Transmitter - Freies Sender Kombinat
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/ / / / / / / / a b s e n d e r − a g r a d i o e . V. , V a l e n t i n s k a m p 3 4 a - 2 0 3 5 5 H a m b u r g , p o s t v e r t r i e b s s t ü c k c 4 5 4 3 6 , e n t g e l d b e z a h l t , d p a g / / / / / / / / / transmitter freies Radio im November Freies Sender Kombinat 93,0 mhz Antenne 101,4 mhz kabel www.fsk-hh.org/livestream 1120
Unterstützt das Freie Sender Kombinat! FSK finanziert sich über Fördermitgliederianer. Die redaktionelle Arbeit im Freien Radio ist zwar unbezahlt, trotzdem kostet die Produktion von Sendungen Geld: Miete, Übertragungsleitungen, Technik, GEMA, Telefon, Büromaterial usw. Eine Vielzahl von Unterstützer_innen kann die die Unabhängigkeit von FSK gewährleisten. Wer beschliesst, das Freie Sender Kombinat zu unterstützen (oder jemand anderen davon überzeugt) bekommt dafür eine der hier abgebildeten Prämien. Aber nur, so lange der Vorrat reicht! Kristine von Soden: »Ob die Möwen manchmal an mich denken?«, Aviva Verlag 1 Mit dem Aufstieg der Seebäder im Wilhelminischen Kaiserreich kam sogleich auch der »Bäder-Antisemitismus« auf. »Judenrein!« lautete die Parole an der deutschen Ostseeküste, lange bevor der NS-Staat Wirklichkeit war. Schon damals drucken jüdische Zeitungen »Bäder- listen« ab, warnen vor Badeorten, in denen jüdische Gäste unerwünscht sind. Als »Juden- bäder« wiederum gelten Orte wie Heringsdorf, wo zunächst noch eine liberale Atmosphäre herrscht. Buch 208 Seiten, gebunden. Andreas Speit (Hg.) | Jean-Philipp Baeck (Hg.): Rechte Egoshooter, Ch. Links Verlag 2 Von der virtuellen Hetze zum Livestream-Attentat. Weltweit gibt es rechtsterroristische Attentate eines neuen Typs. In Halle (Saale) verhinderte nur eine verschlossene Holztür der Synagoge ein größeres Massaker. Am 9. Oktober 2019 wollte dort ein Rechtsextremist die versammelten Juden hinrichten. Mit selbstgebauten Waffen schoss er auf die Tür und warf eigens hergestellte Sprengsätze. Online konnten Gleichgesinnte zusehen, wie er zwei Men- schen ermordete: Seine Tat verbreitete er per Videokamera auf einem Portal für Comput- erspiel-Videos. Er ahmte damit andere »Egoshooter« nach - wie einen Rechtsextremisten, der in Neuseeland wenige Monate zuvor die Tötung von 51 Menschen live im Internet übertragen hatte. Was treibt Menschen vom Bildschirm zur realen Gewalt auf der Straße? Broschur 208 Seiten, 2,5 x 20,5 cm Stuart Hall – Vertrauter Fremder – Ein Leben zwischen zwei Inseln, Argument Verlag 3 Die Autobiografie des Cultural Studies-Begründers STUART HALL verbindet persönliche Erfahrung und Erinnerung mit klugen Diskursen um Race und (Post)Kolonialismus, liefert eine Musik- und Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts und führt in komplexes politisch- kulturelles Denken ein: zugänglich, stellenweise heiter, kohärent und geschmeidig. Das Leben in der Diaspora schärfte Stuart Halls Blick auf Gesellschaft. Seine Erinnerungen zeigen das (post)koloniale Jamaika, das England der 1950er, die Weltpolitik, die Entwick- lung der New Left. Eine bereichernde Lektüre für alle, die politisch interessiert sind, sich mit den Themen Race, Identität, Kolonialismus, Kapitalismuskritik befassen und/oder mit der Aneignung von Kultur und Geschichte. Dieses Buch ist auch ein Einstieg in Stuart Halls Denken und theoretisches Arbeiten. 304 Seiten, Hardcover mit Lesebändchen abschneiden und an FSK schicken / bei fragen anrufen unter 040 43 43 24 Ich werde Fördermitglied*in des FSK Vor/Nachname und spende monatlich.. Straße/Nr. 5,- 10,- Zahlungsweise: monatlich 20,- 50,- vierteljährlich PLZ Ort ... euro halbjährlich Telefon Ich erteile einen Abbuchungsauftrag. Email Wenn das Konto die erforderliche Deckung nicht aufweist, Fördermitglieder bekommen zum Jahresende eine Spenden- besteht seitens des kontoführenden Geldinstituts keine Ver- quittung zugeschickt. Bitte teilt uns Adress-/Kontoänderungen pflichtung zur Einlösung. Der erteilte Abbuchungsauftrag umgehend mit. Es entstehen sonst zusätzliche Kosten. gilt bis er schriftlich oder telefonisch widerrufen wird. Ich will... IBAN das Buch “Ob die Möwen manchmal an mich denken?” das Buch “Rechte Egoshooter” BIC Das Buch “Stuard Hall - Vertrauter Fremder” Ich möchte die Programmzeitschrift Transmitter zugeschickt bekommen und spende zusätzlich 12,- Euro jährlich für die Nichts. danke. Programmzeitschrift Transmitter. Ort / Datum Ich möchte zum Jahresende bitte eine Spendenquittung zugeschickt bekommen. Adresse bitte mitteilen. Unterschrift
Editorial Es gibt kein Ende Nun also November. 2020 ist ein nicht enden wollendes Jahr des Inhalt FSK unterstützen Schreckens. seite 2 Wir zitieren in Auszügen vier Menschen, die von JETZT zu dem Anschlag an der Synagoge in Schon wieder eine Konferenz Hamburg vom 4. Oktober befragt worden sind: Seite 4 „Mein erster Gedanke nach dem Vorfall in Hamburg war: Es wird Zeit, sich bei einem Selbst- Für eine neue Strategie Debatte verteidigungskurs anzumelden. … Das ganze Jahr über wurde über Halle gesprochen. Und wir in Seite 6 der jüdischen Gemeinde haben uns gefragt: Wo wird es als nächstes passieren?“ (Anna Staroselski, Die Totalität des Rassismus- 24, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion) Seite 8 „Der Grund, warum es antisemitische Angriffe wie in Hamburg gibt, ist, dass die Täter viel Un- Unangreifbar? terstützung finden. Da spielen vor allem Online-Foren und Chatgruppen eine bedeutende Rolle. Sie Seite 11 sehen sich sozusagen nur als die Speerspitze des Antisemitismus, die zur Tat schreitet. Deswegen soll- New Neighbours Event te man auch nicht von Einzeltätern sprechen. … Im Antisemitismus geht es nämlich nicht darum, Seite 13 was jüdische Menschen machen oder wollen, sondern darum, was andere über Jüdinnen und Juden Buch: Wahre Helden denken. Um Antisemitismus tatsächlich zu bekämpfen, muss man sich deshalb kritisch mit sich Seite 14 selbst auseinandersetzen.“ (Monty Aviel Ott, 29, jüdischer LGBTQI*-Aktivist) Sendungsvorstellung „Den Taten in Hamburg oder Halle gehen Worte voraus. Es beginnt bei Worten im Alltag, das Seite 15 erleben Jüdinnen und Juden an jedem Tag. … Dass es um mehr geht als um die Frage, ob es ein Radioprogramm wahnhafter Rechtsextremer war. Es gibt keine Einzeltäter ohne strukturelle Ignoranz der Mehrheits- Seite 16 gesellschaft. Es geht nie nur um die Einzeltat.“ (Laura Cazés, 30, arbeitet bei der Zentralen Wohl- Impressum & Termine fahrtsstelle der Juden in Deutschland) letzte Seite „wenn wir über das Judentum reden, dann meistens nur in drei Kontexten: Shoa, Antisemitis- mus oder Nahostkonflikt. Ansonsten kommt die jüdische Gemeinde nicht zu Wort. Auch wenn das natürlich wichtige The- men sind, ist das nicht alles, was uns als jüdische Gemeinde und unser Leben ausmacht.“ (Bini Guttmann, 24, Präsident der Europäischen Union Jüdischer Studenten) Die Tat in Hamburg und andere, auch der Mordversuch mit einem PKW in Henstedt-Ulzburg vom 18. Oktober sind eingebettet in ein spezifisches gesellschaftliches Umfeld, welches im Verlauf der Pandemie noch einmal dynami- siert ist. Nach der letzten Bundestagswahl von vor drei Jahren haben wir angesichts des Abschneidens der AfD davon gesprochen, daß die Schwelle zur Bewegung überschritten ist. Aus dieser Bewegung heraus und in ihrem Schutz be- wegen sich Täter*innen. Und, Ja: Gerade hier in Hamburg sind die Gegenkräfte auch stark, zumindest im öffentlichen Auftritt und können auch ganz gut vernetzt agieren. Dennoch verweisen die Ereignisse und die politischen Dynami- ken auf neue Notwendigkeiten. Die Regierungsmaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie werden von Teilen der Bevölkerung angesichts der eigenen Ohnmacht als willkürlich, von Nazis ob der allgemeinen Depression als Chance verstanden. Unwillkürlich wird daraus eine scheinbare politisch-oppositionelle Positionierung. Diese hat mit dem eigentlichen Gegenstand, dem Virus schon nichts mehr zu tun und geht teilweise soweit, sich diesem auszuliefern, vor allem die Schutzlosen auszu- liefern, um sich der Komplexität der eigenen Handlungsnotwendigkeiten nicht aussetzen zu müssen. Zu dieser Kom- plexität würde gehören, sich Kenntnis zu verschaffen. Erkenntnis. Eine solche wäre, hinzuschauen, daß und wie der Virus Ergebnis einer fehl verlaufenden Vergesellschaftung ward (Produktion um des Mehrwertes wegen anstelle der gesellschaftlichen Bedürfnisproduktion). Komplexität ist auch, dieses Verhältnis aufzulösen zu beginnen, zumindest solches Vorhaben zu wollen. Daran exakt hindert die Verengung des Blicks auf die Regierungsmaßnahmen, welche kein Thema sein zu hätten, wäre die Bevölkerung in Selbstorganisation angetreten sich ohne jede staatliche Sanktionie- rung zu schützen. Für die begonnene zweite Welle vielleicht noch ein Hinweis zur rechten linken Zeit. Die ersten Monate unter Corona Bedingungen haben unterstrichen: Corona trifft die Ärmsten und die unge- schütztesten Menschen zu aller Erst. Eine Stadt wie Hamburg verfügt über Aktivist*nnen Netzwerke sowohl der Fläche als auch der Themen. Es gibt viele selbstorganisierte Stützpunkte. Mit dem G20 war sichtbar geworden, daß funtionie- rende Strukturen auch ein Maß politischer Gegenöffentlichkeit zu schaffen in der Lage waren und sind. Wagen wir mal die These, daß ein Berliner Durchmarsch zur Räumung besetzter, kollektiver Räume wie er dort gerade stattfindet hier bedeutend schwerer möglich ist. Das sind einige Stärken. Schwäche bleibt daß Stimmen, die wir oben zitiert haben, viel zu wenig gehört sind. Diese Stimmen sind nicht die einzigen und dieser Zustand muß im Zeichen der Abwehr der faschistischen Gefahr weggearbeitet werden. Eine Gefahr, welche u.a. von der Bewegung der Corona Leugner*innen ausgeht, wie auch von Bundeswehr- SEK- etc. Einsätzen. Zu erinnern wäre an den ge- hypten Begriff der „Systemrelevanten“. Es sind Beschäftigte der Care-, Transport-, Ausbildungsbereiche, die die Last der gesellschaftlichen Arbeit unter Bedingungen der Pandemie tragen. In diesen Wochen wird entschieden, was über das sichtbar gewordene hinaus das gesellschaftlich bestimmende wird. Hier ein Plädoyer für starke solidarische Netzwerke, die aus ihren gesellschaftlichen Positionen heraus diese öffentlich wirksam artikuliert und zugleich das gemeinsam stärkende „auf die Strassen bringt“. Generalstreik also, am besten bis Weihnach- ten schon. Ziel: Postkapitalistische Vergesellschaftung, nenne sich sich das wie es kommt. Notwendig ist, dem Massen- konformismus nicht die Alternative anzubieten; notwendig ist ihm eine neue Gesellschaftlichkeit entgenzusetzen. tm redaktion 3
Schon wieder eine Konferenz in Potsdam... Den 3. Oktober, den Tag der deutschen Wie- nis disparater linker Gruppen names „Radikale dervereinigung, begeht eben dieses wiederverei- Linke“, das sich im Herbst 1989 zusammenfand, nigte Deutschland seit drei Jahrzehnten in Form 1990 zwei große Demonstrationen unter den Motti eines zentralen Festaktes, der jedes Jahr in der „Nie wieder Deutschland“ (12. Mai 1990, Frankfurt Hauptstadt eines anderen Bundeslandes stattfin- a. Main) und „Der Tod ist ein Meister aus Deutsch- det. Diese Mischung aus Volksfest mit Vorführung land“ (3. November 1990, Berlin) und einen Kon- des Polizeisportvereins, Tourismuswerbung und gress (Pfingsten 1990, Köln) organisierte und 1991 ökumenischem Gottesdienst war in den letzen während des 2. Golfkrieges zerfiel. Dieser Teil der Jahren immer wieder Ziel kritischer Interventio- linken Geschichte, ist jüngeren Linken, auch jenen, nen seitens des Teils der Linken, der die Kritik an die den Slogan „Nie wieder Deutschland!“ auf De- Deutschland und den hierzulande herrschenden monstrationen bis heute weitertragen, oft – wenn spezifischen Formen der Vergesellschaftung, be- überhaupt – nur in Umrissen bekannt. In Potsdam kannt als „die deutschen Zustände“, in den Mittel- sollte nun noch einmal betrachtet werden, inwie- punkt des eigenen Nachdenkens gerückt hat. Diese fern sich die damals geäußerten Kritiken heute antideutsche Linke war und ist einerseits die theo- noch gegen die „deutschen Zustände“ in Stellung retisch und bewegungsdynamisch wirkungsmäch- bringen ließen. Dabei, so zumindest die in Refe- tigste Reaktion in der deutschsprachigen Linken raten der VeranstalterInnen artikulierte Position, auf den Zusammenbruch des Ostblocks und den sollte der Kampf gegen die „deutschen Zustände“ dadurch möglich gewordenen Wiederaufstieg nicht von einer Position der Affirmation einer Deutschlands zur europäischen Großmacht. An- bürgerlichen, westlichen Zivilisation aus erfolgen, dererseits befindet sich diese politische Strömung sondern von einer der umfassenden Negation be- seit längerem in einer tiefen Krise. Diese drückt stehender Herrschafts- und Gewaltverhältnisse, sich v.a. darin aus, dass antideutsche Protagonis- mithin von einer kommunistischen. tInnen, die mit der Bezugnahme auf die kritische Theorie in den 1990er und frühen 2000er Jahren Zu diesem Zweck ließ man einen großen Teil tatsächlich weitreichende theoretische Impulse zu des inhaltlichen Programms von Jutta Dithfurth setzen vermochten und die den Anspruch vertre- und Thomas Ebermann bestreiten, Protagonis- ten, durch theoretische Auseinandersetzung und tInnen der 1990er „Nie wieder Deutschland“-Be- Kritik zu wirken, in den letzten fünf Jahren nur wegung, die deren Erbe bis heute aktiv publizis- noch bedingt Beiträge zum Verständnis aktueller tisch vertreten. Ihnen sprangen zu Seite Friederi- Verhängnisse leisteten. ke Gremliza,Thorsten Mense, Lucas Mielke, Luise Meier und per Videoschaltung und Grußwort Auch wenn in Einladungs- und Ankündi- Dietmar Dath und Max Czollek. gungstexten so explizit nicht thematisiert, stand dieses Spannungsfeld zwischen vergangenem the- Der Titel der Eröffnungsveranstaltung, des oretischem Aufbruch und aktueller Sprachlosig- „Podiums der Absagen“ hätte auch als Titel für die keit durchaus im Zentrum einer Konferenz, die ersten zwei Tage des Kongresses dienen können. vom 2. bis 4. Oktober in Potsdam im linken Ver- Denn Absagen wurden dabei klar und präzise in anstaltungszentrum „Freiland“ stattfand. Gedacht verschiedene Richtungen verteilt. Sowohl, soweit war die Konferenz als inhaltlicher Kontrapunkt zu in Potsdam nicht weiter verwunderlich, in Rich- den in diesem Jahr eben in Potsdam stattfinden- tung einer weichgespülten deutschnational-sozial- den zentralen Einheitsfeierlichkeiten. Der Titel demokratischen Preußennostalgie, wie sie sich in „re:kapitulation – Kein Ende der Geschichte“ ver- den Projekten des Wiederaufbaus der Potsdamer wies dabei u.a. auf Hauptanliegen dieses Treffens, Garnisonkirche und des Berliner Stadtschlosses die Rekapitulation linksradikaler Kritik an der äußert, als auch in Richtung eines zivilgesellschaft- deutschen Wiedervereinigung. Träger dieser Kri- lich-mitmachenden Verwaltens des gegenwärtigen tik war vor dreißig Jahren zuvorderst ein Bünd- Elends. Aber auch in Richtung einer postantideut- 4
Foto: Anderer Ort und andere Zeit schen Pseudobürgerlichkeit, die die Erkenntnis, standteil autoritärer Revolten in den letzten Jahren, dass die Bedingungen der Barbarei in der bürger- die Aufrechterhaltung bürgerlich-demokratischer lichen Gesellschaft fortleben, längst verdrängt hat. Verhältnisse in Europa zu denen Moria, Frontex und die Folterlager in Libyen aber untrennbar ge- Mit derlei Absagen und dem Festhalten an hören und die sich zuspitzenden Konflikte zwi- einer Verknüpfung der Kritik der politischen Öko- schen dem um die Stabilisierung seiner ökono- nomie mit der Kritik an Ideologie und Subjektkon- mischen Hegemonie bemühten Deutschland und stitution im Kapitalismus, in Deutschland immer den krisengeschüttelten USA sind Kritiken, die in gedacht vor dem Hintergrund der historischen Er- der Tradition des 1990 artikulierten „Nie wieder fahrung des vollendeten Umschlages in die Barba- Deutschland!“ stehen, schwerlich als obsolet zu be- rei von Volksgemeinschaft, Vernichtungskrieg und zeichnen. Aber durchaus Ausformungen der prak- Shoa, befindet man sich in einer minoritären Posi- tischen Artikulation dieser Kritik. Das Treffen in tion. Aktuell in einer, die noch weniger wirkmäch- Potsdam könnte mithin eventuell Ansatz für eine tig ist als jene der „Radikalen Linken“ 1990. Dies positive Historisierung der 1990er „Radikalen Lin- war den Anwesenden in Potsdam nur zu bewusst. ken“ und der von ihr ausgehenden politischen Ent- Aber auch die Gefahren, die sich aus dem Einrich- wicklungen sein. Eine Historisierung dergestalt, ten in einer Ecke elitären Unverstandenseins er- dass die Bewahrung der Erinnerung an die „Nie geben können. Insbesondere Thomas Ebermann wieder Deutschland!“-Bewegung verknüpft wird thematisierte in seinen durch Marcuse theoretisch mit der Reflexion über die historischen Bedingt- grundierten, an eigene Erfahrungen von Leid, Re- heiten formulierter Kritik zum Zwecke das aktuelle bellion, Reflexion und politischer Einsamkeit an- Deutschland im Bewusstsein seiner historischen knüpfende Überlegungen diesen Umstand. Dabei Gewordenheit angreifen zu können. warf er wiederholt die Frage auf, inwieweit eine Auseinandersetzung mit den Konflikten in und um Veranstaltungen des Kongresses lassen sich auf die antideutsche Linke überhaupt geeignet sei, zur youtube nachverfolgen. Formulierung aktueller Kritik beizutragen. In An- Hier: https://bit.ly/2GLuBkx betracht sich in aktuellen politischen Auseinander- und hier: https://bit.ly/310yHfn setzungen und Prozessen reproduzierender und zuspitzender Konfliktlinien und Fragestellungen, Sten genannt seien nur Antisemitismus als zentraler Be- 5
Für eine neue Strategie-Debatte - Teil 1 Organisation (und damit wechselseitig auch Strategie) sierung der Geflüchteten der Lampedusa-Gruppe, die beschreibt Georg Lukács 1923 als Form der Vermittlung AfD, der Arabische Frühling und dessen Konterrevolu- zwischen Theorie und Praxis: „Und wie in jedem dialekti- tionen, PEGIDA, die Bewusstwerdung der Dimension schen Verhältnis erlangen auch hier die Glieder der dialek- der Umweltzerstörung (u.a. Klima und Ökologie), die tischen Beziehung erst in und durch ihre Vermittlung Kon- Wahl des hyperreaktionären Neoliberalen Trump, das kretion und Wirklichkeit.“1 Heute scheinen wir genau die Sterbenlassen der Menschen im Mittelmeer, der G20- dieser dialektischen Beziehung innenwohnende Frage Gipfel 2017, die Nicht-Aufklärung des NSU-Komplexes, der Strategie und Organisation theoretisch zu vernach- Hanau, Halle, die Wahl Kemmerichs durch AfD-Betei- lässigen. Es folgt zugespitzt formuliert eine unwirkliche ligung, die rassistische, mörderische Polizeigewalt und Theorie und eine theorielose Praxis. Konkrete prak- die dagegen als BlackLivesMatter-Proteste artikulierte tische Konsequenzen für die Linke heute sind unserer Selbstverteidigung sowie die Corona-Pandemie sind Meinung nach der reaktive Charakter der Praxis und nur Ausschnitte der Ereignisse, die den Verfasser*innen Organisationsformen, die sich an verschiedenen histori- im Gedächtnis geblieben sind. schen Formen orientieren, statt in Wechselwirkung mit der Strategie aus einer umfassenden Gegenwartsanalyse Vielleicht hilft es also, zunächst Gesellschaftsanalysen zu resultieren. Obwohl schon die Redaktion des Maga- anderer kritisch zu lesen, die in ähnlichen verdichteten zins arranca! in ihrem Text zur Organisationsgeschichte Zeiten die Verhältnisse analysierten und strategische der Linken in Deutschland 1993 treffend feststellt: und organisatorische Schlussfolgerungen zogen. Ein „(…) Dabei können wir nicht wie die Lumpensamm- erstes Beispiel hierfür kann das „Organisationsreferat“ lerinnen durch die Geschichte wandeln, bei jedem sein, dass Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl 1967 Organisationsansatz die besten Versatzstücke für uns für die SDS-Delegierten-Konferenz schrieben. In dem herauspicken und damit die neue Organisation zu- gerade einmal vier Seiten umfassenden Text wurden die sammenwursteln. Organisationsformen müssen sich kapitalistischen Verhältnisse anhand der Entwicklung aus den jeweiligen gesellschaftlichen und materiellen von Kapital und Arbeit seit den Anfängen des 20. Jh. Bedingungen (auch der Linken, die dieses Projekt tra- analysiert und daraus als Konsequenz die Ablehnung gen) herleiten.“2 der klassischen Praxis einer kommunistischen Arbei- Wir wollen uns in den kommenden Transmittern terpartei (die 45 Jahre zuvor für Lukács zur Zeit eines mit dieser Feststellung und Konsequenzen derer deutlich klassenbewussteren Proletariats noch die einzig beschäftigen. richtige organisatorische Konsequenz aus der marxisti- schen Theorie war) und damit die Begründung des anti- In unserer Gruppe ist der Versuch der eben angespro- autoritären Flügels im SDS entwickelt: chenen Gegenwartsanalyse bereits Auslöser von gefühl- ter Handlungsunfähigkeit. Es fällt schwer, all die Krisen- „Wenn die Struktur des Integralen Etatismus (eine dimensionen und reaktionären Entwicklungen, aber umfassende Verstaatlichung der Gesellschaft) durch auch progressiven Bewegungen der letzten Jahre ein- alle seine institutionellen Vermittlungen hindurch ein zuordnen. Für Menschen, die nach 1990 geboren wur- gigantisches System von Manipulation darstellt, so den, scheint die Leninsche Formel „Es gibt Jahrzehnte, in stellt dieses eine neue Qualität von Leiden der Mas- denen nichts passiert; und Wochen, in denen Jahrzehnte sen her, die nicht mehr aus sich heraus fähig sind, sich passieren“ aufzugehen. Ob das nur so ist, weil einem die zu empören. Die Selbstorganisation ihrer Interessen, Krisendimensionen erst ab einem bestimmten kogniti- Bedürfnisse, Wünsche ist damit geschichtlich unmög- ven Entwicklungstand zugänglich werden oder ob die lich geworden. Sie erfassen die soziale Wirklichkeit Jahre seit der letzten großen „Finanzkrise“ 2008 wirklich nur noch durch die von ihnen verinnerlichten Sche- eine solche verdichtete Zeit gesellschaftlicher Entschei- mata des Herrschaftssystems selbst. Die Möglichkeit dungs- und Krisenmomente darstellt, ist fast nebensäch- zu qualitativer, politischer Erfahrung ist auf ein Mi- lich, denn die Ohnmacht, die viele von uns begleitet, ist nimum reduziert worden. Die revolutionären Be- real: Die Troika, Syriza, der Libyen-Krieg, die Illegali- wußtseinsgruppen, die auf der Grundlage ihrer spezi- 6
fischen Stellung im Institutionswesen eine Ebene von sen.4 Die Hintergrundbedingungen sind nötige Bedin- aufklärenden Gegensignalen durch sinnlich manifeste gungen des Kapitalismus, werden aber gleichzeitig vom Aktion produzieren können, benutzen eine Methode Kapitalismus untergraben. An diesem Widerspruch fin- politischen Kampfs, die sie von den traditionellen den gesellschaftliche Auseinandersetzungen, sogenann- Formen politischer Auseinandersetzung prinzipiell te „Grenzkämpfe“ statt. unterscheidet. Auch ein erweiterter Kapitalismusbegriff bringt aber Die Agitation in der Aktion, die sinnliche Erfahrung eben nur Analysewerkzeuge und noch keine Analy- der organisierten Einzelkämpfer in der Auseinander- se konkreter Krisenmomente mit sich. Es stellt sich setzung mit der staatlichen Exekutivgewalt bilden die also weiterhin die Frage, wie und vor allem woraufhin mobilisierenden Faktoren in der Verbreiterung der die heutige Gesellschaft analysiert werden soll. Geht es radikalen Opposition und ermöglichen tendenziell darum auszumachen, was die zentralen allgemeinen einen Bewußtseinsprozeß für agierende Minderhei- Merkmale heutiger Verhältnisse sind, um dieses dann ten innerhalb der passiven und leidenden Massen, praktisch zu politisieren? So hat z.B. die Redaktion der denen durch sichtbar irreguläre Aktionen die abs- arranca! 1993 „das (durch die gesellschaftliche Atomisie- trakte Gewalt des Systems zur sinnlichen Gewißheit rung) immer weniger befriedigte Bedürfnis nach sozialer werden kann. Die „Propaganda der Schüsse“ (ehe) Kommunikation und Solidarität, die zunehmende Ver- in der „Dritten Welt“ muß durch die „Propaganda schiedenheit der Unterdrückungsverhältnisse (die sich der Tat“ in den Metropolen vervollständigt werden, nicht auf Klassen-, Geschlechter- und rassistische Unter- welche eine Urbanisierung ruraler Guerilla- Tä- drückung beschränken), die unterschiedlichen geschicht- tigkeit geschichtlich möglich macht. Der städtische lichen und politischen Sozialisierungen der Individuen, Guerillero ist der Organisator schlechthinniger Irre- die (…) Internationalisierungstendenz des Kapitals und gularität als Destruktion des Systems der repressiven damit zusammenhängend die in absehbarer Zukunft Institutionen.“3 schwieriger werdende ökonomische Versorgung“4 als wichtige Elemente linker Kämpfe zur damaligen Zeit Einerseits wird deutlich, warum das Referat eine hilfrei- ausgemacht. Oder geht es darum, gesellschaftliche Span- che Grundlage für heutige Strategie-Debatten ist, denn nungen, wie sie bei Fraser genannt wurden, zu politisie- die beschriebene Entwicklung zur Entpolitisierung der ren, um aus ihnen Grenzkämpfe zu organisieren? Oder Gesellschaft, Verlust von Klassenbewusstsein, Selbst- aber vielleicht auch eine Verknüpfung beider Möglich- und Fremdkontrolle als Ausdruck verinnerlichter Herr- keiten, also die Politisierung allgemeiner Elemente heu- schaft und ein gigantisches System von Manipulationen, tiger Gesellschaft in konkreten Kämpfen? sind weiterhin aktuell. Andererseits wird im zitierten Ab- schnitt deutlich, dass die Entscheidung zur Stadtguerilla ...Fortsetzung folgt! als Strategie nur sehr unklar aus der Ablehnung klassi- scher parteiförmiger Organisierungsversuche und dem Literatur: Bestehen der Guerilla in der kapitalistischen Peripherie 1 Georg Lukács, Geschichte und Klassenbe- hergeleitet wird. Wahrscheinlich wurde die Stadtguerilla wusstsein, Neuwied 1968[1923]. eher als einzigmögliche, statt bestmögliche Strategie er- klärt, um damit die Notwendigkeit der antiautoritären 2 Redaktion der arranca!: Organisationsgeschichte, in: arranca! Nr. Wende zu betonen. Die vorhergegangene Analyse der 0, 1993, abrufbar unter: https://archive.arranca.org/ausgabe/0 Produktionsverhältnisse war zwar inhärent logisch, aber reduziert auf eine dekomplexierte Vorstellung des Ka- Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl: Organi- 3 pitalismus als sich zuspitzendes ökonomisches System. sationsreferat, 1967, abgedruckt in: arranca! Nr. Diese entspringt dem Haupt- und Nebenwiderspruchs- 0, auch abrufbar unter dem obigen Link. denken und müsste heute aufgelöst werden, z.B. durch eine Analyse des Kapitalismus als Gesellschaftssystem 4 Nancy Fraser und Rahel Jäggi, Kapitalismus - ein Ge- wie es Nancy Fraser macht, in dem sie die ökonomische spräch über kritische Theorie, Berlin, 2020. Dimension als sichtbaren Vordergrund definiert, der in einem Abhängigkeits- und Spannungsverhältnis zu den Ergänzende Information: Im September haben wir eine verschwiegenen Hintergrundbedingungen des Kapita- einstündige Radiosendung zu Frasers Theorie über Grenzkämp- lismus steht, die u.a. die nichtentlohnte Reproduktions- fe im Kapitalismus gesendet. Sie kann unter folgenden Link arbeit, die Naturausbeutung, die Rassifizierung und die abgerufen werden: https://www.freie-radios.net/104771 Enteignung von Menschen im globalen Süden umfas- Maulwurf der Vernunft 7
Die Totalität des Rassismus und die Schweigsamkeit seitens der „Ideologiekritik“. Wenn die gegenwärtige Gesellschaft nicht mehr (auch) Fremdenfeindlichkeit, die gemeinsam mit den wissen- als rassistische erkannt wird, dann kommt in der eigenen schaftlichen Rassetheorien seit Mitte des letzten Jahr- Geschichte der „Ideologiekritiker_innen“ ein kathartisches hunderts keine gesellschaftspolitische Relevanz mehr Moment zum Tragen. Die Reinigung der verwendeten Be- besäße. Zwar existiere er weiterhin fort, habe sich jedoch griffe und das Aufgeben der Selbstreflexion im Zuge der mit der spätkapitalistischen Produktion, sei die auf diese eigenen Praxis führen zu einer Blindheit gegenüber Ras- biologischen Kategorien längst nicht mehr angewiesen sismus in der Gegenwart. ist, unlängst selbst überholt. Während Nachtmann 1993 noch für einen „anderen Anti-Rassismus“ plädierte, ist Rassismus ist tödlich und das überall: Hanau, Halle, für ihn anderthalb Jahrzehnte später daran „nichts zu Kassel oder irgendwo anders in Deutschland und seien retten, nichts zu beerben […]: Um es kurz und schmerz- es NSU 1.0 oder 2.0 oder organisierte Banden wie Polizei haft auszudrücken: ‚Rassismus‘ ist ein ideologisches und Bundeswehr. Die gegenwärtig anhaltenden Black Stichwort eines anti-rassistischen Rackets, das jeden Lives Matter Proteste haben nochmals anklagt, wie ras- Realitätsbezugs entbehrt“. Dies spricht nicht nur allen sistisch die gegenwärtige Gesellschaft ist – Ideologiekri- Opfern rassistischer Gewalt Hohn, er verabschiedet sich tik als Linke versagt hier vollständig. bereits hier von einer Kritischen Theorie des Rassismus, Jene Personen oder Gruppen, die als „Ideologiekritiker_ wie sie etwa Detlev Claussen 1994 umrissen hat. innen“ bezeichnet werden können, verharren mit ihrem In solch vermeintlicher Ideologiekritik ist ein reduktiver Rassismusbegriff in jenen Denkmustern, die in Debat- Materialismus am Werk, der auf das bürgerlich-kapita- ten der 1990er Jahre ihren Ausgangspunkt nahmen. listische Versprechen reinfällt, alle Menschen nur nach Den Rassismusbegriff haben sie in Form einer Histo- ihren Arbeitsleistungen zu beurteilen. Sowohl Türcke als risierung aus ihrem aktuellen Denken entsorgt, zurück auch Nachtmann benutzen „Hautfarbe“ zur Legitimati- bleibt ihre Schweigsamkeit gegenüber dem alltäglichen on ihrer Historisierung: Sie erkennen Naturtatsachen Rassismus der gegenwärtigen Gesellschaft. An einigen an, um durch sie den Rassismus wie den Antirassismus Autoren lässt sich die Abkehr der „Ideologiekritik“ vom im gleichen Atemzuge entsorgen zu können. Nacht- Denken über den Rassismus paradigmatisch aufzeigen. mann sitzt damit dem Fortschrittsglauben des Kapita- Diese Abkehr fand ihren Anfang im Konkret-Kongress lismus insofern auf, als dass dieser die Überwindung der „Was tun?“ im Jahr 1993 mit dem Beitrag von Christoph „ersten Natur“ (das Körperliche, aber auch „natürliche“ Türcke und findet ihren Höhepunkt in Clemens Nacht- familiäre Abhängigkeitsverhältnisse) verspricht, ihre manns „Rasse und Individuum“ von 2009. Während „Aufhebung“ in der „zweiten Natur“ (gesellschaftliche Nachtmann unter Bezug auf 1993 noch vorgab, „einen Verhältnisse) jedoch verkennt. Er übersieht durch seine konsistenten Begriff des Rassismus“ auf materialisti- historisierende Fixierung auf „Hautfarbe“, dass weder scher Grundlage zu besitzen, geht ihm 2009 dieser An- die „erste Natur“ nur historisch zu begreifen ist, noch spruch gänzlich verloren. dass von ihr ohne weiteres abstrahiert werden kann. Nachtmanns Text ist wegweisend, weil er behauptet, dass es gegenwärtig keinen Rassismus mehr gebe, son- Rassismus ist eben auch ein (bewusster wie unbewuss- dern lediglich Fremdenfeindlichkeit. „Fremdenfeind- ter) Verdeckungszusammenhang für ökonomische wie lichkeit“ ist für ihn eine Bewusstseinsform moderner soziale Verwerfungen. Richtig ist, dass nicht überall, Subjektivität, in der sich die Verarbeitung der kapitalisti- wo „Rassismus“ vermutet wird, dieser auch drin steckt. schen Konkurrenzsituation niederschlägt. Rassismus ist Höhnisch ist jedoch, dass durch den Fokus auf Kriti- bei ihm eine antiquierte, weil rein biologisch begründete ker_innen des Rassismus eine Fokusverschiebung weg 8
Foto: Sprühfarbe auf Wand von den ihm zugrundeliegenden materiellen Gewalt- 1. Dialektik: Zahlreiche ideologiekritische Texte bezie- und Herrschaftsverhältnissen stattfindet, die diese nur hen sich ungebrochen und emphatisch auf Begriffe wie reproduziert. Der biologische Rassismus ist weiterhin „Vernunft“, „Wahrheit“, „Freiheit“, „Universalismus“, existent, wie das „racial profiling“, die erhöhte Wahr- „Bürgerlichkeit“ und „Gleichheit“. Würden sie die Di- scheinlichkeit als „schwarze“ Person oder PoC von Po- alektik der Aufklärung berücksichtigen, so beinhalten lizist_innen erschossen zu werden und der Check des diese Begriffe zwar alle ein emanzipatorisches Verspre- „Migrationshintergrundes“ – der in Stuttgart und jüngst chen, doch im Kolonialismus und im Rassismus wird auch in Hamburg als Stammbaumforschung daherkam mit ihnen zugleich Politik gegen das „unwerte“ bzw. – als gängige Polizeipraktiken aufzeigen. Und auch im das auszubeutende Leben gemacht. Diesen Begriffen alltäglichen kapitalistischen Konkurrenzkampf wird ist Herrschaft – und das zeigen nicht erst die postkolo- offen und verdeckt rassistisch begründet, warum eine nialen Theorien – immanent. Seit jeher waren sie auch bestimmte Person bspw. für einen Job oder eine Woh- Instrumente „weißer“ und westlich-kapitalistischer Vor- nung als „geeignet“ gilt und eine andere nicht – „Qua- machtstellung und ihrer Unterdrückungspraktiken, die lifikation“ ist eben nicht, wie die bürgerliche Ideologie sich parallel zu vormodernen Herrschaftsformen ent- verspricht, nur „Bildungs“-Sache. Sowohl dezidiert wickelten. So legitimierte sich die Sklaverei im imperi- biologistische als auch verdeckt kulturalistische Muster al-kolonialistischen Kapitalismus in Form pseudowis- kommen dabei immer wieder zum Tragen. senschaftlicher Objektivierung zwar auf andere Weise, Nachtmann verkennt die Dialektik von Allgemeinen jedoch zeitgleich zu jenen Formen im afrikanischen und Besonderem, Logischem und Historischem sowie und arabischen Raum. Ganz im Sinne einer Dialektik Aufklärung und Gewalt im Kapitalismus – und er ist der Aufklärung bedurfte es einer neuen Wissenschaft damit nicht allein. Die Gründe für die Schweigsamkeit der „Rassen“, um zu begründen, warum der Phänotyp und Ignoranz gegenüber dem Rassismus lassen sich ge- das entscheidende Merkmal ist, um eine unterschiedli- rade auch in den jüngeren Positionen der „Ideologiekri- che Behandlung von Menschen zu legitimieren, obwohl tik“ aufzeigen: diese doch alle gleich seien. 9
2. Identitätspolitik: Obwohl die „Ideologiekritik“ immer gemacht werden. Dieser Begriff des Rassismus funktio- wieder Identitätspolitik kritisiert, macht sie nicht selten niert, ohne dass Rassist_innen explizit auf ‚Rasse‘ rekur- genau diese. Sie hat einen identitäts- und gruppenbil- rieren müssten. denden Reflex gegen den Antirassismus entwickelt, der Demgegenüber gleicht Nachtmanns Argumentation – sich durch eine halbgebildete Aversion gegen alle post- wertkritisch betrachtet – dem orthodoxen Marxismus koloniale Theorie begründet. So wird antirassistische in umgekehrter Zielstellung: Bei orthodox-marxisti- Politik mit ihrem vermeintlich „positiven“ Rassismus schen Linken wird das Konkrete des Warencharakters und einer „regressiven Identitätspolitik“ kritisiert, ohne und Kapitalverhältnisses wie der Gebrauchswert einer jedoch einen eigenen dialektisch-materialistischen Be- Ware (bspw. seine Funktion, Zweck) oder die Arbeit als griff von Rassismus entwickelt zu haben. Dabei müssen Selbstzweck verabsolutiert. Das Konkrete wird projektiv sie sich durch ihre Identitätskonstruktion nicht einge- und politisch aufgeladen in Form von revolutionären hender mit dem Thema beschäftigen und fühlen sich Subjekten wie dem „Arbeiter“ oder den „unterdrück- bestätigt darin, Tabus zu brechen und als furchtlose Kri- ten Schwarzen“. Bei Nachtmann findet umgekehrt eine tiker_innen in ihrer eigenen Ideologie und damit unbe- Reinigung bzw. Historisierung von jeglichem Konkre- weglichen Identität zu verharren. ten statt. Er untersucht den Kapitalismus einzig in seiner abstrakten und idealistischen Funktionslogik und sitzt 3. Reinigung: Das Bedürfnis, sich der Auseinanderset- ihr damit auf, ohne sich für seine alltägliche und damit zung mit den seit Jahrhunderten fortbestehenden zent- eben auch rassistische Funktionsweise zu interessieren. ralen Ausschließungs- und Unterdrückungsformen wie Dass sich bereits in der Ware mehr als nur „reine“, d.h. Rassismus oder Sexismus zu entledigen oder sie zu ba- analytisch-empiristisch erfassbare Arbeitskraft materi- gatellisieren, verweist auf den Versuch, sich von der eige- alisiert und dass sich dadurch die Dialektik des Werts nen relativen Unbestimmtheit, wie sie etwa Nachtmann eben nicht einseitig positiv in Gebrauchs- oder Tausch- an seiner Positionierung zum Antirassismus exempla- wert auflösen lässt, ist seit Marxens Fetischcharakterka- risch zeigt, freizumachen. In der obsessiven Haltung, pitel im Kapital und Postones Kritik an einem transhis- sich die besonders skandalösen Erscheinungsformen torischen Arbeitsbegriff für eine kritische Gesellschafts- antirassistischer und antisexistischer Kämpfe herauszu- theorie Stand der Erkenntnis. Eine „Ideologiekritik“, die picken und sie als hegemonial darzustellen, nur um sie hierhinter zurückfällt ist keine. anschließend abzukanzeln, tritt diese doch sehr männ- Eine materialistische Auseinandersetzung mit dem Ras- liche Form des Vergangenheitsrecyclings offen hervor. sismus ist und bleibt gegenwärtig notwendig. Sie eröffnet Trotz bewegungshistorischer Bedeutung, die jenen Einsichten, die über postkoloniale Theorien hinauswei- Ideologiekritiker_innen in den Auseinandersetzungen sen. Obwohl der Kapitalismus von konkreten persön- um den Antisemitismus zukam, hat dieser Fokus nicht lichen Merkmalen wie „Hautfarbe“, „Geschlecht“ oder nur zu einer relativen Blindheit gegenüber anderen For- Klassenzugehörigkeit vermeintlich abstrahiert, weil es men von Herrschaft geführt, sondern auch ihren eige- erstmal egal ist, wer eine Ware herstellt, ist er zugleich nen Antisemitismusbegriff disqualifiziert – ihre Kritik immer konkret in seinen Erscheinungsformen, so dass am Antisemitismus ist instrumentell: Nicht nur das die genannten Merkmale weiterhin als behauptete qua- kompetitive Ausspielen von Rassismus und Antisemi- si-natürliche im Alltag eine zentrale Rolle einnehmen. tismus, sondern etwa auch Thomas Mauls Kokettieren Denn nicht jede_r darf arbeiten, eine bestimmte Ware mit der AfD zeigen, dass sich auch beim Antisemitismus herstellen oder kaufen. Eigentums- und Abhängigkeits- eher den eigenen philosemitischen Projektionen auf Is- verhältnisse werden auch im globalen Maß als Folge des rael und Judentum als den in Deutschland in all ihrer Kolonialismus, wie etwa Dennis Schnittler (im Sammel- Widersprüchlichkeit lebenden Juden und Jüdinnen zu- band „Freiheit ist keine Metapher“) aufzeigt, „vererbt“ gewendet wird. – insofern ist der Kapitalismus zugleich allgemein und Während Nachtmann die spätkapitalistische Form des besonders. Aufgabe der Ideologiekritik wäre es offenzu- Rassismus verneint und verkennt, wird sie bei Claus- legen, wie beides miteinander vermittelt ist. sen unter Bezug auf „Ethnizität“ herausgestellt. Dem- nach funktioniert Rassismus durch die zugeschriebene Texte, auf die wir uns im Text beziehen und solche, die Zugehörigkeit zu einer „Ethnie“ und macht aus dieser wir darüber hinaus diskussionswürdig finden, haben eine soziale Vererbung. Rassifizierte Personen erhal- wir auf den Blog practical3mancipation.wordpress.com ten dabei feste und unüberwindbare Charaktereigen- gestellt. schaften, Verhaltensweisen, Sprachen, Glaubens- oder Wertvorstellungen (also alles, was gemeinhin als „Kul- von Achard Rieus und Giorgio Banani tur“ bezeichnet wird), die so zu Kollektiveigenschaften 10
„Wer sich in eine jüdische Identität flüchten kann, darf damit rechnen unangreifbar zu sein.“ (DER SPIEGEL 43 vom 20. Oktober 2018) Wenn führende Repräsentanten der Jüdischen wieder einmal Attacken auf das Gemeindegebäude Gemeinden im Angesicht der terroristischen An- erfolgt waren. Über die persönliche Verbindung schläge jetzt nachhaltigen staatlichen und vor hinaus waren das Gelegenheiten des Kennenler- allem polizeilichen Schutz einfordern und wir zu nens und des Vertrauensaufbaus. Praktische So- konstatieren haben, daß diese Anschläge große lidarität, die erst einzuüben gewesen ist. Sehr viel Teile der Gesellschaft unberührt lassen, bleiben selbstverständlicher waren in den Jahren zuvor Fragen an den antifaschistischen, sich links posi- Abgrenzung, Unkenntnis und Ablehnung. Es hatte tionierenden oder selbst zuschreibenden Teil der erst den Blick auf den eigenen Antisemitismus Gesellschaft. Haben wir die Gefahr nur beschrie- als Deutsche und als Linke gebraucht. Ein Einge- ben und sie dabei nicht wirklich gesehen? ständnis dessen, daß niemand in den hiesigen So- Konkrete Fragen der Aufklärung des An- zialisationsbedingungen verfangen, frei ist deren schlags bleiben und sie verbleiben als antifaschis- tradierte Bewußtseinsprägungen ohne Selbstaus- tische Rechercheaufgabe:: einandersetzung überwunden haben zu können. Soll mit umgehender Psychatrisierung des des Als Deutsch-sozialisierte gilt es z.B. den Adorno versuchten Mordes Beschuldigten des öffentliche Satz „Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Un- Verfahren umgangen werden? freiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufge- Wie und aus welchen Gründen ist er von Berlin zwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, nach Hamburg umgesiedelt? daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnli- Warum ist der Täter immer noch in Uniform ches geschehe.“ dem eigenen Denken und Handeln und mit Ausrüstungsgegenstand (Klappspaten) öf- zugrunde zu legen. Als Linke gilt es, das historische fentlich unterwegs? Versagen der deutschen Linken gegenüber dem Ist er immer noch Angehöriger der Bundeswehr? Antisemitismus dazu dem eigenen Denken und Weiterhin in Ausbildung? Angehöriger einer BW Handeln zugrunde zu legen. Einheit? Z.B. der RSUKr (Regionale Sicherungs- und Unterstützungskräfte aka ‚Heimatschutz‘)? Wie weit entfernt davon die Linke inzwischen Welche Organisations- Vernetzungs- Chat- und wieder ist zeigen die jüngsten Corona Monate und Realkontakte sind verzeichnet? die zwei Jahre seit der Spiegel Veröffentlichung. Mehr als ein Moment alarmierter Empörung nach Was ist das Ergebnis langjähriger Auseinan- einem akut eingetretenen Ereignis ist kaum zu ver- dersetzungen innerhalb der Linken zu eigenen zeichnen; ansonsten werden geübte Geschäfte ab- Antisemitismen? gewickelt, Rituale begangen und am gesellschaftli- chen Alltag teilgenommen während dieser täglich Im Oktober 2018 veröffentlichte DER SPIE- ein Stück weiter nach rechts und damit Richtung GEL eine große Geschichte über den ehemaligen Pogrom schreitet. Der Generalstreik bleibt aus. Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Pinneberg, Wolfgang Seibert, die einen wenig beachteten Satz Erster Bürgermeister und Innensenator spre- als Leitlinie des Textes enthält: „ … manchmal heu- chen wohlfeil: „Rassismus und Antisemitismus ert er sogar seine Freunde vom schwarzen Block aus haben keinen Platz in unserer Stadt“ wissend, daß Hamburg an, um die Synagoge in Pinneberg vor das nicht stimmt. Wochen zuvor hatte der Senat Neonazis zu schützen ...“. Ja, das war ein faktischer selbst grundlegend gefailt, als es Ansätze einer Status, der mit und seit der Veröffentlichung „Der öffentlichen Auseinandersetzung über den fake gefühlte Jude“ zur Vergangenheit zählt: Mit großer Auftritt der Kabarettistin Lisa Eckhart anhand Selbstverständlichkeit ist man aus Hamburg, klei- derer Ver- bzw. Anwendung antisemitischer Kli- neren Orten aus dem Kreis Pinneberg und Städ- schees der billigsten Form gab. „Meine Solidarität ten aus Schleswig Holstein dorthin gefahren, wenn gilt allen jüdischen Mitbürgerinnen + Mitbürgern.“ 11
(Innensenator) „Hamburg steht fest an der Seite Thema: Wie geht die Gesellschaft mit uns um, die unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger.“ wir ein Teil dieser Gesellschaft sind? … Solidarität (Bürgermeister) Immer noch Anders – nicht Bür- reicht nicht. Solidarität ist wie eine Kopfschmerzta- ger/BürgerInnen – Ungleich und nicht Gleich. blette bei einer schweren Krankheit. Sie lindert den Und dazu noch exotisiert, wie unter Linken bis hin Schmerz, aber sie bekämpft nicht die Ursachen.“ zum Fallengelassen werden, als DER SPIEGEL ins Horn blies und zur Jagd rief. Daß die Unterstüt- Eine Gesellschaft und eine Linke die sich ernst zung einer jüdischen Gemeinde/Synagoge durch nimmt, ihre Aufgabe versteht, weiß daß nach radikale Linke gegen antisemitische Bedrohungen einem solchen Anschlag, wie er am 4. Oktober in skandalisiert werden kann, verweist auch darauf, Hamburg geschehen ist und dem wieder einmal die daß diese Allianz in der Geschichte der radikalen in der Synagoge schon versammelten Menschen Linken eben nicht alltäglich ist. Die seltene Aus- entkommen sind; die Menschen die anschließend nahme zeigt, was es von einer sich ernstnehmen- evakuiert worden waren, daß diese Menschen ein den Linken zu erwarten und zu fordern gilt. Trauma zu verarbeiten haben. Die Gemeinde und die Synagoge waren ein Ort des sicheren Aufgeho- Es bleiben die Forderungen, die Landesrabbi- benseins in einer potentiell feindlichen Umgebung. ner Shlomo Bistritzky und die Vorsitzenden der Es ist also das Mindeste diesen vorherigen Zustand Jüdischen Gemeinde, Philipp Stricharz und Eli Fel helfen, wieder herstellen zu können. Und dann im Rathaus vorgetragen haben. In einem FR Inter- noch einmal einen ganz anderen Gesellschafts- view hat Shlomo Bistritzky diese präzise dargelegt: stand erreichen zu wollen. Ein Beitrag einer ernst- „... bessere Räumlichkeiten, ein größeres Gemein- zunehmenden Linken wäre zu einem Ausgangs- dezentrum … Wir brauchen für unsere Gemeinde punkt zurückzukehren der mit einem Satz Marx‘ hundertprozentige Sicherheit. Wenn sich jüdisches beschrieben ist: „alle Verhältnisse umzuwerfen, in Leben weiterentwickeln soll, müssen sich unsere denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknech- Mitglieder sicher fühlen. … Mir geht es um ein ge- tetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ sellschaftliches Thema, ein kulturelles, ein politisches W. Foto: Rote Flora seit 5. Oktober 12
Refugee Radio Network Presents New Neighbours Event Presentation Introductory session on the “New Neighbours” project Film Screening The “New Neighbours” series Panel Discussion Let’s Get Kritikal Diese Veranstaltung präsentiert Dokumentationen #newneighboursseries und andere Community-Medien-Formate, um eine #letsgetkritikal Debatte über die positiven sozialen und wirtschaftli- #reconnecttheworld chen Beiträge von Migrant*innen und Geflüchteten in Europa anzuregen. Stereotypen New Neighbours is an EU-funded project led by werden in Frage gestellt und die Stimmen von COSPE and a coalition of civil society organisa- Migrant*innen in den Fokus der Diskussionen über tions, including European Broadcasting Union EBU, Migration gesetzt. Die Veranstaltung bringt Media Diversity Institute MDI, Community Media unterschiedliche Akteure zusammen: Vertreter*innen Forum Europe CMFE and Community Medien In- der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten tref- stitut COMMIT. fen auf Kolleg*innen von Community-Medien, Mitarbeiter*innen von EU-Büros auf Organisatio- Sa-14.11. / Kampnagel / kmh, 14-16 Uhr / nen der Zivilgesellschaft und Vertreter*innen von Veranstaltung in englischer Sprache Migrant*innengruppen und mit lokalen Behörden Eintritt frei, Registrierung bis zum 30.10. 2020 zusammen. Nach der Präsentation des Projektes wer- hier: https://bit.ly/2ZrmMqd den einige Episoden der Webserie “New Neighbours” gestreamt und anschließend in einer Diskussionsrun- de reflektiert. 13
Buch: Wahre Helden* All die Abenteuerlustigen, die sich vor allem in den Aber erst indem wir ihm zum Buchtitel wählten, 1980er Jahren mit einem absichtsvoll fehlinterpre- wuchs er sich zum breit etablierten Begriff mit eige- tierten Transitvisum illegal und wochenlang kreuz nem Wikipedia-Artikel aus. Und überhaupt haben und quer durch die Sowjetunion bewegt hatten, Conny und ich mit unserem Buch in aller Beschei- kehrten von dort mit einem breiteren, stolzeren Rü- denheit eine Aktie daran, dass der West-Blick auf cken heim, als er in der engen DDR üblich war. Denn DDR-Leben heute womöglich etwas differenzierter sie hatten sich einen enormen Teil der Welt unbe- und weniger vorurteilsbeladen ist als jahrzehntelang fangen anschauen können und sich eine Freiheit üblich: Auch im Osten gab es fröhliche echte Helden, genommen, die für sie eigentlich nicht vorgesehen wer hätte das gedacht. (Bei Lesungen im Westen, da- war. Dass es nicht bloß ein paar hundert, sondern runter in Hamburg und gerne auch in linksalternati- offenbar einige tausend Leute waren, die auf solche ven Schuppen, wurde der Band von den Gastgebern Art unterwegs gewesen sind, erfuhren wir freilich fast immer mit dem Titel »Unerkannt durch Fein- erst, als in sehr freundschaftlicher Konkurrenz nahe- desland« anmoderiert – soviel zum Thema »Mauer zu zeitgleich zwei Bücher im Radebeuler Notschrif- in den Köpfen«.) ten-Verlag und im Berliner Lukas Verlag herausge- kommen waren: Unsere rauschhaften, fröhlichen In diesem Buch stimmt einfach alles: Sein Inhalt ist Lesungen zwischen Dresden und Greifswald waren originell und bedeutend, die Arbeit daran war ins- regelmäßig überfüllt und gerieten zu exzessiven pirierend und freudvoll, es berichtet von persönli- Wiedersehensfesten. Sie dienten dem Wiederfinden chen Erfahrungen und solchen von guten Freunden, und der Selbstvergewisserung einer ganzen Szene zudem darf es bei neuntausend verkauften Exemp- aus vielleicht nicht zwingend dissidentischen, doch laren als wirtschaftlich erfolgreich gelten (sogar eine durchgängig staatsfernen, freiheitlich gesinnten Ost italienische Lizenzausgabe gibt es!), und ich weiß um deutschen. (Es heißt, auch Angela Merkel sei – fast die Dankbarkeit vieler begeisterter Leser. Von den zur selben Zeit wie ich, im Sommer 1983 – unerlaubt weit über fünfhundert Lukas-Werken, man möge am Elbrus gewesen.) mir das nachsehen, bleibt es auf ewig mein allerliebs- tes Kind. Mit der Idee, ein Buch über die »Transit«-Szene he- rauszubringen, war ich jahrelang schwanger gegan- Frank Böttcher gen. Doch erst als ich Cornelia Klauß’ Dokumentar- film »Unerkannt durch Freundesland« sah, den sie Dr. Frank Böttcher, geb. 1960 in Lutherstadt Wittenberg, beim RBB gemacht hatte, konkretisierten sich die ist Verleger des 1995 gegründeten Lukas Verlags. Pläne. Was folgte, war eine intensive, ganz wunder- volle Zusammenarbeit am gemeinsamen Projekt, bei dem ich als zweiter Herausgeber und Mitautor fungierte. Der seit 2012 in einer erweiterten dritten Ausgabe vorliegende Band dokumentiert auf nicht weniger als fünfhundert Seiten neben den eigenen einschlägigen Erlebnissen solche von vielen Freun- den und Bekannten und Freunden von Freunden. Er berichtet vieldimensional sowohl aus einem sehr kleinen als auch aus dem seinerzeit weltgrößten Land, die beide seit dreißig Jahren vom Globus ver- schwunden sind. Der Slogan »Unerkannt durch Freundesland« kur- sierte damals in Teilen der Szene. (Und seine Abkür- zung »UdF« persiflierte frech das frühere »KdF«.) 14
Neue Musik aus China zwar schon seit 14 jahren sendet neueMusikausChi- selbst aussuchen, führen wir scharfe diskurse über na immernoch mit dem arbeitstitel. und der stimmt eine politische gesamtlage oder nur mühselig nach- nichtmal. denn wir spielen nur selten wirkliche neue vollziehbare details. vernerdete wortgefechte um das musik. und ‚aus china‘ ist auch ein sehr unscharfer antideutsche, un-sin-n-ologische profil sind standart. ausdruck aus dem kolonialwarengeschäft [tatsächlich wir kommentieren nicht ‚nur‘ die musik, sondern könnten ‚wir‘ uns/einander -tlw- bis zum kolonialen alles, was uns unter kommt; also auch unsere quellen, sumpf preußens historisch-politisch und familiär zu- perspektiven, uns selbst und einander. -> manchmal rückverfolgen, wenn mensch es genau nimmt.] oder haben wir bücher gelesen oder veranstaltungstips - aus dem großchinakonzeptrezept älteren oder neue- immer im dezember filme gesehen - zu selten haben ren nationalismus [das wir (unter dem vorbehalt der wir studiogäste da und im besten fall haben wir mit vorherigen klammer) kritisieren]. einer band gesprochen. u.a. daher versuchen wir uns an einem begrüßungs- eigentlich aber haben wir die musik gern und spie- satz, der ca. lautet: wir beschäftigen uns mit musk der len sie einfach. letztendlich ist es im vordergrund VR China, wie sie sich selbst definiert, und angren- ganz simpel. die genres, die wir also auf der palette zenden regionen, die dazugehören sollen, aber nicht präsentieren, sind breit gefächert. gefühlt ehrlichge- wollen oder die nicht dazugehören, es aber hätten sagt spielen wir meist angst-/pop, punk und alles mit können oder ganz anderen staaten drumherum oder „post-“. von elektro über experimental und klassik auch bands/künstler*innen in ostasien oder gleich zu folk und reggae ist ziemlich viel dabei. oder eben gar nicht in asien oder gleich ohne staaten und na- alles interessante abseits des mainstream, es sei denn, tionen ... der wiederum ist queer. camp. oder brilliant. und das die ~regionen~, die uns am herzen liegen, sind also kommt häufiger vor. es gibt oft ein übergeordnetes auch zb extra taiwan; und der herbst ist meist für thema, aber auch ohne eins wird literatur mit farben hongkong reserviert. verknüpft, politik mit obstsorten, malerei mit stahl- wir interessieren uns für chinesischsprachiges und produktion - wir spinnen immer einen roten faden. andere sprachen. das findet so wir halten es (ziemlich sehr) mit dem titel burn all eine hälfte von nMaCh // J flags and paint our pupils with the ashes der hong- p.s.: die andere hälfte sagt: interessant, darüber kön- konger band TFVSJF. nen wir ja mal ne sendung machen! das kommt auf und: wir haben kein parteiprogramm! bei gegebe- die liste! nem anlaß jedoch, den wir uns selbstverständlich 15
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