SCHWEIZER REVUE - Auslandschweizer-Organisation
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SCHWEIZER REVUE Die Zeitschrift für Auslandschweizer September 2020 Kalt geduscht: Die Schweiz begegnet ihren kolonialistischen Helden heute sehr kühl Moderner Glaubenskrieg: Der Mobilfunkstandard 5G lässt die Emotionen hochgehen Brrrr! – La Brévine spielt selbst im Sommer mit seinem Ruf als kältestes Dorf der Schweiz Herausgeberin der «Schweizer Revue» ist die Auslandschweizer-Organisation (ASO).
«Ich habe mein Leben lang gegen Ungerecht ig keiten und für den Rechtsstaat gekämpft. Deshalb setze ich mich für die Konzernverantwortungsinitiative ein.» Dick Marty Alt-Ständerat FDP und Co-Präsident des Initiativkomitees In der peruanischen Stadt Cerro de Pasco sind Luft und Wasser mit Blei, Arsen und anderen Schwermetallen vergiftet. Daran schuld ist eine riesi- ge Mine, die von Glencore kontrolliert wird. Gerade für die Kinder haben die Bleivergiftungen dramatische Folgen: Blutarmut, Behinderungen, Lähmungen. Die Initiative fordert eine Selbst- verständlichkeit: Wenn Konzerne Flüsse verschmutzen oder ganze Landstriche zerstören, sollen sie dafür geradestehen. www.konzern-initiative.ch Setzen Sie ein Zeichen für eine ganze Generation! Internationale Kranken- und Reiseversicherung und erstklassigen Service für Schweizer Expatriates, Reisende und mobile Mitarbeiter. +41 43 399 89 89 Der Ratgeber der Auslandschweizer-Organisation bietet info@asn.ch Ihnen wertvolle Informationen zum Thema Nachlassplanung. www.asn.ch Swiss Made “Mit der UVI werden wir die Armut der afrikanischen Bauern vergrössern. Und das kann ich nicht zulassen.” Isabelle Chevalley Nationalrätin GLP Waadt leere-versprechen-nein.ch NEIN zur Unternehmens- Verantwortungs-Initiative Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
Inhalt Editorial 3 Dieser David war ein Goliat 4 Briefkasten Zugegeben, er ist kaum zu erkennen, der in Bronze gegossene Herr auf der Titelseite der neusten «Revue». 6 Schwerpunkt Er wird hier gerade ziemlich kalt geduscht, respektive Der neue Mobilfunkstandard 5G mit Hochdruck gereinigt. Nötig wurde dies, weil befeuert leidenschaftliche Debatten Demonstranten die Statue in Neuenburg zuvor mit blutroter Farbe verschmiert hatten. Ganz sauber wird 10 Reportage David De Pury (1709-1786), der hier auf dem Sockel Sommerliche Visite in La Brévine, steht, dennoch nie wieder. Zwar hatte der wirtschaft- dem eisigsten Dorf der Schweiz lich höchst erfolgreiche Auslandschweizer seiner Heimatstadt Neuenburg ein immenses Vermögen vermacht. David war punkto Finanzen ein Goliat. 13 Politik Darum die Statue. Seit aber ins breite Bewusstsein gedrungen ist, dass Sollen Konzerne für Schäden haften, De Pury einen wesentlichen Teil seines Vermögens als Sklavenhändler die sie im Ausland anrichten? verdiente, hat sich das Verhältnis zu ihm merklich abgekühlt. Darum die Farbbeutel. 16 Literaturserie De Pury steht für jene Entrepreneurs, dank deren die Schweiz zeitweilen Charles-Albert Cingria, der zur «Kolonialmacht ohne Kolonien» wurde. Neu ist das zwar überhaupt nicht. Velo fahrende Schweizer Dichter Aber die weltweit geführte «Black Lives Matter»-Debatte hat in der Schweiz auch dieses geschichtliche Kapitel verstärkt ins Blickfeld gerückt, wie wir in Nachrichten aus Ihrer Region diesem Heft aufzeigen (Seite 20). Ist das nicht ärgerlich, weil einmal mehr am Lack der Schweiz gekratzt 17 Kultur wird? Nein, es ist heilsam: Eine Gesellschaft, die in der Lage ist, frühere Streaming statt Kino: Schweizer Filme Fehlleistungen zu erkennen, ohne daran gleich zu zerbrechen, kommt w eiter. werden im Ausland greifbarer Ein Beispiel dafür: Wenn die heutige Schweiz so sehr – und oft so erfolgreich – auf Ausgleich und Kompromiss setzt, dann ist das auch gut verarbeitete Er- 20 Gesellschaft innerung an die Fehler und die eingeschlagenen Schädel von gestern. Die Schweiz reibt sich an ihren De Pury & Co. schärfen zudem unser Bewusstsein dafür, was der Histo- kolonialistischen Abenteurern riker Bernhard C. Schär in einem Satz zusammenfasst: «Die Schweiz findet und fand nie nur in der Schweiz und in Europa statt.» Gerade die Fünfte 23 Sport Schweiz dürfte gut verstehen, worauf der Historiker anspielt: Schweiz ist Hürdenläuferin Léa Sprunger zuweilen überall. Oft im Guten. Manchmal halt auch im Schlechten. schreibt Sportgeschichte Wie aktuell die Aussage «die Schweiz ist überall» ist, dokumentiert die «Konzernverantwortungsinitative», über die wir am 29. November 2020 24 Schweizer Zahlen abstimmen dürfen (Seite 13). Im Mittelpunkt der Abstimmungsdebatte steht die Frage, ob Schweizer Konzerne für Schäden an Mensch und Umwelt 25 ASO-Informationen haften sollen, die sie anderswo in der Welt verursachen. Sehr viel anders als die Frage, ob David De Pury sein Vermögen auf 28 news.admin.ch vertretbare Weise verdient hat, ist diese Abstimmungsfrage nicht. Aber anders als während seiner Epoche stehen die international agierenden 30 Gelesen / Gehört Konzerne von heute unter scharfer Beobachtung der Zivilgesellschaft. MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR 31 Herausgepickt / Nachrichten Titelbild: Das Denkmal des Neuenburger Herausgeberin der «Schweizer Revue», Sklavenhändlers David De Pury wird nach dem Informationsmagazin für die Fünfte Schweiz, einem Farbanschlag gereinigt. Foto Keystone ist die Auslandschweizer-Organisation (ASO). Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
Briefkasten Liebe Auslandschweizerin Die Schweiz und die Corona-Pandemie Lieber Auslandschweizer Die Schweiz hat sich sehr seriös mit Für einmal richtet die Auslandschweizer-Organisation (ASO) eine kleine, aber Corona beschäftigt. Natürlich ist es wichtige Bitte an Sie: Bitte melden Sie Ihrer Schweizer Vertretung Ihre aktuelle, schlimm, wenn Menschen die Perspek- persönliche E-Mail-Adresse. Viele Auslandschweizerinnen und -schweizer tive oder die Arbeit verlieren. Aber die haben bei ihrer Schweizer Vertretung noch keine E-Mail-Adresse hinterlegt. Schweiz hat schnell und für einmal un- Und etliche der registrierten Adressen sind nicht mehr aktuell. Die ASO empfiehlt bürokratisch geholfen, ganz im Gegen- Ihnen mit Nachdruck, die E-Mail-Adresse à jour zu halten. Das ist aus mehreren satz zu vielen EU-Ländern. DANIEL TRÄCHSEL, MARZELL, DEUTSCHLAND Gründen wichtig. Schutz und Sicherheit: Die Corona-Pandemie hat eindrücklich vor Augen Leider war die Schweiz – wie viele andere Länder auch – nicht geführt, wie wichtig es ist, in Krisenzeiten erreichbar zu bleiben. Dank Ihrer vorbereitet, das ist eine Tatsache. In Ländern, die vorbereitet aktuellen, persönlichen E-Mail-Adresse kann Ihre Schweizer Vertretung Sie im waren, waren die Auswirkungen sehr viel weniger schlimm Krisenfall unkompliziert und rasch kontaktieren. (Südkorea, Hongkong, Taiwan, Singapur). Lernen wir etwas da- Das verbessert Ihren Schutz und Ihre Sicherheit. raus? Da bestehen angesichts des mangelnden kritischen Blicks Gewicht und Einfluss: Sind alle im Ausland der Vierten Gewalt wohl Zweifel. ADRIEN LOEWENSBERG, PORTUGAL lebenden Schweizerinnen und Schweizer per E-Mail erreichbar, steigt auch das politische Gewicht der Ich denke auch, dass es ein Hilfssystem gab und dass insbeson- Fünften Schweiz. Genau daran arbeitet die ASO: dere der Bundesrat sehr hart arbeitete, um dem Land zu hel- Sie will Direktwahlen – Online-Wahlen – ins Parla- fen (anders als in den USA, wo ein absoluter Wahnzustand ment der Fünften Schweiz, den Auslandschweizerrat, herrscht, ausser in den Staaten, in denen die Gouverneure über möglich machen. Sind die E-Mail-Adressen verfügbar, können alle Ausland- gesunden Menschenverstand verfügen). Zu wissen, dass meine schweizerinnen und -schweizer eingeladen werden, an einer Direktwahl teilzu in Genf lebende Mutter falls nötig hätte Hilfe beantragen kön- nehmen, wobei derzeit noch offen ist, wann eine solche Wahl erstmals stattfinden nen, hat mir geholfen. Aber viele der kleinen Angestellten in kann. Fest steht: Direktwahlen erhöhen die Legitimität des Auslandschweizerrats. Hotels, Restaurants oder im Putzdienst erhielten nicht die nö- Und in der Folge kann sich die ASO in der Schweiz mit mehr Gewicht und Einfluss tige Unterstützung: Die langen Warteschlangen vor einer Aus- für die Anliegen der Auslandschweizerinnen und -schweizer einsetzen. gabestelle für Grundnahrungsmittel in Les Vernets (GE) spricht Schliesslich ist Ihre E-Mail-Adresse nützlich, wenn in Ihrem Land die Postzu- Bände. GUILL AUME DE SYON, LANCASTER, PENNSYLVANIEN, USA stellung schlecht funktioniert und Sie zum Beispiel die gedruckte «Schweizer Revue» sehr spät oder gar nicht erhalten. In diesem Fall lohnt es sich, von der gedruckten Ausgabe auf unsere kostenlose Online-Ausgabe zu wechseln. Nach Das Volk entscheidet über den Vaterschaftsurlaub einem Wechsel erhalten Sie jeweils per E-Mail einen Hinweis auf die neusten Inhalte der «Revue». Ich bin überrascht, dass die Schweiz als In jedem Fall gilt: Melden Sie Ihre E-Mail-Adresse nicht der ASO, sondern eines der reichsten Länder der Welt in Ihrem Konsulat. Aus Datenschutzgründen hat die ASO keinen Zugriff auf Adressen dieser Sache so rückständig ist. Alle der im Ausland lebenden Schweizerinnen und Schweizer. Betreut wird die Adress- Mütter wissen, wie kräftezehrend eine datenbank letztlich durch das Eidgenössische Departement für auswärtige Ange- Geburt ist. Da ist die Unterstützung legenheiten (EDA). Sie können neue oder geänderte E-Mail-Adressen auch ganz vonseiten des Vaters sehr wichtig – so- unkompliziert selber erfassen, nämlich auf der Website des EDA: www.eda.admin. wohl für das Neugeborene als auch für die Mutter. Vater- ch/swissabroad. Dieser Online-Schalter ist übrigens ohnehin eine bequeme Mög- schaftsurlaub ist eine Investition, die sich lohnt; nicht nur für lichkeit, um von zuhause aus Dienstleistungen der Schweizer Behörde in Anspruch die ganze Familie, sondern für das ganze Land. zu nehmen. RONALD THOMA, ONTARIO, KANADA Nun bleibt mir noch, Ihnen alles Gute, Gesundheit und viel Vergnügen bei der Lektüre der neusten «Schweizer Revue» zu wünschen. Als ein seit Jahren in Deutschland lebender Expat bin ich ent- setzt darüber, wie rückständig die Schweiz in solchen Dingen Ariane Rustichelli ist. Es beginnt schon beim Begriff «Vaterschaftsurlaub». Ein klei- ASO-Direktorin nes Kind zuhause zu haben hat nicht das Geringste mit Urlaub zu tun: Es ist wundervolle, aber kräftezehrende Arbeit, und zwar für viele Jahre. Folgerichtig heisst es in Deutschland des- halb auch nicht «Urlaub», sondern «Elternzeit». Und die kann auf beide Eltern verteilt werden, statt alles wie in der Schweiz voll zu Lasten der Frau gehen zu lassen. ANDRÉ TSCHACHTLI, DEUTSCHLAND Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
5 Die Corona-Pandemie in der Schweiz Ich bin voll dagegen! Ein Vater kann seine Ferientage für die Betreuung des Kindes einsetzen, oder wenn möglich in den acht Monaten vor der Geburt Stunden vorarbeiten, um am Tag selbst zu Hause zu sein! Ein Arbeitstag hat schliesslich nur acht Stunden, die übrige Zeit kann er sich um das Baby kümmern Ab Ende April lockerte der Bundesrat die in der Schweiz und die Mutter so entlasten! CL AUDE-ALAIN GUYOT, CIREY, FRANKREICH geltenden Corona-Regeln schrittweise und beendete An- fang Juni den Lockdown. Die Kehrseite der Lockerungen: In der Schweiz herrschen bezüglich Familienunterstützung Die Zahl der Neuinfektionen stieg wieder an. Anfang Juli mittelalterliche Zustände. Schon zehn Tage scheinen ange- wurden deshalb die Schutzmassnahmen wieder verschärft. sichts der Leistung eines Schweizer Angestellten erbärmlich. Nebst neuen landesweit geltenden Bestimmungen wie der Es müssten sechs Monate für beide Eltern sein, wovon mindes- Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr gelten in einzelnen tens 16 Wochen der Mutter zustehen. Komischerweise sind die Kantonen zusätzliche Einschränkungen. Die wichtigsten Kritiker dieses viel zu bescheidenen Projekts ausgerechnet jene Einträge aus unserer Corona-Chronologie: Leute, die der Wirtschaft junge Männer zwischen 25 und 40 Jahren vorenthalten wollen, die drei bis vier Wochen PRO JAHR 6. Juni 2020: Umfassende Lockerungsschritte während dieser Absurdität, die sich WK nennt, auf Kosten der Steuerzahler Däumchen drehen und Runden trinken. Dieser Der 6. Juni gibt vielen ein Stück vertrauten Alltag zurück: für die Arbeitgeber massive wirtschaftliche Verlust auf Kosten Alle Bildungseinrichtungen dürfen ihren Betrieb wieder der Allgemeinheit mit null Ergebnis für die Sicherheit scheint aufnehmen, ebenso Schwimmbäder, Zoos, Botanische Gär- sie nicht zu stören. MATTHIEU HÖSLI, FRANKREICH ten, Theater, Kinos, Restaurants, Bars, Bergbahnen. 21. Juni 2020: Lockere Stimmung, fatale Folgen Die «Begrenzungsinitiative» und das Verhältnis der Schweiz zur EU Das Leben wird lockerer - und schon werden erste «Super- spreader» geortet: infizierte Personen, die an Partys über- Ganz unabhängig davon, dass bei zunehmender Globalisierung durchschnittlich viele andere anstecken. Zu «Supersprea- die Schweiz von einer Annäherung an die Europäische Union dern» zählen auch Ferienrückkehrer, z. B. aus Serbien. wirtschaftlich profitieren wird, ist ein politisch starkes, fried- liches Europa ganz im Interesse der Schweiz. 30. Juni 2020: Steigende Fallzahlen CHRISTOPH T WERENBOLD, KÖLN, DEUTSCHL AND Ende Juni melden die Behörden erstmals wieder Neuan- Jetzt, da die grossen Branchen abverkauft und die Schweiz nur- steckungen im dreistelligen Zahlenbereich. Die Zahlen mehr Dienstleister und Handlanger der Welt ist, sollte es für sind damit so hoch wie im März 2020, unmittelbar vor der alle klar sein: Das ist der falsche Weg. Diese ganze linke Denk- Verfügung der einschränkenden Notmassnahmen. weise ist Gift für das Land. Die Schweiz muss wieder werden, was sie einmal war: ein innovatives, erfolgreiches und gebilde- 6. Juli 2020: Maskenpflicht in Bus und Bahn tes Volk. Nicht das eigene Bildungssystem schlecht machen, sondern wieder kreativ und innovativ werden! Die Welt ist Die Schweiz führt angesichts der Entwicklung in sämtli- gross und voller Möglichkeiten, im Vergleich dazu ist die EU chen öffentlichen Verkehrsmitteln – Bahn, Bus, Seilbahn, klein und schwächt sich selbst. Schiff – die Maskentragpflicht ein. ULRICH HALTINER, DUBAI, VEREINIGTE ARABISCHE EMIRATE 8. August 2020: Nach den Ferien in die Quarantäne Die Schweiz muss unbedingt neutral bleiben. Deshalb wäre ein vernünftiger Beitrag an die EU für eine gute Zusammenarbeit Wegen angesteckten Ferienrückkehrern gilt neu: Wer aus und für das Gemeinwohl wünschenswert. Es wäre falsch, sich einem Risikoland zurückkehrt, muss sich zehn Tage in Qua- in ein starres System drängen zu lassen – schliesslich funktio- rantäne begeben. Bei ihrer Aktualisierung vom 8. August niert eine Partnerschaft im Konkubinat ja auch, man muss zählte die Liste 42 europäische und aussereuropäische Län- nicht immer gleich heiraten. der. Zur Liste: www.ogy.de/quarantaenepflicht KURT FEHLMANN, HERVEY BAY, QUEENSL AND, AUSTRALIEN Die umfassende Chronologie ab April 2020 ist unter www.revue.ch zu finden. Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
6 Schwerpunkt Mobilfunk: Wie 5G die Schweiz entzweit Die hochfliegenden Pläne des Bundes und der Telekomkonzerne, die Schweiz mit dem neusten Mobilfunkstandard zu versorgen, stossen in der Bevölkerung auf Widerstand. Im Hightech-affinen Alpenland ist ein Glaubenskrieg um den Fortschritt ausgebrochen. SUSANNE WENGER Eine Ziffer, ein Buchstabe: 5G. Das Kürzel bezeichnet die neuste Genera- tion der Mobilfunktechnologie. Sie er- laubt es, noch grössere Datenmengen noch schneller hin und her zu schi- cken, als der heute in der Schweiz ver- breitete 4G-Standard dies kann. Jede neue Mobilfunkgeneration erweiterte die Möglichkeiten, was bei den Kon- sumentinnen und Konsumenten bis- her gut ankam. Schweizerinnen und Schweizer geben im internationalen Vergleich viel Geld aus für digitale Ge- rätschaften, mit denen sie mobil im Internet surfen. Sie streamen Musik und Filme, tätigen Videoanrufe, nut- zen Apps. Die Schweiz ging denn auch international voran, als der Bund An- fang 2019 die ersten 5G-Frequenzen versteigerte. 5G sei «von zentraler Bedeutung» für die Digitalisierung des Landes, befand die Regulierungsbehörde, die die Konzessionen erteilte. Drei Unter- nehmen erhielten den Zuschlag: ne- ben dem halbstaatlichen Marktführer Swisscom auch Sunrise und Salt. Sie bezahlten dafür 380 Millionen Fran- ken in die Bundeskasse. Swisscom Konzernchef Urs Schaeppi begründet die technologische Aufrüstung mit der wachsenden Mobilfunknutzung. Diese verdopple sich alle achtzehn Monate: «Wir müssen das Netz jetzt ausbauen, bevor wir Datenkolonnen und Datenstaus haben», sagt er. Tech-Pionierin Schweiz Zugleich soll 5G in der Schweiz die In- novation beflügeln. Dank dem ultra- schnellen Datenfluss durch die Luft Max Spring zeichnet für die «Schweizer Revue». Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
7 lassen sich gemäss den Promotoren Maschinen und Geräte in Echtzeit ver- netzen. Dieses «Internet der Dinge» soll unser Zuhause klug machen und der Industrie dienen. 5G ermögliche auch selbstfahrende Autos, Telemedi- zin, virtuelle Realitäten und «Smart Cities»: technologisch vernetzte, kli- mafreundliche Städte der Zukunft. Durch den Vorsprung bei der 5G-Fre- gesundheitlichen Gefahren durch die Wie hier in Genf Gruppe jener, die sich explizit von quenzvergabe schickte die Schweiz elektromagnetische Strahlung. Sie fanden in Schweizer ihnen abgrenzt: Heimat- und Natur- Städten schon etliche sich an, zur Pionierin zu werden. Eine sorgen sich um Ortsbilder, steigenden schützer, Konsumkritikerinnen, Digi- Demonstrationen Rolle, in der sich das Land bei techno- Energieverbrauch, die Umwelt. Und gegen den Mobilfunk talgestresste, Strahlensensible, die logischem Fortschritt gerne sieht. sie weisen auf Überwachungsrisiken standard 5G statt. Ärztinnen und Ärzte für Umwelt- Foto Keystone Doch die Offensive wurde ge- hin, wenn technische Komponenten schutz, linksgrüne und rechtskonser- bremst. Das 5G-Netz ist zwar inzwi- aus China eingebaut werden. «Im vative Politikerinnen und Politiker. schen an einigen Orten verfügbar, Zentrum steht die Gesundheit», unter- SP-Nationalrätin Martina Munz (SH) wenn auch meist erst in einer Schmal- streicht Rebekka Meier. Die Solothur- trug deren Bedenken ins Bundespar- spurversion. Denn die Betreiber kön- ner Uhrenmacherin ist Vorstands lament. nen nicht so rasch vorwärtsmachen mitglied beim Verein «Schutz vor Munz sagt, sie sei nicht technolo- wie geplant. In der Zivilgesellschaft Strahlung». Ihre Befürchtung: Mit giefeindlich. Doch die Schweiz müsse hat sich Opposition gegen 5G formiert. der gesteigerten Sendeleistung von die 5G-Technik mit möglichst gerin- Bürgerbewegungen opponieren ge- 5G nehmen die negativen Effekte der ger Strahlenbelastung einführen: gen Baugesuche für 5G-Antennen mit Mobilfunkstrahlung zu, «in einem «Acht Prozent der Bevölkerung be- Einsprachen. Als 5G-kritische Vereine Mass, das alles Bisherige übersteigt». Der Ausbau auf 5G zeichnen sich als elektrosensitiv.» Statt zur nationalen Kundgebung riefen, erfordert schweizweit die 5G-Signale jede Mauer durchdrin- den Bau neuer Anten kamen Tausende nach Bern. In Ge- «Künstliche Bedürfnisse» nen, was vielenorts gen zu lassen, schliesse die Schweiz meinde- und Kantonsparlamenten die Gegner auf den die Häuser besser an ein gutes Glasfa- wurden politische Vorstösse einge- Die Innovationsversprechen der Tele- Plan ruft. Foto Keystone sernetz an, fordert die Nationalrätin. reicht, in Kirchgemeinden wurden kombranche hält Meier für Marketing: 5G-Antennen in Kirchtürmen abge- «Da werden künstliche Bedürfnisse lehnt. Und obwohl der Bund zustän- erzeugt.» Wegen des «Datenhungers dig ist, erliessen Westschweizer Kan- von Einzelnen, die jederzeit hochauf- tone 5G-Moratorien für ihre Gebiete. lösend streamen wollen», dürfe nicht Vereinzelt gab es gar Vandalenakte an das ganze Land mit solchen Sende- Sendemasten – der Maschinensturm masten überzogen werden. Gewisse des digitalen Zeitalters. sinnvolle Anwendungen wie etwa in der Medizin liessen sich auch strah- «Im Zentrum steht die Gesundheit» lungsarm realisieren, ist sie überzeugt. Die 5G-Gegnerschaft in der Die Kritikerinnen und Kritiker for- Schweiz ist bunt gemischt. Hier die dern ein 5G-Moratorium für die ganze schwer verständlichen Verschwö- Schweiz. Sie warnen vor ungeklärten rungstheoretiker, dort die grosse Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
8 Schwerpunkt So bleibe man laut Munz in der Woh- nung vor unerwünschter Funkstrah- lung geschützt. Wie viel solche Strahlung den Leu- ten zugemutet wird, ist in der Schweiz gesetzlich festgelegt. Die geltenden Grenzwerte beim Mobilfunk will der Bundesrat beibehalten, wie er im Frühling entschied. Damit kam die Landesregierung eher den 5G-Kriti- Die Befürworter des ternehmen in den letzten zwanzig schen entgegen als der Telekombran- 5G-Standards sehen Jahren zwar immer wieder rechnen. «Die Seele verkauft» die Technologie auch che. Diese wünschte sich eine Locke- Doch so stark wie bei 5G war der In der Schweiz stehen die Kirchen oft mitten als Schlüsselelement rung, um weniger Antennen installie- für selbstfahrende Widerstand noch nie. «Irrational» sei im Dorf. Die zentrale Lage und die Höhe der ren zu müssen. Fahrzeuge. Im Bild dies, befand die einflussreiche liberale Kirchtürme machen Letztere zu begehrten ein Testfahrzeug der Denkfabrik Avenir Suisse. Die bürger- Standorten für Mobilfunkantennen. Versteckt Post in Sitten. 5G-Promotoren betonen Chancen Foto Keystone liche «Neue Zürcher Zeitung» wiede- im Glockenturm stören die Sendemasten das rum sieht eine «Querfront gegen den Ortsbild kaum. Zudem bringen die Verträge mit Mit Einsprachen gegen Sendeanlagen Fortschritt» am Werk. Die Telekom- den Telekomunternehmen den Kirchgemeinden mussten die Schweizer Mobilfunkun- branche selber warnt vor gravieren- Geld ein. Auf Druck der Basis lehnten es trotz- den Auswirkungen auf die Leistungs- dem schon mehrere von ihnen ab, bestehende Martina Munz (SP): «Acht Prozent der fähigkeit der Kommunikationsnetze Sendeanlagen auf 5G umzurüsten oder neue Bevölkerung be- und fordert mehr Unterstützung 5G-Antennen im Turm zu installieren. So zum zeichnen sich als durch die Politik. Im nationalen Par- Beispiel in Oberburg (BE), in Alpnach (OW), in elektrosensitiv.» lament werden nun befürwortende Kriegstetten (SO) und in Belfaux (FR). Nebst Foto parlament.ch Stimmen laut, bei Grünliberalen und Angst vor Elektrosmog äusserten Gemeinde- Freisinnigen: Die 5G-Digitalisierung mitglieder auch ethische Bedenken. Die Kirche biete Chancen, nicht nur wirtschaft- dürfe nicht «ihre Seele verkaufen», sagte ein lich, auch punkto Nachhaltigkeit, zum Diskussionsteilnehmer in Kriegstetten gemäss Christian Wasserfallen (FDP): «Neunzig Pro- Beispiel in der Landwirtschaft. einem Bericht der Lokalzeitung. Als in Alpnach zent der Strahlung, Zu den gesundheitlichen Beden- ein Votant zu bedenken gab, dass doch «über die wir aufnehmen, ken sagt der freisinnige Nationalrat unsere Kirchtürme schon immer Informationen stammt vom eigenen Christian Wasserfallen (BE): «Neunzig vermittelt wurden», blieb er in der Minderheit. Smartphone.» Foto parlament.ch Prozent der Strahlung, die wir auf- (SWE) nehmen, stammt vom eigenen Mobil- funkgerät, nicht von der Sendean- tenne.» Er fordert deshalb vom Bund die bewahrenden Kräfte durchsetzen, Rebekka Meier, 5G-Gegnerin: «Da wer- eine Informationskampagne zu 5G. wird wohl an der Urne entschieden: den künstliche Bedürf- Ob das genügt, wird sich zeigen. Fest Gleich fünf kritische Volksinitiativen nisse erzeugt.» steht: Viele Schweizerinnen und zu 5G sind angekündigt. Vor laufender Foto schutz-vor-strahlung.ch Schweizer wollen mitbestimmen, TV-Kamera sagte dazu einer der Geg- wenn die technologische Infrastruk- ner: «Ein Volksaufstand ist im Gang!» tur des 21. Jahrhunderts errichtet wird. Ob sich dabei die Modernisierer oder Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
9 «Technik ist nie apolitisch» Dass 5G in der Schweiz auf Widerstand stösst, verwundert Historikerin Daniela Zetti nicht. Es gehe um viel mehr als nur Mobilfunktechnik. INTERVIEW: SUSANNE WENGER Die 5G-Förderer von heute argumentieren ebenfalls, die Schweiz Daniela Zetti, überrascht Sie der vehemente Widerstand brauche diese Technologie, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. gegen 5G in der Schweiz? Dieses Argument wird stabil seit den 1970er-Jahren vorge Nein, gar nicht. Mich überrascht vielmehr, wie spät ver bracht, wenn es um Digitalisierung geht. Dabei wird jeweils breiteter Widerstand einsetzt. Das digitale Mobilfunknetz innovative Zukunft entworfen und versprochen. Das über der Schweiz entstand 1993. Technologie ist im nationalen lagert gerne die Auswirkungen auf die Lebenswelt. So sind Selbstverständnis der Schweiz sehr wichtig. Das zeigt sich für ein flächendeckendes 5G viele Antennen mit jeweils etwa daran, dass Errungenschaften wie die Überwindung geringer Reichweite erforderlich. Ausserdem stehen die des Gotthards oder der Verzasca-Staudamm Technik Fragen im Raum, wozu diese Mobilfunktechnologie dient, Monumente geworden sind. Man reist zu ihnen wer zu ihr Zugang hat und wer von ihr profitiert. Ich habe hin wie zu Naturdenkmälern. Gerade weil die den Eindruck, dass es 5G an Allianzen fehlt, die der Schwei Schweiz viel Technologie und technologische zer Bevölkerung einen breiten Nutzen aufzeigen können. Infrastruktur aufweist, wurde immer schon in tensiv darüber diskutiert, auch kontrovers. Das Die meisten nutzen doch Smartphones und wollen eine war stets auch Selbstverständigung darüber, in gute Netzabdeckung. welchem Land man leben will. Die gute Netzabdeckung ist in der Schweiz weitgehend gewährleistet. Bleibt der Versuch, Dinge wie das selbst Gibt es mit 5G vergleichbare Kontroversen fahrende Auto als gesamtgesellschaftlichen Fortschritt in der Schweizer Technikgeschichte? auszurufen, den 5G möglich mache. Doch löst das womög Ein kleines, aber modellhaftes Beispiel ist der lich Faszination und Schrecken zugleich aus und dürfte Kurzwellensender im bernischen Schwarzen kaum ausreichen, um breite Kreise mitzunehmen. burg, den die damalige PTT 1939 in Betrieb nahm. Daniela Zetti Schweizer Radio International verbreitete über den Sender Wie lassen sich, historisch gesehen, verhärtete Kontroversen promovierte an der Nachrichten in die ganze Welt, doch in der lokalen Bevöl um Technologien auflösen? ETH Zürich in kerung regte sich mit der Zeit Widerstand. Es gab gesund Durch das Aushandeln im demokratischen Prozess. Tech Technikgeschichte. Heute lehrt und heitliche Probleme, in den Abflussrinnen der Dächer war nik ist nie apolitisch, sie hat immer eine gesellschaftliche forscht sie an der Musik zu hören, ein permanentes Surren lag in der Luft. Dimension. Die Mobilfunk-Netzbetreiber begegnen jetzt Universität Lübeck. Da zeigt sich ein weiterer Grund, warum gerade in einem der Skepsis mit Sicherheitsbeteuerungen. Sie verweisen da technisierten Land solche Opposition entstehen kann: rauf, dass es keinen wissenschaftlichen Beleg für Gesund Die Technik wird in die Landschaft gesetzt, wo sie zu leben heitsschäden gebe. Das erinnert mich an das Beispiel der anfängt. Man kann sie sehen, hören, spüren, als Schatten AKW-Betreiber. Überrascht vom heftigen Widerstand, ver infrastruktur, die den Körper bedrohen kann. suchten Experten mit Studien und Statistiken aufzuzeigen, wie überaus gering das Risiko eines Unfalls für den Einzel Auch die 5G-Gegnerinnen und -Gegner bringen gesundheitliche nen sei. Die Strategie ging nicht auf. Die rein technische Bedenken vor. Risikoabschätzung erfasste die vielfältigen Anliegen und Ja, doch während früher die PTT mit der Autorität ihres Bedenken der Kernenergie-Gegner nicht – vom Gewässer Monopols sagen konnte, die Schweiz brauche diesen schutz bis zum Föderalismus. Sender, stehen heutige Mobilfunkunternehmen im libe ralisierten Markt unter grösserem Rechtfertigungsdruck. Gleichzeitig sind sie unter Wettbewerbsdruck. In den 1990er-Jahren gab es durch den Zugang zur Infrastruktur der neuen Telekommunikationsmöglichkeiten viel Geld zu verdienen. Das ist vorbei. Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
10 Reportage La Brévine macht seine Kälte selbst im Sommer zum Markenzeichen La Brévine, das Dorf im Neuenburger Jura, hält den Rekord als kältester bewohnter Ort der Schweiz. Der Klimawandel bringt allerdings die Schneeverhältnisse und die Kälterekorde durcheinander. Doch La Brévine bleibt ein Besuchermagnet. STÉPHANE HERZOG in einer Talsenke und hält mehrere Wer durch die Strassen des kleinen Ich komme an einem windigen Som- Kälterekorde, darunter die tiefste je an Dorfes schlendert, das von vier Ver- mertag im Juli in La Brévine an. Das einer lokalen Station von Meteo- kehrsachsen durchquert wird, wird Tal ist in Nebel gehüllt. Als ich auf dem Schweiz gemessene Temperatur der auch im Sommer ins Reich der Kälte Dorfplatz aus dem Bus steige, fröstelt Schweiz: Am 12. Januar 1987 fiel das entführt. Das Geschäft, in dem Besu- es mich. Wird meine sommerliche Thermometer auf klirrende -41,8 °C. cher im Sommer Langlaufski auf Rol- Kleidung – ein T-Shirt und eine Regen- Damit hält La Brévine den Rekord als len leihen können, heisst Siberia jacke – angesichts des hiesigen Klimas kältester bewohnter Ort der Schweiz. Sports. Ein zurzeit geschlossenes genügen? Ein Blick auf das digitale «Am kältesten ist es frühmorgens, Gasthaus trägt den Namen «Au Loup Thermometer am Dorfplatz zeigt: Es wenn die Sonne aufgeht. Eigentlich er- Blanc» – Zum Weissen Wolf. Dahinter ist gerade einmal 18 °C. Ich spüre den wartet man, dass es dann wärmer liegt das Möbelhaus Alaska. Und dann Effekt von La Brévine! Die Neuenbur- wird, doch die Sonnenstrahlen halten ist da L’Isba, ein altes Café-Restaurant. ger Gemeinde im Juramassiv liegt auf die Kälte am Boden», erklärt Gemein- Nicht alle macht die eisige Reputation etwas mehr als 1000 Meter über Meer depräsident Jean-Maurice Gasser. des Dorfes glücklich: «Viele glauben, Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
11 La Brévine, das «Sibi- rien der Schweiz», ist auch im Sommer ein frischer Ort. Aber Gemeindepräsident Jean-Maurice Gasser (links), die Landwirte Kevin und Grégory Hughenin (Mitte) so- wie Geneviève Kohler, die Präsidentin des Verschönerungsver- eins von La Brévine dass wegen der Temperaturen auch vine, um die Kälte zu feiern», freut sich ist auf Schnee angewiesen, um sein (rechts), haben sich die Menschen von kaltem Gemüt sind, der Präsident, der für die Renovierung bestens mit dem Sportgeschäft am Laufen zu halten. obwohl die Kälte in Wirklichkeit ja und Umgestaltung des Hotel-Restau- Klima arrangiert. Ihm ist bewusst, dass die Jahre mit nichts ändert und wir alle unseren Ge- rants Hôtel-de-Ville verantwortlich Fotos Danielle Liniger idealen Schneebedingungen für Lang schäften nachgehen», sagt Jean-Daniel zeichnete. Es ist Eigentum der Ge- lauf und Schneeschuhwandern der Oppliger, Inhaber des Hotels und Re- meinde und lädt mit 27 Betten Touris- Vergangenheit angehören: «Im letzten staurants Hôtel-de-Ville. Er ist Mitin- ten zur Übernachtung ein. Im grossen Winter hat es so gut wie gar nicht itiator der «Fête du Froid», die erstmals Saal auf der Rückseite finden Gemein- geschneit. Die Leute konnten nur drei- 2012 stattfand, als eine eisige Bise deveranstaltungen statt. La Brévine oder viermal langlaufen. Von den durchs Tal fegte. und seine 630 Einwohnerinnen und Schweiz 163 km Loipen, die wir hier im Tal Einwohner sind wirtschaftlich recht e trem normalerweise anbieten, konnten nur Wärmere Winter – gut gestellt. «Die Finanzen sind ausge- 30 km gespurt werden.» Während sei- glichen», sagt Jean-Maurice Gasser. nes bisherigen Lebens haben sich die und Sommer mit 30 °C Dennoch würde er sich freuen, wenn Höher, weiter, Temperaturen im schweizerischen Die Kälte, die den Atem in der Nase ge- mehr Menschen in die Gemeinde zö- schneller, schöner? Klein-Sibirien vollkommen verändert: frieren lässt, ist in La Brévine zu einem gen, denn die Einwohnerzahl sinke. Auf der Suche nach «Als ich ein Kind war, schwankten die den etwas anderen Marketingfaktor geworden. «Bis zu Pascal Schneider, Inhaber von Temperaturen häufig drei Wochen Schweizer Rekorden. 5000 Besucher aus der Schweiz und Siberia Sports, bessert sein Einkom- Heute: Die kälteste lang zwischen -15 und -30 °C. Heute aus Frankreich kamen nach La Bré- men im Sommer als Schreiner auf. Er Schweizer Gemeinde. haben wir manchmal an einem Mor- Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
12 Reportage gen -25 °C und zwei Tage später Regen. Im Sommer 2019 lag die Temperatur 14 Tage lang bei 30 °C.» 2006 erzielte La Brévine einen neuen Temperatur- rekord: plus 36 °C. Kaltes Wetter und Herzenswärme Im Sommer sind die Nächte kühl und bereits ab Mitte August kann der erste Frost auftreten. Die Touristen, die La Brévine besuchen, haben jedenfalls stets das Thermometer im Kopf. «Meine Kunden sagen mir, es sei hier gar nicht so kalt», berichtet der Inha- ber des Sportgeschäfts. Wenngleich die Kälte im Winter um einige Grad abgenommen hat, müssen die Bauern Das winterliche Grégory Huguenin zusammen, der Schnees und der Kälte. Geneviève auf den Hochlagen des rund 20 km Postkartenbild von sich an seinen ersten Arbeitswinter in Kohler, die Präsidentin des Verschö- La Brévine. Liegt langen Tals dennoch deutlich härter Le Cernil mit Temperaturen von -15 °C nerungsvereins, nimmt mich zu Sta- ausreichend Schnee, arbeiten als anderswo in der Schweiz. lockt das Dorf im und fast -30 °C auf ihrem Hof in Le tion 13 mit: In dem schön gemauerten In Le Cernil, auf 1200 Meter über Meer, Jura trotz der Kälte Brouillet erinnert. Trotzdem oder Gebäude, in dem die Eltern von Kevin halten Kevin und Grégory Huguenin Schneeschuhwande- vielleicht genau deswegen lieben die und Grégory Huguenin leben, verbirgt rer und besonders 100 Kühe. Sie erzählen, wie ihre Tage beiden Brüder, die bereits der siebten sich eine alte eisenhaltige Heilquelle. die Skilangläuferin- in der bitteren Kälte verlaufen. Ihre nen und -läufer. Generation von Huguenins im Tal an- Auch der Dorfbach, Le Bied, er- Arbeit beginnt um 5 Uhr morgens. Foto Keystone gehören, ihre Heimat. Den harten zählt eine Geschichte. Er verschwin- Manchmal müssen sie die zugefro- Witterungsbedingungen begegnet det in einem Versickerungstrichter, renen Türen mit Pickeln öffnen und man hier mit Herzenswärme. «Hier einem natürlichen Brunnen, und die Rohre ihrer Viehtränken mit ei- kannst du bei jedem Nachbarn klin- kommt erst im Val-de-Travers wieder nem Brenner erwärmen. «Es ist ein Reproduziert mit Bewilligung geln und wirst zum Essen eingeladen», an die Oberfläche. Dieser Trichter ständiger Kampf gegen die Kälte», fasst von swisstopo (BA200147) sagt Kevin. «Das Tal hat zwar nicht befindet sich in der Dorfmitte von La viele Einwohner, nur rund 1500, aber Brévine und ähnelt einer Schlucht. die Menschen teilen, was sie haben», 2018 kam es durch eine Verstopfung ergänzt sein Bruder. zu einer Überschwemmung im Dorf. «In den Häusern stand das Wasser Kühle Sommernächte 30 cm hoch», erinnert sich Gemeinde- präsident Gasser. Der Inhaber des Der Sommer beschert dem Tal und Hôtel-de-Ville sieht in dem Versicke- seinen drei Dörfern, von denen nur La rungstrichter einen der Faktoren, die Brévine Kälterekorde erreicht, son- das sibirische Klima von La Brévine er- nige Tage und kühle Nächte. Der Lac klären. «In den anderen Bergtälern des Taillières, der zwei Kilometer ent- des Neuenburger Juras bleiben die fernt liegt und im Winter gefriert, Wasserläufe an der Oberfläche und Die Geheimnisse der Kälte zieht Wind- und Kite-Surfer an. Das nehmen die Kälte mit», meint Jean-Da- Für das eisige Klima von La Brévine gibt es mehrere Ursachen. Eine davon ist, Hochplateau ähnelt einer Steppe. Es niel Oppliger. «Aber hier verschwin- dass das Dorf in einer geschlossenen Talsenke liegt, in der die Kälte stag- gibt zahlreiche wunderschöne Wan- det der Bied und die Kälte bleibt.» niert. Dieses meteorologische Phänomen wird als «Kaltluftsee» bezeichnet. derwege, insbesondere einen Pfad Kann das wirklich die Erklärung sein? Es erfordert einen hohen Luftdruck, einen wolkenlosen Himmel, Windstille mit Grenzmarkierungen zum benach- Das wird wohl ein Geheimnis bleiben, und Schnee. Bei einem Kaltluftsee kann auf den Pässen und Gipfeln ein barten Frankreich, die 1819 gesetzt doch in La Brévine erfordert das eisige Temperaturunterschied von fast 30 °C zum Talboden herrschen. Dies zeigte wurden. Ein Rundgang mit 18 Infor- Klima zwangsläufig eine Vielzahl von eine Ende 2014 durchgeführte Studie des Instituts für Geografie der Univer- mationstafeln vermittelt eine Vorstel- Erklärungen. sität Neuenburg. (SH) lung vom Leben in diesem Land des Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
Politik 13 Die Gretchenfrage der globalisierten Wirtschaft Sollen Schweizer Konzerne für die Schäden an Mensch und Umwelt haften, die sie anderswo in der Welt verursacht haben? Dies verlangt die 2016 eingereichte Konzernverantwortungsinitiative. Nach jahrelangem Seilziehen im Parlament hat am 29. November das Stimmvolk das letzte Wort. THEODORA PETER von den eigenen vier Wänden fernhält. Die Konzerne sollen nicht nur zu einer In Sambia leiden Anwohner einer Aus Sicht der Kritiker bleibt dies aber Sorgfaltsprüfung verpflichtet werden, Kupfermine wegen Schwefelgaswol blosse Symptombekämpfung. sondern auch für Schäden haften, die ken an Atemwegserkrankungen. In Auch andere Schweizer Rohstoff sie – oder von ihnen kontrollierte Un Australien weist in der Minenstadt konzerne stehen wegen ihres Ge ternehmen – durch Verletzung von Mount Isa jedes vierte Kind zu hohe schäftsgebarens immer wieder im Menschenrechten oder Umweltstan Bleiwerte im Blut auf. In beiden Bei Visier der Kritik. So ist nicht auszu dards verursacht haben. Konkret sol spielen geht es um Emissionen aus schliessen, dass in Schweizer Raffine len Geschädigte bei einem Schweizer Betrieben, die mehrheitlich dem rien veredeltes Rohgold aus zweifel Zivilgericht auf Schadenersatz klagen Schweizer Rohstoffkonzern Glencore haften Minen mit menschenrechts können. Um einer Haftung zu entge gehören. Im Fall der Kupfermine in widrigen Arbeitsbedingungen stammt hen, müsste das beklagte Unterneh Sambia wurden die Richtwerte der (mehr dazu siehe «Revue» 3/2019). men nachweisen, alles getan zu haben, Weltgesundheitsorganisation WHO Mit der Initiative «für verant um die Sorgfaltspflichten zu erfüllen. zeitweise massiv überschritten. Die wortungsvolle Unternehmen – zum Betreiber haben den alten Schmelz Schutz von Mensch und Umwelt» Zähes Ringen im Parlament ofen inzwischen ausser Betrieb ge (kurz: Konzernverantwortungsinitia Die Initiative schreckte die Wirtschaft nommen. Allgemein betont Glencore, tive) will eine Allianz von 120 Hilfs auf, die ihr globales Geschäft und die Alltagsszene aus der man habe bereits viel unternommen, werken, Kirchen, Gewerkschaften, unternehmerische Freiheit bedroht sambischen Stadt um die Schadstoffbelastung zu senken. Umwelt- und Menschenrechtsorgani sieht. In der Bevölkerung stösst das Kankoyo, wo Men- In Australien finanzierte der Konzern sationen die multinationalen Kon Anliegen gemäss Umfragen aber auf schen direkt neben zudem TV-Spots, die der lokalen Be zerne mit Sitz in der Schweiz stärker viel Sympathie. In der Folge setzte im der Mopani-Kupfer- mine leben. völkerung zeigen, mit welchen Putz in die Pflicht nehmen. Davon betrof eidgenössischen Parlament ein zähes Archivbild 2015: Keystone methoden man kontaminierten Staub fen wären rund 1500 Unternehmen. Ringen um einen Kompromissvor schlag ein. Der Nationalrat wollte den Initianten entgegenkommen und im Aktienrecht neue Haftungsregeln für Unternehmen festschreiben. Damit wäre das Kernanliegen der Initianten erfüllt worden. Dagegen stemmte sich aber der Ständerat, dessen Mehrheit eine Re gulierung als unnötig und schädlich für die Wirtschaft erachtete. Schliess lich einigten sich die beiden Parla mentskammern auf einen abge schwächten, sogenannt indirekten Gegenvorschlag. Demnach sollen die Unternehmen lediglich zur Bericht erstattung verpflichtet werden. Sie müssten in ihren Geschäftsberichten aufzeigen, wie sie die Sorgfaltspflich ten erfüllen. Die Regelung ist ver gleichbar mit der Rechenschafts- pflicht in der Europäischen Union Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
14 Politik Dick Marty: Konzerne wirtschaf- ten dann anständig, Sorgfaltspflicht in anderen «wenn Menschen- Ländern rechtsverletzungen Konsequenzen haben». In der Europäischen Union (EU) müssen Unterneh- Foto parlament.ch men seit 2018 Rechenschaft darüber ablegen, wie sie Umweltschutz und Menschenrechte wahren. Andrea Gmür: Die EU-Kommission prüft jedoch eine Verschär- Die Initiative stellt fung der entsprechenden EU-Richtlinie. Auch wird Konzerne unter Gene- der Ruf lauter nach einem Lieferkettengesetz, das ralverdacht und er- die Konzerne noch stärker dazu verpflichten würde, möglicht «erpresse- rische Klagen». entsprechende Risiken zu vermeiden. In Deutsch- Foto parlament.ch land stellte die Regierung Ende 2019 ein «Wert- schöpfungskettengesetz» in Aussicht, nachdem (siehe Kasten) und würde bei einer Ab und bürgerlichen Parteien schiesst die ein freiwilliger Aktionsplan von wenig Erfolg ge- lehnung der Initiative an der Urne Initiative aber weit über das Ziel hin krönt war. In Frankreich gilt seit 2017 ein Gesetz automatisch in Kraft treten. aus. So stösst sich die Luzerner CVP zur Sorgfaltspflicht («Devoir de vigilance»), das Ständerätin Andrea Gmür insbeson ebenfalls Haftungsansprüche vorsieht. Weitere «Alibi-Gegenvorschlag» dere an der «Umkehr der Beweislast». europäische Länder planen Gesetze, die von den Dass Konzerne bei einer Haftungs Unternehmen Sorgfaltsprüfungen gemäss der Von einem «wirkungslosen Alibi-Ge klage ihre Unschuld beweisen müss EU-Richtlinie einfordern. In Grossbritannien wie- genvorschlag» spricht Dick Marty, ten, v erstosse gegen Prinzipien des derum anerkannte 2019 der oberste Gerichtshof Co-Präsident der Konzernverantwor Rechtsstaates und führe zu «erpresse die Zulässigkeit von Klagen gegen Unternehmen tungsinitiative. Der frühere Tessiner rischen Klagen aus dem Ausland». Es wegen Verletzungen von Menschenrechten durch Staatsanwalt und FDP-Ständerat gehe nicht an, «Konzerne unter einen Tochterunternehmen im Ausland. (TP) moniert: «Wir wissen alle, dass gerade Generalverdacht zu stellen», sagt die die skrupellosesten Grosskonzerne Politikerin, die im Vorstand der Zent Webseite der Initiative: noch so gerne Hochglanzbroschüren ralschweizer Industrie- und Handels www.konzern-initiative.ch ver öffentlichen.» Erst wenn Men kammer sitzt. Webseite der Nein-Allianz: schenrechtsverletzungen Konsequen www.leere-versprechen-nein.ch zen hätten, «werden alle Konzerne Sowohl Gegner wie Heisser Herbst anständig wirtschaften», sagt Marty, Befürworter – hier der sich auf internationaler Ebene als eines ihrer Transpa- Richtig Fahrt aufnehmen dürfte die Menschenrechts-Sonderberichter rente – führen einen Abstimmungskampagne Anfang Ok Diese soll das Image der angeblich sehr intensiven statter des Europarates einen Namen Abstimmungskampf. tober, sobald Parteien und Verbände skrupellosen Konzerne korr igieren machte. Für die Gegner aus Wirtschaft Foto Keystone den Mammut-Urnengang vom 27. Sep und herausstreichen, wie Schweizer tember (siehe «Revue» 4/2020) bewäl Unternehmen in Entwicklungslän tigt haben. Die Initianten können dern etwa zur Schaffung von Arbeits nebst der Unterstützung von SP und plätzen beitragen. Grünen auf den Support eines bürger lichen Komitees mit Mitgliedern aus allen Parteien zählen. Zudem setzen die Initianten mit der Gründung von Lokalkomitees in Dörfern und Quar tieren auf das Engagement von Frei willigen der Zivilgesellschaft. Auf der Gegenseite orchestriert der f inanzkräftige Wirtschaftsverband Economiesuisse die Nein-Kampagne. Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
Politik 15 Rüstungsindustrie im Kreuzfeuer Hingegen sollen keine Schweizer Schweizer Waffenexporte sorgen immer wieder für Kritik. Gleich zwei Volksinitiativen Waffen in Bürgerkriegsländer oder in nehmen die Rüstungsindustrie ins Visier. Eine davon kommt am 29. November zur Länder gelangen, wo die Menschen- Abstimmung. rechte systematisch und schwerwie- gend verletzt werden. Auslöser dieser «Korrektur-Initia- tive» war das Vorhaben des Bundes rates, den Export von Kriegsmaterial in Bürgerkriegsländer zuzulassen, wenn kein Grund zur Annahme be- steht, dass die Waffen im Konflikt ein- gesetzt werden. Die Regierung wollte damit die Schweizer Rüstungsindus- trie stützen, verzichtete dann ange- sichts heftiger Kritik auf die Locke- rung. Die Initianten möchten aber darüber hinaus einen Parlamentsent- scheid von 2014 rückgängig machen, der Waffenexporte auch in Länder mit systematischer Verletzung der Men- schenrechte zulässt. Der Bundesrat will dem Parlament einen Gegenvor- schlag unterbreiten, der den Initian- ten entgegenkommt. Die Allianz gegen Waffenexporte in Bürgerkriegs- THEODORA PETER munition. Die Initiative würde laut Mit hölzernem Panzer länder schliesst einen Rückzug des Die Initiative «Für ein Verbot der Parmelin viele rüstungsferne Unter- gegen Waffenexporte: Volksbegehrens nicht aus, wenn das Aktivisten der Initiati F inanzierung von Kriegsmaterial» nehmen treffen, zum Beispiel eine Anliegen auf dem Gesetzesweg umge- ve «Für ein Verbot der will Schweizer Investitionen in die Glasfirma, die nebst normalen Fens- Finanzierung von setzt wird. Ob die «Korrektur-Initia- Rüstungsindustrie weltweit unterbin- tern auch solche für Cockpits von Kriegsmaterialpro tive» dereinst an die Urne kommt, den. Konkret sollen die Nationalbank, Kampfjets produziert. duzenten» demonst bleibt somit vorläufig offen. rieren in Bern (2017). Pensionskassen und Stiftungen keine Das Volksbegehren, welches aus- Foto Keystone Gelder in Unternehmen stecken dür- schliesslich vom linksgrünen Lager fen, die mehr als fünf Prozent ihres unterstützt wird, dürfte an der Urne Verdoppelung der Waffenexporte Umsatzes mit der Herstellung von einen schweren Stand haben – wie Kriegsmaterial erwirtschaften. Hinter schon frühere GsoA-Initiativen: 2009 Im ersten Halbjahr 2020 exportierten Schweizer der Initiative stehen die Gruppe scheiterte eine Volksinitiative für ein Unternehmen Kriegsmaterial im Wert von 501 Schweiz ohne Armee (GsoA) sowie die Verbot von Kriegsmaterialexporten Millionen Franken. Das ist fast doppelt so viel wie Jungen Grünen. Aus ihrer Sicht muss an der Urne mit rund 68 Prozent in der Vorjahresperiode (273 Mio. Fr.) exportiert die Schweiz als neutrales Land und Nein-Stimmen deutlich. wurde. Laut den Behörden sind solche Schwan- Hüterin der Genfer Konventionen da- kungen nicht aussergewöhnlich und einzelnen rauf verzichten, «Profit aus den Opfern Gegen Exporte in Konfliktregionen Grossaufträgen geschuldet. Auf der Liste der von Kriegen zu schlagen». Abnehmer stehen 55 Länder. Grösster Importeur Bundesrat und Parlament lehnen Grössere Erfolgsaussichten hat die von war im ersten Halbjahr Indonesien: Das Land die Initiative jedoch ohne Gegenvor- einem überparteilichen Komitee ge- kaufte für 110 Mio. Franken Flugabwehrsysteme. schlag ab. Aus Sicht von Wirtschafts- tragene Volksinitiative gegen Waf Botswana wiederum beschaffte für 64 Mio. Fran- minister Guy Parmelin (SVP) genügen fenexporte in Bürgerkriegsländer. Sie ken gepanzerte Fahrzeuge. In Europa waren Däne- die bestehenden Verbote zur Finan- verlangt kein absolutes Verbot von mark, Rumänien und Deutschland die grössten zierung von atomaren, biologischen, Kriegsmaterialexporten – im Gegen- Abnehmer von Schweizer Kriegsmaterial. (TP) chemischen Waffen sowie von Streu- satz zur gescheiterten GsoA-Initiative. Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
16 Literaturserie Das Fahrrad als Stimulans für den Dichter Der Genfer Charles-Albert Cingria lebte 39 Jahre in Paris und dokumentierte in kurzen Texten sein Zeitalter als unermüdlich Reisender abgründiger denn jeder andere. CHARLES LINSMAYER kurzen Texte nieder, die im Grunde nichts anderes sind als Am 19. März 1911 kam es in Genf vor der Kirche Saint-Joseph eine einzige, nie abbrechende Konversation mit einem ima zu einer Schlägerei, über die «tout Genève» wochenlang ginären Gesprächspartner. sprach: Weil er sich in einem Leserbrief beleidigt fühlte, schlug Charles-Albert Cingria, 28, von massiger Gestalt, Cyklist und Formulierer den schmächtigen Schriftstellerkollegen Gonzague de Reynold, 31, mit einem Faustschlag zu Boden. Von der Nützlichkeit des Fahrrads für den Dichter handeln Cingria, Sohn dalmatischer Einwanderer, galt schon als die Texte, vom Glück, im Speisewagen reisen zu können, Klosterschüler als «der verrückte Kerl». Immer wieder vom Bahnhofbuffet Bern, vom Lob des Tabaks, von einer machte ihm seine Gewaltbereitschaft zu schaffen, die wohl nackten Tierbändigerin oder vom Kuriosum der sprechen in Zusammenhang mit seiner uneingestandenen Homo den Maschinen. Und immer gesellt sexualität stand. So abstrus seine Ideen oft waren: Als sich zur scharfen Beobachtungs Musikw issenschaftler und Historiker war er unerreicht. gabe und dem virtuosen sprach Was er schrieb, fand bei seinen Zeitgenossen ungeteilte Be lichen Können ein Humor und wunderung. Eine Bewunderung mit Folgen: Als er 1926 in eine Intelligenz, die dem scheinbar Italien wegen Päderastie ins Gefängnis kam, verhalf ihm harmlosen Parlando etwas Tief niemand anders als sein Erzfeind Gonzague de Reynold zur sinniges, oft auch Anarchisches Freiheit. verleihen. Dass er nicht nur mit seinen Texten, sondern auch als «Talking Cingria» ein Original in Erinnerung bleiben würde, war dem schrulligen Cyk «Vor allem muss ich darauf be- Charles-Albert machte insbesondere mit kurzen, überall listen und Formulierer durchaus stehen, dass das Fahrrad eines verstreuten Texten Furore, die man inzwischen unter das bewusst. Sonst hätte er seinem Dichters keineswegs unwürdig Stichwort «Talking Cingria» stellt. Es sind in der ersten Per Freund Abdul Wahab, als er 1940 ist. Es ist im Gegenteil ein sehr son geschriebene Erzählungen, die immer im Präsens ge des Krieges wegen in der Schweiz halten sind und stets den Anschein erwecken, als würde festgehalten wurde, nicht den fol grosses Stimulans für ihn. jemand ganz direkt mit einem sprechen. Fast immer rührt genden Auftrag nach Paris über Zunächst ist sie schön, ist sie ihre Unmittelbarkeit daher, dass sie auf persönlichen mittelt: «Wenn Du die Gaukler praktisch, diese Maschine, und Erlebnissen auf Fahrten und Reisen durch ganz Europa be siehst, lass sie im Glauben, dass ich zwar aus sich selbst. Aber auch ruhen. Obwohl Bürger von Genf, lebte Cingria zwischen in Paris bin und nur in ein anderes 1915 und seinem Tod am 1. August 1954 in einem Zimmer Quartier umgezogen bin. Ich will wegen ihrer Lenkstange, um die in Paris, das der Ausgangspunkt für seine Reisen war. sie dazu bringen, Legenden über man schwefelgelbes neben Exzentrisch gekleidet, der typische Dandy jener Epoche, die Leute zu lancieren und zu schwarzem und rötlichem Heft- war er dabei fast immer mit dem Fahrrad unterwegs. zeigen, dass deren Schwächen in pflaster rollt. Leute, die so etwas Wirklichkeit deren Stärken sind.» kalt lässt, können lange unruhig Bei Freunden zu Gast werden, wenn man von Kunst BIBLIOGRAFIE: In Deutsch ist greifbar: Nach dem Verlust des Familienvermögens war er auf die Be Charles-Albert Cingria, «Ja, jeden Tag neu spricht, aber sie werden auch zu geboren werden …». Erinnerungen, Glossen, herbergung bei Freunden angewiesen, für die seine Ankunft Thesen, Polemiken. Ausgewählt und mit den höchsten Höhepunkten einer jeweils ein halb kurioses, halb spektakuläres Ereignis war. einem biografischen Nachwort versehen griechischen Tragödie keinen So führte er auf dem Fahrrad eine zusammenklappbare le von Charles Linsmayer. Reprinted by Huber Nr. 18, Frauenfeld, 2001. Zugang finden.» derne Badewanne mit, in der er im zugewiesenen Gäste zimmer zunächst stets ein Bad nahm, ehe er sich, mit dem Aus «Lob des Fahrrads» in «Ja, jeden Tag neu Badetuch als Turban, zu den Gastgebern an den Tisch setzte. CHARLES LINSMAYER IST LITERATURWISSEN- geboren werden», Huber, Frauenfeld, 2001. Irgendwann setzte er sich dann auch hin und schrieb seine SCHAFTLER UND JOURNALIST IN ZÜRICH Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
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