Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung 73.Jahr Heft6 Juni2020 - Berufliche Bildung
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Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung 73. Jahr Heft 6 Juni 2020 zum Inhaltsverzeichnis SCHWERPUNKTTHEMA: Berufliche Bildung
HLZ HLZ 6/2020 2 Zeitschrift der GEW Hessen Auswirkungen der für Erziehung, Bildung, Forschung ISSN 0935-0489 HLZ: I M P R E S S U M Corona-Pandemie Herausgeber: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Landesverband Hessen Zimmerweg 12 Für diese HLZ gilt einmal mehr, dass viele Informationen aufgrund 60325 Frankfurt/Main Telefon (0 69) 971 2930 der Corona-Pandemie nicht mehr aktuell sein werden. Kurz vor Fax (0 69) 97 12 93 93 Druckbeginn der HLZ kündigte die Landesregierung weitere Schritte E-Mail: info@gew-hessen.de Homepage: www.gew-hessen.de zur Wiederaufnahme des Unterrichts am 18. Mai und am 4. Juni an. Verantwortlicher Redakteur: Trotz der begrenzten Aktualität der HLZ gehen wir am Thema Coro- Harald Freiling Klingenberger Str. 13 na nicht vorbei. Wir informieren über die Arbeit der GEW (S.6) und 60599 Frankfurt am Main veröffentlichen Beiträge zur Situation der Kinder (S.8), zur Finan- Telefon (0 69) 636269 E-Mail: freiling.hlz@t-online.de zierung der Corona-Krise (S.24), zur Einschränkung der Versamm- Mitarbeit: lungsfreiheit (S.26), zu den Auswirkungen für Referendarinnen und Christoph Baumann (Bildung), Tobias Cepok (Hoch- Referendare (S.32) und zu den Angriffen auf die Mitbestimmung schule), Holger Giebel, Angela Scheffels (Mitbestim- mung), Michael Köditz (Sozialpädagogik), Annette der Personalräte (S.34). Für alle aktuellen Informationen verwei- Loycke (Recht), Andrea Gergen (Aus- und Fortbildung), Karola Stötzel (Weiterbildung), Gerd Turk (Tarifpolitik sen wir dringend auf unsere Homepage www.gew-hessen.de. und Gewerkschaften) Gestaltung: Harald Knöfel, Michael Heckert † Titelthema: GEW Hessen, Landesfachgruppe Heraus zum 1. Mai berufsbildende Schulen Das Titelbild der HLZ zeigt Frank Engel- Illustrationen: hardt, Irina Kilinski und Stephan George Dieter Tonn (S. 32), Ruth Ullenboom (S. 4) (von links nach rechts), die sich für den Fotos, soweit nicht angegeben: GEW-Bezirksverband Nordhessen an der Harald Freiling (S. 7, 9, 15, 17), Carsten Leimbach digitalen Präsentation der Forderungen des (Titel, S. 2), Helmut Weick (S. 23) DGB zum 1. Mai 2020 beteiligten. „Gesicht zeigen“ angesichts der Absage aller Kund- Verlag: Mensch und Leben Verlagsgesellschaft mbH gebungen und Demonstrationen war ihnen Niederstedter Weg 5 ein ganz persönliches Anliegen. Das Foto 61348 Bad Homburg entstand auf der Drahtbrücke, einer histori- schen Hängebrücke über die Fulda, die 1870 Anzeigenverwaltung: Mensch und Leben Verlagsgesellschaft mbH als Fußgängerbrücke errichtet wurde und Peter Vollrath-Kühne heute auch für Fahrräder freigegeben ist. Postfach 19 44 Das Foto machte Carsten Leimbach. 61289 Bad Homburg Telefon (06172) 95 83-0, Fax: (06172) 9583-21 E-Mail: mlverlag@wsth.de Erfüllungsort und Gerichtsstand: Dieser Ausgabe der HLZ ist der Wandkalender Bad Homburg Bezugspreis: für das Schuljahr 2020/2021 beigelegt. Jahresabonnement 12,90 Euro (9 Ausgaben, ein- schließlich Porto); Einzelheft 1,50 Euro. Die Kosten sind für die Mitglieder der GEW Hessen im Beitrag enthalten. Zuschriften: Aus dem Inhalt Rubriken 40 lea-Fortbildungsprogramm Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder wird keine Haftung übernommen. Im Falle einer Ver- 4 Spot(t)light öffentlichung behält sich die Redaktion Kürzungen Einzelbeiträge 5 Meldungen vor. Namentlich gekennzeichnete Beiträge müssen nicht mit der Meinung der GEW oder der Redaktion 36 Jubilarinnen und Jubilare 6 Corona: Was macht die GEW? übereinstimmen. Der Blog aus dem Zimmerweg Titelthema: Berufliche Bildung 8 Corona: Verletztliche Kinder Redaktionsschluss: 10 Berufsbildung und Akademisierung 24 Corona: Wer soll das bezahlen? Jeweils am 5. des Vormonats 12 Was leisten berufliche Schulen? 26 Corona und die Demokratie 14 Im Gespräch mit Lehrerinnen der 28 Die Zahl der Schülerinnen und Bergiusschule in Frankfurt Schüler an Privatschulen steigt Nachdruck: Fotomechanische Wiedergabe, sonstige Vervielfälti- 16 Lehrkräftemangel an den berufsbil- 30 Bücher: Antisemitismus an Schulen gungen sowie Übersetzungen des Text- und Anzei- denden Schulen in Hessen 32 Referendariat: Ausbildung und genteils, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher 18 Politische Bildung Prüfung unter Corona-Bedingungen Genehmigung der Redaktion und des Verlages. 20 Der mitbestimmte Algorithmus 34 Recht: Mitbestimmung und Corona Druck: 22 Das Grundrecht auf Ausbildung 38 Mitglieder werben Mitglieder Druckerei und Verlag Gutenberg Riemann GmbH Werner-Heisenberg-Str. 7, 34123 Kassel
3 HLZ 6/2020 zum Inhaltsverzeichnis KOMMENTAR Nicht mit zweierlei Maß Mit dem Kandidaten für den CDU-Vorsitz und Black- kant“ hält und dann genau diese Altersgruppe bereits Rock-Lobbyisten Friedrich Merz bin ich selten einer in der ersten Staffel zurückholen wollte. Meinung. Doch seiner Aussage, dass es derzeit nur • Was ist davon zu halten, wenn Mund-Nase-Schutz wenige Menschen in Deutschland gibt, die lieber in und Desinfektionsmittel für die Handhygiene in den einem anderen Land leben möchten, kann ich nicht Schulen zunächst für „unnötig“ erklärt werden, um widersprechen. Das ist kein Grund, mit allen Ent- dann am Sonntag vor Unterrichtsbeginn unter Poli- scheidungen der Exekutive, die derzeit das politi- zeischutz genau dies an die Schulämter zu verteilen? sche Handeln dominiert, einverstanden zu sein. Wir • Wie viel Vertrauen schafft es, wenn die Ausga- brauchen die Auseinandersetzung über alle Fragen be dieses Materials zeitversetzt und unter strengster der Pandemie und über ihre Folgen in der Öffentlich- Einhaltung der Abstandregeln erfolgte und gleichzei- keit, in den Parlamenten, in allen Beteiligungsgremi- tig dieselben Schulämter Pläne für die Wiederaufnah- en und auch bei öffentlichen Bekundungen. me des Unterrichts zerschlugen, weil die geforderten „Solidarisch ist man nicht alleine“: Dieses Motto „mindestens 20 Stunden“ nicht einzuhalten waren? für den 1. Mai 2020, das auch unser Titelbild auf- • Und zu Recht bezeichnet die GEW die geplanten greift, hatte der DGB schon vor Corona gewählt, jetzt Zwangsabordungen von Gymnasiallehrkräften an wirkte es eher als lautes Pfeifen im Wald, dem ent- Grundschulen als „Schlag gegen die viel beschwore- schlossenes, solidarisches Handeln folgen muss. Da- ne Gemeinsamkeit in Zeiten der Pandemie“ (S.35). bei wird es auch darum gehen, die Themen zurück- Dass Unterricht schrittweise und mit großer Um- zuerobern, die in der Pandemie unter die Räder zu sicht wieder aufgenommen werden soll, ist unstrit- geraten drohen: die Rechte der Arbeitnehmerinnen tig. Aber man kann nicht von den Schulen „kreati- und Arbeitnehmer, die Rechte der Kinder und Ju- ve Lösungen“ fordern und sie dann, wenn sie diese gendlichen, die Rechte der Armen und der Geflüch- unter schwierigsten Bedingungen suchen, im Regen teten und die demokratischen Aushandlungsprozesse stehen lassen. Politik muss Verantwortung überneh- selbst. Dass der Hauptgeschäftsführer der Vereini- men und darf sich nicht mit dem Hinweis aus der gung der hessischen Unternehmerverbände am Vor- Verantwortung stehlen, dass selbstverständlich alle abend des 1. Mai die jetzt in Kraft gesetzte Verlänge- Forderungen des Robert-Koch-Instituts zu erfüllen rung der täglichen Arbeitszeit auf bis zu 12 Stunden sind. Denn jeder weiß: Bei kleinen Kindern in Ki- als notwendige „Modernisierung“ des Arbeitsrechts tas und Grundschulen und auch bei pubertierenden ansieht, die auch nach dem Ende der Pandemie „auf Jugendlichen kann man sich um die Einhaltung von die gesamte Wirtschaft“ ausgedehnt werden sollte, Abstands- und Hygieneregeln bemühen, aber man zeigt, wohin die Reise gehen soll. kann sie nicht garantieren. Wer Kitas und Schulen Niemand möchte derzeit gern in einem anderen öffnet, muss sagen, dass damit das Infektionsrisiko Land leben und niemand möchte mit den – viel- wieder steigt, und geichzeitig die bestmöglichen Be- fach gescholtenen – Politikerinnen und Politikern dingungen und größtmöglichen Spielräume schaffen, tauschen. Kern ihrer Rechenschaftspflicht ist ihre um dieses Risiko so gering wie möglich zu halten. Glaubwürdigkeit. Aber gerade bei der schrittwei- sen Wiederaufnahme des Unterrichts an hessischen Schulen habe ich diese beim Kultusministerium in den letzten Wochen oft schmerzlich vermisst: • Es schafft kein Vertrauen, wenn der Minister Be- richte über hygienische Mängel an vielen Schulen mit den Worten wegwischt, man könne „nicht warten, bis die letzte Toilette auf dem modernsten Stand ist“. • Es nährt Zweifel, wenn der Minister den Unter- richt in der Grundschule für „epidemiologisch ris- Harald Freiling, HLZ-Redakteur
SPOT(T)LIGHT zum Inhaltsverzeichnis HLZ 6/2020 4 Die magische Welt der Oper Dabei hatte ich meine Klasse so gut vorbereitet. Habe erzählt, mit wie viel Geld jeder einzelne Sitzplatz in der Oper subventioniert wird, dass sie nie wie- der im Leben so preisgünstig in die Oper Auch die Glossen unser Kolumnistin Gab- gogischen Gründen rein. Zu meinem kämen und dass ein Finanzausschuss riele Frydrych lesen sich derzeit durchaus Grundsatzprogramm gehört es auch, mal bemängelt hätte, dass die Perücken surreal. In der HLZ-Redaktion standen dass jede meiner Klassen ein Mal in die der Darsteller aus Echthaar bestünden. wir vor der Wahl zwischen den Themen Oper geht. Ich selber ziehe das Thea- Sogar einen Test zum Thema Oper ha- Kita (geschlossen!), Nachtwanderun- gen auf Klassenfahrten (abgesagt!) oder ter vor, aber ich finde trotzdem, dass ben wir geschrieben. Hier einige beein- Opernbesuche mit der Schulklasse (von ein Opernbesuch zur Allgemeinbil- druckende Antworten meiner 8. Klasse: wegen!). Gut, wir haben dann doch die dung gehört. Einmal habe ich auch • Was ist eine Oper? – Eine Oper ist Oper genommen. Vielleicht lässt man es die Erziehungsberechtigten der Schü- ein Haus, wo die Sänger singen können, ja auch besser, Schülerinnen und Schü- ler mitgenommen in der Hoffnung, was sie fühlen. ler dorthin zu schleppen… dass die elterliche Präsenz für eine • Was macht ein Souffleur? – Er putzt Ich habe seltsame Grundsätze: Bevor gewisse Ruhe im zweiten Rang sorgt. die Bühne. man etwas verurteilt, sollte man es Alle außer mir waren sehr fein geklei- • Was bedeutet es, wenn ein Sänger sich erst mal ansehen. Das hat mich det, und ein eher bildungsferner Va- 50 Vorhänge hat? – Das ist so eine Art in manch merkwürdiges Striptease- ter sprach verzückt von „großer Oper“, Demütigung. – Es bedeutet, dass man Lokal geführt, in Spelunken und Peep- die er heute erleben wollte. Hinterher lange klatschen muss Shows, zu einem deutschen Heimat- waren einige schwer enttäuscht. Sie • Was haben Opernsänger für beson- treffen in Florida und zu Sendungen hatten Könige und Fürsten in Purpur- dere Fähigkeiten? – Sie können sehr wie „Der Bachelor“, „Zwischen Tüll mänteln, Zobel und Hermelin erwar- schnell singen. – Sie können sehr hoch und Tränen“ und „Germanys Next Top tet, schöne Prinzessinnen in wallenden und sehr tief singen. – Sie können das, Model“. Wobei es mich bei Trash-For- Gewändern, einen prachtvollen Palast was sie normal sagen, auch singen. maten im Fernsehen immer wieder und einen bombastischen Thron. Lei- • Wird in Opern gesprochen? – Nein, überrascht, wie gut meine Kollegen der waren wir in eine moderne Insze- es wird nur geklatscht. und Kolleginnen oft informiert sind, nierung geraten, und alle „Singenden“ • Was braucht man auf der Bühne (ge- wenn ich eine Bemerkung mache. Bei- trugen Sonnenbrillen und schwarze meint waren Requisiten)? – Mut. spielsweise kennen sie jeden Dschun- Anzüge. Bis auf die Prinzessin, die • Nenne berühmte Opernkomponis- gel-Camp-Insassen mit Namen! Aber hatte lange Stiefel und Strapse an. Und ten! – Heinrich Heine. die Lehrkräfte ziehen sich diese Sen- nix von wegen Bühnenbild, alles spiel- • Warum haben wir in Berlin gleich dungen sicher auch nur aus päda- te in grauem Dekor. mehrere Opernhäuser? – Weil Berlin früher in drei Teile geteilt war und je- der Staat eine Oper hatte. – Um mehr Geld einzunehmen und weil es viele Kirchengebäude gibt. (????) – Weil der Staat meint, dass wir es für unsere Zi- vilisation brauchen. • Warum sind Opernkarten so teuer? – Es gibt so wenige und früher war es sogar so, dass manche mit einem Schild an ihrem Körper dastanden: „Kaufe eine Opernkarte!“ Jeder wollte eine! – Weil die Schauspieler nur singen müs- sen. – Weil in der Oper ohne Mikrofon gesungen wird. – Weil der Staat das Geld braucht. • Nenne nicht-künstlerische Berufe an einer Oper! – Tonbandträger. Solilist • Wie nennt man die erste Auffüh- rung eines Stücks? – Primäre. • Wie heißt das Textbuch für eine Oper? – Loretto. • Was wird in den Werkstätten der Oper alles hergestellt? – Masken, Kla- motten, Elektrogeräte. • Was ist eine Arie? – Das ist der Lei- ter eines Opernhauses. Ich schwöre, das hab‘ ich sie nicht ge- lernt!!! Gabriele Frydrych
5 HLZ 6/2020 zum Inhaltsverzeichnis M el d un g en 1. Mai: Kampfansage der Zwangsabordnungen an der Unternehmerverbände Grundschulen geplant Die Presseerklärung von Dirk Pollert, Mit völligem Unverständnis reagierte Hauptgeschäftsführer der Vereinigung die GEW Hessen auf einen Erlass des der hessischen Unternehmerverbände Hessischen Kultusministeriums (HKM), (VhU), am Vorabend des 1. Mai konn- mit dem Lehrkräfte mit gymnasialem te vom DGB nur als Provokation und Lehramt an Gesamtschulen und Gym- Kampfansage verstanden werden. Die nasien im Rahmen einer Abordnungs- seit dem 10. April geltenden Änderun- quote für bis zu zwei Jahre auch ge- gen der Arbeitszeitverordnung, die eine gen ihren Willen an eine Grundschule tägliche Höchstarbeitszeit von bis zu 12 abgeordnet werden können. Der Erlass Stunden, eine wöchentliche Höchstar- wurde unter Umgehung der Mitbestim- beitszeit von über 60 Stunden und eine mungsrechte des Hauptpersonalrats Absenkung der Ruhezeit zwischen zwei Ende April im Rahmen des Sofortvoll- Arbeitstagen auf 9 Stunden vorsehen, zugs nach § 73 HPVG in Kraft gesetzt. sind für Pollert ein „Modernisierungs- Der geschäftsführende Landesvorstands schub“, der auch „über die Corona- bezeichnete es in einer Erklärung vom Krise hinaus für die dringend benötig- 7. Mai als „Schlag gegen die viel be- te Flexibilisierung unserer Arbeitswelt“ schworene Gemeinsamkeit in Zeiten der erhalten bleiben und „auf die gesamte Pandemie“, dass in einer Situation, „in Wirtschaft ausgedehnt werden“ müsse. der niemand weiß, wo wir in vier Wo- chen, am Ende des Schuljahres oder Videokonferenzen: Ist in am Anfang des neuen Schuljahres ste- Hessen jetzt alles erlaubt? hen, wo Beschäftigte angesichts des In- fektionsrisikos Angst um ihre Gesund- Anfang Mai sorgte der Hinweis des Hes- heit haben, Quoten für die zwangsweise sischen Datenschutzbeauftragten, dass Abordnung von der einen an die ande- für die Dauer der Pandemie in Schulen re Schulform berechnet und Personen alle „gegenwärtig erhältlichen Video- für eine solche Abordnung ausgedeutet konferenzsysteme als erlaubt gelten“, für werden“. Der Erlass ist Teil eines Maß- erhebliche Irritationen. Nach einem Ge- nahmenpakets, mit dem das HKM dem spräch mit dem für Schulen zuständigen Lehrkräftemangel an Grundschulen im GEW fordert Einhaltung Mitarbeiter der Behörde berichtete GEW- nächsten Schuljahr begegnen will. Alle hygienischer Standards Landesvorsitzende Birgit Koch von ei- Informationen und die Stellungnahmen ner Übereinstimmung, dass „die Öffnung der GEW findet man in dieser HLZ auf Die GEW Hessen weist seit Wochen auf von Videokonferenzsystemen rein tem- den Seiten 34 und 35. die schlechten Hygieneverhältnisse in porär zu betrachten ist“. Mit der weite- vielen Schulen hin. Diese sind ein Er- ren Öffnung der Schulen und der schritt- Kooperation mit DITIB bei gebnis der jahrelangen „Sparpolitik“ weisen Rückkehr zum Präsenzunterricht Islamunterricht beendet und der Vernachlässigung von Investi- ende auch die vorübergehende Freigabe tionen in die Schulgebäude. Die GEW des Datenschutzbeauftragten. Der Ein- Das Kultusministerium erklärte Ende erreichen immer wieder Berichte von satz von Videokonferenzsystemen für April nach langwierigen Prüfungen Kolleginnen und Kollegen, die gravie- die Kommunikation mit Schülerinnen die Kooperation mit dem türkischen rende Mängel in der Umsetzung von und Schülern liege alleine „in der päda Moscheeverband DITIB bei der Durch- Hygienemaßnahmen bestätigen. Das gogischen Freiheit und Entscheidung führung eines bekenntnisorientierten Verwaltungsgericht Frankfurt wies am der Lehrkraft für ihren Unterricht“. Die islamischen Religionsunterrichts für be- 5. Mai den Antrag einer Lehrerin ab, die Anfang April veröffentlichten „Informa- endet, da die notwendige Unabhängig- die hygienischen Bedingungen an ih- tionen zum digitalen Lernen und der di- keit vom türkischen Staat und dessen rer Schule kritisierte: Die Antragstelle- gitalen Kommunikation“ in der Zeit der Religionsbehörden nicht nachgewiesen rin könne nicht erwarten, „mit einem Pandemie behalten zudem weiter ihre werden konnte (HLZ S.29). Die GEW er- bis ins letzte ausgefeilten Hygieneplan Gültigkeit. Danach sind ausdrücklich die neuerte in diesem Zusammenhang ihre eine Nullrisiko-Situation in der Schu- Angebote „zu bevorzugen, die bei einer Forderung an das HKM, die Vereinba- le anzutreffen“. Die GEW-Landesvorsit- öffentlichen Stelle gehostet werden“. Die rungen mit den türkischen Konsula- zende Maike Wiedwald erklärte dazu, GEW und der hessische Datenschutzbe- ten zur Durchführung von herkunfts- jeder wisse, dass eine „Nullrisiko-Si- auftragte begrüßen es deshalb, dass sich sprachlichem Unterricht zu kündigen tuation nirgends besteht, es würde uns die Schulträger mit ihren M edienzentren und diesen in die Verantwortung des ja schon reichen, wenn die Arbeits- „auf den Weg gemacht haben, den Schu- Landes Hessen zurückzuführen: „Wäh- schutzstandards des Bundesarbeits- len datenschutzfreundliche Systeme zur rend der islamische Religionsunterricht ministeriums vom April 2020 überall Verfügung zu stellen“. Jetzt vorüber immerhin von Lehrkräften im Dienst eingehalten würden“. Da es ein Eilver- gehend akzeptierte temporäre Lösungen des Landes Hessen erteilt wird, unter- fahren war, hatte das Verwaltungsge- werden dann nicht mehr in allen Fällen stehen die Konsulatskräfte ausschließ- richt offensichtlich keine Zeit für eine zulässig sein. lich dem türkischen Staat.“ Ortsbegehung.
C oron a - P a n d emie zum Inhaltsverzeichnis HLZ 6/2020 6 Zimmerweg 12: Was tut die GEW? Der folgende Blog informiert über Akti- Mittwoch, 22. April tusminister Lorz wäre wohl besser bei vitäten und Statements der GEW Hessen seiner Ersteinschätzung geblieben, es seit Mitte April bis zur Fertigstellung der Die Erlasse des HKM zur Wiederauf- sei ‚epidemiologisch bedenklich‘, auch Juni-Ausgabe der HLZ. Aktivitäten der nahme des Unterrichts, die die spezi- die Grundschulen schon jetzt zu öff- Kreis- und Bezirksverbände, der Personal- fischen Bedingungen für die einzelnen nen“. räte und vieler anderer Gremien der GEW Schulformen und Jahrgangsstufen re- sind hier nicht erfasst. Alle Stellungnah- Die GEW begrüßt die Entscheidung geln, kommen erst am Mittwochabend der Landesregierung, auch die Lehr- men findet man im Wortlaut unter www. an. Dasselbe gilt für den angekün- gew-hessen.de. kräfte in die Liste der systemrelevan- digten Hygieneplan des Landes. Da- ten Berufe aufzunehmen, so dass auch mit stehen den Schulen gerade ein- sie für ihre Kinder einen Anspruch auf Donnerstag, 16. April mal zwei Tage für die Umsetzung zur einen Platz in einer Notbetreuung ha- Verfügung. Einzelne Schulen, die un- Die GEW begrüßt die Mitteilung der mittelbar nach der Ankündigung des ben. Angesichts der Schwierigkeiten, Lehrkräfteakademie, dass die Verpflich- HKM zur Wiederaufnahme des Un- einen solchen Platz zu finden, soll- tung zur Durchführung der Vergleichs- terrichts verantwortungsvolle Pläne ten aus Sicht der GEW Lehrkräfte mit arbeiten (VerA 3) auf Grund der Pande- erstellt hatten, werden in den Sen- kleinen Kindern weiterhin vorrangig mie aufgehoben wird, und meint: „Das kel gestellt, wenn sie die Vorgabe von im Bereich des Homeschoolings und kann so bleiben.“ „mindestens 20 Wochenstunden“ nicht nicht im Präsenzunterricht eingesetzt einhalten. werden. Am selben Tag stellt der Kultus- Freitag, 17. April minister ein Paket von Maßnahmen Donnerstag, 23. April Die GEW zeigt sich wie alle Beteiligten „zur Sicherung des Lehrkräftebedarfs überrascht, dass der Unterricht am 27.4. Die GEW Hessen stellt den Schulen an Grundschulen“ vor. Die GEW re- nicht nur – wie angekündigt – in den einen offenen Brief an das HKM zur agiert sofort: Dass Lehrerinnen und Abschlussklassen der Sekundarstufe I Verfügung und ruft dazu auf, Unter- Lehrer mit dem gymnasialen Lehr- wieder aufgenommen werden soll, son- schriften zu sammeln. Sie fordert klei- amt zwangsweise an die Grundschu- dern auch in den 4. Klassen der Grund- nere Gruppen insbesondere an den len abgeordnet werden sollen, hält sie schulen. Die GEW weist daraufhin, dass Grundschulen und eine Einhaltung angesichts der aktuellen Sorgen vie- dies keine Abschlussklassen sind und der bundeseinheitlichen Regelung zum ler Lehrkräfte für „pädagogisch nicht dass die Abstandsregeln bei den vom Arbeitsschutz in Zeiten der Corona- sinnvoll“ und für einen „personalpo- Minister ins Spiel gebrachten 10 bis Pandemie. litischen Skandal“. Ausführliche In- 15 Kindern in einem Raum besonders Den Betrag von 150 Euro, den die formationen zu den Vorhaben und zur schwer einzuhalten sind. Für Verkaufs- Große Koalition in Berlin bedürftigen Umgehung der Mitbestimmungsrech- flächen gelte nach wie vor, „dass nur Familien für die Anschaffung digitaler te des Hauptpersonalrats findet man in ein Kunde pro 20 Quadratmetern in Endgeräte zur Verfügung stellen will, dieser HLZ auf S.34. den Laden darf.“ Generell hält die GEW hält die GEW Hessen für völlig unzu- die Vorbereitungszeit von einer Woche reichend. Schließlich gehe es nicht nur auch angesichts der hygienischen Män- um die Anschaffung, sondern auch um Samstag, 25. April gel in vielen Schulen für zu kurz. Reparaturen und Nebenkosten. Schulen wurden in der Woche vor der Wiederaufnahme des Unterrichts mit Dienstag, 21. April Freitag, 24. April zum Teil widersprüchlichen Mitteilun- gen des HKM und der Schulträger zur GEW, ver.di, Wohlfahrtsverbände und Mitten in die hektischen und ner- venaufreibenden Vorbereitungen für Hygiene, zum Einsatz von Desinfekti- zahlreiche Betriebsräte wenden sich die Wiederaufnahme des Unterrichts onsmitteln und zum Mund-Nase-Schutz in einem Brandbrief an die hessische Landesregierung, den Landkreistag, den platzt die Entscheidung des Hessi- überschüttet. Plötzlich präsentieren In- Städtetag und den Städte- und Gemein- schen Verwaltungsgerichtshofs, der nenminister Beuth und Kultusminister debund und fordern, „alle Betriebe der die Wiederaufnahme des Unterrichts Lorz 750.000 Mund-Nase-Schutzmas- Sozialen Arbeit vollständig weiter zu für die 4. Klassen am 27. 4. untersagt, ken, 7.000 Schutzhandschuhe, 4.800 refinanzieren, auch dann, wenn die- da diese Schülerinnen und Schüler ei- Schutzkittel und 18.000 Liter Desin- se aufgrund der Corona-Pandemie ihre nem höheren Infektionsrisiko ausge- fektionsmittel, die von der „Task Force Leistungen derzeit nur eingeschränkt setzt würden, ohne dass dies sach- Beschaffungsmanagement und Ver- erbringen können.“ Nur die vollstän- lich begründet sei. Schließlich seien teilung“ beschafft und zum Teil unter dige Refinanzierung verhindere Entlas- alle anderen Schülerinnen und Schü- Polizeischutz an die Schulämter ausge- sungen und garantiere, „dass die Ein- ler, „die sich keiner Abschlussprüfung liefert werden und dort von den Schu- richtungen ihre Arbeit nach dem Ende unterziehen müssen, weiter von der len – selbstverständlich zeitversetzt und der Krise reibungslos wiederaufnehmen Schulpflicht befreit“. Die GEW sieht unter Einhaltung der Abstandsregeln – können“. sich in ihren Bedenken bestätigt: „Kul- abgeholt werden können.
7 HLZ 6/2020 zum Inhaltsverzeichnis Montag, 27. April teakademie und den Studienseminaren beraten. Dasselbe gilt für die Ausbil- Der Unterricht wird zunächst in be- dungsbedingungen der LiV im 1. und 2. grenztem Umfang in den Abschluss- Hauptsemester und die Zweiten Staats- klassen der Förderschulen, Haupt- und prüfungen. Aktuelle Infos findet man in Realschulen, Gesamtschulen und Be- dieser HLZ auf S. 32 und unter www. ruflichen Schulen und der Q2 in der gew-hessen.de > Bildung > Aus- und Gymnasialen Oberstufe wieder aufge- Fortbildung. nommen. Nach den Rückmeldungen, die auch bei der GEW eingehen, war Dienstag, 5. Mai dies auch aufgrund der intensiven Vor- bereitungen in „Tag- und Nachtarbeit“ Eine Lehrerin könne nicht erwarten, offensichtlich zu schaffen. Viele Kol- „mit einem bis ins letzte ausgefeilten leginnen und Kollegen sehen aber die Hygieneplan eine Nullrisiko-Situation Schulen räumlich und vor allem auch in der Schule anzutreffen“. Mit dieser Auch nach der Wiedereröffnung der Lan- personell schon jetzt „am Limit“ und Begründung weist das Verwaltungsge- desgeschäftsstelle der GEW im Zimmerweg können sich eine Ausweitung auf wei- richt Frankfurt den Eilantrag einer Leh- in Frankfurt arbeiten viele Mitarbeiterin- tere Jahrgänge nicht vorstellen. rerin ab, dass ihre Schule aufgrund der nen und Mitarbeiter weiterhin vorrangig im GEW, Landeselternbeirat und Lan- hygienischen Bedingungen nicht geöff- Homeoffice. Deshalb bitten wir alle Mitglie- desschülervertretung fordern gemein- der, ihre Anfragen an die GEW Hessen wei- net werden dürfe. Die GEW-Vorsitzende terhin vorzugsweise per Post (Zimmerweg sam, dass bei den nächsten Schritten Maike Wiedwald erklärte dazu, „es wür- 12, 60325 Frankfurt) oder Mail (info@ zur Öffnung der Schulen „Gründlich- de ja schon reichen, wenn die SARS- gew-hessen.de) zu schicken. Aktuelle Infos keit vor Schnelligkeit“ gehen muss. Der CoV2-Arbeitsschutzstandards endlich zur telefonischen Erreichbarkeit findet man Unterricht dürfe nur dort wiederaufge- überall eingehalten würden“. unter www.gew-hessen.de nommen werden, wo „die Einhaltung der Hygienevorgaben gewährleistet ist“. Donnerstag, 7. Mai Dienstag, 12. Mai Auch an den Hochschulen ist das neue Semester angelaufen. Die GEW Die GEW-Vorsitzende Birgit Koch und Maike Wiedwald und Tony C. Schwarz berichtet nach einem intensiven Aus- der stellvertretende Landesvorsitzen- erneuern in einer Telefonkonferenz tausch des Referats Hochschule und de Tony Schwarz nehmen für die GEW mit dem Ministerium die Kritik an den Forschung mit Beschäftigten der hes- an der Telefonkonferenz der Verbände geplanten Zwangsabordnungen von sischen Hochschulen „über die enorm mit Kultusminister Lorz teil. Sie war- Gymnasiallehrkräften an Grundschu- gestiegene Arbeitszeit zur Vorbereitung nen davor, die Schulen durch nicht um- len (HLZ S.34). Mit dieser Methode der digitaler Lehre“. Insbesondere Beschäf- setzbare Vorgaben zu knebeln, die die „Personalgewinnung für Grundschulen“ tigte mit Kindern im Kita- und Grund- Eindämmung der Pandemie behindern. sei auch angesichts der unterschiedli- schulalter kommen an ihre Belastungs- Am späten Nachmittag informiert chen Besoldung und Unterrichtsver- grenze, „wenn sie Lehre, Forschung und das HKM die Schulen über Schritte zur pflichtung niemandem geholfen. In den Kinderbetreuung gleichzeitig verein- Erweiterung des Unterrichtsangebots „Webinaren“ zu den HKM-Vorhaben baren müssen“. Die digitale Infrastruk- für alle Schülerinnen und Schüler ab hatten auch viele Grundschulleitungen tur der Hochschulen sei aufgrund der Jahrgangsstufe 4 ab dem 18.5. und für gefragt, wann die GEW-Forderung nach hohen Nachfrage von Studierenden die ersten bis dritten Klassen ab dem einer gerechten Besoldung der Grund- schnell an ihre Grenzen gekommen. 2.6. Die Lerngruppen dürfen nicht mehr schullehrkräfte endlich umgesetzt wird. als 15 Schülerinnen und Schüler um- Freitag, 1. Mai fassen, wobei „je nach räumlicher Situ- Mittwoch, 13. Mai ation vor Ort auch kleinere Gruppen ge- Erstmals seit Gründung des DGB im bildet werden können bzw. müssen“, da Birgit Koch und René Scheppler spre- Jahr 1949 gibt es keine öffentlichen De- die Abstandsregeln und die Empfehlun- chen mit dem Hessischen Datenschutz- monstrationen und Kundgebungen zum gen des RKI zur Hygiene „einzuhalten beauftragten über die Zulässigkeit von 1. Mai. In den sozialen Netzwerken und sind“. Jede Schülerin und jeder Schü- Videokonferenzsystemen (HLZ S.5). auch in der Öffentlichkeit zeigen Ge- ler soll wöchentlich mindestens sechs Eigentlich wäre heute die Wahl der werkschafterinnen und Gewerkschaf- Wochenstunden Präsenzunterricht er- Personalräte in Schulen, Hochschulen ter Flagge, wie das HLZ-Titelbild mit halten und an den anderen Tagen mit und Bildungsverwaltung abgeschlos- einer Aktion der GEW in Kassel zeigt. „didaktisch versiert ausgearbeiteten sen. Ein neuer Wahltermin war bei Re- Materialien und Aufgabenstellungen“ daktionsschluss der HLZ noch nicht be- zu Hause lernen. Für die GEW ist klar, kannt. Montag, 4. Mai dass diese extrem aufwändige Arbeit Mehr als 1.000 neue Lehrkräfte im der Lehrkräfte auf die Pflichtstunden- Donnerstag, 14. Mai Vorbereitungsdienst (LiV) treten ih- zahl angerechnet werden muss. ren Dienst an. Über den Einstieg in die Die GEW kritisiert die Änderung der Wegen eines vorgezogenen Versand- schulische Arbeit haben Kolleginnen Corona-Verordnung bezüglich der Be- termins geht die HLZ heute in Druck. und Kollegen des Referats Aus- und schäftigten an Schulen, die mit einer Fortbildung der GEW und des Haupt- Person über 60 Jahre in einem Haus- Alle weiteren aktuellen Infos: personalrats intensiv mit der Lehrkräf- stand leben. www.gew-hessen. de
C oron a - P a n d emie zum Inhaltsverzeichnis HLZ 6/2020 8 Die Verletzlichkeit der Kinder Virus deckt Konstruktionsfehler des Bildungssystems auf Ein Ergebnis der Corona-Krise steht für schluss sind nicht selbstverständlich in zehnjähriger Kinder nach Schulformen Bildungsexperten ziemlich sicher fest: allen Haushalten. Sie müssten kostenlos geschuldet. Die Schließung von Kitas und Schulen bereitgestellt werden, damit alle Kinder Nicht die individuellen Bedürfnisse hat die soziale Ungleichheit und Be- einen Zugang zu E-Learning erhalten. von Kindern und Jugendlichen nach nachteiligung verschärft. Wie reagiert Der Ruf nach digitaler Vernetzung der Krise stehen im Zentrum, sondern die Bildungspolitik darauf? ist durch die Schulschließungen so die möglichst gezielte Rückkehr zum In einer Erklärung zur Wieder- unüberhörbar laut geworden, dass mit alten konkurrenzorientierten Schulbe- öffnung der Schulen in Nordrhein- großer Sicherheit die Digitalisierung als trieb, der mit seinen selektiven Über- Westfalen fordern DGB, GEW, Grund- Gewinner aus der Corona-Krise her- gängen und Prüfungen die verletz- schulverband und die Gemeinnützige vorgehen wird. Angesichts der Macht lichen Kinder zu Bildungsverlierern Gesellschaft Gesamtschule gemeinsam der kommerziellen Anbieter, die auf macht. Die Initiatoren der Petition an mit weiteren Verbänden eine Verstär- den lukrativen digitalen Bildungsmarkt den Bundestag „Güterabwägung in der kung der Chancenungleichheit zu ver- drängen, muss die Bildungspolitik klä- Krise: Chancen eröffnen für neue Bil- meiden und die zentralen Prüfungen ren, ob sie die Digitalisierung der Schu- dungsmöglichkeiten statt Rückkehr zur auszusetzen. Unter Berücksichtigung len als Teil öffentlicher Daseinsvorsor- alten Schule“ legen genau den Finger herkunftsbedingter Unterschiede dürf- ge ausgestalten und verantworten oder in die Wunde. ten die häuslichen Aufgaben während zum Türöffner für Ökonomisierung und Dass Ungleichheit und Benachteili- der Zeit der Schulschließungen keines- Privatisierung der Bildung machen will. gung als Folgen der Corona-Pandemie falls benotet und für die Versetzungs- Die KMK hat jedenfalls bislang nicht zu öffentlich problematisiert werden, hat entscheidungen herangezogen werden. erkennen gegeben, wie sie den Appetit einen berechtigten Grund. Unabhängig Alle Kinder sollten in die nächste Jahr- der großen IT-Lobbyisten zügeln will. von der derzeitigen Krise erweist sich gangsstufe versetzt und Klassenwie- Jedes fünfte Kind in Deutschland die strukturelle Ungleichheit des derholungen nur freiwillig ermöglicht ist arm. Das sind nach offiziellen Stu- selektiven Bildungssystems längst als werden. Auch die Übergänge in die Se- dien 2,5 Millionen Kinder, unter Be- gesellschaftliche Hypothek, die soziale kundarstufen I und II müssten zuguns- rücksichtigung der Dunkelziffer sogar Spaltung fördert. ten der Schülerinnen und Schüler ge- bis zu 4,4 Millionen. Ihre Bildungsbe- Allen politischen Beteuerungen regelt werden. Zu diesen Forderungen nachteiligung ist offenkundig. Wenn zu nach dem PISA-Schock zum Trotz hat hat sich die Kultusministerkonferenz der Armutslage noch die geringe Bil- sich der enge Zusammenhang von Her- (KMK) nicht verhalten. Sie hat ledig- dung der Eltern hinzukommt, dann sind kunft und Bildungserfolg erhalten, wie lich erklärt, dass die Länder mit flexi- ihre Chancen auf den Gymnasialbesuch die Nationalen Bildungsberichte aus- blen Regelungen sicherstellen werden, gleich Null, aber dafür sind sie überpro- weisen. Das städtische Quartier, in dem „dass alle Schülerinnen und Schüler portional in der Förderschule mit dem ein Kind aufwächst, ist für Sozialwis- ihre Prüfungen absolvieren und ihre Förderschwerpunkt Lernen vertreten. senschaftler inzwischen zu einem si- Abschlüsse im laufenden Schuljahr er- Arme Kinder sind besonders ver- cheren Indikator für die Bildungs- reichen können“. Dagegen steht zu er- letzlich. Die Corona-Krise trifft sie be- biografie des Kindes geworden. Eine warten, dass die IT-Lobby es dank Co- sonders hart. Der häusliche Stress ist Verschärfung von Chancenungleich- rona sehr viel leichter hat, sich bei der groß, die Eltern sind belastet und kön- heit muss beunruhigen, weil sie auch KMK Gehör zu verschaffen. nen den Kindern bei der Bewältigung die soziale Spaltung verschärft und die Die Krise hat offengelegt, dass es bis von Home Schooling und auferlegter demokratische Entwicklung der Gesell- heute an einer gemeinsamen nachhal- Kontaktsperren weniger unterstützend schaft in Frage stellt. tigen Strategie der Länder zur Digita- helfen als sozioökonomisch besser ge- Die Corona-Krise hat die Diskus- lisierung der Schulen fehlt. Der digita- stellte Eltern. sion über grundlegende Veränderun- le Ausbau- und Entwicklungsstand in Wird die Politik die Kinder mit Ar- gen des Gesundheitswesens befördert. den Ländern, den Kommunen und den mutsrisiken in den Blick nehmen, wenn Sie ist auch eine Chance für die gesell- Schulen könnte nicht unterschiedlicher es darum geht, die richtigen Lehren aus schaftliche Debatte über die Zukunft sein. Home Schooling hat es an den Tag der Corona-Krise zu ziehen? unseres Bildungssystems und über die gebracht: Schulen sind in der Ausstat- Die Entscheidung der Bildungspoli- notwendige Transformation zu einem tung und der Nutzung digitaler Werk- tik, die Schulen auf der Basis der Vor- demokratischen, solidarischen, inklusi- zeuge unterschiedlich aufgestellt. Aber schläge von Experten der Leopoldina ven und krisenfesten Schulsystem, das selbst wenn sie optimal ausgestattet wieder hochzufahren, beweist das Ge- kein Kind zurücklässt. Auf dem Weg wären und das Lehrpersonal über ent- genteil. Auch das hartnäckige Insistie- zu inklusiver Gleichheit im Sinne der sprechende Konzepte verfügte, könn- ren der hessischen Landesregierung, bei Menschen- und Kinderrechte müssen ten nicht alle Schülerinnen und Schüler den vierten Klassen der Grundschulen aussondernde und benachteiligende erreicht werden. Computer oder Laptop handele es sich um „Abschlussklassen“, Strukturen überwunden werden. mit Drucker, WLAN und Internetan- ist der in Stein gemeißelten Auslese Dr. Brigitte Schumann
9 HLZ 6/2020 zum Inhaltsverzeichnis P ä d a g o g ik un d K rise Zeit für Aufarbeitung Kinder tragen die Erfahrung der Corona-Krise in die Schule Ich bin keine Psychotherapeutin und • die Phase der „Bearbeitung“ (Akzep- und der Politik mit der Krise, Entwick- habe keine Ausbildung in psychologi- tanz, Lösungen suchen) und lung einer Zukunftsperspektive werden scher Krisenintervention. Ich bin sozi- • die Phase der „Neuorientierung“ (zu eine zentrale Rolle spielen. Die päda- alpädagogische Fachkraft und arbeite sich selbst, zur Umwelt). gogische Bearbeitung könnte fächer- in einem multiprofessionellen Team in Diese Phasen laufen individuell, sel- übergreifend in Unterrichtsformen wie einer Förderschule. Unsere Arbeitswei- ten chronologisch, sind nicht vonei- Projektwochen oder Workshops statt- se beruht auf Beobachtung, Analysie- nander abzugrenzen und können sich finden und kann nur mit Unterstüt- ren von Verhaltensweisen und Zuhören. wiederholen. zung aller in Schule tätigen Professio- Wir versuchen, zwischen den Zeilen zu nen und im multiprofessionellen Team lesen und alles in einen logischen Zu- gelingen. Neben der medizinischen Hy- Phasen der Krisenbewältigung sammenhang zu bringen, um unsere giene muss die psychische und soziale Schülerinnen und Schüler dort abzuho- Eine langanhaltende Krise ohne ent- Hygiene Priorität haben. Dass dies un- len, wo sie gerade emotional und ent- sprechende Bewältigungsstrategien des ter den weiter bestehenden Abstandsre- wicklungsbezogen stehen. Individuums ist häufig mit psychoso- gelungen, die Nähe und Austausch un- matischen Beschwerden oder psychi- terbinden oder mindestens erschweren, schen Erkrankungen verbunden. Su- stattfinden muss, ist eine bisher nie ge- Stillstand ohne Stillstand izidalität, Schlafstörung, Essstörung, kannte Herausforderung. Aus diesem Blickwinkel schaute ich Stress und Suchtverhalten können die Annette Karsten schon in der ersten Woche nach Schul- Folgen sein. Referat Sozialpädagogische Berufe schließung auf den Wiedereinstieg. Der Wir alle machen in diesen Mona- ten Erfahrungen, die unsere bisheri- (1) https://www.quarks.de/gesellschaft/psy- Beitrag „So bewältigen wir eine K rise“ chologie/phasen-einer-krise/ der Wissenschaftsjournalistin Lara gen Erfahrungen, Normen, Werte, Lö- Schwenner zum Themenbereich Trauma sungsstrategien und Handlungsmuster und Verlust bestätigte mich in meinen auf den Kopf stellen. Wir erleben Angst Überlegungen, dass der Wiedereinstieg in um die eigene Gesundheit und die von den Schulalltag nach dieser Zeit kein ge- Angehörigen, Gefühle der Isolation und wöhnlicher Einstieg in Schule sein kann, Verlust von Freiheit sowie Angst vor wie er uns allen nach unterrichtsfreier der ungewissen Zukunft. Zeit bekannt ist. Es waren eben keine Fe- Aus Medienberichten erfahren wir, rien. Es war ein Stillstand – ohne wirkli- dass häusliche Gewalt in der Krisen- chen Stillstand! Das Leben ging weiter, zeit zunimmt und dass die Einschrän- nur eben anders als gewohnt. Die Euro- kungen oder sogar der Verlust der be- päische Union rief nach § 4 der Vergabe- ruflichen Existenz viele Familien in verordnung Verteidigung und Sicherheit finanzielle Nöte brachte oder zukünf- eine Krise aus, da ein Schadensereignis tig bringen wird. Wir hören statisti- eingetreten ist, das Leben und Gesund- sche Erhebungen über Erkrankte und heit zahlreicher Menschen erheblich ge- Verstorbene. Jedes Gehörte oder Erleb- fährdet oder einschränkt. te löst Stress in uns aus und trägt ein In ihrem Artikel „Trauma und Ver- hohes Maß an psychischen Belastungs- lust“ schreibt Laura Schwenner unter momenten. Diese Erfahrungen tragen anderem Folgendes: unsere Schülerinnen und Schüler in ih- „In einer Krise durchlaufen wir verschie- rem Rucksack mit in die Schule. In je- dene Phasen. Wie lange die Bewältigung der Schulform. Wir können dem nur dauert, ist jedoch individuell verschieden. mit unseren pädagogischen Möglich- Krisen werfen uns aus dem Gleichgewicht. keiten begegnen. Darum müssen wir drüber sprechen.“ Es muss Zeit und Raum für die Auf- Des Weiteren schreibt sie, dass Forsche- arbeitung geben. Es müssen Gesprächs- rinnen und Forscher darüber überein- anlässe geschaffen werden, um Erlebtes stimmen, dass vier verschiedene Phasen anzuschauen und auszutauschen. Pha- der Krisenbewältigung zu beobachten sen der Selbstreflexion und der Neuori- sind: entierung müssen gegeben sein. Inhalte • die Phase des „Schocks“ (Lähmung, wie Trauer um verstorbene Angehöri- Nicht-Wahrhaben-Wollen) ge, Gewalt in der Familie, Gefühle der • die Phase der „Reaktion“ (chaoti- Einsamkeit und Isolation, Solidarität sche Emotionen, Verdrängung, Angst) und Freundschaft, Umgang der Medien
Schwerpunktthema zum Inhaltsverzeichnis HLZ 6/2020 10 Der Wendepunkt Akademisierung versus berufliche Bildung Der Trend zum Erwerb einer Hochschulzugangsberechtigung Lebenseinkommen ist. Dieses Argument verstärkt den Kö- ist ungebrochen. 2011 wurde erstmals ein Gleichstand zwi- nigsweg, über die Gymnasien in die Hochschulen zu gehen. schen der Zahl der Anfängerinnen und Anfänger im dua- Ein weiteres bildungspolitisches Ziel, nämlich die seit we- len Ausbildungssystem und der Zahl der Studienanfänge- nigstens einem Vierteljahrhundert massiv vorgetragene For- rinnen und Studienanfänger erreicht. Dieser Trend setzt sich derung nach Gleichwertigkeit und Durchlässigkeit von Aus- bis heute fort. 2013 waren es knapp 512.000 Studienanfän- bildungswegen, hat zu einer vermeintlichen Aufwertung der gerinnen und Studienanfänger und damit erstmals mehr als beruflichen Bildung geführt. Das wird damit belegt, dass bei- die rund 491.000 Anfängerinnen und Anfänger in der dua- spielsweise Abschlüsse als Meister oder der Fachschule für len Berufsausbildung. Inzwischen nehmen rund 55 % eines Technik (z.B. Techniker) dem Niveau 6 des Deutschen Qua- Jahrgangs ein Studium auf. Seit 2005 ist die Zahl der An- lifikationsrahmens zugeordnet wurden. Zudem hat die Zahl fängerinnen und Anfänger im dualen System um 4,4 % ge- der Studienanfängerinnen und Studienanfänger ohne Hoch- sunken (von 517.342 auf 494.537), die Zahl der Studienan- schul- oder Fachhochschulreife weiter zugenommen und be- fängerinnen und Studienanfänger stieg im selben Zeitraum lief sich 2018 auf 14.800. Das entspricht einem Anteil von um 40,3 % (von 366.242 auf 513.988). Diese Entwicklung, 2,9 Prozent der Neueinschreibungen an Hochschulen. Gegen- die eine markante Erhöhung der Zahl der Schulabgängerin- über 2013 ist das eine Steigerung um mehr als einem Drit- nen und Schulabgänger mit Studienberechtigung voraussetzt, tel. Rund 45 Prozent dieser Gruppe weisen eine Qualifizie- ist kein irrationaler Massentrend, der in einem „Akademisie- rung als Meister oder Fachwirt auf. Voraussetzung dafür ist rungswahn“ mündet, wie von manchem Autor suggeriert, eine Berufsausbildung. Der Anteil dieser Gruppe ist jedoch sondern die Konsequenz strukturell angelegter Bildungsre- sehr klein, so dass nicht von einem Durchbruch zugunsten formen seit den 1970er Jahren. Startpunkt dafür waren Re- der Berufsbildung gesprochen werden kann. formen, die ein „Recht auf Bildung“ initiierten, jedoch fak- tisch zu einem „Recht auf Hochschulbildung“ mutierten. Bedeutungszuwachs der Technologien Tatsächlich wird der Akademisierungstrend bildungspoli- Konsequenzen einer Trendwende tisch weiterhin gestützt. Durch ein ausdifferenziertes Be- Die Trendwende zugunsten der Hochschulbildung, so wie rechtigungswesen wird sichergestellt, dass mit beruflichen sie von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenar- Abschlüssen die Durchlässigkeit zum Hochschulstudium beit und Entwicklung (OECD), der Europäischen Kommissi- möglich wird. Mit dieser vertikalen Stützung der Durchläs- on, der UNESCO und der Weltbank gefordert wurde, zeigt sigkeit hin zur Akademisierung wird allerdings gleichzeitig Wirkung. Die sogenannte „tertiary education“ (tertiäre Bil- signalisiert, dass die berufliche Bildung über einen geringe- dung) setzt sich durch und zwar ganz im Sinne der Planung ren Stellenwert verfügt als die gymnasiale, also isoliert ne- der Bildungspolitik. Mit Studienanfängerquoten von inzwi- ben dem Gymnasium steht und auf Berechtigungen ange- schen merklich mehr als 50 Prozent eines Jahrgangs gehört wiesen ist. Gestützt wird diese Bewertung durch die Tatsache, Deutschland nicht mehr zu den Nachzüglern unter den In- dass eine akademische Ausbildung immer zu einem höheren dustrieländern, sondern hat mit dem OECD-Durchschnitt Prestige und Einkommen führt. Davon ausgehend ist anzu- mehr als gleichgezogen. nehmen, dass Akademisierung niemandem schadet und auf Von einem Akademisierungswahn kann aus Sicht der poli- den ersten Blick auch keine Nachteile aufweist. tischen Entscheider keine Rede sein. Erstaunlich wenig bis gar Betrachtet man in einem zweiten Blick den Arbeitsmarkt, nicht wird jedoch über das Risiko einer „Überakademisierung“ dann wird es schon schwieriger, eindeutige Antworten zu ge- diskutiert. In Anlehnung an die strukturell niedrige Arbeitslo- ben. Aktuell liegen keine eindeutigen Erkenntnisse vor, ob sigkeit von Akademikern wird argumentiert, dass eine Hoch- der Arbeitsmarkt die größer werdende Anzahl von Akademi- schulausbildung ein Garant für Beschäftigung und höheres kerinnen und Akademikern aufnehmen wird. Aufgrund der Digitalisierung sind die gängigen Antworten auf diese Fra- ge auf die Technologieentwicklung ausgerichtet. Unterneh- Die Trendwende: Zahl der Anfängerinnen und Anfänger mensvertreter erwarten, dass die Technologien einen Bedeu- im dualen System und im Studium tungszuwachs erfahren werden. Angenommen wird, dass eine Duale Berufsausbildung Studium der Folgen der Digitalisierung sein wird, dass Betriebe einen 2011 523.577 522.306 größeren Akademikeranteil beschäftigen werden, weil die 2013 491.380 511.843 kognitiven Anforderungen höher liegen werden. Real haben 2015 479.545 509.821 die Hochschulen bereits auf diese Entwicklung reagiert, in- 2017 486.428 516.036 dem stärker anwendungsbezogene Studiengänge eingeführt wurden und sich die „Dualen Hochschulen“ schnell verbrei- 2018 494.539 513.988 ten. Letztere offerieren zunehmend Studiengänge, die mit Quelle: Berufsbildungsbericht 2019 (ohne Berücksichtigung des einem Bachelor- oder Master-Zertifikat abschließen, jedoch Übergangssystems und des Gesundheitswesens) eine starke Beruflichkeitskomponente im Sinne einer Berufs-
11 HLZ 6/2020 zum Inhaltsverzeichnis Berufliche Bildung ausbildung aufweisen. Sie versuchen, ein akademisch-kog- nitiv geprägtes Profil mit dem zu verbinden, was ein High- light in der traditionellen Berufsausbildung und Ausbildung von Facharbeitern ist, nämlich das Studium mit beruflich- praktischen Kompetenzen zu kombinieren. Betrachtet man die dualen Hochschulen systemtheoretisch von der Anbieterperspektive, dann kann geschlussfolgert werden, dass sie sich auf die gegeneinander abgeschotteten Säulen des allgemeinen und des beruflichen Bildungssystems eingestellt haben und für beide Absolventengruppen geeig- nete Studiengänge anbieten wollen. Eine andere Sichtweise ist, dass duale Hochschulen die Studiengänge grundsätzlich stärker auf den Arbeitsmarkt ausrichten. Das Ende der Berufsausbildung? Ob die so ausgebildeten Personen letztendlich für die vie- len kleinen und mittleren Betriebe und das Handwerk ge- eignet sind und umfänglich Facharbeiter verdrängen wer- den, bleibt anzuzweifeln. Ein Beispiel: Die Reparatur eines Oberklassefahrzeugs, sei es von BMW, Mercedes, Toyota oder Ford, ist sehr anspruchsvoll, vor allem wenn es um die Dia- gnosetechnik geht. Eine kognitive Durchdringung der Ver- netzungstechnik der Autos und die praktische Fähigkeit, Fehler systematisch aufzuspüren, erfordern gegenstandori- entiertes Wissen, haptisches Können und Erfahrungswissen. Die Fachkräfte in den Reparaturwerkstätten weisen aber in der Regel keine Bachelorausbildung auf, sondern sind auf Facharbeitsniveau qualifiziert. Daraus kann gefolgert wer- den, dass Fachkräfte, die eine Berufsausbildung absolviert haben, zwar nicht verschwinden werden, doch werden sie zukünftig nicht mehr zwei Drittel oder mehr als die Hälfte auf dem Arbeitsmarkt ausmachen, sondern deutlich weniger. • Weil wir uns hin zu einer hochqualifizierten Gesellschaft Abbildung: Trotz der hohen Akzeptanz der „Beruflichkeit“ ist die beruf- entwickeln, muss zweitens das duale System auf höchstmög- panthermedia liche Erstausbildung erheblich unter Druck geraten. Grund liche Qualität setzen. Das obere Qualitätsniveau der Berufs- olly 18 dafür ist, dass trotz des hierarchisch gegliederten Bildungs- bildung – oft als „höhere Berufsbildung“ bezeichnet – muss systems die Strukturlogik der Bildungsreform in den letzten qualitativ mit dem Bachelor-Niveau vergleichbar sein. Es 20 Jahren eine Eigendynamik entwickelt hat und Personen darf jedoch nicht übersehen werden, dass gerade die Schwä- mit einer Hochschulzugangsberechtigung zum akademi- cheren im Berufsbildungssystem ebenfalls mit Hilfe geeigne- schen Studium motivierte. ter Qualifizierungskonzepte für betriebliche Aufgaben aus- Wie sich das quantitative Verhältnis von Auszubildenden zubilden sind. und Studierenden in den nächsten Jahren entwickeln wird, • Drittens müssen den Absolventinnen und Absolventen ist offen. Sicher ist allerdings, dass die Akademisierung wei- des dualen Systems Karrierechancen offeriert werden, die ter fortschreiten wird und von daher das duale Ausbildungs- es lohnend machen, „praktisch“ ausgerichtete Positionen in system verstärkt in Frage gestellt werden wird. Es wird sich verschiedenen betrieblichen Kontexten einzunehmen. Für aller Wahrscheinlichkeit nach quantitativ auf einem merk- diese Position ist eine Imageförderung zu initiieren und die lich niedrigeren Niveau einpendeln, als das heute der Fall ist. Bezahlung derjenigen von Akademikerinnen und Akademi- kern anzugleichen. Damit soll eine Zweitklassigkeit der Be- Für eine Berufsbildungspolitik aus einem Guss rufsausbildung verhindert werden. • Um weiteren Verzettelungen vorzubeugen empfiehlt sich Eine der zentralen Fragen ist, welche Gegenreaktionen dem viertens eine Berufsbildungspolitik aus einem Guss, so wie dualen System empfohlen werden können, um nicht völlig dies schon länger von der IG Metall in der Empfehlung „Er- in der Bedeutungslosigkeit zu versinken: weiterte moderne Beruflichkeit“ gefordert wird. Dahinter ver- • Erstens müssen sich die Betriebe zur Ausbildung beken- birgt sich ein „gemeinsames Leitbild für die betrieblich-dua- nen, sich an dieser aktiver als bisher beteiligen und diese le und die hochschulische Berufsbildung“. Die beiden (Aus-) fördern sowie genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung Bildungsrichtungen in einem engen Zusammenhang zu ge- stellen. In den letzten Dekaden ging die Beteiligung der Be- stalten, sollte das Credo der Zukunft sein. triebe kontinuierlich zurück. Dieser Trend ist umzukehren. Um dieses sicherzustellen, kommt es darauf an, dass bereits Professor Dr. Georg Spöttl in der beruflichen Erstausbildung die Innovationsfähigkeit Professor Georg Spöttl war Leiter des Instituts Technik und Bildung der Auszubildenden besonders gefördert wird. Diese Fähig- (I-TB) der Universität Bremen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die keit ist für die Betriebe gerade in den momentanen dynami- Didaktik der Metalltechnik, die internationale Berufsbildung und schen Entwicklungsphasen von großer Bedeutung. die berufswissenschaftliche Forschung in Aus- und Weiterbildung.
Schwerpunktthema zum Inhaltsverzeichnis HLZ 6/2020 12 Berufsbildende Schulen Möglichkeiten und Probleme einer komplexen Schulform Rund zwei Drittel der Jugendlichen eines Jahrgangs besu- • die einjährigen Bildungsgänge zur Berufsvorbereitung chen im Laufe ihrer Schulkarriere eine berufsbildende Schu- für Schülerinnen und Schüler ohne oder mit einem schwa- le. Im Schuljahr 2019/2020 waren dies 165.790 Jugendliche chen Hauptschulabschluss. Ziele des Berufsvorbereitungs- (siehe Tabelle). Das berufsbildende Schulsystem ist aufgrund jahrs (BVJ), von PuSch B (Praxis und Schule), der Maßnah- seiner Komplexität und Differenziertheit für Jugendliche, El- men der Arbeitsagentur oder von „Jugendliche ohne Arbeit“ tern und auch für Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen (Sonderklassen) sind das Nachholen des Hauptschulabschlus- nur schwer durchschaubar. Andererseits bietet es für junge ses (HSA), eine praxisorientierte Einführung in verschiedene Menschen eine Fülle von Bildungsgängen, die ihnen wich- Berufsfelder sowie letztlich ein gelingender Übergang in Ar- tige Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen (können). Auffal- beit, Ausbildung oder weiterführende Bildungsgänge. lend sind das hohe Maß an Durchlässigkeit, aber auch ein • das einjährige Berufsgrundbildungsjahr (BGJ), das nur beträchtliches Potenzial von „Auffangbecken“, „Warteschlei- noch von 317 Schülerinnen und Schülern besucht wird. Es fen“ und „Ausweichpfaden“. Im Folgenden werden die viel- vermittelt eine berufliche Grundbildung in einem Berufsfeld fältigen Bildungsgänge kurz skizziert und die darin enthal- mit hohem Praxisanteil und soll in einer daran anschließen- tenen Chancen und Probleme beschrieben. den betrieblichen Ausbildung als erstes Ausbildungsjahr an- Grob können die Bildungsgänge der berufsbildenden gerechnet werden. Da diese Anrechnung kaum funktionierte, Schulen in vier Bereiche unterteilt werden: das „Übergangs- wird diese Schulform seit dem Schuljahr 2011/12 nur noch system“, die Berufsausbildung im dualen System, die Studi- in Ausnahmefällen gestattet. enqualifizierung und die Weiterbildung. • die zweijährige Berufsfachschule zum mittleren Ab- schluss (BFS). Sie baut auf dem HSA auf und vermittelt neben dem Realschulabschluss (RSA) eine berufliche Grundbildung I. Übergangssystem in einem Berufsfeld. Die Anrechnung auf eine anschließen- Das Wort „Übergangssystem“ setzen wir deshalb lieber in de duale Berufsausbildung wurde fast immer verweigert. Mit Anführungszeichen, weil es weder ein System ist noch einen dem RSA werden aber weitere schulische Bildungswege (FOS, Übergang in die berufliche Ausbildung oder Arbeitswelt ga- BG, HBFS) eröffnet oder auch bessere Chancen für einen Aus- rantiert. In der Summe besuchen rund 19.300 Schülerinnen bildungsplatz im dualen System erworben. und Schüler im Schuljahr 2019/20 Schulformen des „Über- • die einjährige Höhere Berufsfachschule in den Fachrich- gangssystems“. Hierzu gehören: tungen Wirtschaft und Ernährung. Eingangsvoraussetzung ist der RSA. Weiterführende Abschlüsse sind nicht vorgese- Schülerzahlen an den öffentlichen beruflichen Schulen Hessen hen. Diese Schulform wird ab 2021 nicht mehr angeboten. 2009/ 2011/ 2013/ 2015/ 2017/ 2019/ • die Berufsfachschule zum Übergang in Ausbildung Schulformen (BÜA), die als Schulversuch an 20 Schulen seit dem Schul- 2010 2012 2014 2016 2018 2020 Berufsschule 108.895 105.004 102.146 98.080 96.695 97.791 jahr 2017/18 erprobt wird und die genannten Schulformen 1.729 243 116 99 85 75 des „Übergangssystems“ zusammenführen soll. Hier soll BGJ Vollzeit auch der HSA oder der RSA möglich sein. Vorrangig soll sie BGJ Teilzeit 494 480 304 251 232 242 aber einen möglichst schnellen Übergang in die duale Be- BVJ 1.257 1.716 1.755 2.166 2.331 2.634 rufsausbildung ermöglichen. Dazu sollen die Schülerinnen BFS 2-j. zum und Schüler im großen Umfang berufliche Orientierung er- 12.573 11.104 10.342 10.156 8.266 7.086 mittleren Abschluss fahren und unterschiedliche Berufsfelder kennenlernen. Ob BÜA 2.359 3.266 die Übertragung des Schulversuchs in modifizierter Form auf BFS 3-3,5-j. weitere Schulen wie vorgesehen ab dem Schuljahr 2020/21 378 732 1.009 998 937 885 Berufsabschl. möglich sein wird, ist unter Corona-Vorzeichen abzuwarten. HBFS 1-jährig 1.833 1.337 1.076 1.057 737 595 Für zugewanderte junge Menschen ohne Deutschkennt- HBFS 2-j. Ass. Ausb. 7.167 7.423 7.769 7.548 6.799 6.354 nisse gibt es an berufsbildenden Schulen die InteA-Klassen Fachschule Vollzeit 5.729 7.304 8.226 7.976 7.447 7.015 (Integration durch Anschluss und Abschluss), die in bis zu Fachschule Teilzeit 4.117 4.031 4.407 4.583 4.188 3.799 zwei Jahren Grundkenntnisse der deutschen Sprache und FOS Vollzeit 20.794 21.464 21.919 21.289 19.724 17.235 eine Berufsorientierung vermitteln sollen. Außerdem kann 177 188 125 80 53 43 der HSA oder der RSA erworben werden. FOS Teilzeit Die Berufsbildungswerke (BBW) Nordhessen (in Bad Sonderklassen 5.809 5.102 4.759 4.098 3.674 3.610 Arolsen und Kassel) und Südhessen (in Karben) bieten über EIBE, PuSch B 2.684 2.872 2.857 1.068 731 663 1.000 jungen Menschen mit Behinderungen und psychischen Berufl. Gymnasium 12.668 14.494 14.924 15.538 14.513 13.362 Erkrankungen berufliche Erstausbildungen und berufsför- Berufsbildungswerk 1.168 952 955 1.013 1.064 1.135 dernde Maßnahmen an. Alle berufsbilden- 187.472 184.446 182.689 176.000 169.835 165.790 Fazit: Trotz großer Anstrengungen und individueller Ent- den Schulen wicklungsmöglichkeiten führt das „Übergangssystem“ bei ei- Zahlen: Zuweisungserlasse des HKM; Bearbeitung: Ralf Becker, Stand:19.12.2019 nem nicht geringen Teil der Jugendlichen zu Frustrationen
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