens, den in Bil-          Houbraken damit, dass der unnatür-
dern und Erzählungen überlieferten           liche Tod des Malers nur die logische
Spagat zwischen De Wittes künstle-           Konsequenz seines unkonventionellen
rischem Ich und seinem alter ego in          Lebens gewesen sei.35
klug und phantasiereich konzipierten
Anekdoten anschaulich werden zu              Der Blick über die Schulter des
lassen, literarisch weiter auszumalen.       Malers und das Werben für eine
Vor allem zwei dieser Anekdoten be-          neue Sicht
dürfen in diesem Zusammenhang der
Erwähnung, da sie auf paradigma-             Es liegt daher nahe, dass in den auffal-
tische Weise Aspekte illustrieren, die       lend positionierten Rückenfiguren der
nicht zufällig schon immer mit Rü-           Kircheninterieurs De Wittes Selbst-
ckenfiguren in Verbindung gebracht           porträts ihres Malers erkannt werden
wurden, nämlich die Frage nach der           müssen, der sich zudem als neuer Di-
Identität und Identifizierbarkeit der        ogenes verstanden hat. Weniger ein-
dargestellten Person und die Dialek-         leuchtend ist vielleicht die Wahl dieser
tik des Ver- und Enthüllens. In diesen       Referenz, denn anders als die meisten
Episoden setzte Houbraken nur in Li-         seiner Malerkollegen, kehrte De Witte
teratur um, was in den Bildern, wenn         den traditionellen Identifikationsmu-
man sie richtig zu lesen verstand, zu        stern den Rücken zu. Er wählte kei-
sehen war. Kein Zufall kann es je-           nen der bekannten Malerhelden der
denfalls sein, dass sich die Zeitgenos-      Antike, weder Zeuxis, noch Parrha-
sen De Wittes von diesem abwandten,          sios oder Apelles, sondern einen an-
dass sie ihn mieden und wegen seiner         tiken Philosophen. Damit signalisier-
gefürchteten Unbeherrschtheit ver-           te er, dass er seine Architekturbilder
mutlich lieber von hinten als von vor-       nicht in erster Linie mit der Schönheit
ne gesehen haben, also als Rücken­           und der illusionistischen Großartig-
figur.31 Ebenso ist es kein Zufall, dass     keit antiker Meisterwerke verglichen
der Maler nach einer Prügelei mit            sehen wollte. Vielmehr unterstrich
seinem Erzrivalen, dem Klassizisten          er mit dieser Wahl seinen Willen, als
­Gérard de Lairesse, am Morgen nach          ein Freund der Weisheit betrachtet zu
 der Auseinandersetzung nur noch an          werden, der danach strebte, in seinem
 seiner Kleidung wiedererkannt wor-          Metier, der Architekturmalerei, neue,
 den ist, weil sein Gesicht, also das, wo-   richtungsweisende Antworten auf
 ran man einen Menschen normaler-            Fragen zu geben, die ihn offensicht-
 weise erkennt, bis zur Unkenntlich-         lich schon längere Zeit intensiv be-
 keit entstellt war.32 Nicht anders ver-     schäftigt haben. Dass er sich dazu bei
 hält es sich auch mit dem wohl spekta-      Diogenes Rückendeckung holen sollte,
 kulärsten Baustein der Vita, mit dem        hatte seinen Grund und war Kalkül.
 angeblichen Suizid De Wittes, der kei-      De Wittes Wahl ist nämlich nicht al-
 ne freie Entscheidung des Malers, son-      lein darauf zurückzuführen, dass er
 dern vielmehr eine Erfindung seines         sich habituell in dem antiken Rebell
 Biographen war. Wenngleich Houbra-          wiedererkannte. Viel entscheidender
 ken das Vorbild für den Selbstmord          war, dass sich der Blick auf Diogenes
 des Künstlers konsequent und plausi-        im 17. Jahrhundert grundlegend ge-
 bel noch im überlieferten Selbstmord        wandelt hatte.36 Aus Diogenes, dem
 des Diogenes fand, also bei der Person,     exemplum virtutis, dem Inbegriff für
 die De Witte als sein alter ego erkoren     Bescheidenheit und Anspruchslosig-
 hatte, konnte der Biograph die höchst       keit, so wie ihn beispielsweise noch
 sonderbaren Umstände des Selbst-            das christliche Mittelalter gedeu-
 mordes an sich – nämlich die Ab-            tet hatte, war nämlich, wie Nikolaus
 sicht des Malers, sich an einer Brücke      Largier höchst be­eindruckend darle-
 zu erhängen, um dann nach Reißen            gen konnte, der Exponent eines radi-
 des Strickes noch einmal tragischer         kal neuen Sehens geworden.37 Vertre-
 im Fluss zu ertrinken33 – nur aus der       ter eines solchen neuen Sehens war
 Diogenes-Vita in den Variae histori-        auch De Witte, der die Sehtheorie des
 ae des römischen Sophisten und Rhe-         berühmten Kynikers zu seiner eige-
 toriklehrers Claudius ­  Aelianus (um       nen machte, indem er sie auf die Ar-
 170-222) gelesen haben.34 Die außer-        chitekturmalerei übertrug. Den Kern

                          226
dieser Theorie hatte Diogenes Laerti-     und 1660 entstanden sind, sahen ganz
                               us in den scheinbar lapidaren aber le-    anders aus. Nahezu ausnahmslos han-
                               gendären Satz "Geh mir aus der Son-       delte es sich bei ihnen um Kirchen ba-
                               ne!" gefasst, den der subversive Kyni-    silikalen Querschnitts, die sofort als
                               ker Alexander dem Großen selbstbe-        solche erkennbar waren, denn darge-
                               wusst, provokant und respektlos auf       stellt wurden sie immer in planper-
                               die Frage, was er sich von ihm wün-       spektivischem Schnitt, obwohl nichts
                               sche, erwidert haben soll.38 Betrachtet   in ihnen nach einer solchen Darstel-
                               man die Sonne in dieser Anekdote als      lungsform verlangte. Immer ging der
                               Inbegriff der Wahrheit und Alexand-       Blick von Westen nach Osten, vor-
                               er den Großen als Inbegriff von Au-       bei an scheinbar endlosen Pfeilerrei-
                               torität und Macht, dann ist Diogenes'     hen, um am tiefsten und entlegensten
                               Sehnsucht nach einer unverstell-          Punkt des Raumes, dem Chor, per-
                               ten, unvoreingenommenen und von           spektivisch maximal entrückt, zu
                               übermächtigen Konventionen befrei-        ­enden, so als ob das Sakrament der
                               ten Sicht auf die Sonne Prototyp und       Eucharistie, das am Hochaltar gefeiert
                               Sinnbild für die Sehnsucht De Wittes       wurde, einmal mehr als entrücktes,
                               nach einer ebenso revolutionären, ra-      unverständliches Mysterium hätte in-
                               dikal neuen Sicht auf den architekto-      szeniert werden sollen.39 An diesem,
                               nischen Innenraum. Dieses Verlan-          zu einer festen Formel erstarrten Bild-
                               gen, das De Witte zum Rebellen seines      typus, der maßgeblich durch Hans
                               Metiers, zum Verfechter einer neuen        Vredeman de Vries inspiriert worden
                               Sicht auf den gemalten Kircheninnen-       ist, hielten die Van Steenwijcks, Peeter
                               raum und damit zugleich zum Neu-           Neeffs I. und II. und viele andere Ver-
Abb. 6: Jacob van Ruisdael,    erer der niederländischen Architek-        treter der Architekturmalerei der süd-
Das Kloster, 1650/55, Öl auf   turmalerei machte, war mehr als be-        lichen Niederlande jedenfalls bis weit
Leinwand, 75 x 96,3 cm,        gründet. So wie De Witte Kirchenin-        in die zweite Hälfe des 17. Jahrhun-
Dresden, Galerie der Alten     nenräume ab 1650 darstellen sollte,        derts unbeirrt fest (Abb. 9).40 Diese
Meister, Gal.-Nr. 1494.        hatte diese vor ihm noch kein Maler        Beharrlichkeit ist vermutlich darauf
Bild: © bpk / Staatliche       dargestellt. Gemalte Interieurs bei-       zurückzuführen, dass man in diesen
Kunstsammlungen Dresden /      spielsweise katholischer Gotteshäu-        Kirchenstücken weitreichende Aufga-
Elke Estel                     ser, die in Antwerpen zwischen 1600        ben erfüllt sehen wollte. Selbst wenn

                                                       227
diese Gemälde die Kathedrale von           der Kirchen in Haarlem oder Utrecht,
                                Antwerpen oder andere Kirchen der          Alkmaar, Rhenen oder Assendelft, sa-
                                Schelde-Metropole darstellten oder         hen nicht so aus, wie die Gemälde Pie-
                                die Bilder konkrete Veränderungen,         ter Saenredams (1596-1665) glauben
                                die Bau und Ausstattung betrafen,          machen wollten (Abb. 10),42 denn so
                                antizipierten und anschaulich mach-        chromatisch reduziert, steril und kalt,
                                ten,41 ist davon auszugehen, dass in ih-   so frei von Atmosphäre, zeitlos und
                                nen niemals nur realistische Abbilder      menschenleer, wie die Kirchen dieses
                                gebauter Architektur erkannt werden        Haarlemer Raumspezialisten in sei-
                                sollten. Immer schimmerten hinter          nen Gemälden vorgeben zu sein, sind
                                den Gemälden gebauter Gotteshäuser,        ihre gebauten Vorbilder keineswegs
                                hinter den Bildern der ecclesia qua Ge-    gewesen. Dass sie dennoch diesen Ein-
                                bäude, Bilder der ecclesia qua Institu-    druck vermitteln, ist der Tatsache ge-
                                tion durch. Vor diesem Hintergrund         schuldet, dass auch Saenredams Ma-
                                fällt es schwer zu glauben, dass in die-   lerei bestimmte theoretische Vorent-
                                sen Kirchenstücken immer gleicher          scheidungen zu Grunde lagen.43
                                Bauart nicht zugleich auch Instru-
                                mente gesehen wurden, die der wie-         Letztlich hat also die Ablehnung so-
                                dergewonnenen Autorität und dem            wohl der süd- als auch der nordnie-
                                zentralistisch organisierten Machtan-      derländischen Formen der Archi-
                                spruch von Kirche und Papsttum im          tekturmalerei dazu geführt, dass De
                                Anschluss an das Konzil von Trient         Witte in Delft, nicht zufällig in der
                                (1545-1563) Anschaulichkeit verlie-        Stadt, in der Jan Vermeer, Carel Fabri-
                                hen haben. Aber nicht nur von den          tius und Pieter de Hooch in ihrer Ma-
                                Darstellungskonventionen dieser Kir-       lerei vornehmlich Fragen des Raumes,
                                chenbilder sollte sich De Witte distan-    der Perspektive und der Optik nach-
                                zieren. Auch die Innenräume der Kir-       gegangen sind, seine Vorstellungen
                                chen in den nördlichen, calvinistisch      von Interieurmalerei propagierte.44
                                geprägten Niederlanden, die Räume          Hier entstanden unter dem Einfluss

Abb. 7: Emanuel de Witte,
Chor der Nieuwe Kerk in
Amsterdam mit dem Grabmal
Michiel de Ruyters, 1683, Öl
auf Leinwand, 123,4 x 105 cm,
Amsterdam, Rijksmuseum,
Inv.-Nr. SK-A-1642.
Bild: © Amsterdam,
Rijksmuseum

                                                        228
von Gerard Houckgeest (um 1600-          schien allerdings nicht nur konfes-
                               1661) bis spätestens etwa 1652, danach   sionsgeschichtlich geboten. Sie ent-
                               in Amsterdam, Innenansichten von         sprach auch der Grundmethode wis-
                               Kirchen, in denen De Witte mit seis-     senschaftlicher Exploration, mit der
                               mographischem Gespür anschaulich         das 17. Jahrhunderts allen Räumen be-
                               machte, was seiner Meinung nach den      gegnete.46 Qua Raum, als dreidimensi-
                               reformierter Kirchenraum ausmachte       onale Größe und Ausdehnung, wollte
                               und wie man das, was dessen Wesen        der Kirchenraum durchschritten, in
                               bestimmte, künstlerisch adäquat dar-     Bewegung erlebt, von immer wieder
                               stellen konnte.45                        anderen Standpunkten aus entdeckt
                                                                        und wahrgenommen werden. Bewe-
                               Die alte, über ein Jahrtausend, näm-     gung als wesentliche Bedingung der
                               lich bis zur Reformation Gültig-         Raumrezeption machte aus dem einen
                               keit besitzende Vorstellung von einer    statischen Bild vom Raum eine Se-
                               mächtigen und nach außen hin ge-         quenz von Bildern, die als ­Folge die-
                               schlossen auftretenden Kirche hätte in   ser Bewegung zugleich Bewegung in
                               De Wittes Kirchenstücken nicht ein-      längst überkommene Darstellungs-
                               dringlicher in Frage gestellt werden     konventionen brachte. Für die Dik­
                               können. Bildbestimmend war nicht         tatur des immer gleichen Blickes ent-
                               mehr länger die Macht suggerierende,     lang der Hauptfluchtlinie bedeutete
                               alles überschaubar machende Raum-        diese Neuerung das Ende. An seine
                               totale Antwerpener Provenienz, bild-     Stelle trat mit De Witte die diagonal­
                               bestimmend war nunmehr das in ana-       perspektivische Raumerschließung
                               tomischer Manier meist diagonal an-      aus nächster Nähe, traten die Blicke
                               geschnittene Raumfragment, die Au-       auf die neuen Zentren der Aufmerk-
                               topsie einzelner Teilräume aus näch-     samkeit. Sie richteten sich fortan auf
                               ster Nähe, welche Teilschauplätze        Predigtlauscher, Flaneure und spie-
                               produzierte und die frühere, streng-     lende oder Graffiti kritzelnde Kinder,
                               dogmatische, orthogonale Richtungs-      auf Connoisseure, Kirchenmeister
                               bezogenheit aufhob. Diese Sprengung      und Totengräber bei der Arbeit, auf

Abb. 8: Emanuel de Witte,
Inneres der Portugiesischen
Synagoge in Amsterdam, um
1680, Öl auf Leinwand, 100 x
99 cm, Amsterdam, Jüdisches
Museum (leihweise),
Amsterdam, Rijksmuseum,
Inv.-Nr. SK-A-3738.
Bild: © Amsterdam,
Rijksmuseum

                                                      229
urinierende Hunde, streunende Vier-        respondierte diese Raumerfahrung
beiner auf Spurensuche, auf Kanzeln,       mit der Erfahrung, die auch der "Bau
Prunkgrabmäler, Epitaphien und ein-        des Weltalls" vermittelte, welches, so
fache Grabplatten, auf prachtvolle Or-     Francis Bacon, "seiner Struktur nach
geln oder im Krieg errungene Tro-          dem Menschengeist, der es betrachtet,
phäen. Durch dieses Spektrum wur-          wie ein Labyrinth" erscheinen musste,
de der Kirchenraum als ein primär ge-      in dem sich "überall unsichere Wege,
sellschaftlich, konfessionell und histo-   täuschende Ähnlichkeiten zwischen
risch konditionierter Raum definiert,      Dingen und Merkmalen, krumme und
der sich damit als ein relationaler        verwickelte Windungen und Verschlin-
Raum zu erkennen gab. Relational war       gungen der Eigenschaften" zeigten.49
dieser auch in phänomenologischer          Um diesem Eindruck Anschaulichkeit
Hinsicht, weil sein Inneres maßgeb-        zu verleihen, hatte Bacon in seinem
lich von äußeren Umständen, von sich       Novum Organon von 1620 das Bild
stets verändernden meteorologischen        des "sylva experientiae", das Bild vom
Verhältnissen, vom Zug der Wolken,         Wald und Dickicht der Erfahrungen,
vom Stand der Sonne und der Intensi-       gewählt, mit dem sich auch der Raum­
tät ihres Scheinens abhängig war. Un-      eindruck der gemalten niederlän-
ter diesen Prämissen wurde das tra-        dischen Kirchenstücke nach 1650 äu-
ditionelle Mittel der Evozierung von       ßerst treffend umschreiben ließ.50
Tiefenräumlichkeit, die geometrisch-
mathematische Perspektive, nahezu          De Wittes diagonalperspektivische
bedeutungslos. An ihre Stelle trat als     Raumerschließung war mithin klug
zweite wichtige Neuerung die von De        gewählt, denn sie leistete zweier-
Witte klar favorisierte optische Per-      lei: Zum einen war diese Art der Er-
spektive.47 Deren naturwissenschaft-       schließung ein Modus, der im gemal-
lich inspirierte Anwendung führte          ten Raum jenen Eindruck von Verwir-
dazu, dass seine Kirchenräume vor-         rung reflektierte, der in den gebauten
nehmlich aus Licht, Schatten und Far-      Räumen selbst erfahrbar war, zum an-
be moduliert waren, zum Ende seiner        deren war es eben dieser Modus, der
Schaffenszeit hin sogar den Eindruck       den Raum und das Überangebot sinn-
erweckten, nur noch aus nebeneinan-        licher Wahrnehmungsoptionen epi-
der gesetzten Farbflächen zu beste-        stemisch beherrschbar machte. Was
hen.48 Durch das, was De Witte in den      De Wittes Kirchenstücke gewisserma-
Blick nahm und wie er mit dem in den       ßen zu Leseanleitungen von Gottes-
Blick Genommenen künstlerisch um-          häusern machte, waren die unmittel-
ging, zeigte er in seinen Kirchenstü-      bar an diesen Modus gekoppelten Per-
cken den Kirchenraum als einen mit         spektivierungen. Dieses Instrument
künstlerischen Mitteln obduzierten         der intentionalen Blicklenkung, das
Wahrnehmungs- und Ereignisraum,            aus der Fülle des Präsenten etwas zum
in dem sich vor allem visuelle, aku-       Besonderen erhob, über den sinn-
stische und olfaktorische Eindrücke        lichen Erfahrungsraum ein normati-
überlagerten, welche die Bilder nicht      ves Raster legte, um in ein verdichte-
zuletzt auch zu einem Diskurs über         tes hypertrophes Gewebe aus Wahr-
Aufmerksamkeit und die Lenkung             nehmungsangeboten Ordnung zu
von Aufmerksamkeit machten. Diese          bringen, war typisch für das 17. Jahr-
Dichte unterschiedlicher Wahrneh-          hundert.51 In einer Zeit, in der die Op-
mungsangebote, der sich brechende          tik eine Leitwissenschaft war und eine
Schall, die lange Nachhallzeit akus-       alle Lebensbereiche erfassende curio-
tischer Signale, vor allem aber die        sitas visuell befriedigt wurde, schlug
Durchblicke, die sich beim Durch-          die Perspektivierung in die besagten
schreiten der immer gleichen Pfeiler-      Pfeilerwälder der gotischen Kirchen
wälder ständig neu auftaten, um nur        Sichtachsen wie Schneisen der Er-
einen Augenblick später direkt wie-        kenntnis, war die Perspektivierung
der zu verschwinden, forcierten bei        das von De Witte favorisierte Instru-
Kirchenbesuchern den Eindruck, sich        ment der Raumnavigation.
in einem Zustand der Orientierungs-
losigkeit zu befinden. Da sich diese       Da diese gemalten Raumreflexionen
Durchblicke unentwegt veränderten          in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun-
und da sie Bilder generierten, die zum     derts einzigartig waren und in dieser
Verwechseln ähnlich aussahen, kor-         künstlerischen Qualität nur von De

                        230
Witte betrieben wurden, ist es mehr       anders malen musste, weil er ihm so
                              als wahrscheinlich, dass der selbstbe-    und nicht anders erschienen war. Die
                              wusste Maler seine persönliche Über-      Rückenfigur bekräftigte also die Kor-
                              zeugung in seinen Kircheninterieurs       rektheit der Erscheinung des Raumes,
                              zur persönlichen Standpunktfrage          sie authentifizierte dessen Wahrneh-
                              gemacht hat. Sichtbarer Reflex die-       mung durch Augenzeugenschaft.53
                              ses Selbstverständnisses ist der Um-      Zugleich definierte sie den Malakt als
                              stand, dass der Maler in den Fällen,      einen Akt der Rekapitulation des zu-
                              in denen er als Rückenfigur auftrat,      vor persönlich in Augenschein Ge-
                              ausnahmslos für sich allein, im Ab-       nommenen. Schließlich sorgte sie so-
                              seits, wie ein Außenseiter und Einzel-    gar dafür, dass De Witte mit seiner
                              gänger dastand, und damit genauso,        revolutionären Sichtweise von Archi-
                              wie Houbraken ihn auch umschrie-          tekturmalerei dauerhaft in Verbin-
                              ben hatte, nämlich als eine Person,       dung gebracht werden konnte, da der
                              die im ­ eigenen Land als Fremdling       Maler mit der Rückenfigur eine Form
                              betrachtet wurde.52 De Wittes wich-       persönlicher Memoriasicherung ge-
                              tigster Ad­jutant, um der Korrektheit     wählt hatte, wie sie seinen ureigenen
                              seiner Sichtweise von Architektur-        Absichten nicht besser hätte entspre-
                              malerei Nachdruck zu verleihen, war       chen können.
                              die Rückenfigur. Da sie dem Bildrezi-
                              pienten den Rücken zuwandte, warb         Zwar hätte sich De Witte – in einen
                              De Witte mit ihr bei den Betrachtern      roten Mantel gehüllt und von einem
                              seiner Bilder für seine Überzeugung.      Hund begleitet – auch mit einem dem
                              Ihre Implikationen waren allerdings       Betrachter zugewandten Gesicht dar-
                              weitaus subtiler. Die Tatsache näm-       stellen können. Unter memorativen
                              lich, dass sich De Witte in Gestalt ei-   Gesichtspunkten wäre dieser Fokus
Abb. 9: Hendrik van           ner Repoussoirfigur zum Seher und         allerdings kontraproduktiv gewesen,
Steenwijck, Inneres einer     Beobachter des Kircheninnenraumes         denn so wäre De Witte als der Maler
gotischen Kirche, um 1585,    gemacht hat, in dem er selbst anwe-       mit der vergessenen Physiognomie in
Öl auf Leinwand, 90,5 x 121   send war, implizierte, dass der Maler     Erinnerung geblieben. Eine Memoria­
cm, Hamburger Kunsthalle,     den Raum, so wie er ihn malte, wahr-      sicherung durch physiognomische
Inv.-Nr. HK-196.              genommen hat. Unter diesen Voraus-        Unverwechselbarkeit war nämlich,
Bild: © bpk / Hamburger       setzungen konnte er darauf insistie-      wie schon Michelangelos Porträt-
Kunsthalle                    ren, dass er den Raum so und nicht        Aversion deutlich machen musste,

                                                      231
nur von begrenzter Dauer. Sie hatte         besucher erschienen, letztlich aber die
nur so lange Bestand, wie Menschen          wahre Identität des Künstlers, den Ma-
lebten, die den Porträtierten persön-       ler Emanuel de Witte als Diogenes al-
lich kannten und wiedererkennen             ter, dem direkten Zuschauerblick ent-
konnten.54 Schon vor diesem Hinter-         zogen. Das unverzichtbare Requisit
grund, noch mehr aber wegen seines          dieser Inszenierung war der Mantel,
alter ego, stand für De Witte das eige-     unter dem sich die Dinge ebenso gut
ne Gesicht als Garant der Wiedererin-       verbergen ließen, wie hinter dem Rü-
nerung nicht zur Debatte. Stattdessen       cken der Person, die diesen trug.
rückte der Maler seinen Rücken in den
Fokus des Betrachters. Von hinten, als      Die theoretische Legitimation für die-
Rückenfigur, fast vollständig gehüllt       ses höchst intelligente Vorgehen fand
in ein Kleidungsstück, das als Signet       De Witte in der dissimulatio artis, in
des bedeutendsten Kynikers gelten           der Kunst des Verbergens und Ver-
musste, konnte De Witte auf D     ­ auer    stellens, einer Strategie der antiken
der Philosoph unter den Architektur­        Rhetorik, welche das Ziel verfolgte,
malern bleiben, der er sein wollte; nur     die ­Inszenierung einer Sache zu ver-
so war es ihm möglich, sich unter dem       bergen, sodass der Eindruck von Un-
Alias "tweede Diogenes Cynicus" Zeit        inszeniertheit, von Spontaneität und
überdauernd einen Namen zu ma-              Authentizität entsteht.56 Auch das
chen. De Wittes Philosophie war also        Wissen um diese ars musste De Witte
paradox und genial zugleich: Indem          wichtig gewesen sein, jedenfalls ver-
er sich unkenntlich machte, gab er          säumte es Houbraken nicht, den Kir-
sein alter ego zu erkennen; indem er        chenmaler auch als einen in der Rede-
sein Gesicht verhüllte, enthüllte er sei-   kunst bestens unterwiesenen Künstler
ne wahre Identität. Sein Rücken, jene       zu beschreiben.57 Woher De Witte die-
unpersönliche, unter ikonischen Ge-         ses Wissen hatte, ist allerdings nicht
sichtspunkten gemeinhin auswechsel-         mit letzter Sicherheit zu sagen. Lesen
bare Seite des menschlichen Körpers,        konnte er über diese Kunst jedenfalls
machte ihn unverwechselbar.                 schon in der Rhetorik des Aristoteles,
                                            der forderte, die Rede nicht als ge-
Verhüllen und Verbergen als                 macht, sondern als natürlich erschei-
Strategien                                  nen zu lassen, um mehr Glaubwürdig-
                                            keit zu erwecken.58 In diesem Sinne
Damit dürften sich alle Hoffnungen          postulierte auch Quintilian, die Be-
des Malers erfüllt haben. In Gestalt der    redsamkeit zu verstecken, wobei er –
Rückenfigur spielte De Witte mit dem        ganz wie De Witte – im Hinblick auf
Betrachter ein intellektuelles Spiel, das   die Formen der Verstellung zwischen
ihm angesichts ihrer wiederholten,          dem "Verbergen des Wahren" (dissi-
programmatischen Verwendung äu-             mulatio) und dem "Vorspielen des Fal-
ßerst wichtig gewesen sein muss. Im-        schen" (simulatio) unterschied.59 Zu-
merzu ging es dabei um das Verbergen        dem berichtet Plinius über Apelles,
und Verstellen in der Kunst, denn De        dass sich der antike Maler hinter sei-
Witte verbarg sich in seinen Interieurs     nem Gemälde versteckt habe, um zu
gleich auf zweifache Weise: Einerseits      erfahren, wie Betrachter über seine
traf das seit dem 15. Jahrhundert be-       Kunst urteilten.60 Am reichsten je-
kannte Motto "ogni pittore dipinge se",     doch sind die Belegstellen in der Gat-
wonach jeder Maler sich selbst male,        tung der frühneuzeitlichen politi-
indem er sein Verständnis von Kunst         schen und fürstlichen Erziehungs-
in seiner Kunst versteckt und unbe-         literatur. In Macchiavellis Il Princi-
merkt mit einfließen lässt, auch für De     pe von 1513, in dem es heißt, dass es
Witte zu.55 Denn während seine Inte-        zur Staatskunst eines Fürsten gehöre,
rieurs, objektiv betrachtet, atmosphä-      ein großer Simulator und Dissimula-
rische Darstellungen der Kirchen von        tor zu sein, wird dem Fürsten empfoh-
Delft oder Amsterdam zeigten, verbarg       len, sich die Fuchs- und die Löwenna-
der "pictor doctus" hinter diesen Ge-       tur anzueignen, weil man ein Fuchs
mälden die ausgefeilte Theorie der Gat-     sein muss, um die Schlingen zu er-
tung, der er sich wie kein anderer Ma-      kennen, und ein Löwe, um die Wölfe
ler seiner Zeit zuwandte. Andererseits      zu verschrecken. Den Akt des Verber-
versteckte er sich hinter den Rückenfi-     gens einer solchen Fuchsnatur um-
guren, die zwar wie einfache Kirchen-       schreibt Macchiavelli zudem bezeich-

                         232
nenderweise mit dem Wort colorire,          höchst aufschlussreich. Da ein solches
                                was Einfärben, mit Farbe bedecken           Verzeichnis unter den Architektur-
                                meint, den Akt der dissimulatio also        malern allerdings nur für Pieter Saen-
                                mit einer künstlerischen Technik er-        redam überliefert ist,64 lassen sich für
                                klärte.61 Ihre Fortsetzung fanden diese     De Witte lediglich Inspirationsquel-
                                Ideen in Baldassare Castigliones Il Li-     len höherer oder weniger hoher Wahr-
                                bro del Cortegiano von 1528, im Kon-        scheinlichkeit ausmachen. Eine wich-
Abb. 10: Pieter Saenredam,      zept der sprezzatura, wonach es sich        tige, vielleicht sogar die wichtigste Be-
Inneres der St Bavokerk in      ­empfiehlt, eine gewisse Lässigkeit an-     zugsperson in diesem Zusammen-
Haarlem mit Blick aus dem        zuwenden, die die Kunst verbirgt und       hang, scheint jedoch René Descartes
Chor auf die große Orgel,        zeigt, dass das, was man tut oder sagt,    gewesen sein. Nicht nur, dass er von
1648, Öl auf Eichenholz,         mühelose und fast ohne Nachdenken          1629 bis 1647 in den Niederlanden
172,7 x 142,2 cm, Edinburgh,     zustande gekommen sei.62 Da es also        lebte – seit jeher verbindet die Philo-
National Gallery of Scotland,    zu allen Zeiten viel über die dissimula-   sophiegeschichte mit ihm, ebenso wie
NG 2413.                         tio artis zu lesen gab, vor allem im 17.   die Kunstgeschichte mit De Witte,
Bild: © bpk | RMN - Grand        Jahrhundert,63 wäre ein Verzeichnis        eine Zäsur im Sinne eines radikalen
Palais                           der Bücher aus dem Besitz De Wittes        methodischen Neuanfangs. Wie Des-

                                                         233
cartes zweifelte auch De Witte an der     erschien nämlich anonym.69 Die-
Richtigkeit dessen, was in seinem Me-     se Anonymität ist jedoch genau ge-
tier lange Zeit unstrittig war und für    nommen keine, denn dadurch, dass
richtig erachtet wurde; beide sollten     es keinen Autornamen gibt, prokla-
auf der Suche nach Wahrheit allein        miert der Anonymus explizit und in
ihre subjektiven Erfahrungen und          besonderem Maße, dass es einen Au-
Wahrnehmungen zum Maßstab des             tor gibt, und zwar nicht irgendeinen,
eigenen Urteils und zur Grundlage         sondern einen einzigartigen, un-
ihres Neuanfangs machen.                  beugsamen, unanfechtbaren, dessen
                                          Name der Name desjenigen ist, der
Doch unabhängig von dieser all-           sich als einziger selbst auf die Metho-
gemeinen methodologischen Ver-            de der Gewissheit fokussierte, was –
gleichbarkeit lässt sich für Descartes    wiederum bezogen auf die Architek-
noch darüber hinaus eine auffällige,      turmalerei – auch De Witte tat, der
stringent verfolgte dissimulatio-Ver-     sich – sich selbst verbergend – nur an
pflichtung nachweisen.65 So schreibt      das hielt, was seine Augen ihm eröff-
der Philosoph etwa in seinen Préam-       neten. Beide folgten dem Gesetz des
bules, den Vorreden, in einem Text-       Sehens des Subjekts, dem Gesetz der
fragment vom 1. Januar 1619, dass die     Evidenz, dem Gesetz der unmittel-
Schauspieler, die auf die Bühne geru-     baren Einsichtigkeit, welches die Ge-
fen werden, eine Maske anlegten, um       wissheit ihrer je eigenen Perspektive
zu vermeiden, dass man die Röte auf       begründete.
ihren Gesichtern sehe, und dass auch
er selbst in dem Moment, in dem er        Was auch immer De Witte von Des-
die Bühne des Welttheaters betrete,       cartes, den man methodisch als des-
maskiert auftreten werde.66 Aber          sen Bruder im Geiste bezeichnen
nicht nur in diesem Punkt ist Des-        muss, wusste, was auch immer der
cartes Vorbild für De Witte, der die      Maler in der Rolle des antiken Philo-
Kirche, die Bühne seiner Selbstdar-       sophen vom Philosophen seiner Zeit
stellung, gewissermaßen auch "mas-        möglicherweise in einem persön-
kiert" betreten sollte. In einem Brief    lichen Gespräch erfahren, was er viel-
vom 8. Oktober 1629 an seinen Pa-         leicht auch über ihn gehört oder von
riser Freund Marin Mersenne weiht         ihm gelesen hatte – auch für De Witte
Descartes den Theologen und Ma-           waren Verbergen und Enthüllen je-
thematiker in seinen geheimen Plan        denfalls die zentralen Begriffe, die
ein, seine Philosophie als Probestück     sein Malen und seine Kunsttheorie
ähnlich einem Gemälde in der Öf-          bestimmten. Wie ein Kirchenführer
fentlichkeit auszustellen, hinter dem     führte er, unerkannt und wissend zu-
er sich dann verstecken wolle, um zu      gleich, durch seine Gotteshäuser, öff-
hören, was man dazu sage.67 Genau         nete er den Betrachtern seiner Gemäl-
diese Absicht verfolgte er dann auch      de die Augen für die Wahrheit über
mit seiner Erstlingsschrift, den Di-      die Wahrnehmung von Architektur.
cours de la Méthode, die 1637 in Lei-     Die Frage nach der Legitimation und
den erschienen sind, genau in dem         nach dem Erfolg dieser Aufgabe ent-
Jahr, in dem sich Descartes nach-         schied sich an der Figur, die er für
weislich in der Geburtsstadt De Wit-      sein alter ego ersonnen hatte, an der
tes, nämlich in Alkmaar, aufgehal-        Rückenfigur, genau genommen sogar
ten hat und dem 20-jährigen Maler         am Rücken selbst. Denn in diesem
möglicherweise persönlich begegnet        Zusammenhang wird man nunmehr
ist. In dieser wichtigen Schrift wollte   auch auf den letzten, auf einen bis-
Descartes jedenfalls, wie er sagt, die    lang vorenthaltenen Aspekt zu spre-
Wege, denen er gefolgt sei und die er     chen kommen müssen, den Friedrich
beschritten habe – kurzum, sein gan-      Weltzien im Kontext seiner Analyse
zes Leben – wie auf einem Gemälde         von R­ ücken und Rückseite in Pseudo-
darstellen, damit jeder darüber ur-       Lukians Erotes thematisiert hat, das
teilen könne und er erfahre, was man      Moment der Zeitlichkeit; auch dieses
davon denke.68 Nichts anderes tat im      ist auf die Rückenfiguren De Wittes
Prinzip auch De Witte in seinen In-       übertragbar. Die Unmöglichkeit, Vor-
terieurs. Hinzukommt, dass der Phi-       der- und Rückseite gleichzeitig sehen
losoph in dieser Schrift seine Iden-      zu können, macht es nämlich mög-
tität unterschlagen sollte, das Buch      lich, das Hinten und Vorn, mit Ver-

                        234
Sie können auch lesen