"WIR, DIE VÖLKER"? Die Vereinten Nationen im siebzigsten Jahr ihres Bestehens Von James A. Paul - Rosa Luxemburg Stiftung
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“WIR, DIE VÖLKER”? Die Vereinten Nationen im siebzigsten Jahr ihres ROSA Bestehens LUXEMBURG STIFTUNG NEW YORK OFFICE Von James A. Paul
Inhaltsverzeichnis Fehlerhaft, und doch unverzichtbar. Von den Herausgebern......................................................1 „Wir, die Völker“? Die Vereinten Nationen im siebzigsten Jahr ihres Bestehens...............................................2 Von James A. Paul Die Ursprünge der Vereinten Nationen....................................................................................3 „Die UNO“ – Wer und was ist das wirklich?..................................................................................5 Sozial- und wirtschaftspolitische Ausrichtung...........................................................................6 ECOSOC..........................................................................................................................6 Die Regionalkommissionen..........................................................................................7 Die Entkolonialisierung.................................................................................................7 Die Agenturen der UNO...............................................................................................9 Die Bretton-Woods-Institutionen..............................................................................10 Welthandel...................................................................................................................13 Entwicklungsfinanzierung.............................................................................15 Forschung und Analyse...............................................................................................16 Die Weltkonferenzen...................................................................................................18 Entwicklungsziele................................................................................................19 Konzerne und Superreiche........................................................................................21 NGOs und Citizen Advocacy........................................................................................24 UN-Reform..........................................................................................................................26 Zusammenfassung....................................................................................................................28 Veröffentlicht von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Büro New York, Oktober 2015 Herausgeber: Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg Adresse: 275 Madison Avenue, Suite 2114, New York, NY 10016 E-Mail: info@rosalux-nyc.org; Telefon: +1 (917) 409-1040 Gefördert mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist eine international tätige, progressive Non-Profit-Organisation für politische Bildung. In Zusammenarbeit mit vielen Organisationen rund um den Globus arbeitet sie für demokratische und soziale Partizipation, die Ermächtigung von benachteiligten Gruppen, Alternativen zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und für friedliche Konfliktlösungen. Das New Yorker Büro erfüllt zwei Hauptaufgaben: sich mit Themen der Vereinten Nationen zu befassen und mit nordamerikanischen Linken in Hochschulen, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und der Politik zusammenzuarbeiten. ww w .r osal u x - n yc.or g
Fehlerhaft, und doch unverzichtbar Vor siebzig Jahren, am 24. Oktober 1945, trat die Charta der Vereinten Nationen in Kraft. Deren Ver- fasserinnen und Verfasser, imposant als „Wir, die Völker der Vereinten Nationen“ auftretend, verkün- deten ihre Entschlossenheit „künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren“, den „Glauben an universale Menschenrechte zu stärken“, Gerechtigkeit und „die Achtung von internati- onalen Verträgen und den Grundsätzen des Völkerrechts“ voranzubringen und „sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern“. Dieser Jahrestag ist ein angemessener Zeitpunkt dafür, genauer zu betrachten, wie gut die UNO ih- ren Gründungsidealen gerecht geworden ist und mit welchem Erfolg die internationale Organisation für eine friedlichere, gerechtere, nachhaltigere und demokratischere Welt eingetreten ist. In dieser Studie zeichnet James A. Paul, Direktor des Global Policy Forums von 1993 bis 2012, die Entwicklung der Vereinten Nationen nach. Er ist einer der Hauptakteure der NGO-Community der UNO und Mitglied in zahlreichen Ausschüssen und Arbeitsgruppen. Zudem hat er unzählige Artikel, Berichte, Positionspapiere und Bücher zu internationalen Beziehungen und globaler Politik geschrie- ben. Dank seiner jahrzehntelangen Erfahrungen als Befürworter und Beobachter der UNO gelingt Paul die Verbindung von Insider-Wissen mit der angemessenen kritischen Distanz und lässt uns die UNO als fehlerhafte, und doch unverzichtbare Institution begreifen. Basierend auf einem fundierten Verständnis davon, was die Vereinten Nationen sind und wie sie wirklich funktionieren, gibt diese Studie einen kritischen Überblick über ihre Sozial- und Wirtschafts- politik. Sie untersucht die Rolle der UN im Kontext der Entkolonialisierung, der Ausgestaltung des Welthandels, der Entwicklungspolitik, der Durchführung von Forschung und Analyse, und der Ein- berufung wichtiger Weltkonferenzen. Die einflussreichsten Mitgliedstaaten haben in der Geschichte der Vereinten Nationen stets eine dominante Rolle eingenommen. In den letzten Jahren haben au- ßerdem Großunternehmen und Superreiche an Einfluss gewonnen und dafür gesorgt, dass ihre An- liegen und Projekte gefördert werden, während verantwortungsvolle UN-Organisationen mit immer weniger Mitteln auskommen müssen. Trotz ihrer Schwächen bewahrt sich die UNO eine große öffentliche Legitimation und ist das einzige multilaterale Forum dafür, die unzähligen, unlösbar erscheinenden, regionalen und globalen Krisen und Konflikte in Angriff zu nehmen. Paul schließt seine Studie deshalb mit einem Aufruf zur Erneue- rung dieser Institution. Nur eine ausreichend finanzierte, demokratisierte und wiederbelebte UNO kann eine globale Mobilisierung für soziale, ökonomische und ökologische Gerechtigkeit erreichen. Die Stärke, die für eine solche Transformation notwendig ist, wird aber nicht von den Regierungen dieser Welt aufgebracht werden. Vielmehr müssen die Bürger ihrer Mitgliedstaaten – „wir, die Völ- ker“ – zusammenarbeiten, um die Vereinten Nationen als erfolgreiche Kraft für das Gemeinwohl zurückzuerobern. Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg Leiter des Büros New York, Oktober 2015 1
„Wir, die Völker“? Die Vereinten Nationen im siebzigsten Jahr ihres Bestehens Von James A. Paul Sieben Jahrzehnte sind seit der Gründung der organisation Leistungsschwäche, ja Erfolg- Vereinten Nationen vergangen. Da liegt es losigkeit vor. Sie sei eine Quasselbude, in der nahe, sich anlässlich des Jubiläums über die einfach zu viel geredet würde – als wäre Mit- Organisation und ihre Leistungsbilanz Gedan- einanderreden nicht das Wesen der Diplo- ken zu machen. Stoff gibt es genug – viele Er- matie, die Grundlage der Demokratie und eignisse, Debatten, Krisen und UN-Konferen- wichtiges Mittel, Interessengegensätze auszu- zen zur globalen Entwicklung. Was positiv ins gleichen. Libertäre sehen in der UNO oft den Gewicht fällt, ist, dass in diesen siebzig Jahren drohenden Megastaat, der die Freiheit der kein neuer Weltkrieg ausbrach und dass die Einzelnen gefährdet und knappe Ressourcen Atomwaffen in ihren Silos blieben. Auch hat die vergeudet. Linksgerichtete Menschenrecht- weltweite Zusammenarbeit auf vielen Feldern ler beklagen, die Weltorganisation sei viel zu zugenommen. Andererseits gelang es nicht, schwach und unterfinanziert, um die großen stabilen Frieden und allgemeine Prosperität zu Probleme unserer Zeit bewältigen zu kön- schaffen. Ganz und gar nicht! Nationale Riva- nen. Doch ungeachtet dieses lautstarken Kri- litäten und fundamentale Wirtschaftsproble- tikerchores weisen Meinungsumfragen eine me zerreißen die Welt. Heute scheitern ganze beträchtliche Unterstützung der Öffentlichkeit Staaten, lokale Konflikte lodern, und die Zahl für die UNO aus – höhere Zustimmungsraten derer, die aus ihrer Heimat fliehen, erreicht als für die meisten Regierungen der Mitglied- immer neue Rekorde. Eine verheerende Klima- staaten. Es gibt also nur wenige Institutionen krise bedroht alles Leben auf diesem Planeten. mit einem derart komplexen und umkämpften Trotz wichtiger Errungenschaften, die für die Profil; und noch weniger, die bei der Kommen- UNO sprechen, gingen die großen Hoffnungen tatorenzunft auf so viel Häme stoßen, zugleich von 1945 nicht in Erfüllung. Wie konnte es dazu aber im öffentlichen Bewusstsein so viel Hoff- kommen? Und wie soll es jetzt weitergehen? nung erwecken. Es ist leicht, der Institution als solcher die Schuld Das Jubiläum liefert, wie sich zeigt, viel Stoff zuzuweisen – statt den Mitgliedstaaten, die sie zum Nachdenken. Machen wir uns klar, wie die formten und ihre Politik bestimmen. Der stärks- UNO entstand, wie sie sich entwickelt hat und te Widerstand gegen die UNO kam stets von was sie bisher daran hinderte, ihr Potenzial an der politischen Rechten, mit US-Senator Jesse Global Governance zu verwirklichen. Warum Helms als langjähriger Leitfigur. Rechtsgerich- haben die Staaten – besonders die Großmäch- tete Regierungen, lautstarke Nationalisten und te – ihr keine Gestaltungsmacht eingeräumt, Radikallibertäre sind bis heute die schärfsten sondern lieber auf eigene Faust gehandelt und Widersacher der Weltorganisation. verfolgt, was sie für ihre „Interessen“ halten? Manchmal drohen führende Politiker damit, Kritik an der UNO ist allerdings aus allen poli- diese „bedeutungslose“ Institution zu verlas- tischen Lagern zu hören. Viele Zentristen (alias sen, doch sie kommen immer wieder zurück, Gemäßigte), aber auch Linke werfen der Welt- weil auch sie die UNO brauchen: als unverzicht- 2
JAMES A. PAUL SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN bares Instrument zur Bewältigung hoffnungs- dass es auch weiterhin die Großmächte sein los erscheinender Krisen, zur Aushandlung werden, die den Gang der Dinge bestimmen. schwieriger Lösungen und zur Erarbeitung um- Unsere Untersuchung jedoch lässt sich von fassender Rahmenabkommen. hoffnungsvolleren Fragestellungen leiten: Ist es möglich, die Stärken der Vereinten Natio- Im Folgenden werden wir der Frage nachge- nen, ihren inklusiven Charakter und ihre un- hen, was die Weltorganisation zu leisten ver- bestreitbaren Errungenschaften zu nutzen, mochte und welche Möglichkeiten sich ihr um eine bewohnbarere Welt zu schaffen? Liegt künftig eröffnen könnten – dieser Institution, eine „Völker-UNO“ im Bereich des Möglichen? die so viel Leidenschaft erweckt hat, so viel Wenn ja, welche Lehren sind in dieser Hinsicht Enttäuschung, aber auch so viel Begeiste- aus der bisherigen Bilanz der Organisation zu rung. „Realisten“ würden wohl darauf pochen, ziehen? Die Ursprünge der Vereinten Nationen Die Gründung der Vereinten Nationen im Jahre ebenfalls die Bezeichnung „Vereinte Nationen“ 1945 löste in der Öffentlichkeit große Begeis- geläufig war). Die UNO würde als Eckstein des terung aus. Nach all dem Leid und den gesell- Nachkriegssystems und Garant des Friedens schaftlichen Zusammenbrüchen im Gefolge dienen. Die Hoffnungen der Öffentlichkeit gin- des Zweiten Weltkriegs (und der vorausgegan- gen allerdings über diese Vorstellungen hinaus. genen Weltwirtschaftskrise) begrüßten in aller Viele glaubten, die neue Organisation würde Welt viele die neue Institution als Hoffnungs- alsbald die Völker vom Kolonialismus befreien, träger, als außergewöhnliches Instrument zur Frieden schaffen und zu einer gemeinschaft- Schaffung dauerhaften Friedens, wachsenden lichen, föderal strukturierten Weltregierung Wohlstands und einer gerechten Weltgesell- führen. Intellektuelle und moralische Größen schaft. Der gescheiterte Völkerbund verblasste jener Zeit begrüßten die Vereinten Nationen im öffentlichen Gedächtnis. Die Vereinten Na- und setzten sich für sie ein. tionen sollten einen Neubeginn einläuten. Natürlich haben die Vereinigten Staaten und Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill ihre Verbündeten die UNO nicht gegründet, hatten ihre Appelle an die Weltbevölkerung um die Wünsche weitblickender Reformer damit begründet, dass, wären die Kriegsgeg- oder gar utopischer Denker zu erfüllen. Der ner erst einmal besiegt, eine neue, reformier- „Idealismus“ der US-Regierung und ihrer Part- te Weltordnung errichtet würde. Die von den ner unterschied sich de facto kaum von her- beiden 1941 vorgelegte Atlantikcharta enthielt kömmlicher Staatskunst. Zwar betonten sie diese – globale wirtschaftliche Zusammenar- die „Zusammenarbeit“ und sprachen sogar beit und einen gerechten Umgang der Natio- von einem „großzügigen Frieden“, doch die Ar- nen miteinander einschließende – Vision. chive zeigen uns heute, dass sie in erster Linie an die Förderung der eigenen nationalen In- In späteren Erklärungen stellten die Staats- teressen dachten. Sie hatten in einer Welt der männer die vorgeschlagene Organisation der Kriege gelebt, in der sich die Starken durch- Vereinten Nationen dann als logische Fort- setzen. Während sie moralische Grundsätze setzung der siegreichen Allianz dar (für die beschworen und von der friedlichen Beilegung 3
JAMES A. PAUL SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN von Streitigkeiten redeten, klammerten sie sich Die fünf Alliierten gingen davon aus, dass sie deshalb zugleich weiter an das, was der frühe- die neue Weltordnung einvernehmlich mana- re US-Präsident Theodore Roosevelt den „big gen würden. Privatim sprach Roosevelt von stick“ genannt hatte, den „großen Knüppel“ für den „fünf Polizisten“. Doch schon bald nach der den „Ernstfall“. UN-Gründung zeigten sich tiefe Risse in dieser Fünferkonstellation. Der antikoloniale Block Die in San Francisco beschlossene UN-Charta (USA, Sowjetunion und China) ging die Kolo- beginnt mit den berühmten Worten „We the nialreiche (Großbritannien und Frankreich), Peoples“, „Wir, die Völker“. In Wahrheit aber deren Hegemonialpositionen er beseitigen zu hatten Washington und seine Partner sich können hoffte, hart an. Gleichzeitig rangen auf den Konferenzen von Teheran (1943) und die kapitalistischen Mächte des Westens (die Dumbarton Oaks (1944) darauf verständigt, USA, Großbritannien und Frankreich) in der die Vereinten Nationen als ein Dauer-Konkla- Hoffnung, die revolutionäre Flut eindämmen ve aus Nationalstaaten anzulegen, als eine zu können, mit den kommunistischen Ländern Organisation also, deren Mitgliedstaaten ihre (der Sowjetunion und – nach 1949 – China). Mit Souveränität entschieden behaupten und die einander überlagernden Spaltungen wie die- „Völker“ auf Abstand halten würden. Und – be- sen in seiner Spitze konnte der Sicherheitsrat sonders wichtig – die neue Institution würde kaum funktionieren. Die Funktionsstörung einer Hand voll Schlüsselstaaten besondere hatte allerdings auch eine gute Seite. Da die Vorrechte und Verantwortlichkeiten übertra- Oligarchen kein einheitliches politisches oder gen, nämlich den Gründern selbst. Viele Struk- ökonomisches Vorgehen oktroyieren konnten, turen ähnelten denen des verblichenen Völker- eröffneten sich schwächeren politischen Kräf- bundes und legten die Vermutung nahe, hier ten Spielräume und Wirkungschancen. Man- entstehe keine neue Welt, sondern eine nur ches, was in der UNO geschah, war neu, unvor- leicht abgewandelte Version der alten. hergesehen und gelegentlich durchaus kreativ. Die Großen Drei (die USA, Großbritannien Schließlich handelte es sich um eine strukturell und die Sowjetunion) und ihre beiden weniger komplexe Organisation, zu der auch eine Gene- gewichtigen Partner (China und Frankreich) ralversammlung, allerdings ohne Vetorechte, bestimmten die Ständige Mitgliedschaft im gehörte, in der alle Mitgliedstaaten vertreten Sicherheitsrat zum Schlüssel ihrer privilegier- und gleichermaßen stimmberechtigt waren. ten Stellung im UN-System. Diese Fünf würden Alsbald entstanden zahlreiche Ausschüsse, ständige Sitze einnehmen und gegen fast alle Konferenzen, Kommissionen, Expertengrup- Beschlüsse im Rat ihr Veto einlegen können so- pen, Vertragsgremien und weiteres mehr. Die wie zahlreiche weitere Vorteile in allen UN-Be- nicht zu den Großen Fünf zählenden Staaten reichen genießen. Kleinere Staaten kritisierten (deren Anzahl mit der Dekolonisierung rasch dieses oligarchische Arrangement auf der Kon- zunahm) stellten sich der Herausforderung, ferenz von San Francisco scharf. Nur überaus die UN-Maschinerie für sich nutzbar zu ma- zögernd und mit anhaltendem Missbehagen chen. Fachorganisationen übernahmen wich- ließen sie sich darauf ein. Viele kleinere Staa- tige Programmaufgaben. Nichtregierungsor- ten beunruhigte obendrein die Entscheidung, ganisationen verschafften sich, wie von der die neue Organisation in New York anzusiedeln Charta vorgesehen, beratend Gehör. Volksbe- statt an einem neutralen Ort wie Genf. Bedeu- wegungen forderten und erlangten (gelegent- tete das nicht eine zu große Nähe zu der vor- lich) Mitsprache bei den institutionellen Arran- herrschenden Macht, die so ihren Einfluss auf gements. Ein großes Pressecorps fand sich ein alle anderen noch weiter ausbauen könnte? und sorgte dafür, dass Amtshandlungen auf 4
JAMES A. PAUL SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN der UN-Ebene transparenter wurden als in der gehalten und ihr in der Öffentlichkeit beträcht- Diplomatie vormals üblich. Es hieß allgemein, liches Ansehen verschafft. Trotz zahlreicher die Vereinten Nationen hätten tatsächlich lan- Rückschläge konnten die Vereinten Nationen ge Zeit (und in gewissem Maße auch heute also ihre Legitimität, ihre Anziehungskraft und noch) etwas von dem ausgestrahlt, das in „Wir, sogar ihren Anspruch auf Vorrang in der Welt die Völker“ aufscheint. Ihr vielschichtiger, semi- internationaler Institutionen bewahren, ob- demokratischer Charakter hat (bei aller Oligar- wohl sie keine gerechte, friedliche und nach- chie im Hintergrund) die Institution innovativ haltige Welt geschaffen haben. „Die UNO“ – Wer und was ist das wirklich? Über die Vereinten Nationen wird oft so ge- ereinnahmen. Geld, Streitkräfte, die Kontrolle sprochen und geschrieben, als handele es sich von Sanktionen, ja ein Großteil der entschei- um eine autonome Körperschaft, die unter dungsrelevanten Informationen, auf die die dem Kommando des Generalsekretärs von Bü- Organisation sich stützt – all dies kommt von rokratenseelen betrieben wird. Glaubt man ge- Mitgliedstaaten. Andererseits verfügt die UNO wissen Konservativen, ist das Sekretariat rie- über eine ausgedehnte Legislativstruktur mit sengroß – ein „aufgeblähter“ Oktopus, dessen zahlreichen beschlussfassenden Gremien. Tentakel in jeden Winkel dieser Welt reichen Letztlich jedoch entscheiden die Mitglied- und der keiner vernünftigen Rechenschafts- staaten fast alles, und zwar in Verfahren, die pflicht unterliegt. Doch diese Vorstellung führt deutlich von der innerstaatlich üblichen Kräf- in die Irre. Sie ignoriert (bewusst oder unbe- teverteilung zwischen Legislative und Exekuti- wusst) die tatsächliche Schwäche des Sekre- ve abweichen. Und obwohl der Internationale tariats und die ausschlaggebende Rolle, die Gerichtshof in Den Haag Teil des UN-Systems demgegenüber die Mitgliedstaaten – insbe- ist, fehlt der Weltorganisation auch echte justi- sondere natürlich die „P-5“, die fünf Ständigen zielle Gewalt, die als rechtsprechendes Gegen- Sicherheitsratsmächte – bei der Entwicklung gewicht fungieren könnte. Das Sekretariat hat und Umsetzung der UN-Vorhaben spielen. tatsächlich gewisse Entscheidungsbefugnisse, Wir haben es also mit einem Mythos zu tun, und die Spitzenbeamten können zweifellos der es den Mitgliedstaaten erlaubt, „die UNO“ deren politischen Kurs beeinflussen, aber die verantwortlich zu machen, wenn etwas schief P-5 kontrollieren, wie die Schlüsselpositionen geht oder wenn die von ihnen geprägte Politik besetzt werden. Es sind also die Staaten, die schädliche Folgen zeitigt. Dieser Mythos dient die Organisation weitgehend beherrschen und der Abschirmung gegen die Realität, denn er sie – informell oder ganz offen – zwingen, ih- erlaubt es den Meinungsmachern, munter von ren nationalen Zielen und Interessen zu ent- „der UNO“ daherzureden, statt aufmerksamer sprechen. (und ehrlicher) zur Kenntnis zu nehmen, wie die Dinge tatsächlich laufen. Nun haben sich Staatenhierarchie und Welt- wirtschaft im Lauf der Jahre erheblich ge- Die Gründer gaben der UNO eine strukturell wandelt. Die beiden 1945 besiegten Mächte, schwache Exekutive, zahlenmäßig klein, fi- Deutschland und Japan, nehmen wieder ein- nanziell bescheiden ausgestattet und ohne flussreiche Positionen ein. Großbritannien eine Armee, Polizeikräfte oder reguläre Steu- und Frankreich haben an Gewicht verloren. 5
JAMES A. PAUL SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN Die Russische Föderation ist eine kleinere und NGOs, Bürgerinitiativen und Graswurzelbewe- stark veränderte Ausgabe der sowjetischen gungen unterschiedlicher Art können UN-Ent- Supermacht. „Emerging Powers“, Aufsteiger scheidungen manchmal beeinflussen, allerdings wie Indien und Brasilien, erheben sich und nur ausnahmsweise und bei zweitrangigen The- fordern die alte Garde heraus. Regionalor- men. Auch Konzerne, Stiftungen und andere ganisationen lassen ihre Muskeln spielen. Akteure verfügen über eigene (und wachsende) Technologie und global agierendes Kapital Möglichkeiten politischer Einflussnahme, und haben die Welt unerwartet dicht ineinander Milliardäre oder andere Berühmtheiten wie Ted verflochten (und zugleich neue Spaltungen Turner, Bill Gates, Bono und Angelina Jolie hin- bewirkt). Die UNO ist eingewoben in ein rapi- terlassen gelegentlich ihre Spuren. Doch keine de sich wandelndes Weltsystem, und ihre Tä- Analyse führt letztlich daran vorbei, dass die tigkeit unterliegt heute verstärkter Aufmerk- Macht in den Händen der Staaten liegt, insbe- samkeit, massiverer Druckausübung und grö- sondere der großen und der permanenten Si- ßeren Schwankungen im politischen Gewicht cherheitsratsmitglieder. So sieht die Realität der der Beteiligten. UNO in ihrer gegenwärtigen Gestalt eben aus. Sozial- und wirtschaftspolitische Ausrichtung Die UN-Gründer waren überzeugt, dass Konflik- ECOSOC te und Kriege sozialen und ökonomischen Um- ständen entspringen. Was die Organisation auf Die Charta rief einen hochrangigen Wirt- diesem Felde zustande brachte, ist deshalb be- schafts- und Sozialrat ins Leben, als ein dem sonders wichtig und aufschlussreich. In den Zei- Sicherheitsrat zur Seite und diesem beina- ten des Völkerbundes, besonders während der he gleich gestelltes Gremium. Diesem neu Weltwirtschaftskrise, hatten die Staaten welt- geschaffenen ECOSOC wurde die Aufgabe umspannende Wirtschaftsbeziehungen durch übertragen, „von Stabilität und Wohlbefinden hohe Barrieren beschränkt. Nach dem Krieg geprägte Verhältnisse, die für friedliche und änderten sie ihre Einstellung und setzten da- freundschaftliche Beziehungen unter den Na- rauf, dass robuste soziale und ökonomische tionen erforderlich sind“, zu schaffen. Dieses Kooperation eine Gesellschaftsordnung sta- Gremium unterliegt nicht den Einschränkun- bilisiert. Als die Vereinten Nationen Gestalt gen, die die Charta im Hinblick auf Sonder- oder annahmen, forderten die kleineren Staaten Vetorechte bestimmter Mächte enthält, und ist vor allem Schritte zur Umsetzung dessen, was insofern seinem Wesen nach demokratischer die Präambel ihrer Charta als Förderung des und weniger der Gefahr ausgesetzt, durch die „sozialen Fortschritt[s] und [eines] besseren Oligarchie der Großen Fünf behindert zu wer- Lebensstandard[s] in größerer Freiheit“ be- den. Als der Wirtschafts- und Sozialrat seine zeichnet. Die Öffentlichkeit erwartete nicht nur Tätigkeit aufnahm, fand er breite Unterstüt- Wiederaufbau und Wirtschaftswachstum, son- zung bei vielen Mitgliedstaaten, die begeistert dern auch öffentliche Gesundheitsversorgung, mitarbeiteten. Das Gremium profitierte beson- Arbeitsplätze, Bildung und Ausbildung sowie ders vom Engagement der US-Vertreterin, Ele- eine gerechtere Verteilung der Weltressourcen anor Roosevelt, der Witwe des verstorbenen und -reichtümer. Präsidenten – einer äußerst dynamischen und 6
JAMES A. PAUL SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN populären Persönlichkeit, die nie davor zurück- pazifischen Raum und Lateinamerika auf (und schreckte, sich über Washingtoner Instruktio- später auch in zwei weiteren Regionen). He- nen hinwegzusetzen. Es gab unterschiedliche rausragende Ökonomen engagierten sich in politische Strömungen im ECOSOC, aber zu den Stäben dieser Kommissionen und schufen jener Zeit setzte fast jede(r) auf eine starke Rol- konzeptionelle Grundlagen für eine Politik, die le des Staates im Wirtschaftsgeschehen, und regionale Zusammenarbeit und Eigenständig- man hoffte, ein immer dichteres Netz weltweit keit betonte. In der Lateinamerika-Kommis- gültiger sozialer Schutzvorkehrungen schaffen sion entwickelten Raúl Prebisch und Celso Fur- zu können, um die Lebensumstände der Bür- tado ihre Kritik der damals beliebten „Moder- gerinnen und Bürger zu verbessern. nisierungstheorie“. Dieser traten sie mit ihrer „Dependenztheorie“ entgegen, die auf die öko- Der Mandatierung durch die Charta gemäß nomischen Handicaps armer Länder verwies richtete ECOSOC neue Regional- und Fachaus- und für alternative Entwicklungsstrategien schüsse ein. Der Rat kodifizierte NGO-Rechte plädierte, darunter eine importsubstituieren- und entwickelte einen neuartigen Menschen- de Industrialisierung. rechtsmechanismus. Eine besonders inno- vative Einrichtung war die 1946 gegründete Angesichts der sich herausbildenden Drit- UN-Menschenrechtskommission. Sie konnte te-Welt-Solidarität setzten die UN-Regional- die Menschenrechtslage in den Staaten unter- kommissionen kraftvolle Zeichen dafür, dass suchen und eine sich rapide ausbreitende Zone die Organisation nicht nur in New York oder internationalen Rechts und der Rechtsanwen- in Genf, dem Zweitsitz, sondern überall in der dung beaufsichtigen. Es wurde die – dann 1948 Welt verankert war. Die Kommissionen legten von der Generalversammlung beschlossene die Fundamente regionaler Integration zur – Allgemeine Erklärung der Menschenrech- Abwehr gegen hegemoniale Pressionen in der te ausgehandelt, das Grundlagendokument Weltwirtschaft. In diesem Prozess entstanden der internationalen Menschenrechtsgesetz- auch die Afrikanische Union und verschiedene gebung. Aus diesen Aktivitäten auf UN-Ebene supranationale Initiativen in Lateinamerika. ging die moderne Menschenrechtsbewegung Zusammen mit regionalen Bewegungen und hervor, auch wenn die westlichen Mächte Zusammenschlüssen trugen die Kommissio- die Kodifizierung sozialer und ökonomischer nen dazu bei, das Wesen der Staaten und ihr Rechte nicht schätzten und ihr Bestes taten, Verhältnis zum internationalen System zu ver- sie herunterzuspielen und zu ignorieren. Die ändern, was gemeinsamem Handeln in den Vereinten Nationen stehen bis heute im Mit- Vereinten Nationen mehr Nachdruck verlieh telpunkt der Menschenrechtsgesetzgebung, und die Kräfteverhältnisse zwischen kleineren der Verteidigung der Menschrechte und ent- Staaten und Hegemonialmächten verschob. sprechender politisch-strategischer Aktivitä- ten. Die Entkolonialisierung Die Regionalkommissionen Die UNO wurde zu einem der Hauptkampf- schauplätze der weltweiten Selbstbestim- Auf wirtschaftlichem Gebiet bildete ECO- mungs- und Unabhängigkeitsbewegung, die SOC Regionalkommissionen zur Bestimmung dem Weltkrieg folgte. Der Prozess dauerte über und Förderung der Entwicklungsprioritäten. vier Jahrzehnte. Die Führer der Unabhängig- Schon in einem frühen Stadium, 1947-48, nah- keitsbewegungen betrachteten die Weltorgani- men diese ihre Arbeit in Europa, im asiatisch- sation als einen Ort, an dem sie Unterstützung 7
JAMES A. PAUL SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN finden, diplomatische Anerkennung erlangen zeichneten sich neue Vorherrschaftsformen und auf ihrem Weg zu Staatlichkeit und Ent- ab. Ungeachtet ihrer antikolonialen Einstellung wicklung Hilfe mobilisieren konnten. Dies war waren die Vereinigten Staaten und die Sow- ein Höhepunkt in der Geschichte der Organisa- jetunion darauf aus, auf je eigene Art Abhän- tion und veranschaulicht ihre Fähigkeit, politi- gigkeiten zu schaffen oder aufrechtzuerhal- sche Energie von der Basis aufzunehmen und ten. Die Sowjets übernahmen Osteuropa und wesentlich dazu beizutragen, dass es zu posi- erlangten darüber hinaus in einigen armen tiven Veränderungen der Weltordnung kommt. Ländern eine dominierende Stellung, während Die alten Kolonialmächte waren, so sehr sie die Vereinigten Staaten ihre weltweite Vor- sich dagegen stemmten, einfach nicht mehr herrschaft ausweiteten und die Kontrolle über stark genug, ihre Imperien vor der Auflösung „ihre“ Hemisphäre, über Lateinamerika und zu bewahren. In dem Maße, in dem die Entkolo- die Karibik, festigten. Die alten Kolonialmäch- nialisierung voranschritt und neue Staaten ent- te ihrerseits versuchten, ihre Positionen so gut standen, wuchs die Anzahl der UN-Mitglieder sie konnten zu halten und alte Wirtschaftsban- erheblich an – von 51 im Jahre 1945 auf heute de wieder zu festigen. 193 –, was den Umgangston in der Organisati- on sowie die Stimmenverteilung in Generalver- Revolutionen, Konterrevolutionen, Militärput- sammlung, ECOSOC und all den Komitees und sche und Bürgerkriege erschütterten die Welt- Arbeitsgruppen dramatisch veränderte. ordnung – die Titanen rangen miteinander, wäh- rend Bürgerinnen und Bürger ihren Anspruch So entstand eine neue Front im politischen auf eine bessere Zukunft geltend machten. Die Weltgeschehen – in den Manövern und den neuen Staaten waren schwach und interven- Schlachten, die reiche und arme Länder ein- tionsgefährdet. Politische Kräfteverhältnisse ander im Ringen um wirtschaftliche und po- änderten sich schnell – und dementsprechend litische „Befreiung“ gleichermaßen lieferten. konnte eine Bodenreform mal vorangetrieben, 1960 schufen die Öl produzierenden Länder mal rückgängig gemacht, konnten staatszen- ihre eigene Organisation, die OPEC, um den trierte Volkswirtschaften oder marktwirt- reichen Ölgesellschaften und Verbraucherlän- schaftliche Verhältnisse geschaffen werden, dern etwas entgegensetzen zu können. 1961 konnten politische Führungsfiguren aufstei- schlossen sich führende „Dritte-Welt“-Länder gen oder im Gefängnis landen. Diese Kämpfe anlässlich eines Treffens in Belgrad zur Bewe- gingen mit hitzigen Propagandaschlachten ein- gung der Nichtpaktgebundenen (auch Block- her, doch unter der Oberfläche spielten sich freie genannt) zusammen, um ihre politischen weltweite Auseinandersetzungen um Rohstof- Vorstöße zu koordinieren. Und 1964 gründeten fe, Anlagemöglichkeiten und geostrategische viele der beteiligten Staaten die „Gruppe der Dominanz ab. Richtungsdebatten um den UN- 77“ zur Vertretung ihrer gemeinsamen Wirt- Kurs spiegelten diese Kämpfe wider. Vernünf- schaftsinteressen. Diese Schritte hallten in der tige Entwicklungsprioritäten und die Verbes- UNO nach und veränderten Ton und Charak- serung der sozialen Lage der Menschen nah- ter der Debatten dort – in Richtung auf globale men dabei unvermeidlich Schaden. Dennoch Fairness bei der Verteilung von Reichtümern erlahmte der Dritte Welt-Enthusiasmus nicht. und Ressourcen. Die Gründung einer UN-Kommission, die sich Zunächst stand die Unabhängigkeit der Kolo- mit den Transnationalen Konzernen (TNCs, nialgebiete Großbritanniens, Frankreichs, der auch „Multis“ genannt) befasst, im Jahre 1974 Niederlande, Belgiens, Spaniens und Portugals entsprach dem veränderten politischen Klima im Zentrum der Aktivitäten, aber schon bald der Zeit. In der postkolonialen Welt war die 8
JAMES A. PAUL SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN Überzeugung verbreitet, dass die gigantischen Scientific and Cultural Organisation) und das Konzerne des Westens, besonders die im Roh- Kinderhilfswerk UNICEF (beide 1946 gegrün- stoffgeschäft tätigen, für Unterdrückungsver- det) sowie die Weltgesundheitsorganisation hältnisse, „Unterentwicklung“, Korruption und WHO (1948). In den Folgejahren schufen die sogar für Militärputsche verantwortlich seien. Mitgliedstaaten noch eine ganze Reihe weite- (Der Putsch in Chile 1973 beschleunigte die rer Agenturen, so dass sich deren Zahl heute Vorgänge in New York.) Die Mitgliedstaaten be- auf über 25 beläuft. Sie befassen sich unter auftragten die Kommission, einen Verhaltens- anderem mit Agrarinvestitionen, Atomenergie, kodex („Code of Conduct“) für Transnationale Meteorologie und Flüchtlingsfragen. Konzerne auszuarbeiten, um diese auf verbind- liche, international gültige Rechtsstandards zu Alles in allem haben die Agenturen zur rechtli- verpflichten. Wenig später wurde das „Centre chen und operativen Stärkung des UN-Systems on Transnational Corporations“ mit der Auf- erheblich beigetragen. Wir halten ihre Existenz gabe geschaffen, zur Unterstützung der Kom- heute für selbstverständlich, und tatsächlich missionsarbeit die Konzerne und ihre weltwirt- ist das moderne Leben abhängig von ihnen. schaftliche Rolle genauer zu untersuchen. Der Sie koordinieren den Flugverkehr, schützen die Erfolg ließ nicht auf sich warten. Die jüngeren Welt vor Epidemien und gewährleisten das rei- Staaten freuten sich, die TNCs, diese gefährli- bungslose Funktionieren der internationalen chen Kreaturen, künftig in Schach halten zu Telekommunikation. Die FAO versorgt jährlich können. Die Konzerne ihrerseits konnten der 80 Millionen Menschen in Notsituationen mit Initiative dagegen verständlicherweise wenig Lebensmitteln, und der in 150 Ländern tätige abgewinnen und wiesen globale Regulierungs- Bevölkerungsfonds der UNO (UNFPA) fungiert maßnahmen glatt zurück. Entsprechend wuch- als weltweit größte Finanzquelle für reproduk- sen auf ihrer Seite Argwohn und Abneigung ge- tionsmedizinische Dienstleistungen. gen die UNO. Die 1973 gegründete, von großen Konzernen finanzierte Heritage Foundation in Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Na- Washington setzte sich an die Spitze der Angrif- tionen (UNDP), das 1965 als deren zentrales fe auf die Vereinten Nationen und weitete die entwicklungspolitisches Instrument geschaf- Bemühungen, diese zu diskreditieren, aus. fen wurde, hat zwar viel erreicht, weist aber doch alles in allem eine eher gemischte Bilanz auf. In den ersten 34 Jahren seines Bestehens Die Agenturen der UNO stand es unter der Leitung von Verwaltungs- leuten, die von den USA bestimmt wurden, Neben der UNO und mit ihr verbunden gibt es und war lange Zeit von Finanzmitteln aus Wa- viele Sonderagenturen, Fonds und Program- shington abhängig. Wie vorauszusehen, stand me, deren Tätigkeit sich meist auf soziale und die Arbeit des UNDP im Schatten der Weltbank wirtschaftliche Aufgaben konzentriert. Schon (wie noch zu sehen sein wird). Um sich als die Jahrzehnte früher hatten die Staaten einige eigentliche UN-„Marke“ in Sachen Entwicklung Institutionen dieser Art geschaffen, etwa den behaupten zu können, hatte das UNDP lange ehrwürdigen Weltpostverein (Universal Postal zu kämpfen – unter enormem Konformitäts- Union, 1874) oder die Internationale Arbeits- druck und mit überbordenden Entwicklungs- organisation, die ILO (1919). Andere wurden in erfordernissen konfrontiert, denen es schlech- der Nachkriegszeit wiederbelebt oder neu ge- terdings nicht gerecht werden kann. gründet. Hierzu gehören die Welternährungs- organisation FAO (Food and Agriculture Orga- Alle Agenturen sehen sich gezwungen, in ei- nisation, 1945), die UNESCO (UN Educational, nem schwierigen politischen Umfeld Balance- 9
JAMES A. PAUL SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN akte zu vollführen. Sie müssen es den reichen dringlicher wird. Tatsächlich stehen buchstäb- Geberländern recht machen, Druck von Kon- lich alle UN-Agenturen im Visier mächtiger zernseite abwehren und bei alledem für ihre Gegner. Konservative Medien leugnen die fi- primären Auftraggeber da sein, die in der Re- nanziellen und politischen Erfolge der Agentu- gel arm und machtlos sind. Das angesehene ren oder spielen sie herunter, was manchmal Hilfswerk UNICEF sah sich Angriffen des Le- zu unerfreulichen Abstrichen bei der Erfüllung bensmittelriesen Nestlé ausgesetzt, weil es ihrer Aufgaben führt. die gefährlichen „Kinderformel“-Produkte des Unternehmens kritisiert hatte. Und die US-Re- Unabhängig voneinander finanziert und ge- gierung beanstandete UNICEF-Beschwerden führt bilden die Agenturen ein „balkanisier- über die Härte der Iraksanktionen (1990-2003), tes“ System, untereinander unzureichend ab- die nach Berechnungen der Agentur eine hal- gestimmt und auch mit dem UN-Sekretariat be Million Kinder das Leben kosteten. Obwohl nicht sonderlich gut verbunden. Revierkämpfe seit ihrer Gründung bis heute jeder Chef dieser zwischen ihnen sind alltäglich. Zwar versucht Agentur von den USA nominiert wurde, sind der Generalsekretär diese Organisationen, so derartige Streitigkeiten kennzeichnend für die eifersüchtig sie sich voneinander abgrenzen, zu Mühen der UNICEF-Arbeit. koordinieren, jedoch mit nur mäßigem Erfolg. Das System hätte möglicherweise besser funk- Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO tioniert, wäre seine Arbeit innerhalb einer ein- bekam, obwohl sie eine lebenswichtige Rol- heitlich organisierten UNO zusammengefasst le bei der Förderung des Gesundheitswesens und gemeinschaftlich betrieben worden, doch und der Aufrechterhaltung einer weltweiten mächtige Mitgliedstaaten wollten nichts der- Gesundheitssicherung spielt, bei diesen Kon- gleichen. Nichtsdestotrotz konnten die Agentu- troversen ihren Teil ab. Die Tabakkonzerne ha- ren sich Respekt, Legitimität, Expertise und (bis ben gegen ihre Kampagnen gegen das Rauchen vor kurzem) beträchtliche finanzielle Unterstüt- enormen Widerstand mobilisiert, und Pharma- zung verschaffen. Weil sie eher technisch und konzerne kritisieren die WHO-Bemühungen, weniger politisch erscheinen, gelang es ihnen, Arzneimittel billiger und breiter zugänglich zu sich ein wenig unabhängiger von mitgliedstaat- machen. Das „Wall Street Journal“ klagte ein- lichen Pressionen zu machen. Derzeit allerdings mal, die WHO verfechte „jede Menge neuer fällt es vielen Agenturen schwer, ihre Ziele zu er- und überflüssiger Regulierungsmaßnahmen“, reichen. Die Staaten haben die finanzielle Aus- und behauptete, die Agentur „untergrabe die stattung der UN-Agenturen reduziert, insbe- herkömmlichen Moralvorstellungen sowohl sondere für zentrale „operative“ Aufgaben, und des Ostens wie des Westens“ und rechtferti- unterdessen spitzen die sozialen Krisen sich zu. ge „die nicht enden wollende Ausweitung des Sozialstaats.“ Die Bretton-Woods-Institutionen Das UN-Umweltprogramm von 1972 hatte mit besonders starkem Widerstand seitens der Die Sozial- und Wirtschaftsprogramme der größten Umweltverschmutzer und Treibhaus- Vereinten Nationen kollidieren immer wieder gasemittenten der Welt zu kämpfen, aus Wa- mit den mächtigen Bretton-Woods-Instituti- shington ebenso wie aus Moskau und Peking. onen (BWI). Auf einer Konferenz in Bretton So blieb es eine der Institutionen, die man Woods (New Hampshire) schufen die Verei- am liebsten kaltstellt, finanziell kurz hält und nigten Staaten und Großbritannien 1944 zwei mit viel zu wenig Durchschlagkraft ausstattet, neue Finanzinstitutionen. Die eine (die wir jetzt obwohl ihre Arbeit immer notwendiger und als Weltbank kennen) sollte für Wiederaufbau 10
JAMES A. PAUL SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN und Entwicklungsfinanzierung sorgen, die an- Um Not leidende Darlehen eintreiben zu kön- dere (der International Monetary Fund alias nen, banden die BWIs ihre Kreditvergabe an IMF oder IWF) für Währungsstabilität. Heraus- harte Bedingungen, die den Wertvorstellungen gekommen ist dabei eine tief gespaltene multi- der Wall Street oder der Londoner City entspra- laterale Struktur, in der die UNO eine entschie- chen. Die Schuldnerstaaten hätten es vielleicht den benachteiligte Position einnimmt. besser wissen und aus solchen Quellen kein Geld nehmen sollen, aber sie waren die Gefan- Die BWIs sitzen in Washington, und die reichen genen ihrer Träume vom künftigen Wohlstand Gründerstaaten haben in ihnen das Sagen, wo- des Landes, von gigantischen Staudämmen, bei die USA eine besonders hervorstechende Kraftwerken, Autobahnen und Flughäfen. Es Rolle spielen. Zwar sind sowohl die Bank als mögen sie auch die üppigen Profite verführt auch der IWF formell Bestandteile des UN-Sys- haben, die lokale Eliten von dem Washingtoner tems, aber diese Verbindung besteht nur auf Manna abschöpfen konnten. Schließlich wur- dem Papier. Die BWIs haben sich in ihrer Praxis de nie irgendwer zur Rechenschaft gezogen. stets wenig um die UNO oder um eine Abstim- Stattdessen floss, neben den Zinszahlungen, mung mit deren Programmen gekümmert. Als der Champagner in Strömen. So begannen die finanziell prächtig ausgestattete Banken konn- politische Korrosion der postkolonialen Welt, ten die BWIs massenhaft Kredite vergeben, das Ende des antikolonialen Idealismus und um so ihren Einfluss geltend zu machen und der Ruin der neuen Staaten. zugleich einen mächtigen Zustrom an Zinsein- nahmen (von verarmten Schuldnerstaaten) in Die Politik der Bretton-Woods-Institutionen die eigenen Kassen zu leiten. unterschied sich immer deutlicher von Geist und Zielen der UN-Wirtschafts- und Sozialpro- Von den Reichen geleitet, während die Bud- gramme, ja sie lief diesen offen zuwider. Nach getmittel letztlich großenteils von den Armen 1971, als die USA die Goldbindung des Dollars aufgebracht werden, steht das BWI-System lösten und frei floatende Wechselkurse pro- geradezu sinnbildlich für die Ungerechtigkeit pagierten, verbreiterte sich diese Kluft weiter. der globalen Hierarchie. Viele Untersuchungen Die Währungen lösten sich aus ihrer Veranke- haben die beiden Banken und ihre Prioritäten rung und die monetäre Instabilität wuchs, was in Frage gestellt. Auch aus dem Inneren des die BWIs nur zu noch strengeren Auflagen und Systems wurden Zweifel laut. So deckte die Strafmaßnahmen veranlasste. Sie oktroyier- 1968 von der Weltbank bestellte Pearson-Kom- ten drückende „Strukturanpassungen“ und mission schwerwiegende Mängel auf. Im Laufe obligatorische Sparmaßnahmen, Einschnitte der Jahre haben auch NGO-Untersuchungen in Sozialprogramme, die Privatisierung staat- immer wieder problematische Prioritäten der licher Dienstleistungen, Steuersenkungen, die Kreditvergabe, unvertretbaren Luxus für das Abschaffung von Kapitalverkehrskontrollen Personal und einen Mangel an sozialem Weit- und weiteres mehr. Man begann von „Neoli- blick angeprangert. In den 1960er Jahren und beralismus“ oder (bewusst ironisch) vom „Wa- auch später, als die unabhängig gewordenen shington Consensus“ zu sprechen. Diese Po- Staaten für große Infrastrukturprojekte oder litik, die viele Länder ökonomisch radikal ver- zur Stabilisierung ihrer Landeswährung Kre- änderte, bewirkte häufig zunehmende Armut dite aufnahmen, gerieten sie unter die Fuchtel und Ungleichheit (während es andererseits dieser beiden Giganten. Manchmal protestier- den Eliten gut ging; sie parkten ihr Geld in ten die betroffenen Staaten lautstark, doch sie Offshore-Banken und kauften Villen an der steckten nun einmal in der Schuldenfalle und Riviera). Die BWIs, mitverantwortlich für diese ihre Belastung wuchs und wuchs. Entwicklung, genossen die volle Unterstützung 11
JAMES A. PAUL SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN der reichen Shareholder-Staaten, die befriedigt 1994 heuerte die Weltbank eine PR-Größe na- zuschauten. Auch die Umweltzerstörung, ein mens Mark Malloch Brown für die Aufgabe an, weiteres Ergebnis der Vergabepraxis und der mit sanfter Stimme ihre Geschichte zu erzäh- wachstumsfixierten Geisteshaltung der Bret- len. Da wurden ganzseitige Zeitungsanzeigen ton-Woods-Institutionen, beschleunigte sich. geschaltet, es wurde viel von „stakeholders“ gesprochen und eifrig um NGO-Kritiker ge- An der Wende zu den 1980er Jahren vollzo- worben. Der politstrategische „Consensus“ be- gen die einflussreichsten Staaten eine scharfe währte sich. Rechtswende. In Großbritannien wurde Marga- ret Thatcher Premierministerin (1979-90) und Unter dem Einfluss von Malloch Brown begann in den USA Ronald Reagan Präsident (1981-88). man in der Weltbank mehr über „Armutsbe- Diese Politiker brachen mit der zuvor betrie- kämpfung“, „soziale Netze“ und „nachhaltige benen Konsenspolitik und verfochten einen Entwicklung“ zu reden, um den Kritikern zu be- hochgradig ideologischen Konservatismus. Sie gegnen. In den 2000er Jahren führte die Bank setzten sich entschieden für marktwirtschaft- bei der Kreditvergabe Sozial- und Umweltkrite- lich organisierte Formen der Entwicklung ein, rien ein und machte sich ganz offiziell die Frau- wandten sich ebenso entschieden gegen Um- enförderung zu eigen. Einige Optimisten sahen verteilungsmaßnahmen und verunglimpften darin positive Signale. Die Praxis belegte jedoch, den Sozialstaat als „nanny state“ oder Bevor- dass die BWIs in Sachen PR besser waren als in mundungsstaat. Selbst im globalen Süden fan- Sachen soziale oder Umweltverantwortung. Sie den die neoliberalen Doktrinen zunehmend fuhren nämlich unbekümmert fort, Austerität, Anhänger bei den neuen Mittelschichten und ökonomische Orthodoxie und „Wachstum“ auf Bessergestellten. Auf die Vereinten Nationen Kosten sozialer und ökologischer Standards und den ECOSOC wirkte sich der neue „Kon- zu fördern. Malloch Brown, der anerkannte sens“ verheerend aus. Ende der 1980er Jahre Image-Zauberer, wurde 1999 zum Chef des war klar, dass der ECOSOC nicht länger damit entwicklungspolitischen UN-Flaggschiffs, des rechnen konnte, auf der weltwirtschaftlichen UNDP, nominiert. 2006 stieg er dann, mit kräf- Bühne eine Hauptrolle zu spielen oder echte tigem Rückenwind aus Washington, zum stell- Fortschritte in Richtung auf eine global aner- vertretenden UN-Generalsekretär auf. kannte gemeinschaftliche Sozialwirtschaft zu erzielen. Mitte der 2000er Jahre tauchte im sozial- und wirtschaftspolitischen Vokabular der Verein- Die 1990er Jahre brachten der UNO noch mehr ten Nationen ein neues Stichwort auf: „system- politischen Wandel in konservative Richtung. weite Kohärenz“. Anfangs sah das nach einem Die nordeuropäischen Staaten, die bis dato unverfänglichen Versuch aus, UN-Vorhaben daran festgehalten hatten, fortschrittliche besser zu koordinieren, doch es entpuppte UN-Vorstöße sowohl auf politischem wie auf sich als sorgfältig konzipiertes, vielleicht von wirtschaftlichem Gebiet zu unterstützen (be- Malloch Brown erdachtes Schlüsselwort zur sonders Schweden, Norwegen, Dänemark Anpassung an die BWI-Strategien. Einige Kriti- und die Niederlande), kamen unter wechseln- ker fragten, was eine Einheitsdoktrin in einer den Regierungen von egalitärer Sozialpolitik komplexen und nur unvollständig begriffenen allmählich ab. Die BWIs hielten ungeachtet Welt nützen solle. Doch es ging wirklich um diverser Skandale und peinlicher politischer die forcierte Durchsetzung der ökonomischen Misserfolge an ihrem neoliberalen Kurs eisern Orthodoxie und nicht etwa um eine effekti- fest und bauten zugleich ihre PR-Abteilungen vere oder humanere Sozialpolitik. So wie der kräftig aus. Washington Consensus in Wahrheit durchaus 12
JAMES A. PAUL SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN kein Konsens war, so besaß die UN-„Coheren- Bestrebungen nach globaler Verteilungsge- ce“ beklagenswert wenig Kohärenz. PR-Manö- rechtigkeit ins Hintertreffen gerieten. Auf der ver verstellten den Blick auf die Erfordernisse Bretton-Woods-Konferenz hatten die Vereinig- menschlicher Entwicklung. Die UN-Agenturen ten Staaten, Großbritannien und ihre Partner empfanden natürlich den neoliberalen Druck vereinbart, eine dritte Institution zu schaffen nur zu schmerzlich. Ihrer Auffassung nach – die Welthandelsorganisation (International schadeten die BWI-Doktrinen ihren Program- Trade Organization, ITO), die für stabile Terms men und gefährdeten das Wohl von Kindern, of Trade und ausgewogene Wirtschaftsbezie- gesicherte Ernährung, Arbeitsbedingungen hungen zwischen den Staaten sorgen sollte. und Flüchtlinge. Wie sollten die Agenturen in Obwohl eine ITO-Charta entworfen wurde, „Kohärenz“ mit derartigen Strategien arbeiten hat man diese doch niemals umgesetzt. Wa- können? Die Analysen zeigten über zwei Jahr- shington und London störte die Vorstellung, zehnte hinweg, dass die BWIs soziale Krisen die Kontrolle über das Welthandelssystem mit bewirkten und ganze Länder ernstlich destabi- anderen teilen zu sollen. Wirtschaftliche Über- lisierten. Die Tätigkeit der BWIs führte zu uner- macht verdrängte die „Kooperation“. Statt füllbaren Anforderungen an die Notprogram- der ITO organisierten Washington und seine me der UN-Agenturen und lud ihnen kurzfris- Partner schließlich eine Reihe multinationa- tige Aufgaben auf, die sie nicht länger bewäl- ler Verhandlungs-„Runden“ im Rahmen eines tigen konnten. Langfristig angelegte Program- General Agreement on Tariffs and Trade oder me einer sozial verantwortlichen Entwicklung GATT genannten Verfahrens. GATT erreich- erschienen damit weniger möglich denn je. te tatsächlich eine Reduzierung von Zöllen und Handelsbeschränkungen, allerdings auf Zum Glück hat seitdem eine Erosion der BWI-He- höchst selektiver Grundlage. Die reichen Län- gemonie eingesetzt. Die armen Länder nahmen der dominierten von Anfang an die Rahmenbe- weniger Kredite auf und achteten darauf, dass dingungen und stellten sicher, dass diese ihre weniger Auflagen mit diesen verbunden wa- Interessen begünstigten. Die Terms of Trade ren. Zudem haben die Kreditnehmer eine bes- für die „Entwicklungsländer“ verschlechterten sere Vertretung in den BWI-Leitungsgremien sich mit fallenden Rohstoffpreisen stetig, und gefordert (aber kaum erreicht). Im Jahre 2015 doch bestanden die BWIs auf exportgestütz- startete China zwei alternative Kreditinstituti- tem Wachstum. Die Exporterlöse stagnierten, onen – die Neue Entwicklungsbank (NEB) und während die Importe von Futter- und Lebens- die Asiatische Infrastrukturentwicklungsbank mitteln, Medikamenten und Fahrzeugen an- (AIIB). Diese Institutionen stellen eine direkte wuchsen. Herausforderung der Weltbank dar und füh- ren zu einer gesünderen Diversität weltweit. Bei den ECOSOC-Konferenzen beklagten sich Im Ergebnis könnten sich den Vereinten Natio- Redner aus armen Ländern bitter darüber, dass nen, sofern dieser Trend anhält, neue Chancen die Reichen sich protektionistisch verhielten, und erweiterte Handlungsspielräume eröffnen. während man gleichzeitig den Armen Freihan- Doch hat die Organisation, selbst unter optima- delsbedingungen aufzwang. Der Agrarhandel len Bedingungen, noch sehr viel nachzuholen. erregte ihren besonderen Zorn. Je weiter die Entkolonialisierung voranschritt, desto erbit- terter rang man in den GATT-Verhandlungen Welthandel miteinander. 1965 schuf dann die UN-General- versammlung ein neues Organ, die bereits er- Auch Handelsfragen haben den Vereinten wähnte UNCTAD (UN Conference on Trade and Nationen schwer zu schaffen gemacht, wobei Development), um die Handelsgespräche in das 13
JAMES A. PAUL SIEBZIG JAHRE VEREINTE NATIONEN UN-System einzubinden und die Stimme der Eigentumsrechte“ wachen, Strafmaßnahmen Entwicklungsländer zu verstärken. Während gegen Handelshemmnisse verhängen und den der beiden darauffolgenden Jahrzehnte spielte Warenstrom in Gang halten konnte. Allerdings die UNCTAD tatsächlich eine viel beachtete Rol- hat der Welthandel sich im Laufe der Jahre dra- le bei allen Bemühungen, ein ausgewogeneres matisch gewandelt, und heute gehören zu den und faireres Welthandelssystem zu schaffen. großen Handelsmächten auch einige vormals arme Länder – China, Brasilien, Indien, Südaf- In den 1970er und 1980er Jahren konzentrier- rika und andere „Schwellenländer“, in denen ten sich in der UNCTAD die Diskussionen über zwar weiterhin verbreitete Armut herrscht, eine „Neue Weltwirtschaftsordnung“ (New aber Reichtum akkumuliert wird. Das er- International Economic Order oder NIEO), ein schwert die Entscheidungsfindung in der WTO Dritte Welt-Konzept, das Bretton Woods durch und schränkt die Organisation zusehends in neue Regeln für Handel und Entwicklungs- ihrer Bewegungsfähigkeit ein. finanzierung ablösen sollte. Die NIEO-Verfech- ter erhofften eine Verbesserung der Terms of Das im Rahmen von GATT und WTO geschaf- Trade durch den Zusammenschluss von Roh- fene System ist ungerecht. In der „Dritten stoffproduzenten nach dem Beispiel der OPEC Welt“ sind Bauern durch subventionierte Ge- und erstrebten Handelsvergünstigungen, die treideimporte aus den reichen Exportländern ihren Exporten besseren Zugang zu den Märk- ruiniert worden. Gewaltige Überschüsse und ten der reichen Länder verschaffen sollten. Mit Defizite („Ungleichgewichte“ genannt) bewir- der 1981 von der UNO in Cancún organisierten ken, dass das Welthandelssystem permanent Nord-Süd-Konferenz erreichte diese Bewe- in der Krise steckt. Die Terms of Trade unter- gung ihren Höhe- und Wendepunkt. US-Prä- graben weiterhin die schwächsten Volkswirt- sident Reagan trat dort auf und versicherte, schaften. Handelskrisen, die durch Austeritäts- dass er jegliche Umverteilungsinitiative oder programme noch verschärft wurden und wer- -bewegung strikt ablehne. Danach kam es zu den, haben Millionen von Menschen erfasst Spaltungen innerhalb der G-77, der westliche und verarmen lassen, selbst in vergleichsweise Widerstand nahm zu und die Initiative verlor wohlhabenden Ländern wie Spanien, Irland, an Zugkraft. Auch die UNCTAD selbst ließ an Argentinien und Griechenland. Unterdessen Durchschlagskraft nach, ist aber eine wertvol- haben transnationale Konzerne, Handelsket- le Quelle weltwirtschaftlicher Analysen geblie- ten und Finanzinstitute sich einen nie da gewe- ben und weiterhin wichtige Anlaufstelle für senen Anteil am Reichtum der Welt gesichert. arme Staaten. Straflos entziehen sie sich Steuerpflichten und Regulierungsmaßnahmen. Für Investoren war Angesichts der heftigen Handelskontroversen es die große Sause. erstaunt es, dass die Staaten es 1995 schaff- ten, ein neues permanent tätiges Weltgremi- Wen wundert es da, dass die WTO in der Öf- um zu schaffen, nämlich die Welthandelsor- fentlichkeit keinen guten Ruf genießt! Ihre Kon- ganisation WTO (World Trade Organisation). ferenzen haben massenhafte Proteste auf sich Diese wurde außerhalb des UN-Systems an- gezogen, besonders denkwürdig die riesigen gesiedelt, damit die reichen Länder sie unge- Demonstrationen in Seattle 1999 und in Hong- hindert dirigieren können. Washington und die kong 2005. Heute ist das Welthandelssystem anderen, die eifersüchtig über ihre Souveräni- dysfunktionaler und krisenanfälliger denn je. tätsrechte wachen, wenn es um die UNO geht, Die reichen Länder beharren darauf, dass Han- verliehen der WTO supranationale Befugnisse, delsfragen nicht auf die Agenda der UNO ge- damit diese über Patente und andere „geistige hören, und sind neuerdings auch zur WTO auf 14
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