Transhumanismus: Technologie für Verheißung, Drohung oder Normalität?
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Transhumanismus Transhumanismus: Technologie für Verheißung, Drohung oder Normalität? Von Implantaten zu Hirnschnittstellen, globalem Computer und emergentem Bewusstsein: Wege der Integration von Technik und Mensch – Humanismus bleibt gefragt Rolf Kickuth, Gaiberg In den Tagen der Produktion dieser CLB kam der Der Begriff „Transhumanismus“ suggeriert ei- Film „The Imitation Game“ über den englischen nen abrupten Wechsel weg vom Menschen hin Mathematiker und Informatiker Alan Turing in die zum Übermenschen. Um zu verdeutlichen, was deutschen Kinos. Thematisiert wird dort insbeson- u.a. damit verbunden wird, will ich hier auf Wi- dere seine Arbeit in dem damals geheimen For- kipedia zurückgreifen, und zwar zunächst auf schungszentrum Bletchley Park zur Entschlüsselung die dortige Definition von Humanismus: „Hu- deutscher Funksprüche im 2. Weltkrieg. Weniger manismus ist eine seit dem 19. Jahrhundert ge- bekannt ist, dass Turing bezüglich der Leistungs- bräuchliche Bezeichnung für verschiedene, teils fähigkeit von Systemen künstlicher Intelligenz sehr gegensätzliche geistige Strömungen in diversen weit in die Zukunft blickte. Wie weit, das zeichnet historischen Ausformungen, unter denen der sich jetzt erst langsam ab – und kulminiert um den Renaissance-Humanismus begriffsbildend he- Begriff „Transhumanismus“. rausragt. Gemeinsam ist ihnen eine optimistische Einschätzung der Fähigkeit der Menschheit, zu Welche Stellung nimmt der Mensch in Zukunft in einer besseren Existenzform zu finden. Es wird unserer technisierten Welt ein? Verheißt sie ihm ein Gesellschafts- und insbesondere Bildungside- ein besseres, vieleicht sogar Jahrtausende langes al entworfen, dessen Verwirklichung jedem die Leben, oder wird sie ihn bedrohen, ihn unterwerfen? bestmögliche Persönlichkeitsentfaltung ermögli- Angesichts des rasanten Fortschritts in Wissenschaft chen soll. Damit verbindet sich Kritik an beste- und Technik, der etwa seit dem 18. Jahrhundert henden Verhältnissen, die aus humanistischer läuft und sich in der Generation meiner Eltern Sicht diesem Ziel entgegenstehen. [1] und insbesondere auch meiner eigenen geradezu Herauszuheben ist hier „gegensätzliche gei- exponentiell beschleunigt hat, ist es nicht verwun- stige Strömungen“ sowie „optimistische Ein- derlich, dass Gedanken an ein „trans“ – lateinisch schätzung“ und „Verwirklichung“. Allen diesen für „über, jenseits“ aufkommen. Dieser Artikel soll zeigen, dass der damit verbundene Prozess bereits begonnen hat – und er für die Menschen vielleicht Ein „Leitfaden“ für den Artikel weniger merklich ablaufen wird als es das Wort Der Artikel führt durch verschiedene Entwicklungsstufen „Transhumanismus“ suggeriert. Sich dessen klar zu des Transhumanismus. Er macht Abschätzungen zu Ent- werden und Überlegungen über Rahmenbedin- wicklungsszenarien und -zeiten und vermittelt schließ- gungen, insbesondere aus ethischer Sicht, anzustel- lich Überlegungen zum Umgang mit der Thematik. len kann jedoch kaum früh genug beginnen. • Definition, Geschichte Transhumanismus • Verschiedene Entwicklungsstufen: Prothesen/Sinneser- weiterungen, Hirn-Computer-Schnittstellen, Hirn-Hirn- Verbindungen, neuromorphe Computer • Globales Gehirn, emergentes Bewusstsein • Idee der Singularität: Technische Systeme hängen den Menschen ab • Mögliche Entwicklungsverläufe, Beispiel autonomes Fahren Der Autor • Rückhaltemechanismen und Zeithorizonte Rolf Kickuth (62) ist Verleger der CLB. Schon 1990 entwickelte • Transhumanismus in den Medien – und als Partei-Neu- er mit der „AXON“ eine Zeitung für künstliche Intelligenz, insbe- gründung in den USA sondere künstliche neuronale Netze. In den 1990er Jahren war er • Handlungsdirektiven auch Chefredakteur des „Informatik-Spektrum“, der Hauszeit- • Vermeidung irrationaler Angst und Intoleranz schrift der Gesellschaft für Informatik. 8 CLB 66. Jahrgang, Heft 01 - 02/2015
Transhumanismus Begriffen gemein ist die auf eine Zukunft ausge- richtete Bedeutung. Ganz ähnlich sieht es beim Transhumanismus aus: „Transhumanismus ist eine philosophische Denkrichtung, die die Grenzen menschlicher Möglichkeiten durch den Einsatz technologischer Verfahren erweitern will. Die Interessen und Werte der Menschheit werden als „Verpflich- tung zum Fortschritt“ angesehen.“ [2] Auch hier gibt es die auf Zukunft ausgerichtete Bedeutung: „erweitern“, „Denkrichtung“... Der Unterschied liegt im Begriff „technologische Verfahren“. So wie sich diese entwickelt haben konnte man sich das zu der Zeit, als der Humanismus aufkam, nicht ansatzweise vorstellen. Insbesondere war der Evolutionsbegriff auch auf die biologische Evolution beschränkt. Erweitert man ihn, so wie ich es zuvor beschrieben habe [3], auch um eine nicht-biologische Komponente, sieht das Schaf- fen der Menschen – Technik, Kultur – also als Abbildung 1: Ausschnitt eines Briefs von Friedrich Nietzsche an Heinrich Köselitz Teil der Evolution selbst an, dann relativiert sich (ein deutscher Schriftsteller und Komponist, besser bekannt als Peter Gast; musika- der Begriff „Transhumanismus“ zu einem erwei- lisches Hauptwerk: die komische Oper in drei Akten „Der Löwe von Venedig“) am terten Humanismus. Allerdings ist es aufgrund 1. Februar 1883, der den Titelentwurf zu „Also sprach Zarathustra“ zeigt. Aufgrund der schnellen und großen Veränderungen, mit dessen wird Nietzsche als Ahnherr des Transhumanismus diskutiert. Er selbst denen Transhumanismus verknüpft ist, pragma- war sich wohl der Brisanz des Themas bewusst, liest man doch in den unteren tisch, an ihm festzuhalten. Zeilen: Mit diesem Buche bin ich in einen neuen „Ring“ eingetreten – von jetzt ab Stellt sich die Frage: Wie ist dieses „trans“ ge- werde ich wohl in Deutschland unter die Verrückten gerechnet werden. Es ist eine meint? Unter Wasser fahren, in der Luft fliegen wunderliche Art von „Moral-Predigten.“ oder schwere Lasten heben kann es wohl nicht sein. Das klappte schon lange, bevor der Begriff einer noch anderen Ebene stehen Konstrukte, die „Transhumanismus“ geboren wurde. Zwar wird dem Menschen überlegen sind, und die man sich Friedrich Nietzsche als Ahnherr des Transhuma- in einem einprägsamen, wenn auch platten (und nismus diskutiert, insbesondere wegen seines wie so häufig negativen) Bild wie Terminatoren Werks „Also sprach Zarathustra“ aus den Jahren aus Filmen vorstellen kann. 1883-1885, das den Begriff des „Übermenschen“ In diesem Zusammenhang eine kurze Einord- einführte (Abbildung 1). Der Biologe Julian Hux- nung: Transhumanismus kann als eine von meh- ley hat 1957 in seinem Buch „New Bottles for reren Ausprägung des Posthumanismus angesehen New Wine“ den Begriff Transhumanismus im werden. Die lateinische Vorsilbe „post“ bedeutet gleichnamigen Kapitel postuliert [4]. Er wurde „nach“; was kommt also nach dem, wofür wir uns dann immer wieder von Philosophen, Futurolo- im Sinne des Humanismus bemühen? Posthuma- gen und Science Fiction-Autoren aufgegriffen. nismus umfasst auch Theorien, die negativ kri- tisch gegenüber traditionellen Humanismus und Verschiedene Qualitäten des „trans“ traditionellen Vorstellungen über die Menschheit und den menschlichen Zustand sind. Mein per- Macht man sich mit deren Werken vertraut, und sönlicher Eindruck ist, dass posthumanistische spinnt die Gedanken für sich weiter, dann wird Schriften in der Tendenz eher pessimistisch ausge- deutlich, dass mit Transhumanismus nicht die richtet sind, transhumanistische eher optimistisch, Fußprothesen aus kohlenstofffaserverstärktem wohlgemerkt: in der Tendenz; Überschneidungen Kunststoff von Oscar Pistorius gemeint sein kön- der Themen sind durchaus gegeben. nen, auch wenn der relativ knappe Wikipedia- Ein Beispiel für solch einen post-/transhuma- Artikel über das Thema einzig mit dem Bild des in nistischen Gedanken ist die Entwicklung einer die Schlagzeilen geratenen Sportlers aufgelockert bewussten Wesenseinheit außerhalb eines ist. Zugegeben zählt auch „Enhancement“, also Menschen – bis hin zum globalen Bewusstsein. die Erweiterung oder Verbesserung, menschlicher Diesstellt aus meiner Sicht eines der wichtigen Leistungsfähigkeit – sofern sie mit dem Körper Modelle dar, die mit dem Transhumanismus ver- verbunden ist – teilweise zum Transhumanismus. knüpft sind. Andere beinhalten Methoden des Richtig spannend wird es aber erst, wenn es um „Enhancement“. Mit wachsender Komplexität sensorische, kommunikative und kognitive Funkti- lassen sich schließlich Kombinationen daraus onen geht, um die Sinne und ums Gehirn. Und auf vorstellen. CLB 66. Jahrgang, Heft 01 - 02/2015 9
Transhumanismus Seit vielen Jahren schon therapeutischer Alltag sind Herzschrittmacher und Cochlea-Implantate. Erstere geben elektrische Impulse an den Herz- muskel ab, um bei entsprechender körperlicher Mangelfunktion zu einem regelmäßigen Herz- schlag zu führen. Zweitere sind elektronische Implantate im Innenohr. Herzschrittmacher Der erste vollständig in den menschlichen Kör- per eingebettete Herzschrittmacher wurde am 8. Oktober 1958 von dem Arzt Åke Senning und Rune Elmqvist, Ingenieur von Siemens Elema, in Stockholm dem Herzpatienten Arne Larsson eingepflanzt. Zwei Transistoren in Kippschaltung (astabiler Multivibrator), ein Nickel-Cadmium- Akkumulator und einer Spule zum externen Auf- laden des Akkus waren die Hauptelemente des Schrittmachers [6]. Die Kapazität des Akkumu- lators war bereits nach kurzer Dauer erschöpft. Die elektronischen Bauelemente wurden in einer Schuhcremedose mit Epoxidharz vergossen. Die Elektroden, die die Stimulationsenergie an das Abbildung 2: Der Patient Dennis Aabo Sorensen greift mit Herz abgaben, waren fest mit dem Schrittmacher seiner künstlichen Hand, mit der er auch fühlen kann, eine Mandarine (Foto: LifeHand2 Project). verbunden. Cochleaimplantat Enhancement Das Cochleaimplantat (CI) ist eine Hörprothe- se für Gehörlose, deren Hörnerv noch funktio- niert. Ein Mikrofon nimmt die Schallwellen der Mit Prothesen fängt es an Umwelt auf, die dann in einem Mikroprozessor Wohl am einfachsten nachzuvollziehen sind die verarbeitet und über Elektroden in die Cochlea Methoden der „Mensch-Erweiterung“. Sie ver- (Hörschnecke) eingeführt werden. Nach der knüpfen typischerweise als Komponenten das Operation ist ein Hörtraining erforderlich, um Gehirn mit zusätzlichen Sensoren oder Aktoren die neuen Signale den bekannten Hörmustern und führen so zunächst einmal zu fortgeschrit- zuzuordnen. Es ist ähnlich wie das Verstehen tenen Prothesen. einer Fremdsprache. Die Neuronen, die die akustischen Reize verarbeiten, ändern aber ihre Fühlende Armprothese Funktion flexibel, sodass nach geraumer Zeit, die So haben Freiburger Forscher fühlende Prothe- auch nach Jahren zählen kann, für die Patienten sen entwickelt. Dennis Aabo Sørensen, einem Pa- wieder ein Sprachverständnis möglich ist. 1977 tienten mit einer Unterarmamputation, wurden setzte man ein erstes Multikanal-Cochlea-Implan- jeweils zwei hauchdünne Elektroden direkt in tat ein. Entwickelt hatte dies der österreichische den Ulnar- und Median-Nerv im Oberarm einge- Ingenieur Erwin Hochmair zusammen mit sei- setzt. Diese übertragen mit elektrischen Impul- ner Ehefrau Ingeborg Hochmair-Desoyer. Ende sen Sensordaten der künstlichen Hand über das 2011 lebten weltweit rund 300 000 Patienten periphere Nervensystem direkt ins Gehirn. Sie mit einem Cochlea-Implantat, in Deutschland ca. geben dem Patienten Informationen über Form 30 000 [7]. und Beschaffenheit der Objekte, die er greift – auch wenn er diese nicht sehen kann. Retinaimplantat Wie die Forscher berichteten, war der Patient Sehr viel neuer ist die Möglichkeit, blinden ohne viel Training in der Lage, seine künstliche Menschen einen – derzeit noch geringen – Teil Hand zu steuern. Mit verbundenen Augen konn- an Sehfähigkeit zu ermöglichen, und zwar durch te er Gegenstände wie einen Plastikbecher, eine Netzhautimplantate. Grundsätzlich gibt es zwei Mandarine oder einen schweren Holzwürfel er- Arten davon: das epiretinale Retinaimplantat so- fühlen und mit der richtigen Kraft präzise greifen. wie das subretinale Retinaimplantat. Ersteres Die Verbindung von Technik und biologischem sendet Bilder einer Kamera, die auf einer Brille System funktionierte praktisch intuitiv (Abbil- montiert ist, über eine Stimulations-Elektroden- dung 2) [5]. anordnung an die Netzhaut. Die Operation da- 10 CLB 66. Jahrgang, Heft 01 - 02/2015
Transhumanismus für ist einfacher als diejenige des subretinalen Implantats. Es liegt zwischen der Netzhaut und der Aderhaut und wird lediglich durch den Au- geninnendruck fixiert. Dafür wird es mit der na- türlichen Augenbewegung ausgerichtet. An der Klinik für Ophthalmologie des Univer- sitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH), wur- de im Dezember 2014 erstmalig ein seit zwölf Jahren durch eine genetische Erkrankung erblin- deter Patient mit einem solchen subretinalen Netzhaut-Chip versorgt. Durch die Operation ist es ihm jetzt möglich, Lichtquellen zu lokalisie- ren und bestimmte Objekte zu erkennen. Der Chip ersetzt die Funktion degenerierter Fotore- zeptoren durch Fotodiode. Er ist nur 17 Mikro- meter dünn und mit drei mal drei Millimetern nur wenig größer als ein Stecknadelkopf. Da der durch die Fotodioden des Mikrochips erzeugte Strom, der an die Netzhaut weitergleitet wird, nur sehr gering ist, muss dieser Strom zusätzlich verstärkt werden. Die dazu notwendige Energie wird durch eine hinter dem Ohr lokalisierte In- duktionsspule und eine externe Stromversorgung Abbildung 3: Ein Netzhaut-Chip unter der Netzhaut des Patienten. Er hat eine geliefert. Die Auflösung des Chips beträgt 40 x Auflösung von 1600 Pixeln. Das ist ausreichend, um beispielsweise ein Messer 40 Pixel (Abbildung 3). Einzelne Patienten kön- neben einem Teller auf dem Tisch zu erkennen (Foto: UKSH). nen dadurch eine Sehschärfe von 3,7 Prozent erreichen. Das Sehen selbst ist auf Grautöne nicht uninteressant: Als Neil Harbisson 2004 sei- beschränkt, ermöglicht jedoch beispielsweise, nen Pass erneuern wollte, wurde ihm von den ein Messer neben einem Teller auf dem Tisch britischen Behörden mitgeteilt, dass das nicht zu erkennen [8]. möglich wäre, da er auf seinem Passfoto mit Weltweit wurden mit diesem Netzhaut-Chip einem elektronischen Gerät zu sehen war und bisher rund 30 Patienten versorgt, u.a. in Tü- dies nicht erlaubt wäre. Harbissons Argument, bingen, Dresden, Oxford, London, Singapur und dass das elektronische Gerät als Teil seiner selbst Hongkong. Die Forschung und Entwicklung dafür angesehen werden sollte wurde abgelehnt. Da- begann 1996 durch Professor Eberhart Zrenner raufhin suchte Neil die Unterstützung seines in Tübingen. Er gründete dann 2003 die Retina Arztes, und Mitgliedern der Universität, wo er Implant AG. Seit 2005 nimmt das Unternehmen studiert hatte. Sie alle schicken Briefe an die Implantationen bei menschlichen Patienten vor. zugehörige Behörde und verteidigten Neils Fall. Es gibt noch eine Vielzahl anderer Berichte Nach wochenlanger Korrespondenz, akzeptierte über solche Möglichkeiten, Menschen mit ver- die Regierung das Eyeborg als ein Teil von Neils loren gegangenen oder auch zusätzlichen Funk- Körpers und ließ ihn auf dem Bild seines Reise- tionen zu versorgen. So lässt der farbenblinde passes mit dem elektronischen Auge erscheinen. Neil Harbisson, ein britisch-irischer bildender Künstler und Komponist, eine Kamera die Farben seiner Umwelt über einen Mikrochip in Töne Abbildung 4: Neil Harbisson mit der Kamera, die über verwandeln, die über eine Art Antenne über die Mikrochip und Knochenschall Farben in Töne umwandelt und ins Gehirn sendet (Foto: Neil Harbisson). Knochen des Schädels ins Gehirn eingekoppelt werden; er hört somit Farben – und kann sogar Ultraviolett sowie Infrarot „sehen“ (Abbildung 4). Um seine Erfahrung weiterzugeben hat er die „Cyber Foundation“ gegründet. Die Stiftung soll Menschen helfen, ihre Sinne auszubauen. Auf der Webseite der Stiftung findet man weitere Beispiele technischer Implantate im Menschen [9]. Elektroceuticals im Pass Für die gesellschaftlich-rechtliche Einordnung von technischen Erweiterungen beim Menschen CLB 66. Jahrgang, Heft 01 - 02/2015 11
Transhumanismus Somit wurde Neil Harbisson zum ersten Mal von Nicht-invasive BCI einer Regierung als Cyborg anerkannt. [10] Übrigens beginnt sich gerade für diese und Bei letzteren geschieht die Signalübertragung ähnliche Arten der Erweiterung menschlicher beispielsweise durch die Messung von EEG-Si- Fähigkeiten – elektrische Stimulierungen zur gnalen (elektroenzephalografische Signale, also Beeinflussung und Modifizierung von Körper- elektrische Impulse, die die Neuronen erzeugen), funktionen – die allgemein ja auch gerne mit Kernspinresonanz (NMR (nuclear magnetic re- dem „neudeutschen“ Wort „Enhancements“ be- sonance) oder – in medizinischer, bildgebender zeichnet werden, ein ebenfalls englisches Wort Anwendung MRT (Magnetresonanz-Tomografie) einzubürgern: Elektroceuticals [11], analog zu genannt) oder durch transkranielle Magnetsti- Pharmaceuticals, der Behandlung mit Medika- mulation (TMS). Bei dieser Technik stimulieren menten. oder hemmen starke Magnetfelder bestimmte Ein qualitativ großer Schritt weiter in Richtung Bereiche des Gehirns. Transhumanismus gehen die Entwicklungen, die Die nicht invasiven Hirnschnittstellen können eine sehr intensive Verbindung von Technik und durchaus bemerkenswerte Ergebnisse liefern, ge- Gehirn betreffen – oder sogar darin besteht, ein rade in Verbindung mit umfangreicher Compu- von Menschenhand geschaffenes Artefakt zu terauswertung der Ergebnisse. 2011 stellte Jack betrachten, dem man ein Maß an Intelligenz Gallant von der Uni Berkeley, Kalifornien, bemer- zuschreiben muss, das womöglich diejenige des kenswerte Filmsequenzen vor. Zuvor hatten er Menschen übersteigt, ja das vielleicht sogar ein und seine Kollegen mit funktioneller Kernspinto- Bewusstsein besitzt. mographie jeweils über Stunden die Aktivität der Sehzentren von Probanden aufgenommen, die Hirn-Computer-Schnittstellen sich Video ansahen. Mit den extrahierten Mes- swerten aus den vielen einzelnen Volumenele- Die Verbindung zum Gehirn geschieht über menten (Voxeln) jedes Gehirns trainierten sie ein geeignete Schnittstellen, Brain-Computer-Inter- Computerprogramm. Dies ermöglichte auch, die faces (BCI). Sie lassen sich invasiv, d.h. über ins Zeitdifferenz auszugleichen, die zwischen der vi- Gehirn implantierte Elektroden, oder nicht inva- suellen Vorstellung und den mit ihr verbundenen siv realisieren. Stoffwechselvorgängen, die ja gemessen wurden, lag, typischerweise einige Sekunden. Dann sa- Abbildung 5: Gegenüberstellung von Videoszenen (Bildschirmfotos), die Proban- hen sich die Probanden neue Filme an, die unter- den neu gezeigt wurden (jeweils links), und vom Computer aus vorhandenen schiedlich zu den ursprünglich gesehenen waren. Datenbasen von Hirnaktivitätssignalen aus fMRT-Messungen sowie aus Videoclips Allein aufgrund der erlernten Datenbasis, die bei rekonstruierte Bilder (jeweils rechts; Abb.: Gallant / UC Berkeley). der ersten Videoschau entstand, versuchte das Programm dann, die in dem zweiten, neuen Vide- odurchgang gezeigten Szenen zu rekonstruieren. Dazu griff es auf einen Pool aus 18 Millionen Sekunden willkürlich ausgewähltem YouTube- Material zurück und suchte Filmsequenzen, die den zuvor gelernten Hirnaktivitätsmustern am ehesten entsprachen. Die hundert besten pas- senden Szenen verschmolz der Rechner dann zu – wenn auch verschwommenen – visuellen Rekonstruktionen (Abbildung 5) [12]. Invasive BCI Wünschenswert bei BCIs ist natürlich die nicht-invasive Variante. Problem nur: Die Signal übertragung ist im allgemeinen sehr niedrig von der Bitrate, unsicher und unspezifisch. Selbst über invasive BCIs sind zur Zeit nur etwa Infor- mations-Transferraten (ITR) von 30 bis 60 Bit pro Sekunde zu erzielen [13][14] – sofern es sich etwa um Nachrichtenübertragungen auf einen Computerbildschirm handelt, die von Patienten mit BCI – sie sind beispielsweise durch Krank- heiten wie ALS vollständig gelähmt – per Gedan- ken zum Ausdruck gebracht werden. 12 CLB 66. Jahrgang, Heft 01 - 02/2015
Transhumanismus Abbildung 6: Ende Dezember 2014 veröffentlichten Wissenschaftler des University College London (UCL) ein im wahrsten Sinne des Wortes neues Highlight der Optogenetik-Forschung: Sie konnten Neuronen von Mäusen mit Licht sowohl akti- vieren wie auch auslesen, also verfolgen, wie sich die Reizleitung eines aktivierten Neurons fortsetzt. Dafür kombinierten sie bekannte Techniken: Zuerst infizierten sie Mäuse mit einem bestimmten Virus, um dadurch eine erste Genmodifikation durchzuführen. Dies hatte zur Folge, das bestimmte Gruppen von Neuronen Kanalrhodopsine von Algen exprimieren und so empfindlich auf Licht, spezifisch für bestimmte Wellenlängen reagieren. Mit einem zweiten Genvektor befähigten sie Neuronen, bei Aktivierung per grün fluoreszierendem Protein grünes Licht auszusenden. Sendeten sie dann einen Laserimpuls im Femtosekundenbereich zu einer spezifischen Gruppe von Neuronen (der Stahl wurde dafür mit holografischer Technik in mehrere Teilstrahlen aufgespalten), ließ sich deren Aktivität per Calcium-Imaging verfolgen. Da für Anregung über die Rhodopsine und Calcium-Imaging verschiedene Wellenlängen genutzt wurden, gab es keine Kreuz-Aktivierungen der Zellen. Das Bild zeigt links die Aktivierung der Neuronen über Laser, rechts die Antwort aktivierter Neuronen. Die Forscher haben so einen neuen Weg gefunden, Schaltkreise im Gehirn ausfindig zu machen (Abb.: Lloyd Russell, Hausser lab, UCL). Mit der invasiven Elektroden-Technik lassen zeigte, dass man über eine örtliche und zeitlich sich jedoch neuronale Gruppierungen im Gehirn abgestimmte Verteilung von elektrischen Impul- schon sehr spezifisch ansprechen. sen über 100 Hertz Selbstorganisationsprozesse in den betroffenen Gehirnteilen auslösen kann, Parkinson-Therapie mit Hirnschrittmachern die die Überaktivitäten der beteiligten Nerven- Dafür gibt es durchaus schon therapeutische zellen desynchronisieren, obwohl jeder einzelne Angewendungen, etwa bei Parkinson-Patienten. Impuls dazu zu schwach wäre. Es wird sozusagen Bei der Parkinson-Krankheit entfalten sich in be- zunächst ein kleines Chaos erzeugt, und danach stimmten Gehirnarealen der Patienten übermäßi- finden die Neuronen wieder zu einer normalen, ge synchrone „Feuer-Aktivitäten“ der Neuronen. neuen Ordnung ohne Überaktivität [13]. Spezi- Eine Behandlung kann nun darin bestehen, das alisten setzten 2013 allein in Deutschland rund Gehirn über eingepflanzte Elektroden ständig mit 800 Parkinsonkranken einen Hirnschrittmacher einer Frequenz von mehr als 100 Hertz zu stimu- zur tiefen (invasiven) Hirnstimulation ein. lieren. Das Verfahren hat jedoch seine Grenzen. Damit wird auch ein anderes Problem der BCIs Einerseits spricht ein Teil der Patienten gar nicht vermindert: Während Elektroden, die Signale aus darauf an. Andererseits kann es sein, dass zwar den Neuronen herauslesen, relativ problemlos das Zittern unter der Behandlung aufhört, dafür im Hirngewebe ihre Funktion ausüben, gibt es jedoch Sprechstörungen auftreten. Schließlich bei denen, über die Impulse eingeleitet werden, kann der therapeutische Effekt überhaupt im leichter Veränderungen im benachbarten Gewe- Laufe der Zeit nachlassen. be, das zur Fehlfunktion der Elektroden führt. Deshalb setzen Forscher um Prof. Peter Tass, Ein wichtiges aktuelles Forschungsfeld von BCIs Forschungszentrum Jülich, bei der Stimulation besteht darin, die Gewebeverträglichkeit von ih- auf Selbstorganisationsvorgänge. Die Grundlagen nen zu verbessern. dazu gehen zurück auf Forschungen von Prof. Optimal gelingt dies mit inerten Materialien, Hermann Haken, dem Begründer der Synergetik. zum Beispiel mit Glasfasern. Nur leiten die kei- Tass stellte nun Vorgänge, wie sie in Parkinson- nen Strom, aber es gibt eine andere Möglichkeit: Gehirnen auftreten, in Modellen u. a. unter Nut- Man leitet Lichtimpulse durch sie, die dann che- zung künstlicher neuronaler Netzwerke nach. mische Vorgänge in den Neuronen auslösen, Dann studiert er die Effekte von elektrischen diese zum Feuern von Impulsen bringen (Notiz Stimulationen auf diese Netzwerke. Das Ziel war, am Rande: 2015 ist das internationale Unesco- Stimulationen mit geringer elektrischer Reizung “Jahr des Lichts“). Nur dazu muss das Gewebe zu finden, die auch nicht dauerhaft angewen- entsprechend empfänglich gemacht werden. Mit det werden müssen und trotzdem wirken. Tass moderner Gentechnik lässt sich das machen. CLB 66. Jahrgang, Heft 01 - 02/2015 13
Transhumanismus Abbildung 7: chungen vor allem an Mausmodellen, wodurch LLNL-Ingenieurin sich ein Hirn bei Sucht, Autismus, Angst oder De- Vanessa Tolosa pression von einem gesunden Hirn unterscheidet. zeigt einen Siliciumwafer, der Erste medizinische Anwendungen der Optoge- mit Strukturen für netik beschränken sich darauf, die Funktion von implantierbare Nerven außerhalb des Hirns in Sinnesorganen Neuroprothesen und Rückenmark wiederherzustellen [17]. versehen wurde Einem optogenetischen Eingriff ins mensch- (Foto: LLNL). liche Hirn zur Heilung von Nervenkrankheiten stehen zurzeit ethische und medizinische Beden- ken entgegen; nicht nur, dass es um Eingriffe ins Gehirn ginge; es müssten zuvor auch gen- technische Veränderungen daran vorgenommen werden. Und wer weiß, ob zum Beispiel die frem- den Eiweiße auf Dauer funktionieren und vom Organismus akzeptiert werden? Gedächtnisprothesen Im Juli 2014 startete DARPA, der Forschungs- arm des amerikanischen Verteidigungsministeri- ums, ein besonders ambitioniertes Projekt, das Restoring Active Memory- (RAM-) Programm. Hintergrund ist, dass es seit 2000 in den USA über 270 000 ehemalige Soldaten gibt, die an Gehirnverletzungen leiden und dadurch Ein- schränkungen des Erinnerungsvermögens haben. In ganz USA sollen jährlich etwa 1,7 Millionen Menschen Gehirnverletzungen erleiden [18]. Das RAM-Programm hat das Ziel, die Kodierung der Hirnsignale, die zu Erinnerungen führen, zu Optogenetik und Elektroden entschlüsseln sowie ihr Wiederauffinden zu er- Das recht neue Forschungsgebiet Optogenetik möglichen. Dafür wird u.a. mit industrieller Hilfe führt Werkzeuge der Optik und der Genetik zu- durch das Unternehmen Medtronic, Minneapolis sammen, um die Arbeitsweise von Nerven und (rund 50 000 Mitarbeiter) ein Hirnimplantat ent- Hirn zu verstehen und zu beeinflussen. Der Be- wickelt, das sowohl Nervenaktivität aufnehmen griff wurde von dem amerikanischen Psychiater wie auch Neuronen anregen kann. Diese „Clo- und Biotechnologen Karl Deisseroth geprägt, der sed Loop-Schnittstelle“ ermöglicht in Echtzeit, vor zehn Jahren als einer der Ersten die Idee auf- Signale zu aufzunehmen, zu interpretieren und griff, Nerven gentechnisch lichtempfindlich zu daraufhin abzugebende Signale speziell zu modu- machen und dann über Lichtimpulse gezielt zu lieren. Es muss sehr schnell arbeiten, um keine steuern. Wie er 2005 berichtete, gelang es, ein Interferenz zwischen ursprünglichem Hirnsignal durch Licht schaltbares Eiweiß aus Bakterien in und Reaktionen der Neuronen auf die dann ab- kultivierte Nervenzellen der Maus einzubauen, gegebene Stimulierung zu erfassen. so dass die gentechnisch veränderten Zellen Schon in vier Jahren hoffen die Forscher, ein durch Lichtblitze angeregt werden konnten und solches System, dessen Anforderungen heute messbare elektrische Signale aussandten [15]. noch normale PCs stundenlang beschäftigt, er- Gentechnisch werden drei Komponenten in folgreich an ausgesuchten, freiwilligen Patienten, Nervenzellen eingebaut: lichtempfindliche Io- die bereits über eine Hirnschnittstelle zur Be- nenkanäle, um Nerven mit Lichtblitzen an- und handlung von Parkinson oder Epilepsie verfügen, abzuschalten, fluoreszierende Eiweiße, um einsetzen zu können. In dem RAM-Programm Nervenaktivität anzuzeigen und ein Promoter, enthalten sind Forschungen, wie der entorhinale der bestimmt, welcher Typ von Nervenzellen Cortex genau arbeitet. Dieses Gehirnteil hat Ver- die Veränderungen umsetzt; ein aktuelles For- bindungen sowohl zum Hippocampus wie auch schungsbeispiel zeigt Abbildung 6 [16]. Hirn- zur Großhirnrinde und spielt eine wichtige Rol- forscher analysieren durch An- und Abschalten le bei der Gedächtnisbildung. Er reagiert nach von Nervenzellen der Versuchstiere, wie Zellen einem Gedächtnisbildungsreiz schon nach 300 kommunizieren, wie Verhalten erzeugt wird, also Millisekunden. Nur diejenigen Erregungen, die Bewegung, Furcht, soziales Verhalten oder wie er an den Hippocampus weiterleitet, führen zur Lernen vor sich geht. Außerdem zeigen Untersu- Speicherung des entsprechenden Reizes im Ge- 14 CLB 66. Jahrgang, Heft 01 - 02/2015
Transhumanismus dächtnis. Auch das Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL) entwickelt dafür spezi- elle „Closed Loop“-Hardware. Man verwendet dabei Silici- umstrukturen, die auf flexible Polymere übertragen und dann zu einem ein Millimeter dün- nen Multielektroden-Zylinder geformt werden (Abbildung 7). Zwei davon mit je 64 Elektroden werden implantiert, können gleichzeitig senden umd emp- fangen. Das RAM-Programm der DARPA wird allgemein als außerordentlich ehrgeizig betrachtet, auch wegen sei- ner Zeitskala: ein Prototyp der Gedächtniszugangs-Apparatur für klinische Tests soll bereits 2017 zur Verfügung stehen [19]. Direkte Verbindungen zwi- Abbildung 8: Eine schen biologischen Gehirnen ausgehend von einer unvollständigen Wissensba- nicht-invasive Hirnschnittstellen sind nicht nur dafür geeig- sis) lösen, die weit über die Leistungsfähigkeit Verbindung net, das Gehirn mit einem Computer zu verbin- einer Turing-Maschine (ein konventioneller zwischen zwei den, sondern auch, es mit anderen biologischen Computer, der ein Programm Schritt für Schritt menschlichen Gehirnen zu verbinden. Erstmals wurde im Fe- abarbeitet) hinausgingen... Gehirnen (Abb.: [19]). bruar 2013 darüber berichtet [20]. Man hat die Mittlerweile gibt es auch Versuche mit BBI- Gehirne von zwei Ratten über eine Hirn-zu-Hirn- Schnittstellen bei Menschen; sie wurden Ende Schnittstelle (brain-to-brain interface (BTBI oder 2014 sogar mit einer größeren Gruppe durch- BBI)) miteinander verbunden. Was die eine Ratte geführt, alledings nicht bidirektional. Vielmehr lernte konnte anschließend in der Mehrzahl der sandte jeweils eine Versuchsperson Gehirnim- Fälle die andere ohne eigenes Training ausführen. pulse an eine andere Person, die daraufhin eine Das ganze funktionierte mittels Internet sogar, von ihr selbst nicht geplante Handlung durch- wenn die eine Ratte bei einer Forschergruppe führte. Zudem waren die verwendeten Interfaces in den USA war, die andere tausende Kilometer nicht invasiv. Konkret verfolgte ein Proband ein entfernt in Brasilien. Besonders bemerkenswert Computerspiel, bei dem er Angreifer einer Stadt an dem Versuch: Es bildete sich offenbar eine mit Kanonenschüssen abwehren musste. Er lö- Abstimmung zwischen den Gehirnen. ste den Schuss jedoch nicht selbst aus, sondern Die Forscher beschrieben dies: „Die Beobach- dachte nur an den Schuss. Diese Gedanken wur- tung legt nahe, dass über das BBI ein hochkom- den über eine Kopfhaube, deren Elektroden die plexes System aus zwei Hirnen geschaffen wird. EEG-Signale aufnahmen, und einer Aufbereitung Dieses „Doppelgehirn“ verhielt sich in einer in einem Computer über das Internet zu dem Weise, die sich nicht vorhersagen ließ, anders zweiten Probanden in einem entfernten Raum also als wenn einfach nur eine bestimmte Si- geschickt. Er empfing die Signale, weil Impulse gnalfolge von einem Gehirn in das andere ein- über eine TMS-Schnittstelle in sein Gehirn gelei- gespeist würde. Wir nehmen an, dass sich über tet wurden. Die magnetischen Kräfte fokussier- die Art des Informationsaustausches in dieser te man auf einen Teil, der für Armbewegungen Hirnzusammenschaltung und die Zusammenar- zuständig war (Abbildung 8). Das Ergebnis: beit der beiden Gehirne in Echtzeit fundamen- Dachte Person 1 an die Auslösung eines Kano- tale Eigenschaften neuronaler Kommunikation nenschusses, bewegte sich bei Person 2 ohne und sozialer Interaktion aufdecken lassen.“ Die eigene Absicht die Hand zu einem Touchpad Forscher betonen, ein BBI müsse nicht auf zwei eines Computers. Der Schuss wurde ausgelöst, Hirne beschränkt bleiben. Es ließe sich auch ein was wiederum Person 1 in seinem Spiel sehen Netzwerk verbundener Gehirne vorstellen. Solch konnte. Die Forscher arbeiten jetzt daran, visu- ein Multi-Hirn, ein organischer Computer, könne elle oder andere komplexere Informationen von wohl heuristische Probleme (komplexe Probleme, einem Hirn auf ein anderes zu übertragen [21]. CLB 66. Jahrgang, Heft 01 - 02/2015 15
Transhumanismus Abbildung 9: Wichtige Entwicklungen neuromorpher Hardware (Abb.: IEEE- Spectrum Oktober 2014; Quellen: Uni Heidelberg, HRL Labs, IBM Research, Stanford Univ., Univ. of Manchester. Man beachte: Die amerikanische Billion ist bei uns eine Milliarde). Künstliche Gehirne Deutlich geworden ist hier si- cher jedoch, dass das Gehirn nicht mehr ein abgeschlossener Kasten ist, wo man nicht heran kommt – und wo nichts heraus kommt, es sei den über die Or- gane des Organismus, der über das entsprechende Hirn verfügt. Ansätze für Schnittstellen sind gegeben, und ihre Erforschung und Weiterentwicklung schrei- tet schnell voran. Man lernt, wie man sich mit dem Gehirn verbindet, seine Funktionen untersucht, seine Struktur entschlüsselt, sogar, Hirnstruk- turen künstlich nachzubauen. Und was wird erst sein, wenn man ein menschliches Gehirn mit einem künstlichen verbin- det? Nun, ich habe darüber bereits Artikel in der CLB ge- schrieben (z. B. [3]); hier daher nur eine Aktualisierung. Es kann meiner Ansicht nach nicht sein, dass man einfach die Leistungsfähigkeit heutiger Computertechnik nach dem Moore‘schen Gesetz extrapo- liert und dementsprechend zu dem Schluss kommt: 2050 sind die Computer x-mal so leistungsfähig wie das mensch- liche Gehirn und haben dem- nach auch ein Bewusstsein. Das Moore‘sche Gesetz, das ja auch nur eine Erfahrung von dem Intel-Mitgründer Gor- don Moore darstellt, macht ja nichts anderes als die Rechen- geschwindigkeit der Mikro- prozessoren zu extrapolieren, allgemeiner noch die Kosten für Computer in Relation zu ihrer Leistungsfähigkeit zu setzten. Typischerweise han- delt es sich da um Leistungen, die sich linear abbilden lassen: 16 CLB 66. Jahrgang, Heft 01 - 02/2015
Transhumanismus Taktgeschwindigkeit, Speichermenge etc. Dem- merziell schon alltäglich im Einsatz als FPGA nach verdoppelt sich seit 1965, dem Jahr der (Field Programmable Gate Array). Und immer Postulierung, diese Leistungsfähigkeit etwa al- mehr versucht man, spezielle Hardware zu ent- le 18 Monate. Diesen Zeitraum nennt jetzt die wickeln, die ähnlich arbeitet wie die Schaltkreise Mehrzahl derjenigen, die das Mooresche Gesetz der Nervenzellen im Gehirn. Solche Hardware bemühen. Nur: Irgendwann ist da Schluss, weil bezeichnet man als neuromorphe Hardware [22]. die zugrundeliegenden Mechanismen auf mo- Zusätzlich zu der Ähnlichkeit ihrer Funktion mit lekularer Ebene angekommen sind, und zudem Neuro-Schaltkreisen hat solche Hardware den wurden zumindest unmittelbar Nichtlinearitäten Vorteil, sehr viel weniger Energie zu benötigen nicht berücksichtigt. als konventionelle Computer. In Deutschland Damit meine ich, dass ein normaler Compu- forscht Prof. Karlheinz Meier an der Universität ter nicht ohne weiteres geeignet ist, Bewusst- Heidelberg auf diesem Gebiet. Er lässt ganze Wa- sein zu beherbergen. Es fehlt ihm an Flexibilität fer mit Chips, auf denen analoge neuromorphe und der Fähigkeit zu dynamischer Entwicklung. Schaltungen laufen, zu Neurocomputern mu- Möglich ist natürlich, auf konventionellen Com- tieren, will jetzt diese Wafer zu noch größeren putern Programme laufen zu lassen, die nach Einheiten zusammenfassen. Weltweit ist er mit neuronalen Prinzipien funktionieren (künstliche dieser Arbeit aber nicht allein, wie ich das auch neuronale Netze). Auf diese Weise sind auch schon geschildert habe [22]; Abbildung 9 zeigt Hirnsimulationen möglich. Ihr Nachteil: Der En- einige der Entwicklungen neuromorpher Hard- ergieverbrauch. ware mit Eckdaten. Ein menschliches Gehirn benötigt nur etwa Derzeit will wohl IBM die Neuromorphic-Ge- 20 Watt; ich muss nicht nochmals beschreiben, meinde einnorden: Mit dem „TrueNorth-Chip“ was sich damit machen lässt ;-) Computer, die hat das Untenehmen die wohl leistungsfähigste nur annähernd Vergleichbares schaffen sollen, Neurochip-Variante im Petto. Er arbeitet mit der benötigten allein zur Energieversorgung 46 neuesten Varianten künstlicher neuronaler Netz- Kernkraftwerke à einem Gigawatt elektrischer werke, den Spiking Neural Networks (siehe un- Leistung! Der Rechnung zugrunde liegt eine ten). Der Chip, der 5,4 Milliarden Transistoren frühe Hirnsimulation aus den Jahren 2005 bis beinhaltet, ist in einem System hoch skalierbar, 2010 am Eidgenössischen Polytechnikum Zürich fehlertolerant und energieeffizient; Signale – und (EPFL), das Blue Brain Project, das zur Simulation damit Energieverbräuche – werden nur generiert, von 10 000 Neuronen einer kortikalen Ratten- wenn die Neuronen feuern. hirnsäule einen Computer mit einer Leistung In der Gemeinde der Forscher, die das Ge- von 23 Teraflops auslastete. Nun hat solch eine hirn simulieren wollen, gibt es verschiedene kortikale Säule beim Menschen rund 100 000 Auffassungen darüber, wie sehr neuromorphe Neuronen, und das Hirn enthält ungefähr eine Schaltkreise sich an die Natur anlehnen müssen, Million derartiger Säulen, macht rund 100 Milli- ob etwa die rund 200 verschiedenen Ionenka- arden Neuronen. Der derzeitige Green500-Spit- näle nachgebildet werden müssen, die man bei zenreiter (November 2014), also der bezogen Neuronen findet. Dies lässt sich derzeit nur auf auf seinen Energieverbrauch leistungsfähigste Supercomputern simulieren. Am Forschungszen- Rechner der Welt, schafft rund 5 Gigaflops pro trum Jülich entsteht dafür im Rahmen des von Watt. Der „L-CSC“ genannte Rechner steht übri- der EU mit einer Milliarde Euro geförderten „Hu- gens in Darmstadt am GSI Helmholtzzentrum für man Brain Project“ (HBP) eine neue Maschine. Schwerionenforschung, schafft derzeit insgesamt Dieser Supercomputer soll in Teilschritten 2016 316,7 Teraflops und wird noch ausgebaut. Zur bis 2018 aufgebaut werden und etwa 50 Peta- Hirnsimulation benötigte man also 230 Exaflops, flops leisten. Damit stünde er bei der aktuellen 230 . 1018 Flops. Dies geteilt durch 5 . 109 Flops,TOP500-Liste der Supercomputer an erster Stel- und man hat die benötigte Leistung in Watt, legt le. Umfangreiche biologienahe Hirnsimulationen man „L-CSC“ zugrunde – wobei diese Überle- erfordern aber Rechner mit Exaflops-Kapazitäten, gung jedoch sehr theoretisch ist: Das verwende- die man für 2021 bis 2022 anvisiert. te Hirnmodell ist noch zu verbessern. So wird Vielleicht gibt es aber auch andere Wege für bislang die Kommunikation von Neuronen über Computer, die neuromorph arbeiten. Absehbare elektrische Felder und der Einfluss der Gliazellen künftige Bauelemente wie Memristoren lassen nicht berücksichtigt. sich beispielsweise sogar sowohl als Prozessor- wie auch als Speicherbausteine einsetzten. Die Neuromorphe Computer Anzahl der Speicherzellen pro Fläche könnten mit Memristoren gegenüber herkömmlichen Es gibt aber auch Hardware, die in der Lage Bauelementen – u.a. auch mit Anwendung von ist, sich neuronal zu organisieren, sich eventuell Stapelbauweisen – um den Faktor 100 000 stei- selbst neue Verbindungen zu schaffen – kom- gen! CLB 66. Jahrgang, Heft 01 - 02/2015 17
Transhumanismus aufgebraucht, so Lancaster. Danach würde ein Schrumpfungsprozess bei den Gewebeteilchen eintreten. Das Größenwachstum der Hirnge- webeteilchen ist begrenzt, weil sie Nährstoffe nur aus der sie umgebenden Flüssigkeit des Bi- oreaktors beziehen. Ihnen fehlt eine Transport- struktur – Adern – in tieferliegende Schichten der Zellaggregate. Insgesamt lässt sich solch ein Minihirn aus dem Bioreaktor in seiner Komple- xität etwa mit der Gehirnstruktur eines Em- bryos in der neunten Schwangerschaftswoche vergleichen. Es lassen sich Differenzierungen beispielsweise in Großhirnareale, Hippocampus oder Netzhautgewebe unterscheiden. Bemer- kenswerterweise sollen sogar einzelne, räumlich voneinander getrennte Bereiche miteinander in Verbindung stehen – wie in einem ausgewach- senen Gehirn. Alles sind jedoch noch grundlegende Arbe- ten. Auch wenn also die aktuelle Situation noch nicht für einen Computer spricht, dem man eine höhere Leistung als dem menschlichen Gehirn zubilligt, möglichst auch ein Bewusstsein: Wege Abbildung 10: Oben komplex heterogen aufgebaute Hirngewebeobjekte, wie sie sich dahin sind bereits aufgezeichnet – und sie wer- in Bioreaktoren erzeugen lassen. Der ausdifferenzierte Aufbau wird in Gewebeschnit- den wie beschrieben mit Nachdruck verfolgt. ten (Bild unten) deutlich und zeigt Ähnlichkeiten zu menschlichen Hirngeweben, wie Grundsätzlich sollte es möglich sein, eine kom- Lancaster ausführte (Vortragsfotos: RK). plexe Struktur zu entwickeln, die das mensch- liche Gehirn an Leistungsfähigkeit übertrifft. Was kaum jemand wahrgenommen hat: Ab 2019 will Hewlett Packard Computer mit Mem- Globales Gehirn ristoren bauen; Bauelemente damit sollen bereits 2016 verfügbar sein. Und: Im HP-Bereich For- Die technischen Details in den vorangegangenen schung und Entwicklung arbeiten inzwischen Abschnitten lassen den Gedanken an den Trans- drei Viertel aller Mitarbeiter an diesem Projekt humanismus etwas in den Hintergrund treten, [23]. Man darf gespannt sein... aber ich denke, sie sind wichtig, um die Mög- lichkeiten und die Dynamiken der herrschenden Minihirne im Bioreaktor Entwicklungen zu verstehen – und zu sehen, wie Die ingenieursmäßige Planung von Mikrochips sich daraus etwas Übermenschliches entwickelt. macht sie natürlich für die Technik interessant. Einen wichtigen (von sicher etlichen anderen Nicht vergessen werden darf allerdings, dass nicht unbedeutenden) Aspekten gilt es noch zu auch Biologie-basierte Methoden erstaunliche beschreiben: Das informelle Zusammenwachsen Fortschritte machen. So ist es Dr. Madeline Lan- der Menschen in dieser Welt. caster (Institut für Molekulare Biotechnologie 2014 wurden voraussichtlich rund 1,3 Mil- IMBA, Österreichische Akademie der Wissen- liarden Smartphones abgesetzt [25]. Gemäß schaften, Wien) gelungen, aus pluripotenten einer neuen Studie soll es bis zum Jahr 2020 Stammzellen in vitro komplexe neuronale Ge- weltweit 6,1 Milliarden Smartphoneteilnehmer webe zu züchten, welche frühen Stadien des geben [26] (Abbildung 11). Zusätzlich mit nor- menschlichen Gehirns ähneln [24]. Erstmalig ist malen Handys, mobilen Computern, Tablets etc. es möglich, die Entwicklung von Hirnstrukturen soll der gesamte Mobilfunkbereich bis dahin auf in einem dreidimensionalen organähnlichen Ge- insgesamt 9,5 Milliarden Geräte ansteigen. 90 webe nachzuvollziehen. Die Forscherin hat es Prozent der Weltbevölkerung über sechs Jah- geschafft, die Stammzellen im Bioreaktor zu ren sollen zumindest über ein Gerät dieser Art Hirngewebe-Teilchen heranwachsen zu lassen, verfügen. Und alles ist miteinander verbunden. die eine Größe von ungefähr fünf Millimetern Wen wundert es da, dass Ideen eines globalen haben (Abbildung 10). Rund 20 bis 25 davon Bewusstseins auftauchen? Schließlich wird mit befinden sich in jedem Bioreaktor. Geschätzt der Anzahl der Menschen von etwa sieben Mil- etwa 100 000 Neuronen enthält so ein „Mini- liarden eine Größenordnung erreicht, die in hirn“. Diese würden rund sechs Monate lang die Nähe der Anzahl der Neuronen im mensch- wachsen; dann sei das Potential an Stammzellen lichen Gehirn kommt. 18 CLB 66. Jahrgang, Heft 01 - 02/2015
Transhumanismus Statistik zum Gehirn– ungenau Stufen (kortikale Verarbeitungsschritte) durch- laufen werden [28]. Das funktioniert, obwohl die Diese wird meist mit 100 Milliarden angenom- normalen Feuerfrequenzen von Neuronen unter men. Neue Ermittlungen präzisieren die Zahl auf 100 Hertz, eher bei 10 Hertz liegen. Allein das 86 Milliarden bei einem Mann mittleren Alters. Anschalten und Abklingen eines Spikes dauert Nach den Ergebnissen ist das Verhältnis von Gli- eine tausendstel Sekunde; viel häufiger als etwa azellen zu Neuronen auch nicht 10:1 wie meist zehnmal pro Sekunde sendet ein typisches Neu- angenommen, sondern lediglich 1:1 [27]. So ron nicht. Eine Lösung zur Übermittlung größerer oder so: Das durchschnittliche Gehirn hat rund Informationsmengen: Es hatten sich auch experi- zehnmal soviel Neuronen wie Menschen auf der mentelle Anzeichen angesammelt, dass viele bi- Erde leben; das lässt sich doch vergleichen. Dazu ologische Systeme zeitliche Abstände zwischen sollten noch ein paar weitere Zahlen und Überle- Spikes nutzen, um die Information zu kodieren. gungen kommen. Neuronen zeigten ebenso ihre Fähigkeit, mit gro- Noch etwas ungenauer wird das bei Synapsen, ßer zeitlicher Präzision zu feuern. Im Gehirn sind den Verbindungselementen zwischen den Ner- solche Informationsverschlüsselungen über Tak- venzellen. Ein einzelnes Neuron kann zwischen traten darstellbar, weil es – anders als ein Com- einer und 200 000 synaptische Verbindungen puter mit einer einzigen Taktrate (typischerweise haben; im Durchschnitt spricht man jedem Neu- im Gigahertz-Bereich) – asynchron arbeitet. ron 10 000 Synapsen zu, macht ca. 100 Billionen Die feuerratenabhängige Plastizität von Sy- (1014) Synapsen pro menschlichem Gehirn. napsen wurde übrigens von Henry Markram Die Informationsübertragung zwischen Neu- entdeckt, als er Anfang der 90er Jahre in dem ronen ist wohl komplexer als lange Zeit ange- Heidelberger Labor von Bert Sakmann als Post- nommen, geschieht nicht nur über einzelne doc arbeitete. Sakmann war es gelungen, mit Impulse, die man in „Feuerraten“ quantifizieren feinsten Glasröhrchen die elektrischen Impulse kann. Getrieben wurde die Forschung durch die einzelner Neuronen zu belauschen. Für die Ent- Frage, wieso Menschen ein so schnelles Reakti- wicklung dieser Patch Clamp-Technik erhielt er onsvermögen haben. Etwa bis Ende der 1990er 1991 den Nobelpreis. Henry Markram ist jetzt Jahre des vorigen Jahrhunderts ließen alle KNN- Direktor des Human Brain Projects, mit dem die Modelle in ihrer theoretischen Beschreibung EU versucht, mit Mitteln von etwa einer Milli- jedoch eins weitgehend außer Acht: die Zeit. arde Euro über zehn Jahre die Hirnforschung in Später hat man jedoch festgestellt: Es hängt sehr Europa konkurrenzfähig zu halten – und mit dem genau von der zeitlichen Differenz ab, mit der schließlich ein Gehirn simuliert werden soll. die Neuronen relativ zueinander einen Impuls Zusammen genommen gibt es Abschätzungen, abgeben, wie sehr sich ihr weiteres Zusammen- dass pro Sekunde im Gehirn eine Informati- wirken verbessert. Dieses Prinzip nennt man onsmenge im Terabyte-Bereich umgesetzt wird, „Spike Time Dependent Plasticity“ (STDP). Ent- wenn man für die Beschreibung von Ort und Zeit sprechende Netzwerke heißen Spiking Neural eines Aktionspotentials einen Informationsbedarf Networks (SNN). von nur 20 Bits ansetzt. Diese Beschreibung Abbildung 11: Bis Aufwändige Experimente haben gezeigt, das vi- ist wichtig: Aktionspotenziale im biologischen zum Jahr 2020 suelle Musterklassifizierung beim Menschen in Netzwerk tragen eigentlich nur zwei Informati- soll es weltweit 6,1 Milliarden nur 100 Millisekunden ablaufen kann. Bemer- onen: „woher?“ und „wann?“. Grob abgeschätzt Smartphoneteil- kenswert ist, dass dabei etwa zehn synaptische liegt die „Rechenleistung“ eines Gehirns wohl nehmer geben [26]. CLB 66. Jahrgang, Heft 01 - 02/2015 19
Transhumanismus Abbildung 12: Diese Zusammenstellung der Präfixe im SI-System sollte man sich merken: 5,3 Zettabyte an Daten rasen bald um die Welt. im Teraflops- bis Exaflops- oder sogar Petaflops- brät [30]. Dennoch käme keiner auf die Idee, ihn Bereich – immerhin eine Spanne mit dem Faktor mit einem menschlichen Gehirn zu vergleichen, Million (siehe zu diesen Angaben z. B. [29]). Ich ihm etwa ein Bewusstsein zuzugestehen. betone aber, dass dies nur Zahlen sind, die über- haupt eine erste und einfache Annäherung an die 5,3 Zettabyte gehen bald um die Welt Leistunsfähigkeit des Gehirns durch Vergleiche Das gilt momentan wohl auch für den welt- ermöglichen sollen. An sich machen sie wenig weiten Datenverkehr, obwohl der schon jetzt Sinn, repräsentieren sie nicht ansatzweise die unvorstellbar groß ist. Die Zahlen sind seit den Komplexität des Gehirns. Das erkennt man auch NSA-Enthüllungen durch Edward Snowden zwar daran, das der aktuell schnellste Supercomputer, ziemlich publik geworden; verstanden hat sie der chinesische Tianhe-2 (Milchstraße-2), 33,8 wohl niemand. Zunächst einmal zur Einordnung: Petaflops leistet – und dafür 17,8 Megawatt ver- 2012 standen laut IDC (International Data Corpo- ration; global führender IT-Marktforscher, -Verle- ger, -Veranstalter) 2600 Exabyte an Speicherplatz Tabelle 1: Versuch, Nervenzellen und Gehirn mit Menschen und der Kommunika- zur Verfügung, anders ausgedrückt: 2,6 . 1021 tion in der globalen Gesellschaft zu vergleichen – mit teils verwaschenen, kaum fassbaren Größen. Aber einen Versuch soll es wert sein ;-) (Quellen: siehe Text). Byte bzw. 2,6 Zettabyte (zu den Präfixen im SI-System siehe Abbildung 12). Allein die Welt- Eigenschaft Neuron / Gehirn Mensch / Welt produktion an neuem Festplatten-Speicherplatz Kommunikationsrate 100 Byte/s 10 Kontakte/h betrug in jenem Jahr 0,5 Zettabyte. Und 2017 sollen insgesamt 7,2 Zettabyte zum Speichern Informationsmenge klein sehr groß bereit stehen, so die IDC, eine Verdreifachung pro Kontakt in fünf Jahren [31]. beteiligte Anzahl an bis zu 100 Milliarden bis zu 6 Milliarden Viel zu tun, wenn man das alles durchsuchen Objekten Hirn / Welt Mobilfunknutzer will – aber das Pentagon bzw. die NSA wollen Komplexität der Ver- sehr hoch sehr hoch offenbar. Das US-Verteidigungsministerium will schaltung / Kommuni- sein weltweites Datennetzwerk ausbauen, das Sa- kationswege tellitendaten genauso anzapft wie unterseeische Glasfaserkabel und „Global Information Grid“ Datenumsatz grob Zettabyte Zettabyte genannt wird, so ausbauen, dass es Yottabyte Hirn / Welt pro Jahr (1021 Byte) an Daten behandeln kann, 1024 Byte, eine Qua- 20 CLB 66. Jahrgang, Heft 01 - 02/2015
Transhumanismus drillionen Byte, unvorstellbar – oder? [32] Selbst Jetzt wird es noch etwas schwammiger: Wieviel wenn die Zahlen ev. aufgrund der typischen Informationen werden pro Kommunikation, pro deutsch: Milliarde / englisch: billion-Irrtümer Kontakt mit einem vergleichbaren Objekt übertra- oder pressemarktschreierischer Übertreibungen gen? Beim Neuron ist das fassbar, beim Menschen zu hoch gegriffen sein sollte – und viele der Da- nicht mehr. Er kann buchstabieren, aber auch ei- ten redundant bzw. locker ausgedrückt Schrott nen Film zeigen. Besonders beliebt heutzutage sind [33], real ist: In nur zwei Jahren, 2017, wird ist es, ein „Like“ in einer sozialen Plattform zu der globale Internetverkehr nach Experten des setzen. Über die semantische und pragmatische Internetrouter-Anbieters Cisco rund 5,3 Zetta- Ebene der Informationsübermittlung werden da- byte (5,3 . 1021 Byte) betragen; 2012 waren dies bei eine ganze Menge Informationen übermittelt. 1,27 Zettabyte [34]. Es ging mir in den vergangenen Absätzen also Hoher Komplexitätsgrad darum, dass man ein Gefühl dafür entwickelt, weltweiter Kommunikation welche Informationsmengen wie einfach oder Das Fazit: Schon die derzeitige weltweite komplex in uns, aber auch in unserer Welt be- Kommunikation lässt sich hinsichtlich ihrer wegt werden. Ich will das Material zudem zu Komplexität mit der Kommunikation innerhalb einem weiteren, wenn auch noch spekulativeren eines Gehirns vergleichen. Fraglich ist, ob das Gedanken verwenden und einen Menschen mit ausreicht ein Bewusstsein zu bilden – zumal wir einer Nervenzelle bzw. ein Gehirn mit der Kom- gar nicht so genau wissen, was ein Bewusstsein munikation in der Welt vergleichen; warum? Nun, ist. Selbst wenn wir unsere normale Bewusst- vielleicht lässt sich so eine Ahnung von einem seinserfahrung als Maßstab nehmen: Würden globalen Bewusstsein zeigen. wir erfahren, ob sich in dem weltumspannenden Datennetz ein Bewusstsein entwickelt? Eine ein- Informationsreduktion zelne Nervenzelle hat auch keine Ahnung davon, Es mag dabei oberflächlich und verwaschen dass die Ansammlung von Milliarden ihresglei- sein, eine „Kommunikationsrate“ anzugeben, die chen der Meinung ist, „ich“ sagen zu können... beim Neuron in Byte pro Sekunde, beim Men- Da ist es natürlich einfacher, man hat einen schen in menschliche Kontakte pro Stunde ge- hochentwickelten neuromorphen Computer vor messen wird (Tabelle 1). Nur: Wie will man sich sich sitzen, einen einzelnen „Ansprechpartner“ anders der komplexen Situation nähern? In der also, der auch mal sagen kann: Danke, es geht menschlichen Kommunikation werden sehr viel mir gut ;-) Informationen übertragen, aber es findet auch Dennoch ist auch für den Menschen erkennbar, eine ungeheure Informationsreduktion statt. Ein- dass die moderne Kommunikation etwas Globa- fach lässt sich das bei der Sprache darstellen: Ein les schafft. Es gibt Rückkopplungswege, über die Hifi-Sprachsignal mit einer Abtastfrequenz von die Kommunikation der vielen Einzelnen wieder 20 kHz bei 16 Bit Abtastgenauigkeit hat einen auf die Einzelnen zurückwirkt. Informationsfluss von 320 000 Bit pro Sekunde (40 kByte/s). Die darin enthaltene Information, Emergente Phänomene die zum Verstehen der Nachricht notwendig ist, Das ist eine wichtige Eigenschaft emergenter beträgt jedoch nur 10 bis 20 Bit pro Sekunde – Prozesse. Emergenz zu definieren ist nicht unter Einbeziehung von Syntax, Semantik und einfach. Kurz gefasst heißt es typischerweise: Pragmatik (siehe „Mehrere Ebenen der Informa- Emergenz ist das Auftauchen von neuen System- tion“ in [3]). zuständen durch das Zusammenwirken seiner Noch bemerkenswerter ist die Informationsre- Elemente, die nicht durch die Eigenschaften duktion beim Sehsinn: Unsere Augen nehmen der beteiligten Systemelemente erklärt werden etwa 10 Gigabit pro Sekunde an Daten auf. Be- können. Aber es gibt reichliche Facetten von reits die Informationsverarbeitung in der Netz- der Definition für Emergenz, wie es die Sätze- haut sorgt dafür, dass nur 6 Megabit pro Sekunde Sammlung von Robert B. Laughlin dazu zeigt: über den Sehnerv transportiert werden müssen. „Emergenz bedeutet, eine komplexe Organisati- Bis ins primäre Sehzentrum des Gehirns erfolgt onsstruktur entsteht aus einfachen Regeln. Emer- eine weitere Kompression auf 10 Kilobit pro Se- genz bedeutet eine stabile Unausweichlichkeit kunde. Davon gelangen dann etwa 100 Bit pro gemäß der Lage der Dinge. Emergenz bedeutet Sekunde ins Bewusstsein [35], eine Informati- Unvorhersagbarkeit in dem Sinne, dass kleine onsreduktion um den Faktor 100 Millionen! Und Ereignisse große qualitative Veränderungen bei in einem Tag vergisst der Mensch schon wieder größeren (Ereignissen) hervorrufen. Emergenz den größten Teil dieser Informationen... So be- bedeutet die grundsätzliche Unmöglichkeit von trachtet denke ich, ist es auch verständlich, die Kontrolle.“ Und der US-Physiker Laughlin, No- Kommunikationsrate von Menschen in Kontak- belpreisträger des Jahres 1998 für seinen Beitrag ten pro Stunde anzugeben. zur theoretischen Erklärung des fraktionellen CLB 66. Jahrgang, Heft 01 - 02/2015 21
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