"WIR, DIE VÖLKER"? Die Vereinten Nationen im siebzigsten Jahr ihres Bestehens Von James A. Paul - Rosa Luxemburg Stiftung

Die Seite wird erstellt Helene-Marion Walther
 
WEITER LESEN
"WIR, DIE VÖLKER"? Die Vereinten Nationen im siebzigsten Jahr ihres Bestehens Von James A. Paul - Rosa Luxemburg Stiftung
“WIR, DIE VÖLKER”?
                  Die Vereinten Nationen im siebzigsten Jahr ihres
ROSA              Bestehens
LUXEMBURG
STIFTUNG
NEW YORK OFFICE   Von James A. Paul
"WIR, DIE VÖLKER"? Die Vereinten Nationen im siebzigsten Jahr ihres Bestehens Von James A. Paul - Rosa Luxemburg Stiftung
Inhaltsverzeichnis

      Fehlerhaft, und doch unverzichtbar. Von den Herausgebern......................................................1

      „Wir, die Völker“?
      Die Vereinten Nationen im siebzigsten Jahr ihres Bestehens...............................................2

      Von James A. Paul

          Die Ursprünge der Vereinten Nationen....................................................................................3
          „Die UNO“ – Wer und was ist das wirklich?..................................................................................5
          Sozial- und wirtschaftspolitische Ausrichtung...........................................................................6
                      ECOSOC..........................................................................................................................6
		Die Regionalkommissionen..........................................................................................7
                      Die Entkolonialisierung.................................................................................................7
                      Die Agenturen der UNO...............................................................................................9
                      Die Bretton-Woods-Institutionen..............................................................................10
                      Welthandel...................................................................................................................13
                      Entwicklungsfinanzierung.............................................................................15
                      Forschung und Analyse...............................................................................................16
                      Die Weltkonferenzen...................................................................................................18
                      Entwicklungsziele................................................................................................19
                      Konzerne und Superreiche........................................................................................21
                      NGOs und Citizen Advocacy........................................................................................24
          UN-Reform..........................................................................................................................26
          Zusammenfassung....................................................................................................................28

Veröffentlicht von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Büro New York, Oktober 2015

Herausgeber: Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg
Adresse: 275 Madison Avenue, Suite 2114, New York, NY 10016
E-Mail: info@rosalux-nyc.org; Telefon: +1 (917) 409-1040

Gefördert mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist eine international tätige, progressive Non-Profit-Organisation für
politische Bildung. In Zusammenarbeit mit vielen Organisationen rund um den Globus arbeitet sie für
demokratische und soziale Partizipation, die Ermächtigung von benachteiligten Gruppen, Alternativen
zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und für friedliche Konfliktlösungen.

Das New Yorker Büro erfüllt zwei Hauptaufgaben: sich mit Themen der Vereinten Nationen zu befassen
und mit nordamerikanischen Linken in Hochschulen, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und der
Politik zusammenzuarbeiten.
                                           ww w .r osal u x - n yc.or g
Fehlerhaft, und doch unverzichtbar

Vor siebzig Jahren, am 24. Oktober 1945, trat die Charta der Vereinten Nationen in Kraft. Deren Ver-
fasserinnen und Verfasser, imposant als „Wir, die Völker der Vereinten Nationen“ auftretend, verkün-
deten ihre Entschlossenheit „künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren“, den
„Glauben an universale Menschenrechte zu stärken“, Gerechtigkeit und „die Achtung von internati-
onalen Verträgen und den Grundsätzen des Völkerrechts“ voranzubringen und „sozialen Fortschritt
und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern“.

Dieser Jahrestag ist ein angemessener Zeitpunkt dafür, genauer zu betrachten, wie gut die UNO ih-
ren Gründungsidealen gerecht geworden ist und mit welchem Erfolg die internationale Organisation
für eine friedlichere, gerechtere, nachhaltigere und demokratischere Welt eingetreten ist.

In dieser Studie zeichnet James A. Paul, Direktor des Global Policy Forums von 1993 bis 2012, die
Entwicklung der Vereinten Nationen nach. Er ist einer der Hauptakteure der NGO-Community der
UNO und Mitglied in zahlreichen Ausschüssen und Arbeitsgruppen. Zudem hat er unzählige Artikel,
Berichte, Positionspapiere und Bücher zu internationalen Beziehungen und globaler Politik geschrie-
ben. Dank seiner jahrzehntelangen Erfahrungen als Befürworter und Beobachter der UNO gelingt
Paul die Verbindung von Insider-Wissen mit der angemessenen kritischen Distanz und lässt uns die
UNO als fehlerhafte, und doch unverzichtbare Institution begreifen.

Basierend auf einem fundierten Verständnis davon, was die Vereinten Nationen sind und wie sie
wirklich funktionieren, gibt diese Studie einen kritischen Überblick über ihre Sozial- und Wirtschafts-
politik. Sie untersucht die Rolle der UN im Kontext der Entkolonialisierung, der Ausgestaltung des
Welthandels, der Entwicklungspolitik, der Durchführung von Forschung und Analyse, und der Ein-
berufung wichtiger Weltkonferenzen. Die einflussreichsten Mitgliedstaaten haben in der Geschichte
der Vereinten Nationen stets eine dominante Rolle eingenommen. In den letzten Jahren haben au-
ßerdem Großunternehmen und Superreiche an Einfluss gewonnen und dafür gesorgt, dass ihre An-
liegen und Projekte gefördert werden, während verantwortungsvolle UN-Organisationen mit immer
weniger Mitteln auskommen müssen.

Trotz ihrer Schwächen bewahrt sich die UNO eine große öffentliche Legitimation und ist das einzige
multilaterale Forum dafür, die unzähligen, unlösbar erscheinenden, regionalen und globalen Krisen
und Konflikte in Angriff zu nehmen. Paul schließt seine Studie deshalb mit einem Aufruf zur Erneue-
rung dieser Institution. Nur eine ausreichend finanzierte, demokratisierte und wiederbelebte UNO
kann eine globale Mobilisierung für soziale, ökonomische und ökologische Gerechtigkeit erreichen.
Die Stärke, die für eine solche Transformation notwendig ist, wird aber nicht von den Regierungen
dieser Welt aufgebracht werden. Vielmehr müssen die Bürger ihrer Mitgliedstaaten – „wir, die Völ-
ker“ – zusammenarbeiten, um die Vereinten Nationen als erfolgreiche Kraft für das Gemeinwohl
zurückzuerobern.

                                                               Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg
                                                               Leiter des Büros New York, Oktober 2015

                                                  1
„Wir, die Völker“?
Die Vereinten Nationen im siebzigsten Jahr ihres Bestehens

Von James A. Paul

Sieben Jahrzehnte sind seit der Gründung der                organisation Leistungsschwäche, ja Erfolg-
Vereinten Nationen vergangen. Da liegt es                   losigkeit vor. Sie sei eine Quasselbude, in der
nahe, sich anlässlich des Jubiläums über die                einfach zu viel geredet würde – als wäre Mit-
Organisation und ihre Leistungsbilanz Gedan-                einanderreden nicht das Wesen der Diplo-
ken zu machen. Stoff gibt es genug – viele Er-              matie, die Grundlage der Demokratie und
eignisse, Debatten, Krisen und UN-Konferen-                 wichtiges Mittel, Interessengegensätze auszu-
zen zur globalen Entwicklung. Was positiv ins               gleichen. Libertäre sehen in der UNO oft den
Gewicht fällt, ist, dass in diesen siebzig Jahren           drohenden Megastaat, der die Freiheit der
kein neuer Weltkrieg ausbrach und dass die                  Einzelnen gefährdet und knappe Ressourcen
Atomwaffen in ihren Silos blieben. Auch hat die             vergeudet. Linksgerichtete Menschenrecht-
weltweite Zusammenarbeit auf vielen Feldern                 ler beklagen, die Weltorganisation sei viel zu
zugenommen. Andererseits gelang es nicht,                   schwach und unterfinanziert, um die großen
stabilen Frieden und allgemeine Prosperität zu              Probleme unserer Zeit bewältigen zu kön-
schaffen. Ganz und gar nicht! Nationale Riva-               nen. Doch ungeachtet dieses lautstarken Kri-
litäten und fundamentale Wirtschaftsproble-                 tikerchores weisen Meinungsumfragen eine
me zerreißen die Welt. Heute scheitern ganze                beträchtliche Unterstützung der Öffentlichkeit
Staaten, lokale Konflikte lodern, und die Zahl              für die UNO aus – höhere Zustimmungsraten
derer, die aus ihrer Heimat fliehen, erreicht               als für die meisten Regierungen der Mitglied-
immer neue Rekorde. Eine verheerende Klima-                 staaten. Es gibt also nur wenige Institutionen
krise bedroht alles Leben auf diesem Planeten.              mit einem derart komplexen und umkämpften
Trotz wichtiger Errungenschaften, die für die               Profil; und noch weniger, die bei der Kommen-
UNO sprechen, gingen die großen Hoffnungen                  tatorenzunft auf so viel Häme stoßen, zugleich
von 1945 nicht in Erfüllung. Wie konnte es dazu             aber im öffentlichen Bewusstsein so viel Hoff-
kommen? Und wie soll es jetzt weitergehen?                  nung erwecken.

Es ist leicht, der Institution als solcher die Schuld       Das Jubiläum liefert, wie sich zeigt, viel Stoff
zuzuweisen – statt den Mitgliedstaaten, die sie             zum Nachdenken. Machen wir uns klar, wie die
formten und ihre Politik bestimmen. Der stärks-             UNO entstand, wie sie sich entwickelt hat und
te Widerstand gegen die UNO kam stets von                   was sie bisher daran hinderte, ihr Potenzial an
der politischen Rechten, mit US-Senator Jesse               Global Governance zu verwirklichen. Warum
Helms als langjähriger Leitfigur. Rechtsgerich-             haben die Staaten – besonders die Großmäch-
tete Regierungen, lautstarke Nationalisten und              te – ihr keine Gestaltungsmacht eingeräumt,
Radikallibertäre sind bis heute die schärfsten              sondern lieber auf eigene Faust gehandelt und
Widersacher der Weltorganisation.                           verfolgt, was sie für ihre „Interessen“ halten?
                                                            Manchmal drohen führende Politiker damit,
Kritik an der UNO ist allerdings aus allen poli-            diese „bedeutungslose“ Institution zu verlas-
tischen Lagern zu hören. Viele Zentristen (alias            sen, doch sie kommen immer wieder zurück,
Gemäßigte), aber auch Linke werfen der Welt-                weil auch sie die UNO brauchen: als unverzicht-

                                                        2
JAMES A. PAUL
                                                                SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN

bares Instrument zur Bewältigung hoffnungs-          dass es auch weiterhin die Großmächte sein
los erscheinender Krisen, zur Aushandlung            werden, die den Gang der Dinge bestimmen.
schwieriger Lösungen und zur Erarbeitung um-         Unsere Untersuchung jedoch lässt sich von
fassender Rahmenabkommen.                            hoffnungsvolleren Fragestellungen leiten: Ist
                                                     es möglich, die Stärken der Vereinten Natio-
Im Folgenden werden wir der Frage nachge-            nen, ihren inklusiven Charakter und ihre un-
hen, was die Weltorganisation zu leisten ver-        bestreitbaren Errungenschaften zu nutzen,
mochte und welche Möglichkeiten sich ihr             um eine bewohnbarere Welt zu schaffen? Liegt
künftig eröffnen könnten – dieser Institution,       eine „Völker-UNO“ im Bereich des Möglichen?
die so viel Leidenschaft erweckt hat, so viel        Wenn ja, welche Lehren sind in dieser Hinsicht
Enttäuschung, aber auch so viel Begeiste-            aus der bisherigen Bilanz der Organisation zu
rung. „Realisten“ würden wohl darauf pochen,         ziehen?

Die Ursprünge der Vereinten Nationen

Die Gründung der Vereinten Nationen im Jahre         ebenfalls die Bezeichnung „Vereinte Nationen“
1945 löste in der Öffentlichkeit große Begeis-       geläufig war). Die UNO würde als Eckstein des
terung aus. Nach all dem Leid und den gesell-        Nachkriegssystems und Garant des Friedens
schaftlichen Zusammenbrüchen im Gefolge              dienen. Die Hoffnungen der Öffentlichkeit gin-
des Zweiten Weltkriegs (und der vorausgegan-         gen allerdings über diese Vorstellungen hinaus.
genen Weltwirtschaftskrise) begrüßten in aller       Viele glaubten, die neue Organisation würde
Welt viele die neue Institution als Hoffnungs-       alsbald die Völker vom Kolonialismus befreien,
träger, als außergewöhnliches Instrument zur         Frieden schaffen und zu einer gemeinschaft-
Schaffung dauerhaften Friedens, wachsenden           lichen, föderal strukturierten Weltregierung
Wohlstands und einer gerechten Weltgesell-           führen. Intellektuelle und moralische Größen
schaft. Der gescheiterte Völkerbund verblasste       jener Zeit begrüßten die Vereinten Nationen
im öffentlichen Gedächtnis. Die Vereinten Na-        und setzten sich für sie ein.
tionen sollten einen Neubeginn einläuten.
                                                     Natürlich haben die Vereinigten Staaten und
Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill          ihre Verbündeten die UNO nicht gegründet,
hatten ihre Appelle an die Weltbevölkerung           um die Wünsche weitblickender Reformer
damit begründet, dass, wären die Kriegsgeg-          oder gar utopischer Denker zu erfüllen. Der
ner erst einmal besiegt, eine neue, reformier-       „Idealismus“ der US-Regierung und ihrer Part-
te Weltordnung errichtet würde. Die von den          ner unterschied sich de facto kaum von her-
beiden 1941 vorgelegte Atlantikcharta enthielt       kömmlicher Staatskunst. Zwar betonten sie
diese – globale wirtschaftliche Zusammenar-          die „Zusammenarbeit“ und sprachen sogar
beit und einen gerechten Umgang der Natio-           von einem „großzügigen Frieden“, doch die Ar-
nen miteinander einschließende – Vision.             chive zeigen uns heute, dass sie in erster Linie
                                                     an die Förderung der eigenen nationalen In-
In späteren Erklärungen stellten die Staats-         teressen dachten. Sie hatten in einer Welt der
männer die vorgeschlagene Organisation der           Kriege gelebt, in der sich die Starken durch-
Vereinten Nationen dann als logische Fort-           setzen. Während sie moralische Grundsätze
setzung der siegreichen Allianz dar (für die         beschworen und von der friedlichen Beilegung

                                                 3
JAMES A. PAUL
                                                                  SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN

von Streitigkeiten redeten, klammerten sie sich        Die fünf Alliierten gingen davon aus, dass sie
deshalb zugleich weiter an das, was der frühe-         die neue Weltordnung einvernehmlich mana-
re US-Präsident Theodore Roosevelt den „big            gen würden. Privatim sprach Roosevelt von
stick“ genannt hatte, den „großen Knüppel“ für         den „fünf Polizisten“. Doch schon bald nach der
den „Ernstfall“.                                       UN-Gründung zeigten sich tiefe Risse in dieser
                                                       Fünferkonstellation. Der antikoloniale Block
Die in San Francisco beschlossene UN-Charta            (USA, Sowjetunion und China) ging die Kolo-
beginnt mit den berühmten Worten „We the               nialreiche (Großbritannien und Frankreich),
Peoples“, „Wir, die Völker“. In Wahrheit aber          deren Hegemonialpositionen er beseitigen zu
hatten Washington und seine Partner sich               können hoffte, hart an. Gleichzeitig rangen
auf den Konferenzen von Teheran (1943) und             die kapitalistischen Mächte des Westens (die
Dumbarton Oaks (1944) darauf verständigt,              USA, Großbritannien und Frankreich) in der
die Vereinten Nationen als ein Dauer-Konkla-           Hoffnung, die revolutionäre Flut eindämmen
ve aus Nationalstaaten anzulegen, als eine             zu können, mit den kommunistischen Ländern
Organisation also, deren Mitgliedstaaten ihre          (der Sowjetunion und – nach 1949 – China). Mit
Souveränität entschieden behaupten und die             einander überlagernden Spaltungen wie die-
„Völker“ auf Abstand halten würden. Und – be-          sen in seiner Spitze konnte der Sicherheitsrat
sonders wichtig – die neue Institution würde           kaum funktionieren. Die Funktionsstörung
einer Hand voll Schlüsselstaaten besondere             hatte allerdings auch eine gute Seite. Da die
Vorrechte und Verantwortlichkeiten übertra-            Oligarchen kein einheitliches politisches oder
gen, nämlich den Gründern selbst. Viele Struk-         ökonomisches Vorgehen oktroyieren konnten,
turen ähnelten denen des verblichenen Völker-          eröffneten sich schwächeren politischen Kräf-
bundes und legten die Vermutung nahe, hier             ten Spielräume und Wirkungschancen. Man-
entstehe keine neue Welt, sondern eine nur             ches, was in der UNO geschah, war neu, unvor-
leicht abgewandelte Version der alten.                 hergesehen und gelegentlich durchaus kreativ.

Die Großen Drei (die USA, Großbritannien               Schließlich handelte es sich um eine strukturell
und die Sowjetunion) und ihre beiden weniger           komplexe Organisation, zu der auch eine Gene-
gewichtigen Partner (China und Frankreich)             ralversammlung, allerdings ohne Vetorechte,
bestimmten die Ständige Mitgliedschaft im              gehörte, in der alle Mitgliedstaaten vertreten
Sicherheitsrat zum Schlüssel ihrer privilegier-        und gleichermaßen stimmberechtigt waren.
ten Stellung im UN-System. Diese Fünf würden           Alsbald entstanden zahlreiche Ausschüsse,
ständige Sitze einnehmen und gegen fast alle           Konferenzen, Kommissionen, Expertengrup-
Beschlüsse im Rat ihr Veto einlegen können so-         pen, Vertragsgremien und weiteres mehr. Die
wie zahlreiche weitere Vorteile in allen UN-Be-        nicht zu den Großen Fünf zählenden Staaten
reichen genießen. Kleinere Staaten kritisierten        (deren Anzahl mit der Dekolonisierung rasch
dieses oligarchische Arrangement auf der Kon-          zunahm) stellten sich der Herausforderung,
ferenz von San Francisco scharf. Nur überaus           die UN-Maschinerie für sich nutzbar zu ma-
zögernd und mit anhaltendem Missbehagen                chen. Fachorganisationen übernahmen wich-
ließen sie sich darauf ein. Viele kleinere Staa-       tige Programmaufgaben. Nichtregierungsor-
ten beunruhigte obendrein die Entscheidung,            ganisationen verschafften sich, wie von der
die neue Organisation in New York anzusiedeln          Charta vorgesehen, beratend Gehör. Volksbe-
statt an einem neutralen Ort wie Genf. Bedeu-          wegungen forderten und erlangten (gelegent-
tete das nicht eine zu große Nähe zu der vor-          lich) Mitsprache bei den institutionellen Arran-
herrschenden Macht, die so ihren Einfluss auf          gements. Ein großes Pressecorps fand sich ein
alle anderen noch weiter ausbauen könnte?              und sorgte dafür, dass Amtshandlungen auf

                                                   4
JAMES A. PAUL
                                                                    SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN

der UN-Ebene transparenter wurden als in der             gehalten und ihr in der Öffentlichkeit beträcht-
Diplomatie vormals üblich. Es hieß allgemein,            liches Ansehen verschafft. Trotz zahlreicher
die Vereinten Nationen hätten tatsächlich lan-           Rückschläge konnten die Vereinten Nationen
ge Zeit (und in gewissem Maße auch heute                 also ihre Legitimität, ihre Anziehungskraft und
noch) etwas von dem ausgestrahlt, das in „Wir,           sogar ihren Anspruch auf Vorrang in der Welt
die Völker“ aufscheint. Ihr vielschichtiger, semi-       internationaler Institutionen bewahren, ob-
demokratischer Charakter hat (bei aller Oligar-          wohl sie keine gerechte, friedliche und nach-
chie im Hintergrund) die Institution innovativ           haltige Welt geschaffen haben.

„Die UNO“ – Wer und was ist das wirklich?

Über die Vereinten Nationen wird oft so ge-              ereinnahmen. Geld, Streitkräfte, die Kontrolle
sprochen und geschrieben, als handele es sich            von Sanktionen, ja ein Großteil der entschei-
um eine autonome Körperschaft, die unter                 dungsrelevanten Informationen, auf die die
dem Kommando des Generalsekretärs von Bü-                Organisation sich stützt – all dies kommt von
rokratenseelen betrieben wird. Glaubt man ge-            Mitgliedstaaten. Andererseits verfügt die UNO
wissen Konservativen, ist das Sekretariat rie-           über eine ausgedehnte Legislativstruktur mit
sengroß – ein „aufgeblähter“ Oktopus, dessen             zahlreichen beschlussfassenden Gremien.
Tentakel in jeden Winkel dieser Welt reichen             Letztlich jedoch entscheiden die Mitglied-
und der keiner vernünftigen Rechenschafts-               staaten fast alles, und zwar in Verfahren, die
pflicht unterliegt. Doch diese Vorstellung führt         deutlich von der innerstaatlich üblichen Kräf-
in die Irre. Sie ignoriert (bewusst oder unbe-           teverteilung zwischen Legislative und Exekuti-
wusst) die tatsächliche Schwäche des Sekre-              ve abweichen. Und obwohl der Internationale
tariats und die ausschlaggebende Rolle, die              Gerichtshof in Den Haag Teil des UN-Systems
demgegenüber die Mitgliedstaaten – insbe-                ist, fehlt der Weltorganisation auch echte justi-
sondere natürlich die „P-5“, die fünf Ständigen          zielle Gewalt, die als rechtsprechendes Gegen-
Sicherheitsratsmächte – bei der Entwicklung              gewicht fungieren könnte. Das Sekretariat hat
und Umsetzung der UN-Vorhaben spielen.                   tatsächlich gewisse Entscheidungsbefugnisse,
Wir haben es also mit einem Mythos zu tun,               und die Spitzenbeamten können zweifellos
der es den Mitgliedstaaten erlaubt, „die UNO“            deren politischen Kurs beeinflussen, aber die
verantwortlich zu machen, wenn etwas schief              P-5 kontrollieren, wie die Schlüsselpositionen
geht oder wenn die von ihnen geprägte Politik            besetzt werden. Es sind also die Staaten, die
schädliche Folgen zeitigt. Dieser Mythos dient           die Organisation weitgehend beherrschen und
der Abschirmung gegen die Realität, denn er              sie – informell oder ganz offen – zwingen, ih-
erlaubt es den Meinungsmachern, munter von               ren nationalen Zielen und Interessen zu ent-
„der UNO“ daherzureden, statt aufmerksamer               sprechen.
(und ehrlicher) zur Kenntnis zu nehmen, wie
die Dinge tatsächlich laufen.                            Nun haben sich Staatenhierarchie und Welt-
                                                         wirtschaft im Lauf der Jahre erheblich ge-
Die Gründer gaben der UNO eine strukturell               wandelt. Die beiden 1945 besiegten Mächte,
schwache Exekutive, zahlenmäßig klein, fi-               Deutschland und Japan, nehmen wieder ein-
nanziell bescheiden ausgestattet und ohne                flussreiche Positionen ein. Großbritannien
eine Armee, Polizeikräfte oder reguläre Steu-            und Frankreich haben an Gewicht verloren.

                                                     5
JAMES A. PAUL
                                                                  SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN

Die Russische Föderation ist eine kleinere und         NGOs, Bürgerinitiativen und Graswurzelbewe-
stark veränderte Ausgabe der sowjetischen              gungen unterschiedlicher Art können UN-Ent-
Supermacht. „Emerging Powers“, Aufsteiger              scheidungen manchmal beeinflussen, allerdings
wie Indien und Brasilien, erheben sich und             nur ausnahmsweise und bei zweitrangigen The-
fordern die alte Garde heraus. Regionalor-             men. Auch Konzerne, Stiftungen und andere
ganisationen lassen ihre Muskeln spielen.              Akteure verfügen über eigene (und wachsende)
Technologie und global agierendes Kapital              Möglichkeiten politischer Einflussnahme, und
haben die Welt unerwartet dicht ineinander             Milliardäre oder andere Berühmtheiten wie Ted
verflochten (und zugleich neue Spaltungen              Turner, Bill Gates, Bono und Angelina Jolie hin-
bewirkt). Die UNO ist eingewoben in ein rapi-          terlassen gelegentlich ihre Spuren. Doch keine
de sich wandelndes Weltsystem, und ihre Tä-            Analyse führt letztlich daran vorbei, dass die
tigkeit unterliegt heute verstärkter Aufmerk-          Macht in den Händen der Staaten liegt, insbe-
samkeit, massiverer Druckausübung und grö-             sondere der großen und der permanenten Si-
ßeren Schwankungen im politischen Gewicht              cherheitsratsmitglieder. So sieht die Realität der
der Beteiligten.                                       UNO in ihrer gegenwärtigen Gestalt eben aus.

Sozial- und wirtschaftspolitische Ausrichtung

Die UN-Gründer waren überzeugt, dass Konflik-          ECOSOC
te und Kriege sozialen und ökonomischen Um-
ständen entspringen. Was die Organisation auf          Die Charta rief einen hochrangigen Wirt-
diesem Felde zustande brachte, ist deshalb be-         schafts- und Sozialrat ins Leben, als ein dem
sonders wichtig und aufschlussreich. In den Zei-       Sicherheitsrat zur Seite und diesem beina-
ten des Völkerbundes, besonders während der            he gleich gestelltes Gremium. Diesem neu
Weltwirtschaftskrise, hatten die Staaten welt-         geschaffenen ECOSOC wurde die Aufgabe
umspannende Wirtschaftsbeziehungen durch               übertragen, „von Stabilität und Wohlbefinden
hohe Barrieren beschränkt. Nach dem Krieg              geprägte Verhältnisse, die für friedliche und
änderten sie ihre Einstellung und setzten da-          freundschaftliche Beziehungen unter den Na-
rauf, dass robuste soziale und ökonomische             tionen erforderlich sind“, zu schaffen. Dieses
Kooperation eine Gesellschaftsordnung sta-             Gremium unterliegt nicht den Einschränkun-
bilisiert. Als die Vereinten Nationen Gestalt          gen, die die Charta im Hinblick auf Sonder- oder
annahmen, forderten die kleineren Staaten              Vetorechte bestimmter Mächte enthält, und ist
vor allem Schritte zur Umsetzung dessen, was           insofern seinem Wesen nach demokratischer
die Präambel ihrer Charta als Förderung des            und weniger der Gefahr ausgesetzt, durch die
„sozialen Fortschritt[s] und [eines] besseren          Oligarchie der Großen Fünf behindert zu wer-
Lebensstandard[s] in größerer Freiheit“ be-            den. Als der Wirtschafts- und Sozialrat seine
zeichnet. Die Öffentlichkeit erwartete nicht nur       Tätigkeit aufnahm, fand er breite Unterstüt-
Wiederaufbau und Wirtschaftswachstum, son-             zung bei vielen Mitgliedstaaten, die begeistert
dern auch öffentliche Gesundheitsversorgung,           mitarbeiteten. Das Gremium profitierte beson-
Arbeitsplätze, Bildung und Ausbildung sowie            ders vom Engagement der US-Vertreterin, Ele-
eine gerechtere Verteilung der Weltressourcen          anor Roosevelt, der Witwe des verstorbenen
und -reichtümer.                                       Präsidenten – einer äußerst dynamischen und

                                                   6
JAMES A. PAUL
                                                                     SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN

populären Persönlichkeit, die nie davor zurück-           pazifischen Raum und Lateinamerika auf (und
schreckte, sich über Washingtoner Instruktio-             später auch in zwei weiteren Regionen). He-
nen hinwegzusetzen. Es gab unterschiedliche               rausragende Ökonomen engagierten sich in
politische Strömungen im ECOSOC, aber zu                  den Stäben dieser Kommissionen und schufen
jener Zeit setzte fast jede(r) auf eine starke Rol-       konzeptionelle Grundlagen für eine Politik, die
le des Staates im Wirtschaftsgeschehen, und               regionale Zusammenarbeit und Eigenständig-
man hoffte, ein immer dichteres Netz weltweit             keit betonte. In der Lateinamerika-Kommis-
gültiger sozialer Schutzvorkehrungen schaffen             sion entwickelten Raúl Prebisch und Celso Fur-
zu können, um die Lebensumstände der Bür-                 tado ihre Kritik der damals beliebten „Moder-
gerinnen und Bürger zu verbessern.                        nisierungstheorie“. Dieser traten sie mit ihrer
                                                          „Dependenztheorie“ entgegen, die auf die öko-
Der Mandatierung durch die Charta gemäß                   nomischen Handicaps armer Länder verwies
richtete ECOSOC neue Regional- und Fachaus-               und für alternative Entwicklungsstrategien
schüsse ein. Der Rat kodifizierte NGO-Rechte              plädierte, darunter eine importsubstituieren-
und entwickelte einen neuartigen Menschen-                de Industrialisierung.
rechtsmechanismus. Eine besonders inno-
vative Einrichtung war die 1946 gegründete                Angesichts der sich herausbildenden Drit-
UN-Menschenrechtskommission. Sie konnte                   te-Welt-Solidarität setzten die UN-Regional-
die Menschenrechtslage in den Staaten unter-              kommissionen kraftvolle Zeichen dafür, dass
suchen und eine sich rapide ausbreitende Zone             die Organisation nicht nur in New York oder
internationalen Rechts und der Rechtsanwen-               in Genf, dem Zweitsitz, sondern überall in der
dung beaufsichtigen. Es wurde die – dann 1948             Welt verankert war. Die Kommissionen legten
von der Generalversammlung beschlossene                   die Fundamente regionaler Integration zur
– Allgemeine Erklärung der Menschenrech-                  Abwehr gegen hegemoniale Pressionen in der
te ausgehandelt, das Grundlagendokument                   Weltwirtschaft. In diesem Prozess entstanden
der internationalen Menschenrechtsgesetz-                 auch die Afrikanische Union und verschiedene
gebung. Aus diesen Aktivitäten auf UN-Ebene               supranationale Initiativen in Lateinamerika.
ging die moderne Menschenrechtsbewegung                   Zusammen mit regionalen Bewegungen und
hervor, auch wenn die westlichen Mächte                   Zusammenschlüssen trugen die Kommissio-
die Kodifizierung sozialer und ökonomischer               nen dazu bei, das Wesen der Staaten und ihr
Rechte nicht schätzten und ihr Bestes taten,              Verhältnis zum internationalen System zu ver-
sie herunterzuspielen und zu ignorieren. Die              ändern, was gemeinsamem Handeln in den
Vereinten Nationen stehen bis heute im Mit-               Vereinten Nationen mehr Nachdruck verlieh
telpunkt der Menschenrechtsgesetzgebung,                  und die Kräfteverhältnisse zwischen kleineren
der Verteidigung der Menschrechte und ent-                Staaten und Hegemonialmächten verschob.
sprechender politisch-strategischer Aktivitä-
ten.
                                                          Die Entkolonialisierung

Die Regionalkommissionen                                  Die UNO wurde zu einem der Hauptkampf-
                                                          schauplätze der weltweiten Selbstbestim-
Auf wirtschaftlichem Gebiet bildete ECO-                  mungs- und Unabhängigkeitsbewegung, die
SOC Regionalkommissionen zur Bestimmung                   dem Weltkrieg folgte. Der Prozess dauerte über
und Förderung der Entwicklungsprioritäten.                vier Jahrzehnte. Die Führer der Unabhängig-
Schon in einem frühen Stadium, 1947-48, nah-              keitsbewegungen betrachteten die Weltorgani-
men diese ihre Arbeit in Europa, im asiatisch-            sation als einen Ort, an dem sie Unterstützung

                                                      7
JAMES A. PAUL
                                                                  SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN

finden, diplomatische Anerkennung erlangen             zeichneten sich neue Vorherrschaftsformen
und auf ihrem Weg zu Staatlichkeit und Ent-            ab. Ungeachtet ihrer antikolonialen Einstellung
wicklung Hilfe mobilisieren konnten. Dies war          waren die Vereinigten Staaten und die Sow-
ein Höhepunkt in der Geschichte der Organisa-          jetunion darauf aus, auf je eigene Art Abhän-
tion und veranschaulicht ihre Fähigkeit, politi-       gigkeiten zu schaffen oder aufrechtzuerhal-
sche Energie von der Basis aufzunehmen und             ten. Die Sowjets übernahmen Osteuropa und
wesentlich dazu beizutragen, dass es zu posi-          erlangten darüber hinaus in einigen armen
tiven Veränderungen der Weltordnung kommt.             Ländern eine dominierende Stellung, während
Die alten Kolonialmächte waren, so sehr sie            die Vereinigten Staaten ihre weltweite Vor-
sich dagegen stemmten, einfach nicht mehr              herrschaft ausweiteten und die Kontrolle über
stark genug, ihre Imperien vor der Auflösung           „ihre“ Hemisphäre, über Lateinamerika und
zu bewahren. In dem Maße, in dem die Entkolo-          die Karibik, festigten. Die alten Kolonialmäch-
nialisierung voranschritt und neue Staaten ent-        te ihrerseits versuchten, ihre Positionen so gut
standen, wuchs die Anzahl der UN-Mitglieder            sie konnten zu halten und alte Wirtschaftsban-
erheblich an – von 51 im Jahre 1945 auf heute          de wieder zu festigen.
193 –, was den Umgangston in der Organisati-
on sowie die Stimmenverteilung in Generalver-          Revolutionen, Konterrevolutionen, Militärput-
sammlung, ECOSOC und all den Komitees und              sche und Bürgerkriege erschütterten die Welt-
Arbeitsgruppen dramatisch veränderte.                  ordnung – die Titanen rangen miteinander, wäh-
                                                       rend Bürgerinnen und Bürger ihren Anspruch
So entstand eine neue Front im politischen             auf eine bessere Zukunft geltend machten. Die
Weltgeschehen – in den Manövern und den                neuen Staaten waren schwach und interven-
Schlachten, die reiche und arme Länder ein-            tionsgefährdet. Politische Kräfteverhältnisse
ander im Ringen um wirtschaftliche und po-             änderten sich schnell – und dementsprechend
litische „Befreiung“ gleichermaßen lieferten.          konnte eine Bodenreform mal vorangetrieben,
1960 schufen die Öl produzierenden Länder              mal rückgängig gemacht, konnten staatszen-
ihre eigene Organisation, die OPEC, um den             trierte Volkswirtschaften oder marktwirt-
reichen Ölgesellschaften und Verbraucherlän-           schaftliche Verhältnisse geschaffen werden,
dern etwas entgegensetzen zu können. 1961              konnten politische Führungsfiguren aufstei-
schlossen sich führende „Dritte-Welt“-Länder           gen oder im Gefängnis landen. Diese Kämpfe
anlässlich eines Treffens in Belgrad zur Bewe-         gingen mit hitzigen Propagandaschlachten ein-
gung der Nichtpaktgebundenen (auch Block-              her, doch unter der Oberfläche spielten sich
freie genannt) zusammen, um ihre politischen           weltweite Auseinandersetzungen um Rohstof-
Vorstöße zu koordinieren. Und 1964 gründeten           fe, Anlagemöglichkeiten und geostrategische
viele der beteiligten Staaten die „Gruppe der          Dominanz ab. Richtungsdebatten um den UN-
77“ zur Vertretung ihrer gemeinsamen Wirt-             Kurs spiegelten diese Kämpfe wider. Vernünf-
schaftsinteressen. Diese Schritte hallten in der       tige Entwicklungsprioritäten und die Verbes-
UNO nach und veränderten Ton und Charak-               serung der sozialen Lage der Menschen nah-
ter der Debatten dort – in Richtung auf globale        men dabei unvermeidlich Schaden. Dennoch
Fairness bei der Verteilung von Reichtümern            erlahmte der Dritte Welt-Enthusiasmus nicht.
und Ressourcen.
                                                       Die Gründung einer UN-Kommission, die sich
Zunächst stand die Unabhängigkeit der Kolo-            mit den Transnationalen Konzernen (TNCs,
nialgebiete Großbritanniens, Frankreichs, der          auch „Multis“ genannt) befasst, im Jahre 1974
Niederlande, Belgiens, Spaniens und Portugals          entsprach dem veränderten politischen Klima
im Zentrum der Aktivitäten, aber schon bald            der Zeit. In der postkolonialen Welt war die

                                                   8
JAMES A. PAUL
                                                                  SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN

Überzeugung verbreitet, dass die gigantischen          Scientific and Cultural Organisation) und das
Konzerne des Westens, besonders die im Roh-            Kinderhilfswerk UNICEF (beide 1946 gegrün-
stoffgeschäft tätigen, für Unterdrückungsver-          det) sowie die Weltgesundheitsorganisation
hältnisse, „Unterentwicklung“, Korruption und          WHO (1948). In den Folgejahren schufen die
sogar für Militärputsche verantwortlich seien.         Mitgliedstaaten noch eine ganze Reihe weite-
(Der Putsch in Chile 1973 beschleunigte die            rer Agenturen, so dass sich deren Zahl heute
Vorgänge in New York.) Die Mitgliedstaaten be-         auf über 25 beläuft. Sie befassen sich unter
auftragten die Kommission, einen Verhaltens-           anderem mit Agrarinvestitionen, Atomenergie,
kodex („Code of Conduct“) für Transnationale           Meteorologie und Flüchtlingsfragen.
Konzerne auszuarbeiten, um diese auf verbind-
liche, international gültige Rechtsstandards zu        Alles in allem haben die Agenturen zur rechtli-
verpflichten. Wenig später wurde das „Centre           chen und operativen Stärkung des UN-Systems
on Transnational Corporations“ mit der Auf-            erheblich beigetragen. Wir halten ihre Existenz
gabe geschaffen, zur Unterstützung der Kom-            heute für selbstverständlich, und tatsächlich
missionsarbeit die Konzerne und ihre weltwirt-         ist das moderne Leben abhängig von ihnen.
schaftliche Rolle genauer zu untersuchen. Der          Sie koordinieren den Flugverkehr, schützen die
Erfolg ließ nicht auf sich warten. Die jüngeren        Welt vor Epidemien und gewährleisten das rei-
Staaten freuten sich, die TNCs, diese gefährli-        bungslose Funktionieren der internationalen
chen Kreaturen, künftig in Schach halten zu            Telekommunikation. Die FAO versorgt jährlich
können. Die Konzerne ihrerseits konnten der            80 Millionen Menschen in Notsituationen mit
Initiative dagegen verständlicherweise wenig           Lebensmitteln, und der in 150 Ländern tätige
abgewinnen und wiesen globale Regulierungs-            Bevölkerungsfonds der UNO (UNFPA) fungiert
maßnahmen glatt zurück. Entsprechend wuch-             als weltweit größte Finanzquelle für reproduk-
sen auf ihrer Seite Argwohn und Abneigung ge-          tionsmedizinische Dienstleistungen.
gen die UNO. Die 1973 gegründete, von großen
Konzernen finanzierte Heritage Foundation in           Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Na-
Washington setzte sich an die Spitze der Angrif-       tionen (UNDP), das 1965 als deren zentrales
fe auf die Vereinten Nationen und weitete die          entwicklungspolitisches Instrument geschaf-
Bemühungen, diese zu diskreditieren, aus.              fen wurde, hat zwar viel erreicht, weist aber
                                                       doch alles in allem eine eher gemischte Bilanz
                                                       auf. In den ersten 34 Jahren seines Bestehens
Die Agenturen der UNO                                  stand es unter der Leitung von Verwaltungs-
                                                       leuten, die von den USA bestimmt wurden,
Neben der UNO und mit ihr verbunden gibt es            und war lange Zeit von Finanzmitteln aus Wa-
viele Sonderagenturen, Fonds und Program-              shington abhängig. Wie vorauszusehen, stand
me, deren Tätigkeit sich meist auf soziale und         die Arbeit des UNDP im Schatten der Weltbank
wirtschaftliche Aufgaben konzentriert. Schon           (wie noch zu sehen sein wird). Um sich als die
Jahrzehnte früher hatten die Staaten einige            eigentliche UN-„Marke“ in Sachen Entwicklung
Institutionen dieser Art geschaffen, etwa den          behaupten zu können, hatte das UNDP lange
ehrwürdigen Weltpostverein (Universal Postal           zu kämpfen – unter enormem Konformitäts-
Union, 1874) oder die Internationale Arbeits-          druck und mit überbordenden Entwicklungs-
organisation, die ILO (1919). Andere wurden in         erfordernissen konfrontiert, denen es schlech-
der Nachkriegszeit wiederbelebt oder neu ge-           terdings nicht gerecht werden kann.
gründet. Hierzu gehören die Welternährungs-
organisation FAO (Food and Agriculture Orga-           Alle Agenturen sehen sich gezwungen, in ei-
nisation, 1945), die UNESCO (UN Educational,           nem schwierigen politischen Umfeld Balance-

                                                   9
JAMES A. PAUL
                                                                    SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN

akte zu vollführen. Sie müssen es den reichen           dringlicher wird. Tatsächlich stehen buchstäb-
Geberländern recht machen, Druck von Kon-               lich alle UN-Agenturen im Visier mächtiger
zernseite abwehren und bei alledem für ihre             Gegner. Konservative Medien leugnen die fi-
primären Auftraggeber da sein, die in der Re-           nanziellen und politischen Erfolge der Agentu-
gel arm und machtlos sind. Das angesehene               ren oder spielen sie herunter, was manchmal
Hilfswerk UNICEF sah sich Angriffen des Le-             zu unerfreulichen Abstrichen bei der Erfüllung
bensmittelriesen Nestlé ausgesetzt, weil es             ihrer Aufgaben führt.
die gefährlichen „Kinderformel“-Produkte des
Unternehmens kritisiert hatte. Und die US-Re-           Unabhängig voneinander finanziert und ge-
gierung beanstandete UNICEF-Beschwerden                 führt bilden die Agenturen ein „balkanisier-
über die Härte der Iraksanktionen (1990-2003),          tes“ System, untereinander unzureichend ab-
die nach Berechnungen der Agentur eine hal-             gestimmt und auch mit dem UN-Sekretariat
be Million Kinder das Leben kosteten. Obwohl            nicht sonderlich gut verbunden. Revierkämpfe
seit ihrer Gründung bis heute jeder Chef dieser         zwischen ihnen sind alltäglich. Zwar versucht
Agentur von den USA nominiert wurde, sind               der Generalsekretär diese Organisationen, so
derartige Streitigkeiten kennzeichnend für die          eifersüchtig sie sich voneinander abgrenzen, zu
Mühen der UNICEF-Arbeit.                                koordinieren, jedoch mit nur mäßigem Erfolg.
                                                        Das System hätte möglicherweise besser funk-
Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO                tioniert, wäre seine Arbeit innerhalb einer ein-
bekam, obwohl sie eine lebenswichtige Rol-              heitlich organisierten UNO zusammengefasst
le bei der Förderung des Gesundheitswesens              und gemeinschaftlich betrieben worden, doch
und der Aufrechterhaltung einer weltweiten              mächtige Mitgliedstaaten wollten nichts der-
Gesundheitssicherung spielt, bei diesen Kon-            gleichen. Nichtsdestotrotz konnten die Agentu-
troversen ihren Teil ab. Die Tabakkonzerne ha-          ren sich Respekt, Legitimität, Expertise und (bis
ben gegen ihre Kampagnen gegen das Rauchen              vor kurzem) beträchtliche finanzielle Unterstüt-
enormen Widerstand mobilisiert, und Pharma-             zung verschaffen. Weil sie eher technisch und
konzerne kritisieren die WHO-Bemühungen,                weniger politisch erscheinen, gelang es ihnen,
Arzneimittel billiger und breiter zugänglich zu         sich ein wenig unabhängiger von mitgliedstaat-
machen. Das „Wall Street Journal“ klagte ein-           lichen Pressionen zu machen. Derzeit allerdings
mal, die WHO verfechte „jede Menge neuer                fällt es vielen Agenturen schwer, ihre Ziele zu er-
und überflüssiger Regulierungsmaßnahmen“,               reichen. Die Staaten haben die finanzielle Aus-
und behauptete, die Agentur „untergrabe die             stattung der UN-Agenturen reduziert, insbe-
herkömmlichen Moralvorstellungen sowohl                 sondere für zentrale „operative“ Aufgaben, und
des Ostens wie des Westens“ und rechtferti-             unterdessen spitzen die sozialen Krisen sich zu.
ge „die nicht enden wollende Ausweitung des
Sozialstaats.“
                                                        Die Bretton-Woods-Institutionen
Das UN-Umweltprogramm von 1972 hatte mit
besonders starkem Widerstand seitens der                Die Sozial- und Wirtschaftsprogramme der
größten Umweltverschmutzer und Treibhaus-               Vereinten Nationen kollidieren immer wieder
gasemittenten der Welt zu kämpfen, aus Wa-              mit den mächtigen Bretton-Woods-Instituti-
shington ebenso wie aus Moskau und Peking.              onen (BWI). Auf einer Konferenz in Bretton
So blieb es eine der Institutionen, die man             Woods (New Hampshire) schufen die Verei-
am liebsten kaltstellt, finanziell kurz hält und        nigten Staaten und Großbritannien 1944 zwei
mit viel zu wenig Durchschlagkraft ausstattet,          neue Finanzinstitutionen. Die eine (die wir jetzt
obwohl ihre Arbeit immer notwendiger und                als Weltbank kennen) sollte für Wiederaufbau

                                                   10
JAMES A. PAUL
                                                                   SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN

und Entwicklungsfinanzierung sorgen, die an-            Um Not leidende Darlehen eintreiben zu kön-
dere (der International Monetary Fund alias             nen, banden die BWIs ihre Kreditvergabe an
IMF oder IWF) für Währungsstabilität. Heraus-           harte Bedingungen, die den Wertvorstellungen
gekommen ist dabei eine tief gespaltene multi-          der Wall Street oder der Londoner City entspra-
laterale Struktur, in der die UNO eine entschie-        chen. Die Schuldnerstaaten hätten es vielleicht
den benachteiligte Position einnimmt.                   besser wissen und aus solchen Quellen kein
                                                        Geld nehmen sollen, aber sie waren die Gefan-
Die BWIs sitzen in Washington, und die reichen          genen ihrer Träume vom künftigen Wohlstand
Gründerstaaten haben in ihnen das Sagen, wo-            des Landes, von gigantischen Staudämmen,
bei die USA eine besonders hervorstechende              Kraftwerken, Autobahnen und Flughäfen. Es
Rolle spielen. Zwar sind sowohl die Bank als            mögen sie auch die üppigen Profite verführt
auch der IWF formell Bestandteile des UN-Sys-           haben, die lokale Eliten von dem Washingtoner
tems, aber diese Verbindung besteht nur auf             Manna abschöpfen konnten. Schließlich wur-
dem Papier. Die BWIs haben sich in ihrer Praxis         de nie irgendwer zur Rechenschaft gezogen.
stets wenig um die UNO oder um eine Abstim-             Stattdessen floss, neben den Zinszahlungen,
mung mit deren Programmen gekümmert. Als                der Champagner in Strömen. So begannen die
finanziell prächtig ausgestattete Banken konn-          politische Korrosion der postkolonialen Welt,
ten die BWIs massenhaft Kredite vergeben,               das Ende des antikolonialen Idealismus und
um so ihren Einfluss geltend zu machen und              der Ruin der neuen Staaten.
zugleich einen mächtigen Zustrom an Zinsein-
nahmen (von verarmten Schuldnerstaaten) in              Die Politik der Bretton-Woods-Institutionen
die eigenen Kassen zu leiten.                           unterschied sich immer deutlicher von Geist
                                                        und Zielen der UN-Wirtschafts- und Sozialpro-
Von den Reichen geleitet, während die Bud-              gramme, ja sie lief diesen offen zuwider. Nach
getmittel letztlich großenteils von den Armen           1971, als die USA die Goldbindung des Dollars
aufgebracht werden, steht das BWI-System                lösten und frei floatende Wechselkurse pro-
geradezu sinnbildlich für die Ungerechtigkeit           pagierten, verbreiterte sich diese Kluft weiter.
der globalen Hierarchie. Viele Untersuchungen           Die Währungen lösten sich aus ihrer Veranke-
haben die beiden Banken und ihre Prioritäten            rung und die monetäre Instabilität wuchs, was
in Frage gestellt. Auch aus dem Inneren des             die BWIs nur zu noch strengeren Auflagen und
Systems wurden Zweifel laut. So deckte die              Strafmaßnahmen veranlasste. Sie oktroyier-
1968 von der Weltbank bestellte Pearson-Kom-            ten drückende „Strukturanpassungen“ und
mission schwerwiegende Mängel auf. Im Laufe             obligatorische Sparmaßnahmen, Einschnitte
der Jahre haben auch NGO-Untersuchungen                 in Sozialprogramme, die Privatisierung staat-
immer wieder problematische Prioritäten der             licher Dienstleistungen, Steuersenkungen, die
Kreditvergabe, unvertretbaren Luxus für das             Abschaffung von Kapitalverkehrskontrollen
Personal und einen Mangel an sozialem Weit-             und weiteres mehr. Man begann von „Neoli-
blick angeprangert. In den 1960er Jahren und            beralismus“ oder (bewusst ironisch) vom „Wa-
auch später, als die unabhängig gewordenen              shington Consensus“ zu sprechen. Diese Po-
Staaten für große Infrastrukturprojekte oder            litik, die viele Länder ökonomisch radikal ver-
zur Stabilisierung ihrer Landeswährung Kre-             änderte, bewirkte häufig zunehmende Armut
dite aufnahmen, gerieten sie unter die Fuchtel          und Ungleichheit (während es andererseits
dieser beiden Giganten. Manchmal protestier-            den Eliten gut ging; sie parkten ihr Geld in
ten die betroffenen Staaten lautstark, doch sie         Offshore-Banken und kauften Villen an der
steckten nun einmal in der Schuldenfalle und            Riviera). Die BWIs, mitverantwortlich für diese
ihre Belastung wuchs und wuchs.                         Entwicklung, genossen die volle Unterstützung

                                                   11
JAMES A. PAUL
                                                                  SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN

der reichen Shareholder-Staaten, die befriedigt        1994 heuerte die Weltbank eine PR-Größe na-
zuschauten. Auch die Umweltzerstörung, ein             mens Mark Malloch Brown für die Aufgabe an,
weiteres Ergebnis der Vergabepraxis und der            mit sanfter Stimme ihre Geschichte zu erzäh-
wachstumsfixierten Geisteshaltung der Bret-            len. Da wurden ganzseitige Zeitungsanzeigen
ton-Woods-Institutionen, beschleunigte sich.           geschaltet, es wurde viel von „stakeholders“
                                                       gesprochen und eifrig um NGO-Kritiker ge-
An der Wende zu den 1980er Jahren vollzo-              worben. Der politstrategische „Consensus“ be-
gen die einflussreichsten Staaten eine scharfe         währte sich.
Rechtswende. In Großbritannien wurde Marga-
ret Thatcher Premierministerin (1979-90) und           Unter dem Einfluss von Malloch Brown begann
in den USA Ronald Reagan Präsident (1981-88).          man in der Weltbank mehr über „Armutsbe-
Diese Politiker brachen mit der zuvor betrie-          kämpfung“, „soziale Netze“ und „nachhaltige
benen Konsenspolitik und verfochten einen              Entwicklung“ zu reden, um den Kritikern zu be-
hochgradig ideologischen Konservatismus. Sie           gegnen. In den 2000er Jahren führte die Bank
setzten sich entschieden für marktwirtschaft-          bei der Kreditvergabe Sozial- und Umweltkrite-
lich organisierte Formen der Entwicklung ein,          rien ein und machte sich ganz offiziell die Frau-
wandten sich ebenso entschieden gegen Um-              enförderung zu eigen. Einige Optimisten sahen
verteilungsmaßnahmen und verunglimpften                darin positive Signale. Die Praxis belegte jedoch,
den Sozialstaat als „nanny state“ oder Bevor-          dass die BWIs in Sachen PR besser waren als in
mundungsstaat. Selbst im globalen Süden fan-           Sachen soziale oder Umweltverantwortung. Sie
den die neoliberalen Doktrinen zunehmend               fuhren nämlich unbekümmert fort, Austerität,
Anhänger bei den neuen Mittelschichten und             ökonomische Orthodoxie und „Wachstum“ auf
Bessergestellten. Auf die Vereinten Nationen           Kosten sozialer und ökologischer Standards
und den ECOSOC wirkte sich der neue „Kon-              zu fördern. Malloch Brown, der anerkannte
sens“ verheerend aus. Ende der 1980er Jahre            Image-Zauberer, wurde 1999 zum Chef des
war klar, dass der ECOSOC nicht länger damit           entwicklungspolitischen UN-Flaggschiffs, des
rechnen konnte, auf der weltwirtschaftlichen           UNDP, nominiert. 2006 stieg er dann, mit kräf-
Bühne eine Hauptrolle zu spielen oder echte            tigem Rückenwind aus Washington, zum stell-
Fortschritte in Richtung auf eine global aner-         vertretenden UN-Generalsekretär auf.
kannte gemeinschaftliche Sozialwirtschaft zu
erzielen.                                              Mitte der 2000er Jahre tauchte im sozial- und
                                                       wirtschaftspolitischen Vokabular der Verein-
Die 1990er Jahre brachten der UNO noch mehr            ten Nationen ein neues Stichwort auf: „system-
politischen Wandel in konservative Richtung.           weite Kohärenz“. Anfangs sah das nach einem
Die nordeuropäischen Staaten, die bis dato             unverfänglichen Versuch aus, UN-Vorhaben
daran festgehalten hatten, fortschrittliche            besser zu koordinieren, doch es entpuppte
UN-Vorstöße sowohl auf politischem wie auf             sich als sorgfältig konzipiertes, vielleicht von
wirtschaftlichem Gebiet zu unterstützen (be-           Malloch Brown erdachtes Schlüsselwort zur
sonders Schweden, Norwegen, Dänemark                   Anpassung an die BWI-Strategien. Einige Kriti-
und die Niederlande), kamen unter wechseln-            ker fragten, was eine Einheitsdoktrin in einer
den Regierungen von egalitärer Sozialpolitik           komplexen und nur unvollständig begriffenen
allmählich ab. Die BWIs hielten ungeachtet             Welt nützen solle. Doch es ging wirklich um
diverser Skandale und peinlicher politischer           die forcierte Durchsetzung der ökonomischen
Misserfolge an ihrem neoliberalen Kurs eisern          Orthodoxie und nicht etwa um eine effekti-
fest und bauten zugleich ihre PR-Abteilungen           vere oder humanere Sozialpolitik. So wie der
kräftig aus.                                           Washington Consensus in Wahrheit durchaus

                                                  12
JAMES A. PAUL
                                                                    SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN

kein Konsens war, so besaß die UN-„Coheren-              Bestrebungen nach globaler Verteilungsge-
ce“ beklagenswert wenig Kohärenz. PR-Manö-               rechtigkeit ins Hintertreffen gerieten. Auf der
ver verstellten den Blick auf die Erfordernisse          Bretton-Woods-Konferenz hatten die Vereinig-
menschlicher Entwicklung. Die UN-Agenturen               ten Staaten, Großbritannien und ihre Partner
empfanden natürlich den neoliberalen Druck               vereinbart, eine dritte Institution zu schaffen
nur zu schmerzlich. Ihrer Auffassung nach                – die Welthandelsorganisation (International
schadeten die BWI-Doktrinen ihren Program-               Trade Organization, ITO), die für stabile Terms
men und gefährdeten das Wohl von Kindern,                of Trade und ausgewogene Wirtschaftsbezie-
gesicherte Ernährung, Arbeitsbedingungen                 hungen zwischen den Staaten sorgen sollte.
und Flüchtlinge. Wie sollten die Agenturen in            Obwohl eine ITO-Charta entworfen wurde,
„Kohärenz“ mit derartigen Strategien arbeiten            hat man diese doch niemals umgesetzt. Wa-
können? Die Analysen zeigten über zwei Jahr-             shington und London störte die Vorstellung,
zehnte hinweg, dass die BWIs soziale Krisen              die Kontrolle über das Welthandelssystem mit
bewirkten und ganze Länder ernstlich destabi-            anderen teilen zu sollen. Wirtschaftliche Über-
lisierten. Die Tätigkeit der BWIs führte zu uner-        macht verdrängte die „Kooperation“. Statt
füllbaren Anforderungen an die Notprogram-               der ITO organisierten Washington und seine
me der UN-Agenturen und lud ihnen kurzfris-              Partner schließlich eine Reihe multinationa-
tige Aufgaben auf, die sie nicht länger bewäl-           ler Verhandlungs-„Runden“ im Rahmen eines
tigen konnten. Langfristig angelegte Program-            General Agreement on Tariffs and Trade oder
me einer sozial verantwortlichen Entwicklung             GATT genannten Verfahrens. GATT erreich-
erschienen damit weniger möglich denn je.                te tatsächlich eine Reduzierung von Zöllen
                                                         und Handelsbeschränkungen, allerdings auf
Zum Glück hat seitdem eine Erosion der BWI-He-           höchst selektiver Grundlage. Die reichen Län-
gemonie eingesetzt. Die armen Länder nahmen              der dominierten von Anfang an die Rahmenbe-
weniger Kredite auf und achteten darauf, dass            dingungen und stellten sicher, dass diese ihre
weniger Auflagen mit diesen verbunden wa-                Interessen begünstigten. Die Terms of Trade
ren. Zudem haben die Kreditnehmer eine bes-              für die „Entwicklungsländer“ verschlechterten
sere Vertretung in den BWI-Leitungsgremien               sich mit fallenden Rohstoffpreisen stetig, und
gefordert (aber kaum erreicht). Im Jahre 2015            doch bestanden die BWIs auf exportgestütz-
startete China zwei alternative Kreditinstituti-         tem Wachstum. Die Exporterlöse stagnierten,
onen – die Neue Entwicklungsbank (NEB) und               während die Importe von Futter- und Lebens-
die Asiatische Infrastrukturentwicklungsbank             mitteln, Medikamenten und Fahrzeugen an-
(AIIB). Diese Institutionen stellen eine direkte         wuchsen.
Herausforderung der Weltbank dar und füh-
ren zu einer gesünderen Diversität weltweit.             Bei den ECOSOC-Konferenzen beklagten sich
Im Ergebnis könnten sich den Vereinten Natio-            Redner aus armen Ländern bitter darüber, dass
nen, sofern dieser Trend anhält, neue Chancen            die Reichen sich protektionistisch verhielten,
und erweiterte Handlungsspielräume eröffnen.             während man gleichzeitig den Armen Freihan-
Doch hat die Organisation, selbst unter optima-          delsbedingungen aufzwang. Der Agrarhandel
len Bedingungen, noch sehr viel nachzuholen.             erregte ihren besonderen Zorn. Je weiter die
                                                         Entkolonialisierung voranschritt, desto erbit-
                                                         terter rang man in den GATT-Verhandlungen
Welthandel                                               miteinander. 1965 schuf dann die UN-General-
                                                         versammlung ein neues Organ, die bereits er-
Auch Handelsfragen haben den Vereinten                   wähnte UNCTAD (UN Conference on Trade and
Nationen schwer zu schaffen gemacht, wobei               Development), um die Handelsgespräche in das

                                                    13
JAMES A. PAUL
                                                                  SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN

UN-System einzubinden und die Stimme der               Eigentumsrechte“ wachen, Strafmaßnahmen
Entwicklungsländer zu verstärken. Während              gegen Handelshemmnisse verhängen und den
der beiden darauffolgenden Jahrzehnte spielte          Warenstrom in Gang halten konnte. Allerdings
die UNCTAD tatsächlich eine viel beachtete Rol-        hat der Welthandel sich im Laufe der Jahre dra-
le bei allen Bemühungen, ein ausgewogeneres            matisch gewandelt, und heute gehören zu den
und faireres Welthandelssystem zu schaffen.            großen Handelsmächten auch einige vormals
                                                       arme Länder – China, Brasilien, Indien, Südaf-
In den 1970er und 1980er Jahren konzentrier-           rika und andere „Schwellenländer“, in denen
ten sich in der UNCTAD die Diskussionen über           zwar weiterhin verbreitete Armut herrscht,
eine „Neue Weltwirtschaftsordnung“ (New                aber Reichtum akkumuliert wird. Das er-
International Economic Order oder NIEO), ein           schwert die Entscheidungsfindung in der WTO
Dritte Welt-Konzept, das Bretton Woods durch           und schränkt die Organisation zusehends in
neue Regeln für Handel und Entwicklungs-               ihrer Bewegungsfähigkeit ein.
finanzierung ablösen sollte. Die NIEO-Verfech-
ter erhofften eine Verbesserung der Terms of           Das im Rahmen von GATT und WTO geschaf-
Trade durch den Zusammenschluss von Roh-               fene System ist ungerecht. In der „Dritten
stoffproduzenten nach dem Beispiel der OPEC            Welt“ sind Bauern durch subventionierte Ge-
und erstrebten Handelsvergünstigungen, die             treideimporte aus den reichen Exportländern
ihren Exporten besseren Zugang zu den Märk-            ruiniert worden. Gewaltige Überschüsse und
ten der reichen Länder verschaffen sollten. Mit        Defizite („Ungleichgewichte“ genannt) bewir-
der 1981 von der UNO in Cancún organisierten           ken, dass das Welthandelssystem permanent
Nord-Süd-Konferenz erreichte diese Bewe-               in der Krise steckt. Die Terms of Trade unter-
gung ihren Höhe- und Wendepunkt. US-Prä-               graben weiterhin die schwächsten Volkswirt-
sident Reagan trat dort auf und versicherte,           schaften. Handelskrisen, die durch Austeritäts-
dass er jegliche Umverteilungsinitiative oder          programme noch verschärft wurden und wer-
-bewegung strikt ablehne. Danach kam es zu             den, haben Millionen von Menschen erfasst
Spaltungen innerhalb der G-77, der westliche           und verarmen lassen, selbst in vergleichsweise
Widerstand nahm zu und die Initiative verlor           wohlhabenden Ländern wie Spanien, Irland,
an Zugkraft. Auch die UNCTAD selbst ließ an            Argentinien und Griechenland. Unterdessen
Durchschlagskraft nach, ist aber eine wertvol-         haben transnationale Konzerne, Handelsket-
le Quelle weltwirtschaftlicher Analysen geblie-        ten und Finanzinstitute sich einen nie da gewe-
ben und weiterhin wichtige Anlaufstelle für            senen Anteil am Reichtum der Welt gesichert.
arme Staaten.                                          Straflos entziehen sie sich Steuerpflichten und
                                                       Regulierungsmaßnahmen. Für Investoren war
Angesichts der heftigen Handelskontroversen            es die große Sause.
erstaunt es, dass die Staaten es 1995 schaff-
ten, ein neues permanent tätiges Weltgremi-            Wen wundert es da, dass die WTO in der Öf-
um zu schaffen, nämlich die Welthandelsor-             fentlichkeit keinen guten Ruf genießt! Ihre Kon-
ganisation WTO (World Trade Organisation).             ferenzen haben massenhafte Proteste auf sich
Diese wurde außerhalb des UN-Systems an-               gezogen, besonders denkwürdig die riesigen
gesiedelt, damit die reichen Länder sie unge-          Demonstrationen in Seattle 1999 und in Hong-
hindert dirigieren können. Washington und die          kong 2005. Heute ist das Welthandelssystem
anderen, die eifersüchtig über ihre Souveräni-         dysfunktionaler und krisenanfälliger denn je.
tätsrechte wachen, wenn es um die UNO geht,            Die reichen Länder beharren darauf, dass Han-
verliehen der WTO supranationale Befugnisse,           delsfragen nicht auf die Agenda der UNO ge-
damit diese über Patente und andere „geistige          hören, und sind neuerdings auch zur WTO auf

                                                  14
Sie können auch lesen