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13 vissidarte ZEITSCHRIFT FÜR KUNST, GESELLSCHAFT UND KULTURELLE ANGELEGENHEITEN. SÜDTIROL. RIVISTA D’AFFARI D’ARTE, DI SOCIETÀ E DI CULTURA. ALTO ADIGE. kindheit.infanzia
HocH- und IndustrIebau Infrastrukturen s tat I k und tragwerke geotecHnIk Mals (I) GREENPOWER wasserbau Bozen (I) BACK TO THE ROOTS Schwaz (A) Peter Thaler VerkeHrswege Mertingen (D) Gartengestaltung / Giardinaggio Tel. 33 55 88 56 59 info@ipp.bz.it www.patscheiderpartner.it kräfte von ie Führungs Was und w können nen lernen Künstler_In Hi tori che LEHRGANG FÜR KRÄFTE Hotel und Re taurant FÜHRUNGS 2019 2018 bis Juni HOTEL E RISTORANTE STORICO M od ul e | Von Oktober Neun meldung: Infos und An Goldrain Oberraindlhof · Fam. Raffeiner ld un gs ha us Schloss Bi Raindl 49, I-39020 Schnalstal/Val Senales, Südtirol/Alto Adige com ss-goldrain. Tel. +39 0473 67 91 31 · www.oberraindlhof.com www.schlo 433 73 / 72 4 Tel. 04 om s-goldrain.c info@schlos 2
uno scherzo per bambini peri un pero è un grande albero in primavera fiorisce d’estate non fa niente in autunno butta pere per il resto è verde di gioia e d’inverno è privo di foglie attento quando in autunno ci passi sotto norbert c. kaser Quelle: norbert c. kaser. rancore mi cresce nel ventre. Poesia & prosa 1968-1978. Un’antologia. Traduzioni dal tedesco di Werner Menapace. 2017 by Edizioni alpha beta Verlag, Meran/o www.alperia.eu vissidarte 13 Kindheit - Infanzia Zeitschrift für Kunst, Gesellschaft und kulturelle Angelegenheiten. Südtirol Rivista d’affari d’arte, di società e di cultura. Alto Adige. NEUGIER IST EIN VERLETZLICHES 28-12-2017_Inserat-Visidarte-OstWestClub-112x134,5.indd 1 28/12/17 17 Herausgeber | editori PFLÄNZCHEN, Katharina Hohenstein | hohenstein.katharina@outlook.de DAS NICHT NUR ANREGUNG, Sonja Steger | sonja@sonjasteger.com SONDERN VOR ALLEM FREIHEIT Trägerverein Kultur- und Kommunikationszentrum ost west club est ovest BRAUCHT. Centro per la cultura e la comunicazione Passeirer Gasse 29 Vicolo Passiria, 39012 Meran | o ALBERT EINSTEIN Verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes | direttore responsabile Toni Colleselli Redaktion | redazione Katharina Hohenstein, Sonja Steger Gestaltung | concetto grafico Andrea Dürr | lola@loladesign.info Autorinnen und Autoren | Fotografi e fotografe Andrea Dürr, Maria Gapp, Friedrich Haring, Florian Hofer, Fadrina Hofmann, Katharina Hohenstein, Christine Kofler, Emanuela Laurenti, Umberto Leotti, Stephanie Maier, Romano Paganini, Haimo Perkmann, Johanna Platzgummer, AN DIE M ER CON IL CONTRIBUTO . MIT EINEM ZUSCHUSS Rosanna Pruccoli, Claudia Tilk, Kerstin Schultz, Sonja Steger, Alma Vallazza, D AC KIN Julia Venske, Mayk Wendt, Joachim Winkler HT Lektorat | correzioni Assessorato alla cultura Referat für Kultur Mirjam Loch, Johannes Ortner, Nicoletta Pezzino, Johanna Platzgummer AR NIKA Initiator | iniziatore Harry Reich Cover | copertina Foto: Mario Wezel „One in Eighthundred“ Auflage | tiratura 4.500 Stück | copie Druck | stampa Tezzele by Esperia Bozen | Bolzano kindheit.infanzia 3 Dezember 2017 dicembre
INHALTSVERZEICHNIS | INDICE 5 Bruno Walpoth – WER SUCHT SICH DAS EIGENTLICH AUS – Kerstin Schulz & Claudia Tilk 8 KINDERSTIMMEN – Vinzent Platzgummer 9 BAUMKINDER – Europäische Lärche / Larix decidua – Katharina Hohenstein & Joachim Winkler 10 Karin Dietl – WELCHE SCHULE WOLLEN WIR – Friedrich Haring & Maria Gapp 14 KINDERSTIMMEN – Laurin Barbüda 15 KOSMOPOLITISCHE KINDHEIT IN DER VILLA FREISCHÜTZ – Sonja Steger 18 BAUMKINDER – Vogelbeere / Sorbus aucuparia 19 Mario Wezel – EINE VON ACHTHUNDERT – Katharina Hohenstein 24 BAUMKINDER – Weiß-Tanne / Abies alba 25 Verena Kammerer – AUG’ IN AUG’ MIT KIND UND TIER – Alma Vallazza 28 Riccardo Gatti – IL PENSATORE MODERNO 29 Moni Reinsch – MUTTER, SOHN, KRIMI – Katharina Hohenstein & Maria Gapp 32 Gabriele Galimberti – TOY STORIES 36 AH! L’ADOLESCENZA – Umberto Leotti 37 AH! L’ADOLESCENZA. CHE CASINO! – A.B. 39 BAUMKINDER – Berg-Ahorn / Acer pseudoplatanus 40 KINDERSTIMMEN – Henry Fuchs & Paul Spänle 42 KIND UND KINDHEIT – VOM MITTELALTER ZUR ROMANTIK – Florian Hofer 45 Fabrizio Giusti – MARAMURES – Emanuela Laurenti 48 KINDERSTIMMEN – Laila Francesca Moreira 49 IM STAUB DES KOMETEN … DURCH DAS PARALLELUNIVERSUM – Haimo Perkmann 52 Freiluft Kinder- und Jugendtheater – DIE SCHÄRFSTEN KRITIKER DER WELT – Sonja Steger 55 DES MENSCHEN KERN – Mayk Wendt 59 Friedrich Haring & Sabine Rubatscher – DIE SCHULE DER FISCHE 62 DAS SPIEL AM STERBENDEN BERG – Romano Paganini 66 Die Tschachotins – BARRIS, DU FRAGST MIR LÖCHER IN DEN BAUCH – Katharina Hohenstein 70 BAUMKINDER – Gemeine Esche / Fraxinus excelsior 71 Irma Hölzl & Anuschka Prossliner – RITRATTI DI BAMBINI O RICORDI D’INFANZIA? – Rosanna Pruccoli 76 Sabine Rubatscher – SABINE AUF DEM WEG – Friedrich Haring 79 BAUMKINDER – Gemeine Fichte / Picea abies 80 Linda Wolfsgruber – DIE DEMIURGIN – Christine Kofler 82, 84, 86, 88 IN VISSIDARTE 83, 85, 87, 89 FOR VISSIDARTE 4
WER SUCHT SICH DAS EIGENTLICH AUS… in welcher Gegend man die Kindheit verbringt, wo und als Kind welcher Eltern man geboren wird und wer sonst noch so auf das Leben einwirkt? VON KERSTIN SCHULTZ/TEXT UND CLAUDIA TILK/FOTOS Das Grödnertal. Holzschnitzkunst, Katholizismus Werkstatt betreten. Klarheit, Struktur und Hellig- und Berge. Schmelztiegel deutscher und italieni- keit bestimmen ebenso den Raum wie die sakra- scher Kultur. Idyllisch gelegen sind St. Ulrich, das len und säkularen Büsten, die auf den Regalen ste- Wohnhaus und auch die Holzwerkstatt; Lebensbe- hen. Nach seiner Kindheit gefragt, bedient Bruno dingungen, in die der Künstler BRUNO WALPOTH Walpoth das Klischee des in sich gekehrten Indivi- 1959 hineingeboren wird. Die Kunst des Holzbild- dualisten, was Künstlern ja gern anhaftet. Gut kön- hauens liegt in der Familie. Sowohl sein Großvater nen wir uns vorstellen, wie er verträumt durch die als auch sein 1933 mit 23 Jahren verstorbener On- Wälder streift, Holz und Natur auf sich wirken lässt. ARTE kel ‒ ein Freigeist, dem er sich nahe fühlt ‒ berei- Mit Abschluss der Mittelschule ist es sein Lehrer, ten einen fruchtbaren Boden. Befürworter und Entdecker seines Talentes, der Der Geruch von Holz empfängt uns, als wir die ihm den Anstoß gibt, Bildhauer anstatt Schreiner kindheit.infanzia 5
zu werden. Dafür ist er ihm immer noch dankbar, Warum fehlen den Skulpturen die Verbrauchsspu- denn bereits mit 14 Jahren wird ihm klar: „Ich ren des Lebens? Die Gestik, die Mimik, die Lach- werde Bildhauer“. Es folgen Lehrjahre bei einem falten – all das macht doch einen Menschen aus, klassischen Holzbildhauer in Gröden. Die Ausbil- oder? Was ist überhaupt mit dem Altern des Men- dungszeit von 1978 bis 1984 prägt ihn besonders, schen? „Mir ist wichtig“, erklärt er, „dass meine da er an der Akademie der Bildenden Künste in Kunst schön anzuschauen ist“. München unter Professor Hans Ladner seinen Es ist eine Sehnsucht, das Einzigartige und Schöne persönlichen Stil entwickelt. Eine Schlüsselfigur in einem Modell zu sehen, dies an die Oberfläche dieser Zeit ist „Schreitender mit Hose“. Mit Begeis- zu holen und es dann in Holz zu meißeln. Für die terung erzählt er uns, dass er eine seltene Gelegen- Ewigkeit. „Das gelingt besonders gut, wenn die heit nutzen konnte: Er kaufte sich die Holzskulptur Chemie zwischen Modell und Künstler stimmig zurück. ist“. Die Suche nach dem Unergründlichen treibe Seit knapp 20 Jahren ist die Handwerkskunst der ihn immer wieder mit Lust und Freude in seine Holzbildhauerei sein Auftrag. Sie ist Befriedigung Werkstatt, erklärt er uns. einer Lebenssehnsucht und bereichert die Kunst- Nicht nur in Südtirol und im restlichen Italien landschaft um mittlerweile 130 bis 140 Arbeiten. schätzt ein breites Publikum seine Werke, son- Mystisch, androgyn und zeitlos jung wirken diese dern auch in Übersee und in China. Oder besser Skulpturen. Verlässliche Informationen in Holz gerade in China! Denn die Büsten haben etwas verewigt. Blättert man in den Katalogen des Künst- Puppenhaftes. Ebenso wie die zeitlos schönen lers, so sind es vor allem Skulpturen von Kindern Frauen Asiens? Ein Aufblitzen in den Augen des und Jugendlichen. Manchmal stehen Kinder von Künstlers, wenn es um das Antlitz der asiatischen Bekannten und Freunden Modell, früher waren es Frauen geht, ist unübersehbar. Es reizt ihn, diese die eigenen. geheimnisvolle Schönheit, die den Anschein ewi- 6
Die Fotografin Claudia, selbst studierte Künstle- rin, wird nervös, als sie bemerkt, wie ich unbe- dacht den Arm der vor uns stehenden fast ferti- gen Holzbüste anfasse und neugierig tätschle. Später macht sie mich auf diesen Fauxpas auf- merksam, ich entschuldige mich daraufhin beim Künstler via E-Mail. Bruno antwortet gelassen. Er sieht es als Kompliment, wenn sich Betrachter seiner Kunst dazu stimuliert fühlen. Mir wird ein- mal mehr bewusst, dass uns hier der Zugang in die Herzkammer der Entstehungswelt einzigarti- ger Holzskulpturen gewährt wurde. Bruno Wal- poths Schöpferkraft kreiert aussagekräftige und zugleich sinnliche Werke. Einzigartiges entsteht, wenn das Besondere auf einen idealen Nährboden fällt. Tja, wie sucht man sich das aus? Sucht man sich das aus? Vielleicht Bruno Walpoth und Autorin Kerstin Schultz wird man ausgesucht! Alle Wahrheit fügt sich zu einem guten Ganzen, lebt in der Verwirklichung; ger Jugend hat, in Holz zu meißeln. Es ist also kein in der Verquickung des Sinnlichen und des Über- Zufall, dass über eine Ausstellung in und für China sinnlichen. nachgedacht wird. HOLZSCHNITZENDE JUGEND, WOHIN? In den letzten 15 Jahren kamen die Studenten der und schreckten davon ab, diese Berufe zu erler- Landesberufsschule für Kunsthandwerk in Gröden nen. „Die Zukunft unseres Kunsthandwerks wird ausschließlich von auswärts, etliche Jahre lang von dessen Kreativität abhängen“, davon ist Kost- gab es keine Lehrlinge im Kunsthandwerk mehr. ner überzeugt. Seit der Gründung der Arbeitsgrup- Der Zustand war besorgniserregend, befand die pe hat sich einiges getan, einige der gesteckten Gemeindeverwaltung St. Ulrich und begann im Ziele zur Förderung der Jugend werden weiterhin Jahr 2015 in öffentlichen Veranstaltungen genau leidenschaftlich verfolgt. So wurden Workshops darauf hinzuweisen und der Grödner Jugend auf- für Teenager begonnen, Besuche in Bildhauer- zuzeigen, welche Chancen der Holzbildhauerberuf und Malerwerkstätten angeboten, Absolventen bietet. Der Mangel an Nachwuchs, sagt Bildhauer der Berufsschule wurden Gelegenheiten zur Wei- und Gemeinderat Peter Kostner, Koordinator einer terbildung bei Meisterbildhauern eingeräumt, au- Arbeitsgruppe für die Förderung der Jugend im ßerschulische Modellierkurse gab es ebenso. Erste Grödner Kunsthandwerk, sei auch der Tatsache Lichtblicke zeigen sich bereits: derzeit lernen und geschuldet, dass Eltern dem Grödner Kunsthand- arbeiten vier junge Grödner bei Meistern in deren werk kaum noch Zukunft einräumten; kaum Ver- Werkstätten. dienstmöglichkeiten und eine lange Lehrzeit sei- Mehr Infos unter en, ihrer Meinung nach, eher düstere Perspektiven ivan.senoner@gemeinde.stulrich.bz.it. kindheit.infanzia 7
UND AM MONTAG IST STRESS Vinzent Platzgummer, neun Jahre alt, lebt in Wien. Sachunterricht ist schlichtweg langweilig, sagt er und erklärt, warum der Samstag schöner ist als der Sonntag. Dann freust du dich sicher auf das Wochenende? Der Samstag kommt, und ich habe frei, aber er Foto: Valentin Platzgummer geht halt wieder. Und der Sonntag? Ich habe den Samstag lieber als den Sonntag. Denn dann kommt Montag. Johanna: Wo wohnst du, Vinzent? Was ist am Montag los? Vinzent: Ich wohne im 17. Bezirk in Wien. Stress. Wie kommt man da hin? Das genaue Programm? Das weißt du ja, mit der Straßenbahn. Sie hält in Zuerst habe ich Schule, dann gehe ich in den Hort unserer Straße. Das ist bequem. Ich mag den Park, essen, dann mache ich in einer halben Stunde die ich gehe oft hinunter in den Park, um Fußball zu Aufgaben, schnell, weil ich danach Geigenstunde spielen. habe und dann Fußball. Fußball dauert eineinhalb Trainierst du da alleine? Stunden. Nö, manchmal treffe ich dort einen Freund oder Haben deine Kameraden beim Fußballspielen eine Papa spielt mit oder mein Bruder Moritz. Manch- Kippa auf? mal spiele ich mit meinem Freund auch Fangen. Was ist eine Kippa? Macht ihr vorher aus, wer Zeit hat? Das Käppchen, das die Buben gläubiger jüdischer KINDER STIMMEN Vinzent: Nein, es ist zufällig. Familien tragen, die kleinen runden Käppchen. Fährst du allein mit der Straßenbahn zur Schule? Nö, mit einer Kippa können sie keine Köpfler ma- Nö, ich fahre mit Moritz. chen. Was gefällt dir am besten in der Schule? Was hast du für deine Zukunft vor? Turnen. Wir haben nur vier Fächer. Vinzent: Ich will im Meer schnorcheln. Ich sehe mit Was ist langweilig? der Taucherbrille ganz genau die Fische und viel- Sachunterricht. leicht einen Oktopus oder Seepocken. Könnten Das glaube ich nicht, es geht doch um Tiere und wir nicht nach Pula fahren, wenn Sommerferien Erfindungen, um den Wind oder Türme. sind? Es ist langweilig. Wir suchen ein paar Infos auf dem i-Pad. Das Interview führte Johanna Platzgummer 8
BAUMKINDER EUROPÄISCHE LÄRCHE / LARIX DECIDUA Oje! Freunde, ich sage euch, mit den Superlativen wollen wir hier gar nicht erst anfangen. Es wimmelt von Orten, die meine gesamte Verwandtschaft in Superlativen anpreisen. Die Ultner Lärchen wur- den auf 2.000 Jahre geschätzt, tatsächlich sind sie jünger, die höchste meiner Art soll im hessischen Vogelberg stehen und dort 54 Meter messen. Im Wallisischen Prairion hat eine Verwandte von mir rund elf Meter Umfang. Doch wenn ich einmal groß bin und weiter wachsen darf in diesem Laat- scher Calva-Wäldchen, wo ich gerade meine Kind- heit verbringe, könnte ich auf eine Lebensdauer von rund 800 Jahren zusteuern. Schöne Aussich- ten, sage ich da nur. Sonnenseitig bin ich übrigens bestandsbildend, gemeinsam mit der Zirbe bilde ich die Waldgren- ze. Darüber hinaus wage ich mich sogar in die Kampfzone vor, aber nur an begünstigten Stellen, geschützt vor Steinschlag und Wind. In Südtirol fehle ich in keinem Tal, mein Harz heißt hier „Lör- get“. Eine klebrig-klasse Sache, die zur Heilung des Menschen verwendet wird: bei Rheuma, Abszes- sen und weiteren Wehwehchen; zur Herstellung von Lacken musste ich auch dienen. Mein Holz ist das Beste für Schindeldächer: Außerdem gehört es zu den schwersten und härtesten Hölzern in Euro- pa. Bis zu meiner Mannbarkeit werden noch rund 30 bis 40 Jahre vergehen. In mir sind weibliche und männliche Blüten gleichzeitig angelegt und die weiblichen sind besonders schön: Stehen sie doch stolz am Zweig und das in zauberhaftem Pur- pur! Dass ich meine Nadeln zum Schutz vor dem Austrocknen im Herbst abwerfe und kurz zuvor die Welt mit meinem satten Goldgelb verzaubere, das weiß jedes Menschenkind. Foto & Mitarbeit: Joachim Winkler Text: Katharina Hohenstein kindheit.infanzia 9
WELCHE SCHULE WOLLEN WIR UND WELCHE SCHULE HABEN WIR? Neugierde wecken, anstelle Noten vergeben! Im Gespräch mit der Reformpädagogin Karin Dietl kristallisiert sich hinsichtlich des Schulunterrichts dringender Handlungsbedarf heraus. VON FRIEDRICH HARING/INTERVIEW UND MARIA GAPP/FOTOS Seit Maria Montessori ihre Vorstellung von vissidarte: Frau Dietl, wie sind Sie zu ihrer pädago- Schule propagierte ‒ und das war vor rund 100 gischen Berufung gekommen? Jahren ‒ ist die Frage, was Schule nun sein soll- Karin Dietl: Grundschullehrerin wollte ich immer te, heftig diskutiert worden. Die preußische schon werden. Doch während der ersten Jahre, Schule von einst hatte einen informierten Un- die ich unterrichtete, fühlte ich mich nicht wohl tertanen zum Ziel. Einen, der zumindest seinen und spielte sogar mit dem Gedanken, den Schul- Einberufungsbefehl lesen konnte. So wurde dienst zu quittieren. Bei einer Fortbildung habe das Schulsystem als ein von einem absolutisti- ich Christian Laner kennengelernt, eine Koryphäe schen Staat geschaffenes Instrument geregelt. in der Südtiroler Schulwelt auf dem Gebiet der Re- Das ist es bis heute geblieben. Doch ist dieser formpädagogik und digitalen Schulbildung. Durch Schuh für die Probleme des 21. Jahrhunderts ihn bin ich zur Reformpädagogik gekommen und nicht zu klein geworden? Da das gesellschaftli- konnte sehen, dass es einen anderen Unterricht che Umfeld einem ständigen Wandel unterwor- gibt als denjenigen, den ich bisher gekannt habe. fen ist, müssen die Zielsetzungen von Schule Deshalb blieb ich weiterhin Lehrerin und arbeitete immer wieder in Frage gestellt werden. Warum bald darauf an einem Projekt für Reformpädago- dauert es so lange, bis Antworten gefunden gik mit. Ich durfte in verschiedenen Schulen Erfah- werden können? Weil die Mühlen der Büro- rungen sammeln und habe schließlich zu meiner GESELLSCHAFT kratie so langsam mahlen? Müssen wir immer Art des Unterrichts gefunden. noch den Problemrucksack der Maria-There- sianischen Schule mit uns herumtragen? Über Entspricht die Art, wie allgemein an der Grund- diese komplexe Problematik habe ich mit der schule unterrichtet wird dem, was Schule eigent- Schulleiterin der Grundschule von Glurns, Ka- lich sein sollte? rin Dietl, gesprochen. Sie ist eine reformpäda- Ich traue mich zu sagen: Nein, auf keinen Fall. Si- gogisch ausgebildete Lehrerin, die ihren Weg cher gibt es immer wieder Ausnahmen, aber im zwischen den Dornen und Brennnesseln des Großen und Ganzen ist unser Schulsystem weit althergebrachten Schulsystems unbeirrt ver- davon entfernt, einen zeitgemäßen Unterricht zu folgt. Sie ist mit einem Biobauern verheiratet, ermöglichen und den Kindern das zu bieten, was hat zwei Kinder und wohnt in Mals. sie bräuchten. 10
Eines Tages kam Thomas Edison von der Schule nach Hause und gab seiner Mutter einen Brief. Die Mutter hatte die Augen voller Tränen, als sie dem Kind laut vorlas: „Ihr Kind ist ein Genie. Diese Schu- le ist zu klein für ihn und hat keine Lehrer, die gut genug sind, ihn zu unterrichten. Bitte unterrichten sie ihn selbst.“ Viele Jahre nach dem Tod der Mutter, Edison war inzwischen einer der größten Erfinder des Jahrhun- derts, stieß er auf den Brief. In ihm stand geschrie- zeigt, dass fast alle Kinder mit wahnsinniger Freu- ben: „Ihr Sohn ist geistig behindert. Wir wollen ihn de lernen wollen. Nach ein paar Wochen Schule nicht mehr in unserer Schule haben“. ist die Motivation verwelkt, die Freude am Lernen Edison weinte stundenlang, dann schrieb er in sein kaputt. Es scheint falsch, dass wir den Kindern et- Tagebuch: „Thomas Alva Edison war ein geistig be- was beibringen wollen, was sie schon können. Fast hindertes Kind. Durch eine heldenhafte Mutter wur- jedes Kind kann mit vier Jahren schon zählen und de er zum größten Genie des Jahrhunderts.“ rechnen. Unsere Art des Unterrichts nimmt ihnen diese Fähigkeit, auf ihrem Wissen aufzubauen. Von den Ziffernnoten halte ich gar nichts! Die bloße „Kreuzlmacherei“ bei den Kompetenzbeschrei- Wo sehen Sie die größten Mängel? bungen ist sinnlos, weil sie weder dem Kind noch In den Rahmenrichtlinien, die seit 2009 gesetzlich den Eltern echte Informationen vermittelt. Ich habe in Kraft sind, steht genau, was Schule heute um- viele junge Kolleginnen, die von Noten sehr viel setzen sollte, wie ein Kind angenommen werden halten. Diese Einstellung ist mir unverständlich. sollte, welche Initiativen oder Inputs von den Kin- der ausgehen sollen, wie die Neugierde geweckt Warum ändert sich das Schulsystem nur so zäh- werden kann und vieles mehr. Doch das scheint flüssig? mir bei den meisten Schulen und Lehrpersonen Die Lehrer hätten alle Freiheiten, das System zu nicht spürbar angekommen zu sein. ändern, auch die Eltern, aber sie nutzen sie nicht. Solange jemand nicht gegen das Gesetz verstößt, Wie beurteilen Sie das Bewertungssystem, beson- darf jeder tun, was er verantworten kann. Ich habe ders die Notengebung? alles eingehalten, was vom Gesetz vorgeschrieben Das Notensystem hinkt der Realität nach. Wir ist. Daher haben meine Schüler sich und ich mich müssen die Leistung in den einzelnen Fächern be- wohl gefühlt. Letztlich waren auch die Eltern zu- werten und vergessen dabei oft, dass es um einen frieden, weil sie feststellten, dass ihre Kinder mit Menschen geht, der Fortschritte macht. In zahllo- Freude zur Schule gehen, von sich aus lernen und sen Studien, auch in der Gehirnforschung, werden sogar das Wissen behalten! Sie vergessen Gelern- jede Menge Erkenntnisse geliefert, wie ein guter tes nicht mehr, weil sie nicht nur auswendig ge- Unterricht aufgebaut sein sollte. Aber diese Er- lernt haben, um eine gute Note zu bekommen. Än- kenntnisse nützen nichts, weil sie nicht umgesetzt derungen in der Schule werden von Lehrpersonen werden. Der Unterricht wird meist von der ers- oft als Katastrophe wahrgenommen: „Das geht ten Klasse an falsch aufgebaut. Unsere Erfahrung nicht, das haben wir schon immer so gemacht“ kindheit.infanzia 11
usw. Viele sind auch „stuff“, weil es dauernd Än- In der Schule ist eine Elternvertretung gesetzlich derungen gibt, im Grunde aber alles beim Alten vorgesehen. Wie könnte die Rolle der Eltern effizi- bleibt. enter in den schulischen Ablauf eingebracht wer- den? Wo müsste eine erfolgreiche Schulentwicklung an- Die Eltern spielen besonders in der Grundschule setzen? eine große Rolle. Ich habe das Gefühl, dass sich Ich bin der Meinung, dass sich nicht bloß am Eltern gerne am schulischen Leben beteiligen, Schulablauf etwas ändern sollte, es braucht vor jedoch auch Ängste davor haben. Sie glauben, allem viel Arbeit an der eigenen Persönlichkeit. keine Gleichstellung gegenüber einer Lehr- Ohne diese Arbeit sind wir meist nicht in der Lage, person zu haben. Wenn man den Eltern das vom „Lehren“ weg zu kommen und die starren Gefühl geben könnte, dass sie in der Schule Vorgangsweisen los zu lassen. Als Lehrer ist die gerne gesehen sind, könnte man vieles ver- wirklich wichtige Frage: „Was haben meine Schü- ändern. Auch wenn Eltern einfach einmal so ler gemacht?“. Denn den Kindern bleibt bei der in den Unterricht kommen, sollte sich der Aneignung eines bestimmten Themas das im Ge- Lehrer dadurch nicht gestört fühlen. Ich habe dächtnis, was sie sich selbst erarbeitet haben, die Klassentüre während meines Unterrichts auch wenn das einen Monat dauern kann. Dies offen, egal wer da draußen vorbeigeht oder ist wissenschaftlich erwiesen. Wenn ich als Leh- hereinkommt. Wenn ich mein Verhalten als rer nicht darauf fixiert bin, was ich geleistet habe, Lehrerin ändern muss, weil eine Mama in den sondern was meine Schüler geleistet haben, dann Unterricht gekommen ist, dann denke ich, da ändert sich alles. ist etwas falsch, denn ich bin immer ich. Frü- her, so erinnere ich mich, wäre es eine Katas- Ein Kind, das durch selbstständige Experimente trophe gewesen, wenn da auf einmal jemand etwas erreicht, erwirbt ein ganz andersartiges Wis- ohne Voranmeldung da gestanden hätte. Für sen als eines, dem die Lösung bereits geboten wird. manche Kolleginnen ist das heute noch sehr Emmi Pichler unangenehm. 12
Wie sollen sich freier arbeitende Lehrpersonen ver- halten, wenn die anderen Lehrkräfte auf strikte Disziplin bestehen? Das ist eine schwierige Frage. Die Kinder haben oft den Eindruck, bei diesem Lehrer dürfen wir tun und lassen was wir wollen. Wenn ein Lehrer alle Fächer unterrichtet, dann ist ein neuer Unter- richtsstil viel leichter durchzusetzen. Sonst ist es fenen Kind aus der Klasse hinaus geschickt wer- ein langwieriger Prozess mit vielen Rückschlägen den. Da stehen mir die Haare zu Berge. Inklusion und einem großen Bedarf an Geduld. Denn solche wird ausschließlich unter einem Aspekt betrach- Prozesse können Jahre dauern. tet: ein Kind in einem Fach zu unterstützen, in dem es schwächer ist. Aber wir müssen allen Kindern Ein Kind ist kein Gefäß, das gefüllt, sondern Möglichkeiten bieten, dass sie ihre besonderen Fä- ein Feuer, das entfacht werden will. higkeiten entwickeln können und sie nicht auf ihre Francois Rabelais Schwächen festnageln. Wie sehen Sie die Schulpolitik in Südtirol? Man hört heute viel von Inklusion. Was halten Sie Prinzipiell denke ich schon, dass die Bildungspo- davon? litik auf dem richtigen Weg ist. Die Rahmenricht- Wieder einmal ein modernes Wort, das alles super linien sind in meinen Augen super, echt toll. Ich erscheinen lässt. Südtirol war hier auf einem guten frage mich nur, warum sie weitgehend nicht um- Weg. Verantwortliche aus anderen Ländern kamen gesetzt werden? In der professionellen Lehreraus- hierher, um das tolle System anzuschauen. Wenn bildung kommen diese dort verankerten Anliegen man genauer hin schaut, funktioniert vieles, was zu wenig zum Tragen. Die Politik bereitet den Weg Integration und Inklusion betrifft, nicht. Häufig ist und bietet Möglichkeiten, aber oft werden diese es so, dass die Integrationslehrer mit dem betrof- nicht umgesetzt. Mehr kann ich dazu nicht sagen. kindheit.infanzia 13
„SCHÖN, WIE DIE SONNE DIE BERGE BELEUCHTET“ Laurin Barbüda stammt aus dem Unterengadin, wo er auch lebt. Der 11-Jährige aus Scuol erzählt, was ihn glücklich macht, aber auch, was ihn so richtig nervt. Fadrina: Laurin, du lebst im Engadin. Lebst du Wie sähe dein Wunsch für die Zukunft der Erde eigentlich gerne hier? aus? Laurin: Ja, sehr gerne. Ich habe hier viele Freunde, Erstens gäbe es keine Kriege. Zweitens müsste nie- wir haben ein sehr schönes Haus und ich fühle mand hungern oder arm sein. mich wohl hier. Du musst nicht hungern oder bist arm. Hast du Was kann man denn hier alles machen? dennoch Sorgen? Skifahren, Wandern, Schwimmen, River Rafting ... Ja, ab und zu. Gibt es etwas, was dir hier fehlt? Welche Sorgen? Nein. Mir fällt gerade nichts ein. Was ist schön um dich herum? Aber es gibt Sachen, die dich nerven? Die schönen Berge. Abends sehen wir oft, wie die Ja, wenn jemand in der Schule mich plagt. Wenn Sonne die Berge beleuchtet. An anderen Orten ich ausgelacht werde oder jemand blöde Wörter gibt es so etwas nicht. benutzt. Was ist das Wichtigste in deinem Leben? Gehst du eigentlich gerne in die Schule? Vieles. Die Familie, die Freunde, Hobbys. Ja. Welche Hobbys hast du denn? Was machst du am liebsten? Fussball, Hockey, Unihockey, Skifahren. Turnen und Mathematik. Spielst du auch Computerspiele? Gibt es etwas, was du nicht gerne machst? KINDER STIMMEN Ja, manchmal, wenn ich bei meinem Vater bin. Wenn der Lehrer etwas erzählt und wir danach et- Das sind ganz verschiedene Spiele. Und ab und was dazu schreiben müssen. Das macht mir kei- zu schaue ich Youtube-Filme. nen Spaß. Welche Filme sind das? Was glaubst du, wirst du machen, wenn du Lustige Filme oder Dokumentationen. Ich lese erwachsen bist? auch viel. Das weiß ich noch nicht. Wenn du so viel liest, weißt du ja, was auf der Was macht dich glücklich? Welt läuft. Macht dir die Zukunft der Erde Sor- Eine gute Note, mein Lieblingsessen. Das kann so gen? vieles sein ... Manchmal schon, vor allem, wenn ich über Kriege und Katastrophen lese. Das Interview führte Fadrina Hofmann 14
KOSMO- POLITISCHE KINDHEIT IN DER VILLA FREISCHÜTZ Eine Villa in Obermais wird bald aus ihrer Jahrzehnte andauernden In-Sich-Versunkenheit erwachen. Darin erlebten die Sprösslinge der großbürgerlichen Familien Fromm und Navarini eine unbeschwerte Kindheit. Familienfoto 1888, Luisa Vernal y Hilliger in Fromm, Franz Fromm, mit ihren Kindern Luisa und Jorge. Alle Fotos: Sammlung Villa Freischütz. VON SONJA STEGER Helden Ein verstecktes Gässchen in Obermais, trocken- Derer gäbe es viele in dieser Geschichte, unzweifel- mauergesäumt. Ein Garten, in dem die Schönheit hafte und problematische. Ich wähle Franz Fromm der Verwilderung herrscht, darin steht die Villa (1854‒1941). Warum? Das liegt auf der Hand: Der Freischütz. 1909 ließ sie der Meraner Metzgermeis- Preuße und Abkömmling einer wohlhabenden ter Ignaz Gritsch im Heimatstil erbauen. Ihr Name Tuchfabrikanten-Dynastie war Weinhändler in ist der anno dazumal beliebten Oper von Carl Barcelona, Sammler, Privatgelehrter und Witwer. Maria von Weber entlehnt, deren Lieder vermut- Seine Gemahlin, die in Peru geborene Tochter ei- lich auch in Meran Gassenhauer waren. Gritsch nes preußischen Konsuls, Luisa Vernal y Hilliger, hatte die Villa nie selbst bewohnt, die Wohnungen verstarb, bevor Franz Fromm Meran als sein Kur- vermietete er von Anfang an. 1922 erwarb Franz domizil erwählte. Fromm die Villa. Nun gut, ab 1905 hält sich Franz Fromm ‒ mit Kin- Ich fühle mich an die Romane von Dostojewski er- dern und Hauspersonal ‒ während der Wintermo- innert. Oder spüre ich doch eher einen Hauch von nate als Kurgast in Meran auf und bewohnte Villen STORIA Hundert Jahre Einsamkeit? Wie dem auch sei, ein und Schlösser, wie das verschwundene Schloss Personenregister wäre hilfreich, um den Überblick Riedenstein, die Schlösser Rubein, Labers und Ra- nicht zu verlieren, denn verwirrend viele Prota- metz. Kurzum: Das Meran der Belle Époque gefiel gonisten hinterließen ihre Spuren an diesem Ort. ihm so sehr, dass er seinen Hauptwohnsitz dorthin Konzentrieren wir uns auf einen … verlagerte. kindheit.infanzia 15
Ein schöner Zufall: beim Auspacken des seltenen Urania-Pup- Zum didaktischen Material zählt auch dieser interaktive Globus, pen-Theaters aus Karton und Papier, mit Kulissen und Protagonis- den man öffnen kann und der im Inneren die Evolutionsgeschich- ten von Theaterstücken und Opern fand sich… genau! auch das te der Menschheit veranschaulicht und die Planetenlaufbahnen Bühnenbild und die Akteure vom Freischütz. So manches edle Ge- nachbildet. Globos planetarios mit abnehmbarer Kalotte, Benja- schenk bekamen die Kinder von ihrer Tante Isabel, die – nachdem min Tena, Villafranca, Spanien, 51 cm hoch, 1907. sie Peru verlassen hatte – in Paris lebte, vermutlich auch dieses Urania-Theater, um 1900. Der Hauptanteil des Erinnerungsfundus in der und Werkzeug zum künstlerisch-musischen Ge- Villa Freischütz stammt von Franz Fromm. Seine brauch ist erhalten geblieben. Zoila malte, schnitz- riesige Sammlung von Kunst und Kunstgewerbe, te und fertigte Objekte aus Metall an. Luisa musi- Möbeln und Alltagsgegenständen wurde verschifft zierte und sang. Paco sammelte Schmetterlinge, von Barcelona nach Triest, von dort aus bedurfte Käfer und Fossilien. es unzähliger Wagenladungen, um sie nach Ober- Es könnte der Eindruck entstehen, die Kinder hät- mais zu bringen. ten ausschließlich Hausunterricht genossen. Dem Weitere Erinnerungsträger kamen im Laufe eines war nicht so, diese Förderung wurde ihnen zusätz- Jahrhundert dazu: Korrespondenz und Tagebü- cher, die fast lückenlos erhalten geblieben sind, sowie zahllose Objekte, die seine Nachfahren im Haus hinterließen. Viele dieser tatsächlichen und ideellen Schätze erzählen auch von den Kindern Fromm und Navarini. Großbürgerliche Kindheit Der kosmopolitische Familienvater verwandte viel Sorgfalt und Zeit in die Bildung seiner vier Kin- der. Zoila, Luisa und Paco (Francisco); sein Sohn Jorge starb 1918 an der Spanischen Grippe in Schloss Rubein. Gouvernanten umsorgten die He- ranwachsenden, Hauslehrer unterrichteten Spra- STORIA chen, Naturkunde, Musik und Malerei. Im Haus schlummern unzählige Spielsachen – von Puppen bis Zinnsoldaten, es findet sich didaktisches Lehr- Im Fundus finden sich gar manche wundersame Stücke aus Südamerika, wie diese niedlichen, peruanischen Handpüppchen. material: darunter ein famoser Globus, Fossilien-, Wobei noch nicht geklärt ist, ob es sich um Kinderspielsachen Stein- und Insektensammlungen, auch Material handelt oder um kultische Objekte. 16
lich geboten. Die Mädchen besuchten die Schule bei den Englischen Fräulein, der Junge die Land- wirtschaftsschule in San Michele all‘Adige. Zeitsprung zur Stifterin Luisa Fromm heiratete 1925 General Enea Navari- ni, der Ehe entsprangen zwei Kinder, Rosamaria, die Gründerin der Stiftung Navarini-Ugarte, und Rosamaria Navarini (1926-2013), ca. 1945 ihr Bruder Paolo. Rosamaria berichtete von einer glücklichen und unbeschwerten Kindheit. Vor al- lem die liebevollen Kindermädchen und Erziehe- rinnen, die ihre Mutter mit Bedacht eingestellt hat- te, waren ihr in guter Erinnerung geblieben. Ihre DIE SAMMLUNG Mutter Luisa, die eine Gesangsausbildung in Ber- VILLA FREISCHÜTZ lin genossen hatte, delegierte die Betreuung ihrer Kinder, standesgemäß und wohlwissend, dass sie diese Aufgabe überfordert hätte. Die heranwach- Es hat Jahre gedauert alle im Haus aufbewahrten sende Rosamaria besuchte die Schule an verschie- Objekte zu sichten, zu ordnen, zu katalogisieren. denen Orten, u.a. in Rom und Forlì, da ihr Vater, Alle Mitglieder des Stiftungsrates investierten viel General Navarini, in ganz Italien tätig war. Musisch Zeit und Leidenschaft. Federführend bei diesem begabt, widmete sie sich von Kindheit an dem Ma- Mammutunternehmen waren Präsidentin Herta len und Handarbeiten, ihre liebsten Lebensgefähr- Waldner und Vizepräsidentin Karin Pircher. Das ten waren ihre Tiere. Da ihre große Liebe bei einem Museumskonzept erstellte die Kuratorin Ariane Autounfall ums Leben kam, schenkte sie ihr Herz Karbe aus Berlin. keinem anderen mehr. Rosamaria blieb ledig und kinderlos. Sie bewahrte das Erbe ihrer Vorfahren, Die Sammlung Villa Freischütz wird ab Herbst 2018 pflegte ihr Interesse für Antiquitäten, umsorgte der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und an- ihre Haustiere: Hunde, Katzen und Vögel. Lange hand der Objekte der kosmopolitischen Großfami- Zeit spielte sie mit dem Gedanken, das Haus, die lie eine spannende und aufschlussreiche Zeitreise Kunstsammlung, die historischen Alltagsobjekte ermöglichen. Die Ausstellung konzentriert sich auf der Allgemeinheit zugänglich zu machen. 2012 die Jahre 1920 bis 1940, Jahrzehnte in denen sich fasste sie einen Entschluss und gründete die Stif- massive geschichtliche und gesellschaftliche Um- tung Navarini-Ugarte. Namengebend sind ihr Va- brüche vollzogen, wobei auch die Geschichte des ter und ihr Großonkel, der Halbbruder ihrer Groß- unter dem Faschismus aktiven Generals Enea Na- mutter, der peruanische Nationalheld Alfonso varini beleuchtet werden wird. Die Sammlung Villa Ugarte. Bei diesem Unterfangen vertraute sie auf Freischütz bereitet sich auf ihre Geburt vor. die Unterstützung von Freundinnen und Vertrau- ten. Ihre Träume werden jetzt Wirklichkeit. kindheit.infanzia 17
BAUMKINDER VOGELBEERE / SORBUS AUCUPARIA Nein, es stimmt nicht! Meine Früchte sind nicht Rosengewächse und komme in Südtirol und in Eu- giftig! Ganz im Gegenteil. Die Beeren sind Vita- ropa fast flächendeckend vor. Kein Wunder, denn min C- und Vitamin A-reich und enthalten den ich bin einer der Laubbäume, die wirklich die Höhe Zuckeraustauschstoff Sorbit. Die Parasorbinsäure lieben und schaffe das, was sonst nur Nadelbäu- schwindet nach dem ersten Frost und somit auch me hinbekommen, nämlich bis zur Baumgrenze der Großteil des bitteren Geschmacks. In man- zu wandern. Mit einer Höhe von 15 Metern bin ich chen Regionen wurden sie die Preiselbeeren der eher klein, was jedoch nicht heißt, dass ich mytho- armen Leute genannt. Wenn wir schon von mei- logisch nicht eine Größe wäre ― soll ich doch dem nen fantastisch roten Beeren sprechen: Sie dienen germanischen Gewittergott Thor das Leben geret- etlichen Vogel- und vielen Kleintierarten als exzel- tet haben, als er sich in einem reißenden Fluss an lente Nahrung im Winter, zahlreiche Insektenarten meine Äste klammerte. Überhaupt bin ich robust, und Kleinschmetterlinge wissen mich zu schätzen. halte starken Frost aus und nehme Wildverbiss Einige Tierarten sorgen übrigens für meine Ver- eher gelassen ― auch bin ich recht tolerant gegen breitung, indem sie meine Samen unverdaut aus- Luftverschmutzung. Ernährungstechnisch setze scheiden und großzügig verteilen. Ich hier jedoch ich auf gute Zusammenarbeit, die Symbiose mit bin in einem Schutzwald auf einer Mauer geboren! etlichen Wurzelpilzen funktioniert bestens für das Kollegen von mir wachsen auch auf Baumstümp- Aufnehmen von Mineralien und Glukose. fen oder besiedeln schwierige Brachlandschaften, Moorränder oder Geröllfelder. Mein einziger An- Foto & Mitarbeit: Joachim Winkler spruch: Genug Licht! Ich gehöre zur Familie der Text: Katharina Hohenstein 18
EINE VON ACHTHUNDERT Mit der Geschichte „One in Eighthundred“ griff der Fotograf Mario Wezel den Alltag eines Mädchens mit Down-Syndrom auf und erzählte von dem, was das Leben an Überraschungen bereithält. Der 29-jährige Fotograf aus Hannover ist überzeugt: Neue Erzählformen müssen her! VON KATHARINA HOHENSTEIN Das Erste, was ich von Mario Wezel sah, war ein lich verbessert und vermehrt eingesetzt werden. kleines Album seiner Fotografien von der Rifairer Das Ergebnis: Im Jahr 2012 wurden in Dänemark Alm im Obervinschgau. Das hatte er dem dama- nur 20 Kinder mit Down-Syndrom geboren. Für ligen Senn Luis Joos am Ende eines langen Som- Wezel ein Grund, sich das Leben der ganzen Fami- mers geschickt. Wer war dieser junge Fotograf? Auf lie anzusehen. Er begann, sich persönliche Fragen jeden Fall waren es Fotografien, die keine niedli- zu stellen. Die Monate gemeinsam mit Emmy und che Kitschvariante vom ländlichen Leben bereit- ihrer Familie brachten ihm Antworten – und zahl- hielten, sondern die unterschiedlichen Aspekte reiche internationale Fotopreise, wie unter ande- des Lebens auf dem Berg eingefangen hatten. ren 2014 den Sony World Photography Award in Wenige Klicks im Netz brachten Ergebnisse: Mario der Kategorie Menschen oder die Auszeichnung Wezel, Student an der Hochschule Hannover, war als College Photographer of the Year. gerade dabei, sein Talent zum Beruf zu machen. Ei- nige Fotografien davon stellte er uns für die vissi- vissidarte: Wie kam ein damals knapp Mittzwanzi- PHOTOGRAPHY darte-Ausgabe fremd zur Verfügung. Das war 2010. ger dazu, eine Arbeit über ein kleines Mädchen mit Down-Syndrom zu machen? Während des anschließenden Master-Studiums an Mario Wezel: Mich machte es stutzig, dass es gera- der Danish School of Media and Journalism begann de in einem progressiven Land wie Dänemark zu er die Arbeit an One in Eighthundred, die Geschich- einem drastischen Geburtenrückgang aufgrund te von Emmy und ihrer Familie. Eine von Acht- der pränatalen Diagnostik kam. Viele Fragen hundert, dieser Titel bezieht sich auf die Tatsache, tauchten auf, Antworten hatte ich keine. Die The- dass mit den immer präziser werdenden pränata- matik einer Familiengründung war zwar damals len Untersuchungen die Möglichkeiten einer Früh- für mich nicht akut, aber die grundlegende Frage, erkennung von Kindern mit Down-Syndrom deut- ob ich überhaupt einmal Kinder haben würde, kindheit.infanzia 19
Alle Fotografien „One in eighthundred“: Mario Wezel stellte sich sehr wohl. Während ich die Geschichte Emmy nimmt die Welt um sich herum intensiver machte und die Familie kennen lernte, schwenkte wahr als andere Kinder in ihrem Alter. Unter an- die Tendenz zum Ja! Denn das Zusammenleben derem hat dies zur Folge, dass sie für viele Dinge der Familienmitglieder war und ist wahnsinnig länger braucht. Die Eltern haben dadurch selbst schön. Da gehst du raus mit einem Lächeln! Ich gelernt, die Welt bewusster wahrzunehmen, aber hatte erfahren, dass ein behindertes Kind zwar dies hat auch ihren Alltag verlangsamt. Anziehen, neue Herausforderungen darstellt, diese jedoch Zähne putzen oder Spazieren gehen dauern ein- einen Menschen von Grund auf neu prägen können fach länger. Emmys Verhalten hat das Leben der und bisher unbekannte, andere Werte vermitteln. Familie entschleunigt. Mit der Geschichte wollte ich jedoch niemanden bekehren, sondern Interesse wecken und damit Berührungsängste kennen viele, wenn es um Men- erreichen, dass sich Menschen eigenständig wei- schen mit Behinderungen geht. Wo, mit welchen ter informieren. Noch ein Fazit der Geschichte war Menschen oder Situationen tauchen bei dir Berüh- die Tatsache, dass man, unvorbereitet in eine Situ- rungsängste auf? ation hineingeworfen, damit umgeht, einfach, weil Hierarchien schrecken mich ab. Menschen, die es notwendig ist. Das ist eine großartige Sache. glauben etwas Besseres zu sein und sich dadurch auf eine höhere Ebene stellen, verderben mir die Was hat sich konkret im Leben von Emmys Eltern Lust, sie kennenzulernen und ihnen offen zu be- verändert? gegnen. Was du erreicht hast oder wie viel Geld du 20
hast, sagt nichts, aber auch gar nichts darüber aus, Landwirtschaft im Obervinschgau befasst ... ob du ein guter Mensch bist oder nicht. Auf der Rifairer Alm ging es darum, zu erkunden, was es bedeutet, auf einer Alm zu leben. Das gilt Wenn du wieder einmal ein Thema rund um Kind- auch für Sin began with Marlene. Es gibt ja bereits heit erarbeiten würdest, welche Aspekte könnten jede Menge Menschen, die eine vorgefertigte Mei- dich in Zukunft interessieren? nung haben. Ich will keine Meinung bilden, son- Schon lange interessiert mich die „Coming-of- dern ich möchte mit der Fotografie erreichen, dass Age“-Phase, also genau genommen eine Zeit nach sich Menschen für ein Thema interessieren. der eigentlichen Kindheit. Dieses Zwischenstadi- um zwischen Kindsein und Erwachsenwerden, in Das ist dir gelungen. Es gab etliche Berichte in dem sich die Naivität langsam verabschiedet und überregionalen Medien, die deine Fotos benutzt man lernen muss, auf eigenen Beinen zu stehen haben. Glaubst du, das Interesse der europäischen und Entscheidungen zu treffen. Eine emotionsge- Medien ändert sich gerade in Bezug auf das ladene Zeit voller Übermut und Schmerz. Thema Landwirtschaft? Das ist schwierig zu sagen. Gefühlt ist es ein Spiel Südtirol ist dir nicht unbekannt. Deine fotografi- mit der Aufmerksamkeit, welches in Wellen funk- schen Geschichten beginnen mit „Ein Sommer auf tioniert. Nehmen wir einmal die TTIP-Diskussio- der Alm“ und wanderten zu „Sin began with Marle- nen: Plötzlich ist da ein Thema, das medial gut auf- ne“. Drei Jahre lang hast du dich mit Thematik der bereitet werden kann und alle Zeitungen füllt. kindheit.infanzia 21
Menschen mobilisieren sich und gehen demonst- le Erziehung geben sollte. Dabei soll es nicht darum rieren, das ist gut. Trotzdem bleiben selbst dabei gehen, welche Inhalte konsumiert werden sollen, oftmals wirkliche Inhalte einfach außen vor. Eine sondern wie man sich aus zwei, drei Quellen ein tatsächliche Auseinandersetzung findet kaum Bild machen kann. Das kann bereits in der Schule statt, vielmehr haben plötzlich alle Angst vor dem passieren. Die richtige Nutzung der Digitalisierung Chlorhühnchen. Es ist ein Anfang, aber eine dauer- ist eine Technik, die in diesem Bereich noch erlernt hafte Veränderung bringen diese Berichterstattun- werden muss. Was die Fotografie angeht, so glau- gen und der Aktionismus nicht. be ich, dass tiefer gehende Fotoprojekte der Öf- fentlichkeit zugänglich gemacht werden müssen. Und welche Berichterstattung könnte funktionie- Und zwar nicht nur in Museen oder Galerien, wo ren? sie nur von einer Elite gesehen werden, sondern Ich denke, dass es in der schnelllebigen Welt von dort, wo sie Menschen sehen, die nicht in das Kul- heute bereits von Kindesbeinen an eine Art media- tur-Raster passen. Pop-Up-Ausstellungen in Fuß- 22
gängerzonen, Screenings an öffentlichen Orten. Treffen Menschen auf Fotografie, die bewegt, kann das ein Interesse für Themen wecken, die vorher kaum diskutiert worden sind. Welches Bild von Südtirol hast du dir durch deine Arbeit erschließen können? Und was hast du per- sönlich aus der Thematik rund um die Landwirt- schaft mitgenommen? Trotz aller Dinge, die ich vor Ort gesehen und er- fahren habe, ist Südtirol nach wie vor ein Sehn- suchtsort für mich. Es ist die Direktheit der Men- schen, die vielfältige Küche und das – stellenweise – Idyll der Berge. Natürlich gibt es viele Risse, aber meine ursprünglichen Erinnerungen an Südtirol stammen aus meiner Kindheit und sind unheim- lich schwer zu verändern. Persönlich achte ich im Alltag auf die Herkunft von Lebensmitteln und ver- suche in meinem Umfeld ein Bewusstsein dafür zu schaffen. vissidarte: Du bist auch Teil eines Kulturplatzes in Hannover namens Goethe Exil. Warum habt ihr diesen Treffpunkt für junge Fotografie und andere kulturelle Angelegenheiten ins Leben gerufen? Goethe Exil, das ist auch ein Zusammenschluss von sechs Fotografen, die früher in einer WG in Hanno- ver zusammenwohnten und eine sehr intensive Zeit ihres Lebens miteinander verbracht haben. An die WG angeschlossen war eine Lagerhalle von 300 Quadratmetern, ein wahres Goldstück. Was wir im Goethe Exil machen, steht immer in Verbindung ist weit mehr als eine Abbildung, die Aufgabe jetzt zur Fotografie, aber es bietet auch anderen kultu- ist, Alternativen der Fotografie aufzuzeigen. Wenn rellen Freiraum: Exil eben. Es geht nicht um das Er- man über neue Erzählformen nachdenkt, dann klären von Fotografie, sondern darum, Fotografie gibt es in der fotografischen Arbeit Möglichkeiten, an sich und als eigenständiges Medium zu achten. die kein Text bietet. Sie kann innerhalb von Bruch- Fotografie wird oft als Erklärungsform benutzt, teilen einer Sekunde Erinnerungen und Gedanken die schlimmste Sünde ist jedoch, wenn sie sich als auslösen, kann uns Dinge fühlen lassen, ohne das Form einer Selbstinszenierung versteht. Fotografie wir darüber nachdenken müssen. kindheit.infanzia 23
BAUMKINDER WEISS-TANNE / ABIES ALBA Da schaut ihr, was? Ich Neugeborenes wurde in nur, dass ich bis zu 40 Meter hoch werden kann, die Welt gebracht, weil der weibliche Frucht-Zap- ich habe auch eine gesunde Lebenserwartung von fen am Baum zerfällt und die geflügelten Samen ca. 600 Jahren. Nicht nichts, oder? Meine Wurzeln freigibt. Und voilà, da war ich! Auf die Welt geflo- schlagen tief aus, ich sichere also die Stabilität des gen auf einen Rohboden im Calva-Wald im Ober- Bodens. Meine aufrecht stehenden Tannenzapfen vinschgau, hier hatten Vermurungen des nahe- und etliche Verwandte haben es auf Briefmarken liegenden steilen Bergbachs den Boden für gute vieler Länder dieser Erde geschafft. Die Eiszeit war Keimung bereitet. Wer einmal durch teutonische ein harter Brocken für mich; ich überlebte sie in Wälder streifte, weiß, wie ich in Gemeinschaft Südeuropa, genauer auf dem Balkan, in Spanien, wirke, die Gebrüder Grimm haben in etlichen in Italien. Heute nagen Rehe und Hirsche an mei- Märchen ihre Protagonisten in düsteres Dunkel nen zarten Trieben, weil sie mich unbeschreiblich geschickt, wo sie sich nicht selten gewaltig ver- nahrhaft finden. Und während ich eigentlich bei irrten. Für die Germanen war mein immergrünes 1.600 Metern aufhöre, mich weiter den Berg hoch Ich Sinnbild für Lebenskraft und Wachstum. Nicht zu bemühen, bin ich im bulgarischen Pirin-Gebirge noch auf 2.900 Metern Meereshöhe zu finden. Foto & Mitarbeit: Joachim Winkler DIE KÜNSTLERBRILLE: MUT UND Text: Katharina Hohenstein KREATIVITÄT SIND ERLERNBAR „Wir neigen dazu, Fehler auszumerzen. Doch steckt in ihnen ein enormes Potential zur Weiter- entwicklung“, sagt der Schweizer Schriftsteller Tim Krohn. Bildhauerin Julia Venske (Venske & Spänle/D), wie Krohn Mitwirkende des ersten Lehrgangs, ist sich sicher: „Das Um-die-Ecke- Denken ist erlernbar!“ Doch arbeitsimmanen- te Vorgaben und eingefahrene Denkmuster lassen oft nicht zu, Sichtweisen zu verändern. Der Lehrgang „Die Künstlerbrille – Was und wie Führungskräfte von Künstlern lernen kön- nen“, der von Oktober 2018 bis Juni 2019 im Bildungshaus Schloss Goldrain stattfindet, hat die Direktorin Claudia Santer überzeugt: „Kurs- teilnehmer lernen, wie Künstler Kreativität um- setzen und wie sie das später selbst anwenden können.“ Künstler verschiedener Länder und Sparten werden auch im zweiten Lehrgang ma- gische Lernerfolge ermöglichen. Der Lehrgang wird von Kulturunternehmerin Dagmar Frick Is- litzer geleitet und von Erasmus+ co-finanziert. Anmeldung: info@schloss-goldrain.com PR 24
Kleiner Gabelschwanz, 2016 AUG� IN AUG� MIT KIND UND TIER „heimat – irgendwo“ nennt sich das Anfang 2017 erschienene Buch der aus Lana stam- menden und in Berlin lebenden Künstlerin und Therapeutin Verena Kammerer. Mit Zeich- nungen und Texten wird darin irritierend über Erinnerung und Identität nachgedacht. VON ALMA VALLAZZA Die Zeichnungen entstanden zwischen 1997 und und eröffnen eine Fülle an Interpretationsmög- 2016 in immer derselben Technik – schwarzer Ku- lichkeiten. gelschreiber auf Papier – und nach gleichbleiben- LITERATUR & ARTE dem Sujet; eine Person oder Personengruppe, Verena Kammerer bietet mit ihren Zeichnungen kombiniert mit einem Tier. Als Inspirationsquelle den Betrachterinnen und Betrachtern Anlässe, dienten zwei Bücher: „Kindheit im Silberspiegel“ sich mit der eigenen Kindheit und Geschichte mit Daguerreotypien und „Pflanzen und Tiere in auseinander zu setzen und lässt dabei möglichst unserer Heimat“, einer Heimat – irgendwo. Vere- viel Spielraum für Assoziationen. Ein Anspruch, na Kammerer überließ ihre Zeichnungen Schrift- der Verena Kammerers künstlerische wie auch stellerinnen und Schriftstellern, die mit Texten therapeutische Arbeit prägt und Thema des fol- darauf reagierten oder eine Korrespondenz dazu genden Gesprächs wurde. aufgriffen. 40 Gedichte und Prosastücke, u.a. von Friederike Mayröcker, Ilma Rakusa, Monika Rinck, Der Ausdruck der Gesichter auf deinen Zeichnun- Bettina Galvagni oder Sabine Gruber, um nur ei- gen, der Familienväter, Mütter, Ehefrauen, nige zu nennen, stimmen in diesem Buch ein viel- Schwestern, Geschwister und vor allem Söhne fältiges Zwiegespräch mit den Zeichnungen an und Töchter ist durchgehend ernst, aber auch kindheit.infanzia 25
Moschusbock, 2010 Streifenskunk, 2010 Kanadagans, 2017 wissend, altklug, anklagend, gütig, melancho- ter mit meinen Zeichnungen dazu einladen, seine lisch, selbstvergessen, fordernd, jeder für sich so ganz eigene Geschichte in den dargestellten Men- aussagekräftig, dass einem für jedes Gesicht und schen zu finden und hoffe, den Teil in uns zu be- jede Situation gleich mehrere Geschichten einfal- rühren, der tief verborgen ist, wofür wir mehr ein len wollen. Gleichzeitig hast du deine Zeichnungen Ahnen als eine Sprache haben. Die Gattungsbe- ausschließlich mit den Namen der Tiere betitelt, zeichnung der Tiere soll dabei einen wissenschaft- was die Menschen auf den Bildern zu Namenlosen, lichen, unpersönlichen Rahmen geben, damit ich zu Statisten macht. Das Tier steht mit seiner Per- so wenig wie möglich vorgebe und die Freiheit so sönlichkeit im Vordergrund, die Menschen dahin- weit wie möglich beim Betrachter bleibt. Dadurch ter werden auf ihre Rollen reduziert, im Verhältnis können Assoziationen entstehen, die zwischen zueinander, im Verhältnis zum Tier? den einzelnen Menschen, aber auch in Bezug zum Verena Kammerer: In der Zeit, als diese Fotogra- Tier zu finden sind, die aber immer von der Be- fien, die ich als Vorlage benutze, entstanden sind, trachterin und dem Betrachter gefunden werden war die Rolle eines jeden klarer definiert als in un- müssen. serer Zeit. Heute haben wir mehr das Problem, dass wir versuchen, so viele Rollen zu erfüllen. An Dass deine Zeichnungen dem Betrachter vielfälti- diesen alten Familienporträts interessieren mich ge Anstöße bieten, in eigene Erinnerungen abzu- die möglichen Geschichten, die ich hinter diesem schweifen und sie mit eigenen Geschichten weiter ernsten Posieren zu erspüren glaube. Und so wie zu entwickeln, ist, denke ich, ihr künstlerisches damals hat ein jeder von uns eine Geschichte, die Potential. Kunst lebt wesentlich von dieser Quali- zu vielfältig und komplex ist, als dass man sie im tät, Geschichten, Gedanken und Interpretationen Ganzen erfassen könnte. Ich möchte den Betrach- auszulösen, also nachhaltig inspirierend zu sein. 26
Das beweisen ja auch die vielen „Textgeschenke“, hinter dieses Befremdliche zu blicken, um, wie in die du zu deinen Zeichnungen bekommen hast. einem Suchbild, etwas Anderes zu finden. Bettina Dennoch gibst du, entschuldige, wenn ich da insis- Galvagni hat in der Zeichnung, die den jungen Kaf- tiere, mit dem „Setting“ deiner Zeichnungen (ge- ka zeigt, für mich sehr viel davon gefunden und stochen scharfer Kugelschreiber und nicht etwa wenn sie Dora Diamant in ihrem Text nennt, die ein weicher Bleistift, die verschobenen Proportio- nicht nur Kafkas letzte Liebe war, sondern die ihn nen der Figuren, ihr „Antiquiertes“, ihre Ernsthaf- vor allem „als sinnesfreudig wie ein Tier (oder wie tigkeit, das titelgebende Tier) eigentlich ziemlich ein Kind)“ beschrieben hat, finde ich das einfach viel vor und lenkst die Interpretationen: Üblicher- wunderbar stimmig. Denn für mich zeigt sich in weise verbindet man mit Kindern Fröhlichkeit und dieser Aussage, dass Kafka mehr war, als man zu- Ausgelassenheit, auf deinen Zeichnungen sind die nächst mit ihm verbindet. Warum ich in erster Li- Kinder ernst, melancholisch, altklug, die Tiere, mit nie Kinder zeichne, liegt wahrscheinlich daran, denen sie abgebildet sind, sind nicht eben niedli- dass diese weniger Ablenkungsmechanismen als che Kuscheltiere, sondern oft übergroße Insekten, Erwachsene haben, an ihnen zeigt sich die Verletz- glitschige Frösche oder scheue Vögel. Insgesamt lichkeit, aber auch die Lust in Bezug auf das Leben wirken für mich alle Figuren auf den Zeichnungen viel direkter und authentischer. - die Kinder, die Erwachsenen, die Tiere – in sich, in ihrer Rolle, wie gefangen. Kein Wunder, das sich Das Buch mit den alten Fotografien und das Tier- Bettina Galvagni in ihrem Text auf Kafka beruft bestimmungsbuch, die dir als Inspiration für die- und damit das Befremden zwischen Mensch und sen Zyklus gedient haben, waren zunächst Zufalls- Tier anspricht bzw. die grauenvolle Vorstellung ei- funde. Du hast dann aus der Verschränkung der ner Verwandlung und damit den Verlust all des- beiden thematisch und künstlerisch eine Art Le- sen, womit wir uns als Menschen definieren und bensthema für dich entwickelt. Zu einem Lebens- woran wir uns klammern, um überhaupt an Iden- thema ist für dich auch das Zeichnen selber gewor- tität glauben zu können. Ist dir eine solche Inter- den. Was bedeutet es für dich heute? Du hast ja pretation deiner Zeichnungen vertraut oder eher „nebenher“ nicht nur ein Kind großgezogen, son- fremd? dern auch studiert und dir einen Brotberuf erar- Die Fröhlichkeit und Ausgelassenheit von Kindern beitet? hat eine Schönheit, der ich nichts hinzufügen Ich bin dankbar, dass ich eine Tochter habe und im kann. Aber wie du sicher selber weißt, begegnet sozialpsychiatrischen Bereich arbeite, da ich als man in der Kindheit auch viel Befremdlichem oder Mutter und Therapeutin mit Themen konfrontiert Beschränkendem, das man nicht versteht und wo- werde, die mit der Kunst alleine nicht erfahrbar für man keine Sprache hat und so gesehen ist das wären. Abgesehen davon, dass mich die Arbeit mit die Richtung, die ich vorgebe. Meine ersten Zeich- Menschen interessiert, garantiert sie mir auch die nungen machte ich auch wie ein Kind, das ohne finanzielle Unabhängigkeit vom Kunstmarkt. Das Absicht und ohne groß nachzudenken zu zeichnen Zeichnen ist immer noch bedeutsam für mich, da beginnt; und erst im Nachhinein, gespiegelt durch es mir hilft etwas zum Ausdruck zu bringen, das Reaktionen anderer, kann ich Themen darin er- ich, wie auch hier im Gespräch, nur ansatzweise kennen, die mich beschäftigen. Das ist, wie du beschreiben kann und sich für mich auch nicht richtig sagst, ein Befremden sich selbst und der in Sprache fassen lässt. Wenn sich ein Gegenüber Welt gegenüber und aus diesem Befremden kann angesprochen fühlt, was sich auch durch die „Text- ja auch eine Art Gefangensein entstehen, indem geschenke“ im Buch zeigt, existiert eine Verstän- man sich in sich zurückzieht oder an Rollen fest- digung, die mich als Künstlerin bestärkt und da- hält. Aber im Grunde lade ich die Betrachter ein, durch meine Identität erweitert. kindheit.infanzia 27
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