SCHWEIZER REVUE - Auslandschweizer-Organisation

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SCHWEIZER REVUE - Auslandschweizer-Organisation
SCHWEIZER REVUE
                                  Die Zeitschrift für Auslandschweizer
                                            September 2020

Kalt geduscht: Die Schweiz begegnet ihren
kolonialistischen Helden heute sehr kühl
Moderner Glaubenskrieg: Der Mobilfunkstandard 5G
lässt die Emotionen hochgehen
Brrrr! – La Brévine spielt selbst im Sommer
mit seinem Ruf als kältestes Dorf der Schweiz

   Herausgeberin der «Schweizer Revue» ist die Auslandschweizer-Organisation (ASO).
SCHWEIZER REVUE - Auslandschweizer-Organisation
«Ich habe mein Leben lang gegen Ungerecht ig­
                            keiten und für den Rechtsstaat gekämpft.
                            Deshalb setze ich mich für die
                            Konzernverantwortungsinitiative ein.»
                            Dick Marty
                            Alt-Ständerat FDP und Co-Präsident des Initiativkomitees

                                                                                            In der peruanischen Stadt Cerro de
                                                                                            Pasco sind Luft und Wasser mit Blei,
                                                                                            Arsen und anderen Schwermetallen
                                                                                            vergiftet. Daran schuld ist eine riesi-
                                                                                            ge Mine, die von Glencore kontrolliert
                                                                                            wird. Gerade für die Kinder haben die
                                                                                            Bleivergiftungen dramatische Folgen:
                                                                                            Blutarmut, Behinderungen, Lähmungen.

                                                                                            Die Initiative fordert eine Selbst-
                                                                                            verständlichkeit: Wenn Konzerne
                                                                                            Flüsse verschmutzen oder ganze
                                                                                            Landstriche zerstören, sollen sie
                                                                                            dafür geradestehen.

                                                                                            www.konzern-initiative.ch

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                                                                                    Internationale Kranken- und Reiseversicherung
                                                                                    und erstklassigen Service für Schweizer
                                                                                    Expatriates, Reisende und mobile Mitarbeiter.

                                                                                        +41 43 399 89 89
Der Ratgeber der Auslandschweizer-Organisation bietet                                   info@asn.ch
Ihnen wertvolle Informationen zum Thema Nachlassplanung.                                www.asn.ch
                                                                       Swiss Made

   “Mit der UVI werden wir die
   Armut der afrikanischen
   Bauern vergrössern. Und
   das kann ich nicht zulassen.”
   Isabelle Chevalley
   Nationalrätin GLP Waadt
                                                  leere-versprechen-nein.ch
                                                                                                           NEIN
                                                                                                           zur Unternehmens-
                                                                                                           Verantwortungs-Initiative

                                                                                                                  Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
SCHWEIZER REVUE - Auslandschweizer-Organisation
Inhalt                                            Editorial                                                                            3

                                                              Dieser David war ein Goliat

            4         Briefkasten                                                    Zugegeben, er ist kaum zu erkennen, der in Bronze
                                                                                     gegossene Herr auf der Titelseite der neusten «Revue».
            6         Schwerpunkt                                                    Er wird hier gerade ziemlich kalt geduscht, respektive
                      Der neue Mobilfunkstandard 5G                                  mit Hochdruck gereinigt. Nötig wurde dies, weil
                      befeuert leidenschaftliche Debatten                            Demonstranten die Statue in Neuenburg zuvor mit
                                                                                     blutroter Farbe verschmiert hatten. Ganz sauber wird
            10 Reportage                                                             David De Pury (1709-1786), der hier auf dem Sockel
                      Sommerliche Visite in La Brévine,                              steht, dennoch nie wieder. Zwar hatte der wirtschaft-
                      dem eisigsten Dorf der Schweiz          lich höchst erfolgreiche Auslandschweizer seiner Heimatstadt Neuenburg
                                                              ein immenses Vermögen vermacht. David war punkto Finanzen ein Goliat.
            13 Politik                                        Darum die Statue. Seit aber ins breite Bewusstsein gedrungen ist, dass
                      Sollen Konzerne für Schäden haften,     ­De Pury einen wesentlichen Teil seines Vermögens als Sklavenhändler
                      die sie im Ausland anrichten?           ­verdiente, hat sich das Verhältnis zu ihm merklich abgekühlt. Darum die
                                                              ­Farbbeutel.
            16 Literaturserie                                     De Pury steht für jene Entrepreneurs, dank deren die Schweiz zeitweilen
                      Charles-Albert Cingria, der             zur «Kolonialmacht ohne Kolonien» wurde. Neu ist das zwar überhaupt nicht.
                      Velo fahrende Schweizer Dichter         Aber die weltweit geführte «Black Lives Matter»-Debatte hat in der Schweiz
                                                              auch dieses geschichtliche Kapitel verstärkt ins Blickfeld gerückt, wie wir in
                      Nachrichten aus Ihrer Region            diesem Heft aufzeigen (Seite 20).
                                                                  Ist das nicht ärgerlich, weil einmal mehr am Lack der Schweiz gekratzt
            17 Kultur                                         wird? Nein, es ist heilsam: Eine Gesellschaft, die in der Lage ist, frühere
                      Streaming statt Kino: Schweizer Filme   ­Fehl­leistungen zu erkennen, ohne daran gleich zu zerbrechen, kommt w
                                                                                                                                   ­ eiter.
                      werden im Ausland greifbarer            Ein Beispiel dafür: Wenn die heutige Schweiz so sehr – und oft so erfolgreich
                                                              – auf Ausgleich und Kompromiss setzt, dann ist das auch gut verarbeitete Er-
            20 Gesellschaft                                   innerung an die Fehler und die eingeschlagenen Schädel von gestern.
                      Die Schweiz reibt sich an ihren             De Pury & Co. schärfen zudem unser Bewusstsein dafür, was der Histo-
                      kolonialistischen Abenteurern           riker Bernhard C. Schär in einem Satz zusammenfasst: «Die Schweiz findet
                                                              und fand nie nur in der Schweiz und in Europa statt.» Gerade die Fünfte
            23 Sport                                          Schweiz dürfte gut verstehen, worauf der Historiker anspielt: Schweiz ist
                      Hürdenläuferin Léa Sprunger             ­zuweilen überall. Oft im Guten. Manchmal halt auch im Schlechten.
                      schreibt Sportgeschichte                    Wie aktuell die Aussage «die Schweiz ist überall» ist, dokumentiert
                                                              die «Konzernverantwortungsinitative», über die wir am 29. November 2020
            24 Schweizer Zahlen                               abstimmen dürfen (Seite 13). Im Mittelpunkt der Abstimmungsdebatte steht
                                                              die Frage, ob Schweizer Konzerne für Schäden an Mensch und Umwelt
            25 ASO-Informationen                              ­haften sollen, die sie anderswo in der Welt verursachen.
                                                                  Sehr viel anders als die Frage, ob David De Pury sein Vermögen auf
            28 news.admin.ch                                  ­vertretbare Weise verdient hat, ist diese Abstimmungsfrage nicht. Aber
                                                              ­anders als während seiner Epoche stehen die international agierenden
            30 Gelesen / Gehört                               ­Konzerne von heute unter scharfer Beobachtung der Zivilgesellschaft.
                                                                                                                       MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR
            31 Herausgepickt / Nachrichten

            Titelbild: Das Denkmal des Neuenburger                                                  Herausgeberin der «Schweizer Revue»,
            Sklavenhändlers David De Pury wird nach                                      dem Informationsmagazin für die Fünfte Schweiz,
            einem Farbanschlag gereinigt. Foto Keystone                                     ist die Auslandschweizer-Organisation (ASO).

Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
SCHWEIZER REVUE - Auslandschweizer-Organisation
Briefkasten

Liebe Auslandschweizerin                                                                    Die Schweiz und die Corona-Pandemie
Lieber Auslandschweizer
                                                                                                                     Die Schweiz hat sich sehr seriös mit
Für einmal richtet die Auslandschweizer-Organisation (ASO) eine kleine, aber                                         Corona beschäftigt. Natürlich ist es
  wichtige Bitte an Sie: Bitte melden Sie Ihrer Schweizer Vertretung Ihre aktuelle,                                  schlimm, wenn Menschen die Perspek-
 persönliche E-Mail-Adresse. Viele Auslandschweizerinnen und -schweizer                                              tive oder die Arbeit verlieren. Aber die
 ­haben bei ihrer Schweizer Vertretung noch keine E-Mail-Adresse hinterlegt.                                         Schweiz hat schnell und für einmal un-
  Und etliche der registrierten Adressen sind nicht mehr aktuell. Die ASO empfiehlt                                  bürokratisch geholfen, ganz im Gegen-
Ihnen mit Nachdruck, die E-Mail-Adresse à jour zu halten. Das ist aus mehreren              satz zu vielen EU-Ländern.  DANIEL TRÄCHSEL, MARZELL, DEUTSCHLAND
Gründen wichtig.
       Schutz und Sicherheit: Die Corona-Pandemie hat eindrücklich vor Augen                Leider war die Schweiz – wie viele andere Länder auch – nicht
geführt, wie wichtig es ist, in Krisenzeiten erreichbar zu bleiben. Dank Ihrer              vorbereitet, das ist eine Tatsache. In Ländern, die vorbereitet
­aktuellen, persönlichen E-Mail-Adresse kann Ihre Schweizer Vertretung Sie im               waren, waren die Auswirkungen sehr viel weniger schlimm
                                Krisenfall unkompliziert und rasch kontaktieren.            (Südkorea, Hongkong, Taiwan, Singapur). Lernen wir etwas da-
                                Das verbessert Ihren Schutz und Ihre Sicherheit.            raus? Da bestehen angesichts des mangelnden kritischen Blicks
                                     Gewicht und Einfluss: Sind alle im Ausland             der Vierten Gewalt wohl Zweifel.       ADRIEN LOEWENSBERG, PORTUGAL
                                lebenden Schweizerinnen und Schweizer per E-Mail
                                erreichbar, steigt auch das politische Gewicht der          Ich denke auch, dass es ein Hilfssystem gab und dass insbeson-
                                Fünften Schweiz. Genau daran arbeitet die ASO:              dere der Bundesrat sehr hart arbeitete, um dem Land zu hel-
                                Sie will Direktwahlen – Online-Wahlen – ins Parla-          fen (anders als in den USA, wo ein absoluter Wahnzustand
                                ment der Fünften Schweiz, den Auslandschweizerrat,          herrscht, ausser in den Staaten, in denen die Gouverneure über
 möglich machen. Sind die E-Mail-Adressen verfügbar, können alle Ausland-                   gesunden Menschenverstand verfügen). Zu wissen, dass meine
schweizerinnen und -schweizer eingeladen werden, an einer Direktwahl teilzu­                in Genf lebende Mutter falls nötig hätte Hilfe beantragen kön-
 nehmen, wobei derzeit noch offen ist, wann eine solche Wahl erstmals stattfinden           nen, hat mir geholfen. Aber viele der kleinen Angestellten in
 kann. Fest steht: Direktwahlen erhöhen die Legitimität des Auslandschweizerrats.           Hotels, Restaurants oder im Putzdienst erhielten nicht die nö-
  Und in der Folge kann sich die ASO in der Schweiz mit mehr Gewicht und Einfluss           tige Unterstützung: Die langen Warteschlangen vor einer Aus-
  für die Anliegen der Auslandschweizerinnen und -schweizer einsetzen.                      gabestelle für Grundnahrungsmittel in Les Vernets (GE) spricht
       Schliesslich ist Ihre E-Mail-Adresse nützlich, wenn in Ihrem Land die Postzu-        Bände.              GUILL AUME DE SYON, LANCASTER, PENNSYLVANIEN, USA
stellung schlecht funktioniert und Sie zum Beispiel die gedruckte «Schweizer
Revue» sehr spät oder gar nicht erhalten. In diesem Fall lohnt es sich, von der
gedruckten Ausgabe auf unsere kostenlose Online-Ausgabe zu wechseln. Nach                   Das Volk entscheidet über den Vaterschaftsurlaub
einem Wechsel erhalten Sie jeweils per E-Mail einen Hinweis auf die neusten
Inhalte der «Revue».                                                                                                 Ich bin überrascht, dass die Schweiz als
       In jedem Fall gilt: Melden Sie Ihre E-Mail-Adresse nicht der ASO, sondern                                     eines der reichsten Länder der Welt in
Ihrem Konsulat. Aus Datenschutzgründen hat die ASO keinen Zugriff auf Adressen                                       dieser Sache so rückständig ist. Alle
der im Ausland lebenden Schweizerinnen und Schweizer. Betreut wird die Adress-                                       Mütter wissen, wie kräftezehrend eine
datenbank letztlich durch das Eidgenössische Departement für auswärtige Ange-                                        Geburt ist. Da ist die Unterstützung
  legenheiten (EDA). Sie können neue oder geänderte E-Mail-Adressen auch ganz                                        vonseiten des Vaters sehr wichtig – so-
  unkompliziert selber erfassen, nämlich auf der Website des EDA: www.eda.admin.            wohl für das Neugeborene als auch für die Mutter. Vater-
ch/swissabroad. Dieser Online-Schalter ist übrigens ohnehin eine bequeme Mög-               schaftsurlaub ist eine Investition, die sich lohnt; nicht nur für
  lichkeit, um von zuhause aus Dienstleistungen der Schweizer Behörde in Anspruch           die ganze Familie, sondern für das ganze Land. 
zu nehmen.                                                                                                                         RONALD THOMA, ONTARIO, KANADA
       Nun bleibt mir noch, Ihnen alles Gute, Gesundheit und viel Vergnügen bei der
Lektüre der neusten «Schweizer Revue» zu wünschen.                                          Als ein seit Jahren in Deutschland lebender Expat bin ich ent-
                                                                                            setzt darüber, wie rückständig die Schweiz in solchen Dingen
Ariane Rustichelli                                                                          ist. Es beginnt schon beim Begriff «Vaterschaftsurlaub». Ein klei-
ASO-Direktorin                                                                              nes Kind zuhause zu haben hat nicht das Geringste mit Urlaub
                                                                                            zu tun: Es ist wundervolle, aber kräftezehrende Arbeit, und
                                                                                            zwar für viele Jahre. Folgerichtig heisst es in Deutschland des-
                                                                                            halb auch nicht «Urlaub», sondern «Elternzeit». Und die kann auf
                                                                                            beide Eltern verteilt werden, statt alles wie in der Schweiz voll
                                                                                            zu Lasten der Frau gehen zu lassen.       ANDRÉ TSCHACHTLI, DEUTSCHLAND

                                                                                                                                        Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
SCHWEIZER REVUE - Auslandschweizer-Organisation
5

                                                                                        Die Corona-Pandemie in der Schweiz

Ich bin voll dagegen! Ein Vater kann seine Ferientage für die
Betreuung des Kindes einsetzen, oder wenn möglich in den
acht Monaten vor der Geburt Stunden vorarbeiten, um am Tag
selbst zu Hause zu sein! Ein Arbeitstag hat schliesslich nur acht
Stunden, die übrige Zeit kann er sich um das Baby kümmern                                    Ab Ende April lockerte der Bundesrat die in der Schweiz
und die Mutter so entlasten! CL AUDE-ALAIN GUYOT, CIREY, FRANKREICH                         geltenden Corona-Regeln schrittweise und beendete An-
                                                                                             fang Juni den Lockdown. Die Kehrseite der Lockerungen:
In der Schweiz herrschen bezüglich Familienunterstützung                                     Die Zahl der Neuinfektionen stieg wieder an. Anfang Juli
mittelalterliche Zustände. Schon zehn Tage scheinen ange-                                    wurden deshalb die Schutzmassnahmen wieder verschärft.
sichts der Leistung eines Schweizer Angestellten erbärmlich.                                 Nebst neuen landesweit geltenden Bestimmungen wie der
Es müssten sechs Monate für beide Eltern sein, wovon mindes-                                 Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr gelten in einzelnen
tens 16 Wochen der Mutter zustehen. Komischerweise sind die                                  Kantonen zusätzliche Einschränkungen. Die wichtigsten
Kritiker dieses viel zu bescheidenen Projekts ausgerechnet jene                              Einträge aus unserer Corona-Chronologie:
Leute, die der Wirtschaft junge Männer zwischen 25 und 40
Jahren vorenthalten wollen, die drei bis vier Wochen PRO JAHR                                6. Juni 2020: Umfassende Lockerungsschritte
während dieser Absurdität, die sich WK nennt, auf Kosten der
Steuerzahler Däumchen drehen und Runden trinken. Dieser                                      Der 6. Juni gibt vielen ein Stück vertrauten Alltag zurück:
für die Arbeitgeber massive wirtschaftliche Verlust auf Kosten                               Alle Bildungseinrichtungen dürfen ihren Betrieb wieder
der Allgemeinheit mit null Ergebnis für die Sicherheit scheint                               aufnehmen, ebenso Schwimmbäder, Zoos, Botanische Gär-
sie nicht zu stören.                                     MATTHIEU HÖSLI, FRANKREICH         ten, Theater, Kinos, Restaurants, Bars, Bergbahnen.

                                                                                             21. Juni 2020: Lockere Stimmung, fatale Folgen
Die «Begrenzungsinitiative» und
das Verhältnis der Schweiz zur EU                                                            Das Leben wird lockerer - und schon werden erste «Super-
                                                                                             spreader» geortet: infizierte Personen, die an Partys über-
Ganz unabhängig davon, dass bei zunehmender Globalisierung                                   durchschnittlich viele andere anstecken. Zu «Supersprea-
die Schweiz von einer Annäherung an die Europäische Union                                    dern» zählen auch Ferienrückkehrer, z. B. aus Serbien.
wirtschaftlich profitieren wird, ist ein politisch starkes, fried-
liches Europa ganz im Interesse der Schweiz.                                                 30. Juni 2020: Steigende Fallzahlen
                                          CHRISTOPH T WERENBOLD, KÖLN, DEUTSCHL AND
                                                                                             Ende Juni melden die Behörden erstmals wieder Neuan-
Jetzt, da die grossen Branchen abverkauft und die Schweiz nur-                               steckungen im dreistelligen Zahlenbereich. Die Zahlen
mehr Dienstleister und Handlanger der Welt ist, sollte es für                                sind damit so hoch wie im März 2020, unmittelbar vor der
alle klar sein: Das ist der falsche Weg. Diese ganze linke Denk-                             Verfügung der einschränkenden Notmassnahmen.
weise ist Gift für das Land. Die Schweiz muss wieder werden,
was sie einmal war: ein innovatives, erfolgreiches und gebilde-                              6. Juli 2020: Maskenpflicht in Bus und Bahn
tes Volk. Nicht das eigene Bildungssystem schlecht machen,
sondern wieder kreativ und innovativ werden! Die Welt ist                                    Die Schweiz führt angesichts der Entwicklung in sämtli-
gross und voller Möglichkeiten, im Vergleich dazu ist die EU                                 chen öffentlichen Verkehrsmitteln – Bahn, Bus, Seilbahn,
klein und schwächt sich selbst.                                                             Schiff – die Maskentragpflicht ein.
                                ULRICH HALTINER, DUBAI, VEREINIGTE ARABISCHE EMIRATE

                                                                                             8. August 2020: Nach den Ferien in die Quarantäne
Die Schweiz muss unbedingt neutral bleiben. Deshalb wäre ein
vernünftiger Beitrag an die EU für eine gute Zusammenarbeit                                  Wegen angesteckten Ferienrückkehrern gilt neu: Wer aus
und für das Gemeinwohl wünschenswert. Es wäre falsch, sich                                   einem Risikoland zurückkehrt, muss sich zehn Tage in Qua-
in ein starres System drängen zu lassen – schliesslich funktio-                              rantäne begeben. Bei ihrer Aktualisierung vom 8. August
niert eine Partnerschaft im Konkubinat ja auch, man muss                                     zählte die Liste 42 europäische und aussereuropäische Län-
nicht immer gleich heiraten. 	                                                              der. Zur Liste: www.ogy.de/quarantaenepflicht
                                 KURT FEHLMANN, HERVEY BAY, QUEENSL AND, AUSTRALIEN
                                                                                             Die umfassende Chronologie ab April 2020 ist unter www.revue.ch zu finden.
Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
SCHWEIZER REVUE - Auslandschweizer-Organisation
6      Schwerpunkt

Mobilfunk: Wie 5G die Schweiz entzweit
Die hochfliegenden Pläne des Bundes und der Telekomkonzerne, die Schweiz mit dem neusten Mobilfunkstandard zu versorgen,
stossen in der Bevölkerung auf Widerstand. Im Hightech-affinen Alpenland ist ein Glaubenskrieg um den Fortschritt ausgebrochen.

SUSANNE WENGER
Eine Ziffer, ein Buchstabe: 5G. Das
Kürzel bezeichnet die neuste Genera-
tion der Mobilfunktechnologie. Sie er-
laubt es, noch grössere Datenmengen
noch schneller hin und her zu schi-
cken, als der heute in der Schweiz ver-
breitete 4G-Standard dies kann. Jede
neue Mobilfunkgeneration erweiterte
die Möglichkeiten, was bei den Kon-
sumentinnen und Konsumenten bis-
her gut ankam. Schweizerinnen und
Schweizer geben im internationalen
Vergleich viel Geld aus für digitale Ge-
rätschaften, mit denen sie mobil im
­Internet surfen. Sie streamen Musik
und Filme, tätigen Videoanrufe, nut-
zen Apps. Die Schweiz ging denn auch
international voran, als der Bund An-
fang 2019 die ersten 5G-Frequenzen
versteigerte.
    5G sei «von zentraler Bedeutung»
für die Digitalisierung des Landes,
­befand die Regulierungsbehörde, die
die Konzessionen erteilte. Drei Unter-
nehmen erhielten den Zuschlag: ne-
ben dem halbstaatlichen Marktführer
Swisscom auch Sunrise und Salt. Sie
bezahlten dafür 380 Millionen Fran-
ken in die Bundeskasse. Swisscom­
Konzernchef Urs Schaeppi begründet
die technologische Aufrüstung mit
der wachsenden Mobilfunknutzung.
Diese verdopple sich alle achtzehn
Monate: «Wir müssen das Netz jetzt
ausbauen, bevor wir Datenkolonnen
und Datenstaus haben», sagt er.

Tech-Pionierin Schweiz
Zugleich soll 5G in der Schweiz die In-
novation beflügeln. Dank dem ultra-
schnellen Datenfluss durch die Luft                              Max Spring zeichnet für die «Schweizer Revue».

                                                                                                                  Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
SCHWEIZER REVUE - Auslandschweizer-Organisation
7

lassen sich gemäss den Promotoren
Maschinen und Geräte in Echtzeit ver-
netzen. Dieses «Internet der Dinge»
soll unser Zuhause klug machen und
der Industrie dienen. 5G ermögliche
auch selbstfahrende Autos, Telemedi-
zin, virtuelle Realitäten und «Smart
Cities»: technologisch vernetzte, kli-
mafreundliche Städte der Zukunft.
Durch den Vorsprung bei der 5G-Fre-        gesundheitlichen Gefahren durch die         Wie hier in Genf            Gruppe jener, die sich explizit von
quenzvergabe schickte die Schweiz          elektromagnetische Strahlung. Sie           fanden in Schweizer         ­ihnen abgrenzt: Heimat- und Natur-
                                                                                       Städten schon etliche
sich an, zur Pionierin zu werden. Eine     sorgen sich um Ortsbilder, steigenden                                   schützer, Konsumkritikerinnen, Digi-
                                                                                       Demonstrationen
Rolle, in der sich das Land bei techno-    Energieverbrauch, die Umwelt. Und           gegen den Mobilfunk­        talgestresste, Strahlensensible, die
logischem Fortschritt gerne sieht.         sie weisen auf Überwachungsrisiken          standard 5G statt.          Ärztinnen und Ärzte für Umwelt-
                                                                                       Foto Keystone
      Doch die Offensive wurde ge-         hin, wenn technische Komponenten                                        schutz, linksgrüne und rechtskonser-
bremst. Das 5G-Netz ist zwar inzwi-        aus China eingebaut werden. «Im                                         vative Politikerinnen und Politiker.
schen an einigen Orten verfügbar,          ­Zentrum steht die Gesundheit», unter-                                  SP-Nationalrätin Martina Munz (SH)
wenn auch meist erst in einer Schmal-      streicht Rebekka Meier. Die Solothur-                                   trug deren Bedenken ins Bundespar-
spurversion. Denn die Betreiber kön-       ner Uhrenmacherin ist Vorstands­                                        lament.
nen nicht so rasch vorwärtsmachen          mitglied beim Verein «Schutz vor                                           Munz sagt, sie sei nicht technolo-
wie geplant. In der Zivilgesellschaft      Strahlung». Ihre Befürchtung: Mit                                       giefeindlich. Doch die Schweiz müsse
hat sich Opposition gegen 5G formiert.     der gesteigerten Sendeleistung von                                      die 5G-Technik mit möglichst gerin-
Bürgerbewegungen opponieren ge-            5G nehmen die negativen Effekte der                                     ger Strahlenbelastung einführen:
gen Baugesuche für 5G-Antennen mit         Mobilfunkstrahlung zu, «in einem                                        «Acht Prozent der Bevölkerung be-
Einsprachen. Als 5G-kritische Vereine      Mass, das alles Bisherige übersteigt».       Der Ausbau auf 5G          zeichnen sich als elektrosensitiv.» Statt
zur nationalen Kundgebung riefen,                                                      ­erfordert schweizweit      die 5G-Signale jede Mauer durchdrin-
                                                                                        den Bau neuer Anten­
kamen Tausende nach Bern. In Ge-           «Künstliche Bedürfnisse»                     nen, was vielenorts
                                                                                                                   gen zu lassen, schliesse die Schweiz
meinde- und Kantonsparlamenten                                                          die Gegner auf den         die Häuser besser an ein gutes Glasfa-
wurden politische Vorstösse einge-         Die Innovationsversprechen der Tele-         Plan ruft. Foto Keystone   sernetz an, fordert die Nationalrätin.
reicht, in Kirchgemeinden wurden           kombranche hält Meier für Marketing:
5G-Antennen in Kirchtürmen abge-           «Da werden künstliche Bedürfnisse
lehnt. Und obwohl der Bund zustän-         erzeugt.» Wegen des «Datenhungers
dig ist, erliessen Westschweizer Kan-      von Einzelnen, die jederzeit hochauf-
tone 5G-Moratorien für ihre Gebiete.       lösend streamen wollen», dürfe nicht
Vereinzelt gab es gar Vandalenakte an      das ganze Land mit solchen Sende-
Sendemasten – der Maschinensturm           masten überzogen werden. Gewisse
des digitalen Zeitalters.                  sinnvolle Anwendungen wie etwa in
                                           der Medizin liessen sich auch strah-
«Im Zentrum steht die Gesundheit»          lungsarm realisieren, ist sie über­zeugt.
                                              Die 5G-Gegnerschaft in der
Die Kritikerinnen und Kritiker for-        Schweiz ist bunt gemischt. Hier die
dern ein 5G-Moratorium für die ganze       schwer verständlichen Verschwö-
Schweiz. Sie warnen vor ungeklärten        rungstheoretiker, dort die grosse

Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
SCHWEIZER REVUE - Auslandschweizer-Organisation
8      Schwerpunkt

So bleibe man laut Munz in der Woh-
nung vor unerwünschter Funkstrah-
lung geschützt.
    Wie viel solche Strahlung den Leu-
ten zugemutet wird, ist in der Schweiz
gesetzlich festgelegt. Die geltenden
Grenzwerte beim Mobilfunk will der
Bundesrat beibehalten, wie er im
Frühling entschied. Damit kam die
Landesregierung eher den 5G-Kriti-       Die Befürworter des            ternehmen in den letzten zwanzig
schen entgegen als der Telekombran-      5G-Standards sehen             Jahren zwar immer wieder rechnen.
                                                                                                                   «Die Seele verkauft»
                                         die Technologie auch
che. Diese wünschte sich eine Locke-                                    Doch so stark wie bei 5G war der            In der Schweiz stehen die Kirchen oft mitten
                                         als Schlüsselelement
rung, um weniger Antennen installie-     für selbstfahrende             ­Widerstand noch nie. «Irrational» sei      im Dorf. Die zentrale Lage und die Höhe der
ren zu müssen.                           Fahrzeuge. Im Bild             dies, befand die einflussreiche liberale    Kirchtürme machen Letztere zu begehrten
                                         ein Testfahrzeug der           Denkfabrik Avenir Suisse. Die bürger-       Standorten für Mobilfunkantennen. Versteckt
                                         Post in Sitten.
5G-Promotoren betonen Chancen            Foto Keystone
                                                                        liche «Neue Zürcher Zeitung» wiede-         im Glockenturm stören die Sendemasten das
                                                                        rum sieht eine «Querfront gegen den         Ortsbild kaum. Zudem bringen die Verträge mit
Mit Einsprachen gegen Sendeanlagen                                      Fortschritt» am Werk. Die Telekom-          den Telekomunternehmen den Kirchgemeinden
mussten die Schweizer Mobilfunkun-                                      branche selber warnt vor gravieren-         Geld ein. Auf Druck der Basis lehnten es trotz-
                                                                        den Auswirkungen auf die Leistungs-         dem schon mehrere von ihnen ab, bestehende
                                         Martina Munz (SP):
                                         «Acht Prozent der              fähigkeit der Kommunikationsnetze           Sendeanlagen auf 5G umzurüsten oder neue
                                         Bevölkerung be-                und fordert mehr Unterstützung              5G-Antennen im Turm zu installieren. So zum
                                         zeichnen sich als              durch die Politik. Im nationalen Par-       Beispiel in Oberburg (BE), in Alpnach (OW), in
                                         elektrosensitiv.»              lament werden nun befürwortende             Kriegstetten (SO) und in Belfaux (FR). Nebst
                                         Foto parlament.ch
                                                                        Stimmen laut, bei Grünliberalen und         Angst vor Elektrosmog äusserten Gemeinde-
                                                                        Freisinnigen: Die 5G-Digitalisierung        mitglieder auch ethische Bedenken. Die Kirche
                                                                        biete Chancen, nicht nur wirtschaft-        dürfe nicht «ihre Seele verkaufen», sagte ein
                                                                lich, auch punkto Nachhaltigkeit, zum               Diskussionsteilnehmer in Kriegstetten gemäss
                                         Christian Wasserfallen
                                         (FDP): «Neunzig Pro-   Beispiel in der Landwirtschaft.                     einem Bericht der Lokalzeitung. Als in Alpnach
                                         zent der Strahlung,        Zu den gesundheitlichen Beden-                  ein Votant zu bedenken gab, dass doch «über
                                         die wir aufnehmen,     ken sagt der freisinnige Nationalrat                unsere Kirchtürme schon immer Informationen
                                         stammt vom eigenen     Christian Wasserfallen (BE): «Neunzig               vermittelt wurden», blieb er in der Minderheit. 
                                         Smartphone.»
                                         Foto parlament.ch      Prozent der Strahlung, die wir auf-                                                          (SWE)
                                                                        nehmen, stammt vom eigenen Mobil-
                                                                        funkgerät, nicht von der Sendean-
                                                                tenne.» Er fordert deshalb vom Bund                die bewahrenden Kräfte durchsetzen,
                                         Rebekka Meier,
                                         5G-Gegnerin: «Da wer-  eine Informationskampagne zu 5G.                   wird wohl an der Urne entschieden:
                                         den künstliche Bedürf- Ob das genügt, wird sich zeigen. Fest              Gleich fünf kritische Volksinitiativen
                                         nisse erzeugt.»        steht: Viele Schweizerinnen und                    zu 5G sind angekündigt. Vor laufender
                                         Foto schutz-vor-strahlung.ch
                                                                        Schweizer wollen mitbestimmen,             TV-Kamera sagte dazu einer der Geg-
                                                                        wenn die technologische Infrastruk-        ner: «Ein Volksaufstand ist im Gang!»
                                                                        tur des 21. Jahrhunderts errichtet wird.
                                                                        Ob sich dabei die Modernisierer oder

                                                                                                                                       Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
SCHWEIZER REVUE - Auslandschweizer-Organisation
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                                    «Technik ist nie apolitisch»

                                     Dass 5G in der Schweiz auf Widerstand stösst, verwundert Historikerin Daniela Zetti nicht.
                                     Es gehe um viel mehr als nur Mobilfunktechnik.

                                     INTERVIEW: SUSANNE WENGER                                     Die 5G-Förderer von heute argumentieren ebenfalls, die Schweiz
                                     Daniela Zetti, überrascht Sie der vehemente Widerstand        brauche diese Technologie, um nicht ins Hintertreffen zu geraten.
                                     gegen 5G in der Schweiz?                                      Dieses Argument wird stabil seit den 1970er-Jahren vorge­
                                     Nein, gar nicht. Mich überrascht vielmehr, wie spät ver­      bracht, wenn es um Digitalisierung geht. Dabei wird jeweils
                                     breiteter Widerstand einsetzt. Das digitale Mobilfunknetz     innovative Zukunft entworfen und versprochen. Das über­
                                     der Schweiz entstand 1993. Technologie ist im nationalen      lagert gerne die Auswirkungen auf die Lebenswelt. So sind
                                     Selbstverständnis der Schweiz sehr wichtig. Das zeigt sich    für ein flächendeckendes 5G viele Antennen mit jeweils
                                     etwa daran, dass Errungenschaften wie die Überwindung         ­geringer Reichweite erforderlich. Ausserdem stehen die
                                     des Gotthards oder der Verzasca-Staudamm Technik­             Fragen im Raum, wozu diese Mobilfunktechnologie dient,
                                                Monumente geworden sind. Man reist zu ihnen        wer zu ihr Zugang hat und wer von ihr profitiert. Ich habe
                                                hin wie zu Naturdenkmälern. Gerade weil die        den Eindruck, dass es 5G an Allianzen fehlt, die der Schwei­
                                                Schweiz viel Technologie und technologische        zer Bevölkerung einen breiten Nutzen aufzeigen können.
                                                ­Infrastruktur aufweist, wurde immer schon in­
                                                tensiv darüber diskutiert, auch kontrovers. Das    Die meisten nutzen doch Smartphones und wollen eine
                                                war stets auch Selbstverständigung darüber, in     gute Netz­abdeckung.
                                                welchem Land man leben will.                       Die gute Netzabdeckung ist in der Schweiz weitgehend
                                                                                                   ­gewährleistet. Bleibt der Versuch, Dinge wie das selbst­
                                                Gibt es mit 5G vergleichbare Kontroversen          fahrende Auto als gesamtgesellschaftlichen Fortschritt
                                                in der Schweizer Technikgeschichte?                ­auszurufen, den 5G möglich mache. Doch löst das womög­
                                                Ein kleines, aber modellhaftes Beispiel ist der    lich Faszination und Schrecken zugleich aus und dürfte
                                                Kurzwellensender im bernischen Schwarzen­          kaum ausreichen, um breite Kreise mitzunehmen.
                                                burg, den die damalige PTT 1939 in Betrieb nahm.
           Daniela Zetti             Schweizer Radio International verbreitete über den Sender     Wie lassen sich, historisch gesehen, verhärtete Kontroversen
   ­promovierte an der               Nachrichten in die ganze Welt, doch in der lokalen Bevöl­     um Technologien auflösen?
          ETH ­Zürich in
                                     kerung regte sich mit der Zeit Widerstand. Es gab gesund­     Durch das Aushandeln im demokratischen Prozess. Tech­
    ­Technikgeschichte.
        Heute lehrt und              heitliche Probleme, in den Abflussrinnen der Dächer war       nik ist nie apolitisch, sie hat immer eine gesellschaftliche
      forscht sie an der             Musik zu hören, ein permanentes Surren lag in der Luft.       Dimension. Die Mobilfunk-Netzbetreiber begegnen jetzt
   Universität Lübeck.               Da zeigt sich ein weiterer Grund, warum gerade in einem       der Skepsis mit Sicherheitsbeteuerungen. Sie verweisen da­
                                     technisierten Land solche Opposition entstehen kann:          rauf, dass es keinen wissenschaftlichen Beleg für Gesund­
                                     Die Technik wird in die Landschaft gesetzt, wo sie zu leben   heitsschäden gebe. Das erinnert mich an das Beispiel der
                                     anfängt. Man kann sie sehen, hören, spüren, als Schatten­     AKW-Betreiber. Überrascht vom heftigen Widerstand, ver­
                                     infrastruktur, die den Körper bedrohen kann.                  suchten Experten mit Studien und Statistiken aufzuzeigen,
                                                                                                   wie überaus gering das Risiko eines Unfalls für den Einzel­
                                     Auch die 5G-Gegnerinnen und -Gegner bringen gesundheitliche   nen sei. Die Strategie ging nicht auf. Die rein technische
                                     Bedenken vor.                                                 ­Risikoabschätzung erfasste die vielfältigen Anliegen und
                                     Ja, doch während früher die PTT mit der Autorität ihres       Bedenken der Kernenergie-Gegner nicht – vom Gewässer­
                                     ­Monopols sagen konnte, die Schweiz brauche diesen            schutz bis zum Föderalismus.
                                     ­Sender, stehen heutige Mobilfunkunternehmen im libe­
                                     ralisierten Markt unter grösserem Rechtfertigungsdruck.
                                     Gleich­zeitig sind sie unter Wettbewerbsdruck. In den
                                     1990er-Jahren gab es durch den Zugang zur Infrastruktur
                                     der neuen Telekommunikationsmöglichkeiten viel Geld
                                     zu verdienen. Das ist vorbei.

Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
SCHWEIZER REVUE - Auslandschweizer-Organisation
10   Reportage

                 La Brévine macht seine Kälte
                 selbst im Sommer zum Markenzeichen
                 La Brévine, das Dorf im Neuenburger Jura, hält den Rekord als kältester bewohnter Ort der Schweiz.
                 Der Klimawandel bringt allerdings die Schneeverhältnisse und die Kälterekorde durcheinander.
                 Doch La Brévine bleibt ein Besuchermagnet.

                 STÉPHANE HERZOG                             in einer Talsenke und hält mehrere         Wer durch die Strassen des kleinen
                 Ich komme an einem windigen Som-            Kälterekorde, darunter die tiefste je an   Dorfes schlendert, das von vier Ver-
                 mertag im Juli in La Brévine an. Das        einer lokalen Station von Meteo-           kehrsachsen durchquert wird, wird
                 Tal ist in Nebel gehüllt. Als ich auf dem   Schweiz gemessene Temperatur der           auch im Sommer ins Reich der Kälte
                 Dorfplatz aus dem Bus steige, fröstelt      Schweiz: Am 12. Januar 1987 fiel das       entführt. Das Geschäft, in dem Besu-
                 es mich. Wird meine sommerliche             Thermometer auf klirrende -41,8 °C.        cher im Sommer Langlaufski auf Rol-
                 Kleidung – ein T-Shirt und eine Regen-      Damit hält La Brévine den Rekord als       len leihen können, heisst Siberia
                 jacke – angesichts des hiesigen Klimas      kältester bewohnter Ort der Schweiz.       Sports. Ein zurzeit geschlossenes
                 genügen? Ein Blick auf das digitale         «Am kältesten ist es frühmorgens,          Gasthaus trägt den Namen «Au Loup
                 Thermometer am Dorfplatz zeigt: Es          wenn die Sonne aufgeht. Eigentlich er-     Blanc» – Zum Weissen Wolf. Dahinter
                 ist gerade einmal 18 °C. Ich spüre den      wartet man, dass es dann wärmer            liegt das Möbelhaus Alaska. Und dann
                 Effekt von La Brévine! Die Neuenbur-        wird, doch die Sonnenstrahlen halten       ist da L’Isba, ein altes Café-Restaurant.
                 ger Gemeinde im Juramassiv liegt auf        die Kälte am Boden», erklärt Gemein-       Nicht alle macht die eisige Reputation
                 etwas mehr als 1000 Meter über Meer         depräsident Jean-Maurice Gasser.           des Dorfes glücklich: «Viele glauben,

                                                                                                                        Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
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                                                                                         La Brévine, das «Sibi-
                                                                                         rien der Schweiz»,
                                                                                         ist auch im Sommer
                                                                                        ein frischer Ort. Aber
                                                                                        Gemeindepräsident
                                                                                        Jean-Maurice Gasser
                                                                                        (links), die Landwirte
                                                                                        Kevin und Grégory
                                                                                        Hughenin (Mitte) so-
                                                                                        wie Geneviève Kohler,
                                                                                        die Präsidentin des
                                                                                        Verschönerungsver-
                                                                                        eins von La Brévine
dass wegen der Temperaturen auch            vine, um die Kälte zu feiern», freut sich                             ist auf Schnee angewiesen, um sein
                                                                                        (rechts), haben sich
die Menschen von kaltem Gemüt sind,         der Präsident, der für die Renovierung       bestens mit dem          Sportgeschäft am Laufen zu halten.
obwohl die Kälte in Wirklichkeit ja         und Umgestaltung des Hotel-Restau-          ­Klima arrangiert.        Ihm ist bewusst, dass die Jahre mit
nichts ändert und wir alle unseren Ge-      rants Hôtel-de-Ville verantwortlich         Fotos Danielle Liniger    idealen Schneebedingungen für Lang­
schäften nachgehen», sagt Jean-Daniel       zeichnete. Es ist Eigentum der Ge-                                    lauf und Schneeschuhwandern der
Oppliger, Inhaber des Hotels und Re-        meinde und lädt mit 27 Betten Touris-                                 Vergangenheit angehören: «Im letzten
staurants Hôtel-de-Ville. Er ist Mitin-     ten zur Übernachtung ein. Im grossen                                  Winter hat es so gut wie gar nicht
itiator der «Fête du Froid», die erstmals   Saal auf der Rückseite finden Gemein-                                 ­geschneit. Die Leute konnten nur drei-
2012 stattfand, als eine eisige Bise        deveranstaltungen statt. La Brévine                                   oder viermal langlaufen. Von den
durchs Tal fegte.                           und seine 630 Einwohnerinnen und            Schweiz                   163 km Loipen, die wir hier im Tal
                                            Einwohner sind wirtschaftlich recht            e trem                 ­normalerweise anbieten, konnten nur
Wärmere Winter –                            gut gestellt. «Die Finanzen sind ausge-                               30 km gespurt werden.» Während sei-
                                            glichen», sagt Jean-Maurice Gasser.                                   nes bisherigen Lebens haben sich die
und Sommer mit 30 °C
                                            Dennoch würde er sich freuen, wenn          Höher, weiter,            Temperaturen im schweizerischen
Die Kälte, die den Atem in der Nase ge-     mehr Menschen in die Gemeinde zö-           schneller, schöner?       Klein-Sibirien vollkommen verändert:
frieren lässt, ist in La Brévine zu einem   gen, denn die Einwohnerzahl sinke.          Auf der Suche nach        «Als ich ein Kind war, schwankten die
                                                                                        den etwas anderen
Marketingfaktor geworden. «Bis zu               Pascal Schneider, Inhaber von                                     Temperaturen häufig drei Wochen
                                                                                        Schweizer Rekorden.
5000 Besucher aus der Schweiz und           ­Siberia Sports, bessert sein Einkom-       Heute: Die kälteste       lang zwischen -15 und -30 °C. Heute
aus Frankreich kamen nach La Bré-           men im Sommer als Schreiner auf. Er         Schweizer Gemeinde.       haben wir manchmal an einem Mor-

Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
12      Reportage

gen -25 °C und zwei Tage später Regen.
Im Sommer 2019 lag die Temperatur
14 Tage lang bei 30 °C.» 2006 erzielte
La Brévine einen neuen Temperatur-
rekord: plus 36 °C.

Kaltes Wetter und Herzenswärme
Im Sommer sind die Nächte kühl und
bereits ab Mitte August kann der erste
Frost auftreten. Die Touristen, die La
Brévine besuchen, haben jedenfalls
stets das Thermometer im Kopf.
«Meine Kunden sagen mir, es sei hier
gar nicht so kalt», berichtet der Inha-
ber des Sportgeschäfts. Wenngleich
die Kälte im Winter um einige Grad
abgenommen hat, müssen die Bauern                      Das winterliche               Grégory Huguenin zusammen, der            Schnees und der Kälte. Geneviève
auf den Hochlagen des rund 20 km                       ­Postkartenbild von           sich an seinen ersten Arbeitswinter in    Kohler, die Präsidentin des Verschö-
                                                        La Brévine. Liegt
langen Tals dennoch deutlich härter                                                  Le Cernil mit Temperaturen von -15 °C     nerungsvereins, nimmt mich zu Sta-
                                                      ­ausreichend Schnee,
arbeiten als anderswo in der Schweiz.                   lockt das Dorf im            und fast -30 °C auf ihrem Hof in Le       tion 13 mit: In dem schön gemauerten
In Le Cernil, auf 1200 Meter über Meer,               Jura trotz der Kälte           Brouillet erinnert. Trotzdem oder         Gebäude, in dem die Eltern von Kevin
halten Kevin und Grégory Huguenin                      Schneeschuhwande-             vielleicht genau deswegen lieben die      und Grégory Huguenin leben, verbirgt
                                                        rer und besonders
100 Kühe. Sie erzählen, wie ihre Tage                                                beiden Brüder, die bereits der siebten    sich eine alte eisenhaltige Heilquelle.
                                                       die Skilangläuferin-
in der bitteren Kälte verlaufen. Ihre                   nen und -läufer.             Generation von Huguenins im Tal an-          Auch der Dorfbach, Le Bied, er-
Arbeit beginnt um 5 Uhr morgens.                      Foto Keystone                  gehören, ihre Heimat. Den harten          zählt eine Geschichte. Er verschwin-
     Manchmal müssen sie die zugefro-                                                Witterungsbedingungen begegnet            det in einem Versickerungstrichter,
renen Türen mit Pickeln öffnen und                                                   man hier mit Herzenswärme. «Hier          einem natürlichen Brunnen, und
                                                                                                                               ­
die Rohre ihrer Viehtränken mit ei-                                                  kannst du bei jedem Nachbarn klin-        kommt erst im Val-de-Travers wieder
nem Brenner erwärmen. «Es ist ein                     Reproduziert mit Bewilligung
                                                                                     geln und wirst zum Essen eingeladen»,     an die Oberfläche. Dieser Trichter
ständiger Kampf gegen die Kälte», fasst               von swisstopo (BA200147)       sagt Kevin. «Das Tal hat zwar nicht       ­befindet sich in der Dorfmitte von La
                                                                                     viele Einwohner, nur rund 1500, aber      Brévine und ähnelt einer Schlucht.
                                                                                     die Menschen teilen, was sie haben»,      2018 kam es durch eine Verstopfung
                                                                                     ergänzt sein Bruder.                      zu einer Überschwemmung im Dorf.
                                                                                                                               «In den Häusern stand das Wasser
                                                                                     Kühle Sommernächte                        30 cm hoch», erinnert sich Gemeinde-
                                                                                                                               präsident Gasser. Der Inhaber des
                                                                                     Der Sommer beschert dem Tal und           ­Hôtel-de-Ville sieht in dem Versicke-
                                                                                     seinen drei Dörfern, von denen nur La     rungstrichter einen der Faktoren, die
                                                                                     Brévine Kälterekorde erreicht, son-       das sibirische Klima von La Brévine er-
                                                                                     nige Tage und kühle Nächte. Der Lac       klären. «In den anderen Bergtälern
                                                                                     des Taillières, der zwei Kilometer ent-   des Neuenburger Juras bleiben die
                                                                                     fernt liegt und im Winter gefriert,       Wasserläufe an der Oberfläche und
Die Geheimnisse der Kälte                                                            zieht Wind- und Kite-Surfer an. Das       nehmen die Kälte mit», meint Jean-Da-
Für das eisige Klima von La Brévine gibt es mehrere Ursachen. Eine davon ist,        Hochplateau ähnelt einer Steppe. Es       niel Oppliger. «Aber hier verschwin-
dass das Dorf in einer geschlossenen Talsenke liegt, in der die Kälte stag-          gibt zahlreiche wunderschöne Wan-         det der Bied und die Kälte bleibt.»
niert. Dieses meteorologische Phänomen wird als «Kaltluftsee» bezeichnet.            derwege, insbesondere einen Pfad          Kann das wirklich die Erklärung sein?
Es erfordert einen hohen Luftdruck, einen wolkenlosen Himmel, Windstille             mit Grenzmarkierungen zum benach-         Das wird wohl ein Geheimnis bleiben,
und Schnee. Bei einem Kaltluftsee kann auf den Pässen und Gipfeln ein                barten Frankreich, die 1819 gesetzt       doch in La Brévine erfordert das eisige
Temperaturunterschied von fast 30 °C zum Talboden herrschen. Dies zeigte             wurden. Ein Rundgang mit 18 Infor-        Klima zwangsläufig eine Vielzahl von
eine Ende 2014 durchgeführte Studie des Instituts für Geografie der Univer-          mationstafeln vermittelt eine Vorstel-    Erklärungen.
sität Neuenburg.                                                        (SH)        lung vom Leben in diesem Land des

                                                                                                                                               Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
Politik                                                                                                                                                    13

                                     Die Gretchenfrage der globalisierten Wirtschaft
                                     Sollen Schweizer Konzerne für die Schäden an Mensch und Umwelt haften, die sie anderswo in der Welt
                                     ­verursacht haben? Dies verlangt die 2016 eingereichte Konzernverantwortungsinitiative. Nach jahrelangem
                                     Seilziehen im Parlament hat am 29. November das Stimmvolk das letzte Wort.

                                     THEODORA PETER                          von den eigenen vier Wänden fernhält.     Die Konzerne sollen nicht nur zu einer
                                     In Sambia leiden Anwohner einer         Aus Sicht der Kritiker bleibt dies aber   Sorgfaltsprüfung verpflichtet werden,
                                     Kupfermine wegen Schwefelgaswol­        blosse Symptombekämpfung.                 sondern auch für Schäden haften, die
                                     ken an Atemwegserkrankungen. In            Auch andere Schweizer Rohstoff­        sie – oder von ihnen kontrollierte Un­
                                     Australien weist in der Minenstadt      konzerne stehen wegen ihres Ge­           ternehmen – durch Ver­letzung von
                                     Mount Isa jedes vierte Kind zu hohe     schäftsgebarens immer wieder im           Menschenrechten oder Umweltstan­
                                     Bleiwerte im Blut auf. In beiden Bei­   ­Visier der Kritik. So ist nicht auszu­   dards verursacht haben. Konkret sol­
                                     spielen geht es um Emissionen aus       schliessen, dass in Schweizer Raffine­    len Geschädigte bei einem Schweizer
                                     Betrieben, die mehrheitlich dem
                                     ­                                       rien veredeltes Rohgold aus zweifel­      Zivilgericht auf Schadenersatz klagen
                                     Schweizer Rohstoffkonzern Glencore      haften Minen mit menschenrechts­          können. Um einer Haftung zu entge­
                                     gehören. Im Fall der Kupfermine in      widrigen Arbeitsbedingungen stammt        hen, müsste das beklagte Unterneh­
                                     Sambia wurden die Richtwerte der        (mehr dazu siehe «Revue» 3/2019).         men nachweisen, alles getan zu haben,
                                     Weltgesundheitsorganisation WHO            Mit der Initiative «für verant­        um die Sorgfaltspflichten zu erfüllen.
                                     zeitweise massiv überschritten. Die     wortungsvolle Unternehmen – zum
                                     Betreiber haben den alten Schmelz­      Schutz von Mensch und Umwelt»             Zähes Ringen im Parlament
                                     ofen inzwischen ausser Betrieb ge­      (kurz: Konzernverantwortungsinitia­       Die Initiative schreckte die Wirtschaft
                                     nommen. Allgemein betont Glencore,      tive) will eine Allianz von 120 Hilfs­    auf, die ihr globales Geschäft und die
Alltagsszene aus der                 man habe bereits viel unternommen,      werken, Kirchen, Gewerkschaften,          unternehmerische Freiheit bedroht
sambischen Stadt                     um die Schadstoffbelastung zu senken.   Umwelt- und Menschenrechtsorgani­         sieht. In der Bevölkerung stösst das
Kankoyo, wo Men-                     In Australien finanzierte der Konzern   sationen die multinationalen Kon­         Anliegen gemäss Umfragen aber auf
schen direkt neben                   zudem TV-Spots, die der lokalen Be­     zerne mit Sitz in der Schweiz stärker     viel Sympathie. In der Folge setzte im
der Mopani-Kupfer-
mine leben.                          völkerung zeigen, mit welchen Putz­     in die Pflicht nehmen. Davon betrof­      eidgenössischen Parlament ein zähes
Archivbild 2015: Keystone            methoden man kontaminierten Staub       fen wären rund 1500 Unternehmen.          Ringen um einen Kompromissvor­
                                                                                                                       schlag ein. Der Nationalrat wollte den
                                                                                                                       Initianten entgegenkommen und im
                                                                                                                       Aktienrecht neue Haftungsregeln für
                                                                                                                       Unternehmen festschreiben. Damit
                                                                                                                       wäre das Kernanliegen der Initianten
                                                                                                                       erfüllt worden.
                                                                                                                           Dagegen stemmte sich aber der
                                                                                                                       Ständerat, dessen Mehrheit eine Re­
                                                                                                                       gulierung als unnötig und schädlich
                                                                                                                       für die Wirtschaft erachtete. Schliess­
                                                                                                                       lich einigten sich die beiden Parla­
                                                                                                                       mentskammern auf einen abge­
                                                                                                                       schwächten, sogenannt indirekten
                                                                                                                       Gegenvorschlag. Demnach sollen die
                                                                                                                       Unternehmen lediglich zur Bericht­
                                                                                                                       erstattung verpflichtet werden. Sie
                                                                                                                       müssten in ihren Geschäftsberichten
                                                                                                                       aufzeigen, wie sie die Sorgfaltspflich­
                                                                                                                       ten erfüllen. Die Regelung ist ver­
                                                                                                                       gleichbar mit der Rechenschafts-
                                                                                                                       pflicht in der Europäischen Union

Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
14    Politik

                                          Dick Marty:
                                          Konzerne wirtschaf-
                                          ten dann anständig,
                                                                                                                    Sorgfaltspflicht in anderen
                                          «wenn Menschen-                                                           Ländern
                                          rechtsverletzungen
                                          Konsequenzen haben».                                                      In der Europäischen Union (EU) müssen Unterneh-
                                          Foto parlament.ch
                                                                                                                    men seit 2018 Rechenschaft darüber ablegen, wie
                                                                                                                    sie Umweltschutz und Menschenrechte wahren.
                                                   Andrea Gmür:                                                     Die EU-Kommission prüft jedoch eine Verschär-
                                             Die Initiative stellt                                                  fung der entsprechenden EU-Richtlinie. Auch wird
                                           Konzerne unter Gene-                                                     der Ruf lauter nach einem Lieferkettengesetz, das
                                             ralverdacht und er-                                                    die Konzerne noch stärker dazu verpflichten würde,
                                            möglicht «erpresse-
                                                 rische Klagen».                                                    entsprechende Risiken zu vermeiden. In Deutsch-
                                                      Foto parlament.ch                                             land stellte die Regierung Ende 2019 ein «Wert-
                                                                                                                    schöpfungskettengesetz» in Aussicht, nachdem
(siehe Kasten) und würde bei einer Ab­                                    und bürgerlichen Parteien schiesst die    ein freiwilliger Aktionsplan von wenig Erfolg ge-
lehnung der Initiative an der Urne                                        Initiative aber weit über das Ziel hin­   krönt war. In Frankreich gilt seit 2017 ein Gesetz
automatisch in Kraft treten.                                              aus. So stösst sich die Luzerner CVP­     zur Sorgfaltspflicht («Devoir de vigilance»), das
                                                                          Ständerätin Andrea Gmür insbeson­         ebenfalls Haftungsansprüche vorsieht. Weitere
«Alibi-Gegenvorschlag»                                                    dere an der «Umkehr der Beweislast».      europäische Länder planen Gesetze, die von den
                                                                          Dass Konzerne bei einer Haftungs­         Unternehmen Sorgfaltsprüfungen gemäss der
Von einem «wirkungslosen Alibi-Ge­                                        klage ihre Unschuld beweisen müss­        EU-Richtlinie einfordern. In Grossbritannien wie-
genvorschlag» spricht Dick Marty,                                         ten, v
                                                                               ­ erstosse gegen Prinzipien des      derum anerkannte 2019 der oberste Gerichtshof
­Co-­Präsident der Konzernverantwor­                                      Rechtsstaates und führe zu «erpresse­     die Zulässigkeit von Klagen gegen Unternehmen
tungsinitiative. Der frühere Tessiner                                     rischen Klagen aus dem Ausland». Es       wegen Verletzungen von Menschenrechten durch
Staatsanwalt und FDP-Ständerat                                            gehe nicht an, «Konzerne unter einen      Tochterunternehmen im Ausland.                 (TP)
­moniert: «Wir wissen alle, dass gerade                                   Generalverdacht zu stellen», sagt die
die skrupellosesten Grosskonzerne                                         ­Politikerin, die im Vorstand der Zent­   Webseite der Initiative:
noch so gerne Hochglanzbroschüren                                         ralschweizer Industrie- und Handels­      www.konzern-initiative.ch
ver­
   öffentlichen.» Erst wenn Men­                                          kammer sitzt.                             Webseite der Nein-Allianz:
schenrechtsverletzungen Konsequen­                                                                                  www.leere-versprechen-nein.ch
zen hätten, «werden alle Konzerne         Sowohl Gegner wie               Heisser Herbst
­anständig wirtschaften», sagt Marty,     Befürworter – hier
der sich auf internationaler Ebene als    eines ihrer Transpa-            Richtig Fahrt aufnehmen dürfte die
Menschenrechts-Sonderberichter­
                                          rente – führen einen            Abstimmungskampagne Anfang Ok­            Diese soll das Image der an­geblich
                                          sehr intensiven
statter des Europarates einen Namen       Abstimmungskampf.               tober, sobald Parteien und Verbände       skrupellosen Konzerne kor­r igieren
machte. Für die Gegner aus Wirtschaft     Foto Keystone                   den Mammut-Urnengang vom 27. Sep­         und herausstreichen, wie Schweizer
                                                                          tember (siehe «Revue» 4/2020) bewäl­      Unternehmen in Entwicklungslän­
                                                                          tigt haben. Die Initianten können         dern etwa zur Schaffung von Arbeits­
                                                                          nebst der Unterstützung von SP und        plätzen beitragen.
                                                                          Grünen auf den Support eines bürger­
                                                                          lichen Komitees mit Mitgliedern aus
                                                                          allen Parteien zählen. Zudem setzen
                                                                          die Initianten mit der Gründung von
                                                                          Lokalkomitees in Dörfern und Quar­
                                                                          tieren auf das Engagement von Frei­
                                                                          willigen der Zivilgesellschaft.
                                                                          Auf der Gegenseite orchestriert der
                                                                          ­f inanzkräftige Wirtschaftsverband
                                                                          Economiesuisse die Nein-Kampagne.

                                                                                                                                         Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
Politik                                                                                                                                                        15

Rüstungsindustrie im Kreuzfeuer
                                                                                                                Hingegen sollen keine Schweizer
Schweizer Waffenexporte sorgen immer wieder für Kritik. Gleich zwei Volksinitiativen
                                                                                                                ­Waffen in Bürgerkriegsländer oder in
nehmen die Rüstungsindustrie ins Visier. Eine davon kommt am 29. November zur                                   Länder gelangen, wo die Menschen-
Abstimmung.                                                                                                     rechte systematisch und schwerwie-
                                                                                                                gend verletzt werden.
                                                                                                                    Auslöser dieser «Korrektur-Initia-
                                                                                                                tive» war das Vorhaben des Bundes­
                                                                                                                rates, den Export von Kriegsmaterial
                                                                                                                in Bürgerkriegsländer zuzulassen,
                                                                                                                wenn kein Grund zur Annahme be-
                                                                                                                steht, dass die Waffen im Konflikt ein-
                                                                                                                gesetzt werden. Die Regierung wollte
                                                                                                                damit die Schweizer Rüstungsindus-
                                                                                                                trie stützen, verzichtete dann ange-
                                                                                                                sichts heftiger Kritik auf die Locke-
                                                                                                                rung. Die Initianten möchten aber
                                                                                                                darüber hinaus einen Parlamentsent-
                                                                                                                scheid von 2014 rückgängig machen,
                                                                                                                der Waffenexporte auch in Länder mit
                                                                                                                systematischer Verletzung der Men-
                                                                                                                schenrechte zulässt. Der Bundesrat
                                                                                                                will dem Parlament einen Gegenvor-
                                                                                                                schlag unterbreiten, der den Initian-
                                                                                                                ten entgegenkommt. Die Allianz
                                                                                                                ­gegen Waffen­exporte in Bürgerkriegs-
THEODORA PETER                             munition. Die Initiative würde laut       Mit hölzernem Panzer       länder schliesst einen Rückzug des
Die Initiative «Für ein Verbot der         Parmelin viele rüstungsferne Unter-       gegen Waffenexporte:       Volksbegehrens nicht aus, wenn das
                                                                                     Aktivisten der Initiati­
­F inanzierung von Kriegsmaterial»         nehmen treffen, zum Beispiel eine                                    Anliegen auf dem Gesetzesweg umge-
                                                                                     ve «Für ein Verbot der
will Schweizer Investitionen in die        Glasfirma, die nebst normalen Fens-       Finanzierung von           setzt wird. Ob die «Korrektur-Initia-
Rüstungsindustrie weltweit unterbin-       tern auch solche für Cockpits von         Kriegsmaterialpro­         tive» dereinst an die Urne kommt,
den. Konkret sollen die Nationalbank,      Kampfjets produziert.                     duzenten» demonst­         bleibt somit vorläufig offen.
                                                                                     rieren in Bern (2017).
Pensionskassen und Stiftungen keine           Das Volksbegehren, welches aus-
                                                                                     Foto Keystone
Gelder in Unternehmen stecken dür-         schliesslich vom linksgrünen Lager
fen, die mehr als fünf Prozent ihres       unterstützt wird, dürfte an der Urne
                                                                                                                Verdoppelung der Waffenexporte
Umsatzes mit der Herstellung von           einen schweren Stand haben – wie
Kriegsmaterial erwirtschaften. Hinter      schon frühere GsoA-Initiativen: 2009                                 Im ersten Halbjahr 2020 exportierten Schweizer
der Initiative stehen die Gruppe           scheiterte eine Volksinitiative für ein                              Unternehmen Kriegsmaterial im Wert von 501
Schweiz ohne Armee (GsoA) sowie die        Verbot von Kriegsmaterialexporten                                    Millionen Franken. Das ist fast doppelt so viel wie
Jungen Grünen. Aus ihrer Sicht muss        an der Urne mit rund 68 Prozent                                      in der Vorjahresperiode (273 Mio. Fr.) exportiert
die Schweiz als neutrales Land und         Nein-Stimmen deutlich.                                               wurde. Laut den Behörden sind solche Schwan-
Hüterin der Genfer Konventionen da-                                                                             kungen nicht aussergewöhnlich und einzelnen
rauf verzichten, «Profit aus den Opfern    Gegen Exporte in Konfliktregionen                                    Grossaufträgen geschuldet. Auf der Liste der
von Kriegen zu schlagen».                                                                                       Abnehmer stehen 55 Länder. Grösster Importeur
      Bundesrat und Parlament lehnen       Grössere Erfolgsaussichten hat die von                               war im ersten Halbjahr Indonesien: Das Land
die Initiative jedoch ohne Gegenvor-       einem überparteilichen Komitee ge-                                   kaufte für 110 Mio. Franken Flugabwehrsysteme.
schlag ab. Aus Sicht von Wirtschafts-      tragene Volksinitiative gegen Waf­                                   Botswana wiederum beschaffte für 64 Mio. Fran-
minister Guy Parmelin (SVP) genügen        fenexporte in Bürgerkriegsländer. Sie                                ken gepanzerte Fahrzeuge. In Europa waren Däne-
die bestehenden Verbote zur Finan-         verlangt kein absolutes Verbot von                                   mark, Rumänien und Deutschland die grössten
zierung von atomaren, biologischen,        Kriegsmaterialexporten – im Gegen-                                   Abnehmer von Schweizer Kriegsmaterial.  (TP)
chemischen Waffen sowie von Streu-         satz zur gescheiterten GsoA-Initiative.

Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
16      Literaturserie

Das Fahrrad als Stimulans für den Dichter
Der Genfer Charles-Albert Cingria lebte 39 Jahre in Paris und dokumentierte in kurzen Texten sein Zeitalter
als unermüdlich Reisender abgründiger denn jeder andere.

CHARLES LINSMAYER                                                kurzen Texte nieder, die im Grunde nichts anderes sind als
Am 19. März 1911 kam es in Genf vor der Kirche Saint-Joseph      eine einzige, nie abbrechende Konversation mit einem ima­
zu einer Schlägerei, über die «tout Genève» wochenlang           ginären Gesprächspartner.
sprach: Weil er sich in einem Leserbrief beleidigt fühlte,
schlug Charles-Albert Cingria, 28, von massiger Gestalt,         Cyklist und Formulierer
den schmächtigen Schriftstellerkollegen Gonzague de
­Reynold, 31, mit einem Faustschlag zu Boden.                    Von der Nützlichkeit des Fahrrads für den Dichter handeln
     Cingria, Sohn dalmatischer Einwanderer, galt schon als      die Texte, vom Glück, im Speisewagen reisen zu können,
Klosterschüler als «der verrückte Kerl». Immer wieder            vom Bahnhofbuffet Bern, vom Lob des Tabaks, von einer
machte ihm seine Gewaltbereitschaft zu schaffen, die wohl        nackten Tierbändigerin oder vom Kuriosum der sprechen­
in Zusammenhang mit seiner uneingestandenen Homo­                den Maschinen. Und immer gesellt
sexualität stand. So abstrus seine Ideen oft waren: Als          sich zur scharfen Beobachtungs­
Musik­w issenschaftler und Historiker war er unerreicht.         gabe und dem virtuosen sprach­
Was er schrieb, fand bei seinen Zeitgenossen ungeteilte Be­      lichen Können ein Humor und
wunderung. Eine Bewunderung mit Folgen: Als er 1926 in           eine Intelligenz, die dem scheinbar
Italien wegen Päderastie ins Gefängnis kam, verhalf ihm          harmlosen Parlando etwas Tief­
niemand anders als sein Erzfeind Gonzague de Reynold zur         sinniges, oft auch Anarchisches
Freiheit.                                                        verleihen. Dass er nicht nur mit
                                                                 seinen Texten, sondern auch als
«Talking Cingria»                                                ein Original in Erinnerung bleiben
                                                                 würde, war dem schrulligen Cyk­              «Vor allem muss ich darauf be-
Charles-Albert machte insbesondere mit kurzen, überall           listen und Formulierer durchaus               stehen, dass das Fahrrad eines
verstreuten Texten Furore, die man inzwischen unter das          bewusst. Sonst hätte er seinem                Dichters keineswegs unwürdig
Stichwort «Talking Cingria» stellt. Es sind in der ersten Per­   Freund Abdul Wahab, als er 1940
                                                                                                               ist. Es ist im Gegenteil ein sehr
son geschriebene Erzählungen, die immer im Präsens ge­           des Krieges wegen in der Schweiz
halten sind und stets den Anschein erwecken, als würde           festgehalten wurde, nicht den fol­            grosses Stimulans für ihn.
jemand ganz direkt mit einem sprechen. Fast immer rührt          genden Auftrag nach Paris über­              Zunächst ist sie schön, ist sie
ihre Unmittelbarkeit daher, dass sie auf persönlichen            mittelt: «Wenn Du die Gaukler                 praktisch, diese Maschine, und
­Erlebnissen auf Fahrten und Reisen durch ganz Europa be­        siehst, lass sie im Glauben, dass ich
                                                                                                               zwar aus sich selbst. Aber auch
ruhen. Obwohl Bürger von Genf, lebte Cingria zwischen            in Paris bin und nur in ein anderes
1915 und seinem Tod am 1. August 1954 in einem Zimmer            Quartier umgezogen bin. Ich will
                                                                                                               wegen ihrer Lenkstange, um die
in Paris, das der Ausgangspunkt für seine Reisen war.            sie dazu bringen, Legenden über               man schwefelgelbes neben
­Exzentrisch gekleidet, der typische Dandy jener Epoche,         die Leute zu lancieren und zu                 schwarzem und rötlichem Heft-
war er dabei fast immer mit dem Fahrrad unterwegs.               ­zeigen, dass deren Schwächen in              pflaster rollt. Leute, die so etwas
                                                                 Wirklichkeit deren Stärken sind.»
                                                                                                               kalt lässt, können lange unruhig
Bei Freunden zu Gast                                                                                           werden, wenn man von Kunst
                                                                 BIBLIOGRAFIE: In Deutsch ist greifbar:

Nach dem Verlust des Familienvermögens war er auf die Be­
                                                                 Charles-Albert Cingria, «Ja, jeden Tag neu    spricht, aber sie werden auch zu
                                                                 geboren werden …». Erinnerungen, Glossen,
herbergung bei Freunden angewiesen, für die seine Ankunft
                                                                 Thesen, Polemiken. Ausgewählt und mit         den höchsten Höhepunkten einer
jeweils ein halb kurioses, halb spektakuläres Ereignis war.      einem biografischen Nachwort versehen         griechischen Tragödie keinen
So führte er auf dem Fahrrad eine zusammenklappbare le­          von Charles Linsmayer. Reprinted by Huber
                                                                 Nr. 18, Frauenfeld, 2001.
                                                                                                              ­Zugang finden.»
derne Badewanne mit, in der er im zugewiesenen Gäste­
zimmer zunächst stets ein Bad nahm, ehe er sich, mit dem
                                                                                                              Aus «Lob des Fahrrads» in «Ja, jeden Tag neu
Badetuch als Turban, zu den Gastgebern an den Tisch setzte.      CHARLES LINSMAYER IST LITERATURWISSEN-
                                                                                                              geboren werden», Huber, Frauenfeld, 2001.
Irgendwann setzte er sich dann auch hin und schrieb seine        SCHAFTLER UND JOURNALIST IN ZÜRICH

                                                                                                                                Schweizer Revue / September 2020 / Nr. 5
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