Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung 73.Jahr Heft7/8 Juli/Aug.2020 - HLZ-Lesesommer

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Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung 73.Jahr Heft7/8 Juli/Aug.2020 - HLZ-Lesesommer
Zeitschrift der        Hessen
  für Erziehung, Bildung, Forschung

73. Jahr   Heft 7/8   Juli/Aug.2020
                       zum Inhaltsverzeichnis

             TITELTHEMA:
               HLZ-Lesesommer
Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung 73.Jahr Heft7/8 Juli/Aug.2020 - HLZ-Lesesommer
HLZ                                                                                                                                               HLZ 7–8/2020          2

                                                                                                                              Zeitschrift der GEW Hessen

                                                   Auswirkungen der
                                                                                                                              für Erziehung, Bildung, Forschung
                                                                                                                              ISSN 0935-0489

                              HLZ                                                                            I    M       P      R     E      S     S     U       M
                                                   Corona-Pandemie                                           Herausgeber:
                                                                                                             Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
                                                                                                             Landesverband Hessen
                                                                                                             Zimmerweg 12
                         Das Schuljahr endete mit einem weiteren Paukenschlag: Die Landes-                   60325 Frankfurt/Main
                                                                                                             Telefon (0 69) 971 2930
                         regierung hob die Abstandsregeln in den Grundschulen auf, damit                     Fax (0 69) 97 12 93 93
                         dort an den letzten zehn Tagen vor den Sommerferien „Unterricht                     E-Mail: info@gew-hessen.de
                                                                                                             Homepage: www.gew-hessen.de
                         nach Plan“ stattfinden kann (HLZ S.5). Über die Folgen des infek-
                                                                                                             Verantwortlicher Redakteur:
                         tiologischen Feldversuchs können wir in dieser HLZ nicht berichten:                 Harald Freiling
                                                                                                             Klingenberger Str. 13
                         Die vorliegende Ausgabe ging am 18. Juni in Druck. Trotz fehlen-                    60599 Frankfurt am Main
                         der Tagesaktualität kommen wir an Corona nicht vorbei: Wir infor-                   Telefon (0 69) 636269
                                                                                                             E-Mail: freiling.hlz@t-online.de
                         mieren über die Arbeit der GEW (S. 6), die Arbeitszeit der Lehrkräfte
                                                                                                             Mitarbeit:
                         (S. 8), den DigitalPakt (S. 22-24) und die Änderung des Schulgeset-                 Christoph Baumann (Bildung), Tobias Cepok (Hoch-
                         zes (S. 35). Klaus Philipp hofft, dass sich die Welt nach Corona stär-              schule), Holger Giebel, Angela Scheffels (Mitbestim-
                                                                                                             mung), Michael Köditz (Sozialpädagogik), Annette
                         ker am Gemeinwohl orientiert (S. 30). Für alle aktuellen Informati-                 Loycke (Recht), Andrea Gergen (Aus- und Fortbildung),
                                                                                                             Karola Stötzel (Weiterbildung), Gerd Turk (Tarifpolitik
                         onen verweisen wir auf unsere Homepage www.gew-hessen.de.                           und Gewerkschaften)
                                                                                                             Gestaltung: Harald Knöfel, Michael Heckert †
                                   Sommerferien in der Landesgeschäftsstelle der GEW                         Titelthema: Harald Freiling
                       Die Landesgeschäftsstelle der GEW           nicht besetzt. In fristgebundenen oder    Illustrationen:
                                                                                                             Dieter Tonn (Titel), Ruth Ullenboom (S. 4)
                       Hessen ist in der Mitte der hessischen      dringenden Fällen wenden Sie sich als
                       Sommerferien von Montag, dem 20.            GEW-Mitglied bitte direkt an die Bü-      Fotos, soweit nicht angegeben:
                                                                                                             Bert Butzke (S. 29), GEW (S. 3, 7, 20), privat (S. 9-19,
                       Juli, bis Freitag, dem 31. Juli 2020, ge-   ros der DGB Rechtsschutz GmbH. Die        27, 33, 37)
                       schlossen. In dieser Zeit können auch       Adressen der Büros finden Sie unter
                                                                                                             Verlag:
                       keine E-Mails bearbeitet werden. Auch       www.gew-hessen.de/recht/dgb-rechts-       Mensch und Leben Verlagsgesellschaft mbH
                       die Landesrechtsstelle ist in dieser Zeit   schutz-gmbh.                              Niederstedter Weg 5
                                                                                                             61348 Bad Homburg
                           HLZ-Lesesommer: Was GEW-Mitglieder lesen und empfehlen                            Anzeigenverwaltung:
                                                                                                             Mensch und Leben Verlagsgesellschaft mbH
                       Die letzten Monate haben allen Men-         de deshalb wünscht die HLZ-Redakti-       Peter Vollrath-Kühne
                                                                                                             Postfach 19 44
                       schen in allen Berufen, Kindern, Er-        on allen Leserinnen und Lesern der HLZ    61289 Bad Homburg
                       wachsenen und alten Menschen,               schöne und erholsame Sommertage mit       Telefon (06172) 95 83-0, Fax: (06172) 9583-21
                       Schülerinnen, Schülern, Eltern und          der Möglichkeit, die Akkus wieder zu      E-Mail: mlverlag@wsth.de
                       Pädagoginnen und Pädagogen, Stu-            laden, auch wenn der übliche Urlaub       Erfüllungsort und Gerichtsstand:
                       dierenden und Beschäftigten an den          kaum stattfinden kann. Die Lesetipps in   Bad Homburg
                       Hochschulen und in der Bildungsver-         dieser HLZ, was GEW-Mitglieder lesen      Bezugspreis:
                       waltung viel abverlangt. Eine zweite        und empfehlen, halten hoffentlich für     Jahresabonnement 12,90 Euro (9 Ausgaben, ein-
                                                                                                             schließlich Porto); Einzelheft 1,50 Euro. Die Kosten
                       Welle ist nicht ausgeschlossen und auch     jede/n etwas bereit. Diese und weitere    sind für die Mitglieder der GEW Hessen im Beitrag
                       die Perspektiven für das neue Schuljahr     Lesetipps findet man auch unter www.      enthalten.
                       sind noch unklar. Trotzdem oder gera-       gew-hessen.de > HLZ-Lesesommer.           Zuschriften:
                                                                                                             Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder
      Aus dem Inhalt

                        Rubriken                                    Einzelbeiträge                           wird keine Haftung übernommen. Im Falle einer Ver-
                                                                                                             öffentlichung behält sich die Redaktion Kürzungen
                         4 Spot(t)light                             5 Landesregierung macht Grund-           vor. Namentlich gekennzeichnete Beiträge müssen
                        35 Recht: Befristete Änderungen im            schüler zu Versuchskaninchen           nicht mit der Meinung der GEW oder der Redaktion
                                                                                                             übereinstimmen.
                           Hessischen Schulgesetz                   6 Corona: Was macht die GEW?
                        36 Jubilarinnen und Jubilare | Recht          Der Blog aus dem Zimmerweg
                        37 Nachrufe                                20 Danke, Ulrich Märtin, für 35 Jahre     Redaktionsschluss:
                        38 Briefe                                     bei der GEW Hessen                     Jeweils am 5. des Vormonats
                        9-19 Titelthema: HLZ-Lesesommer            22 GEW zur Digitalisierung der Schule
                                                                   25 Abordnungen an Grundschulen
                       Auf den Seiten 9 bis 19 veröffentlichen     26 Der Anfangsunterricht: Wie geht        Nachdruck:
                       wir Lesetipps von GEW-Mitgliedern für                                                 Fotomechanische Wiedergabe, sonstige Vervielfälti-
                                                                      Schule ohne Lesen und Schreiben?       gungen sowie Übersetzungen des Text- und Anzei-
                       die Leserinnen und Leser der HLZ. Wei-      28 Diversität im Rainbow-Club             genteils, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher
                       tere Empfehlungen unter www.gew-            30 Gemeinwohlorientierung:                Genehmigung der Redaktion und des Verlages.
                       hessen.de > HLZ-Lesesommer                     Herausforderungen nach Corona?         Druck:
                                                                                                             Druck- und Verlagshaus Thiele & Schwarz GmbH
                        40 lea-Fortbildungsprogramm                32 Mit lea nach Namibia                   Werner-Heisenberg-Str. 7, 34123 Kassel
Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung 73.Jahr Heft7/8 Juli/Aug.2020 - HLZ-Lesesommer
3     HLZ 7–8/2020   zum Inhaltsverzeichnis                                                            KOMMENTAR

    Seife allein reicht nicht!
    Die ohne jede demokratische Beteiligung getroffene      les wieder so sein wie vorher. Dabei könnte man aus
    Entscheidung des Kultusministers, dass die Grund-       der Krise Lehren für ein inklusives, zukunftsfähiges
    schulen an den letzten zehn Unterrichtstagen (!) vor    Bildungswesen ziehen. Deshalb fordert die GEW Hes-
    den Sommerferien zum Regelunterricht zurückkeh-         sen eine Diskussion über bessere Pädagogik, mehr
    ren mussten und alle zuvor geltenden Abstandsre-        Chancengleichheit, gute Arbeit in Schulen und Ki-
    geln aufgehoben wurden, war ein schwerer Schlag         tas und eine wirkliche Reform des Bildungswesens.
    für die Glaubwürdigkeit des Ministers und das Ver-      Zwangsabordnungen an Grundschulen sind bestimmt
    trauen in seine Verlässlichkeit. Darüber wird in die-   der falsche Weg (HLZ S.25).
    ser HLZ ausführlich berichtet, auch über die Protes-       Kolleginnen und Kollegen, die von einem auf
    te der GEW und der Kolleginnen und Kollegen, die        den anderen Tag Fernunterricht organisieren soll-
    sich dagegen wehrten, dass sie als Versuchsperso-       ten, mussten die Mängel bei der digitalen Ausstat-
    nen herhalten sollen, „wie man ein reguläres Unter-     tung der Schulen und in vielen Familien ausbaden.
    richtsangebot ohne Abstandsregeln auch im neuen         Sie packten Lernpakete für Schülerinnen und Schü-
    Schuljahr dauerhaft organisieren kann“.                 ler und brachten sie zu Hause vorbei, organisierten
       Alle Landesregierungen wollen „so bald wie mög-      Lernpartnerschaften und standen digital oder telefo-
    lich“ zum Regelunterricht zurück. Wer will da wider-    nisch zur Verfügung. Auch die Erzieherinnen und Er-
    sprechen? Was nach den Sommerferien möglich ist,        zieher in den Kitas hielten neben dem Einsatz in der
    darüber entscheidet jedoch nicht die Landesregierung,   Notbetreuung Kontakt zu den Familien und machten
    sondern das Pandemiegeschehen. Deshalb brauchen         Vorschläge für die Bewältigung des Alltags. Jetzt ist
    wir keine einsamen Entscheidungen in Corona-Ka-         die Politik gefordert, bessere Rahmenbedingungen für
    binetten, sondern eine gemeinsame Anstrengung für       ihre Arbeit und für gute Bildung zu schaffen.
    das neue Schuljahr mit alternativen Plänen, auch           Deshalb bleiben unsere Forderungen auf der Ta-
    für den Fall einer zweiten Welle der Pandemie. Die-     gesordnung: Wir kämpfen weiter für ein anständi-
    se Pläne müssen auch die Frage beantworten, ob der      ges BAföG, gute Arbeit in Hochschule und Weiter-
    „Normalbetrieb“, wie er vor Corona bestand, wirk-       bildung, mehr Geld für Erzieherinnen und Erzieher
    lich in allen Punkten „erstrebenswert“ ist.             und Grundschullehrkräfte, Abbau des Investitions-
       Tatsächlich kann man unter den Bedingungen der       staus, bessere digitale Ausstattung, mehr gemeinsa-
    Pandemie die Probleme des Bildungssystems wie im        mes Lernen und Förderung der Benachteiligten!
    Brennglas betrachten, doch neu sind die Erkenntnis-        Dieser Sommer wird ein anderer sein. Viele von
    se nicht. Das gilt für den Zusammenhang von Bil-        uns werden ihn nicht wie sonst genießen können. Ei-
    dungserfolg und finanziellen Möglichkeiten der El-      nige waren vorab gezwungen, ihren Jahresurlaub zu
    tern genauso wie für die hohe Arbeitsbelastung der      nehmen, oder müssen jetzt in den Notdiensten ar-
    Pädagoginnen und Pädagogen in Kitas und Schulen         beiten. Trotzdem hoffen wir, dass ihr die dringend
    oder für den baulichen und hygienischen Zustand der     benötigte Erholung findet. Ihr habt es euch verdient!
    Bildungseinrichtungen. Gut, inzwischen gibt es auf
    fast jeder Schultoilette Seife, aber die Mängel wer-
    den bei einer Rückkehr zum „Normalbetrieb“ bleiben.     Birgit Koch und Maike Wiedwald
       Für den hessischen Kultusminister ging es in den     Landesvorsitzende der GEW Hessen
    letzten Wochen vor allem um die Prüfungen und den
    Übergang in das gegliederte Sekundarschulwesen.
    Auch die befristete Änderung schulrechtlicher Vorga-
    ben (HLZ S.35) zeigt, dass die schwarz-grüne Koali-
    tion keine strukturellen Veränderungen will. Bei der
    Notengebung, den schriftlichen Arbeiten, den Ver-
    setzungen, der Auslese nach der vierten Klasse und
    den zentralen Prüfungen soll nach der Pandemie al-
Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung 73.Jahr Heft7/8 Juli/Aug.2020 - HLZ-Lesesommer
SPOT(T)LIGHT                                                                               zum Inhaltsverzeichnis        HLZ 7–8/2020      4

Who the hell is Goethe?
                                                                                               Multikulti-Gangs in Betonhochburgen.
                                                                                               Schule muss Spaß machen und darf auf
                                                                                               keinen Fall anstrengen.
                                                                                                   Beim letzten Klassentreffen gesteht
                                                                                               eine Schülerin grinsend, dass sie in der
      Im Feuilleton schreibt ein Journalist          Statt all dieser traumatisierenden        Oberstufe kein einziges Buch gelesen
      von „traumatisierten Jugendlichen“. Si-    Schinken empfiehlt der Kulturjournalist       hat. Und auch in ihrer Freizeit nicht.
      cher meint er Kinder von drogenabhän-      ein modernes Jugendstück: erste Liebe,        Nicht mal ein wenig Fantasy, keinen
      gigen Eltern, von psychisch kranken        erste Trennung, erstes Ritzen. Der Leh-       blutrünstigen Thriller. All ihr Wissen
      oder gewalttätigen Eltern. Nein, viel      rer muss die Jugendlichen nämlich dort        stammt aus Wikipedia und von Schü-
      schlimmer: Die zarten Kinderseelen in      abholen, wo sie sind. Und sie möglichst       ler-Webseiten. Wozu mühsam etwas
      diesem Artikel wurden in der Schule        in Ruhe lassen und nicht in unbekannte        verdauen, wenn man es vorgekaut be-
      mit klassischen Dramen gequält. Schil-     Gefilde verschleppen. Und sie mit Sprü-       kommt und in der Klausur nur wieder
      lers „Räuber“ und Kleists „Zerbrochener    chen verschonen wie: „Bücher sind flie-       ausspucken muss? Zum Glück für die-
      Krug“. Und als der Lehrplan ein Jahr       gende Teppiche ins Reich der Phanta-          se praktisch denkende Schülerschaft su-
      später ein modernes Theaterstück vor-      sie“ (James Daniel). Am besten füttert        chen nicht alle Lehrer im Internet nach
      schreibt, behandelt die Lehrerin Dür-      er sie im Deutschunterricht mit Dingen,       der Quelle, wenn ihnen Klausuren spa-
      renmatts „Besuch der alten Dame“. Ein      mit denen sie sich angeblich gut aus-         nisch vorkommen.
      Stück aus dem Jahre 1956: Da stöhnt        kennen: Mobbing im Klassenraum, Ge-               Ist Lesen überhaupt noch wichtig?
      die Urgroßmutter hinterm Ofen: „Das        walt auf dem Schulhof, Zensurendruck          Mittlerweile ist Effi Briest zigmal ver-
      hatten wir damals auch schon. Ist das      und Leistungsterror, Probleme mit El-         filmt, man muss das langweilige Buch
      immer noch so langweilig?“ Finn-Levin      tern und Lehrern. Und sollte die Lehr-        gar nicht kennen. Computer können
      zitiert im Unterricht triumphierend die-   kraft tatsächlich einmal klassische Lite-     einem jeden beliebigen Text vorlesen,
      sen Ausspruch der Uroma. Die Deutsch-      ratur unterrichten, dann wählt sie „Easy      wozu also der Krampf mit dem Lesen-
      lehrerin denkt mal wieder resigniert an    Reading“: Der junge Werther, auf ein          lernen in der Grundschule? Einmal in
      den großen Aufklärer Lichtenberg: „Ein     Zehntel zusammengestrichen und in             der Woche kommt eine Lesepatin und
      Buch ist ein Spiegel. Wenn ein Affe hi-    einfacher Sprache. Kein Wunder, dass          übt mit Lena (9 Jahre). Das Kind stottert
      neinsieht, kann kein Apostel heraus-       der spätere Deutsch-Leistungskurs auf-        rum und lässt sich auch durch Kinder-
      gucken.“                                   stöhnt, als die Lehrerin mit einer lan-       bücher und düstere Zukunftsprognosen
                                                 gen Lektüreliste aufkreuzt. Das Stöhnen       nicht zum Lesen motivieren. Den bun-
                                                 setzt sich bei den jungen Germanisten         ten Kasper aus dem Bilderbuch kennt
                                                 an der Uni fort: „Was, das ganze Buch?“       sie bereits aus dem Spätfernsehen. Dort
                                                     Der Journalist sinniert, warum es         lockt er Kinder an und lässt sie für im-
                                                  überhaupt noch einen tradierten Bil-         mer in Abwasserkanälen verschwinden.
                                                    dungskanon braucht. Wozu denn              So spannend und gruselig ist keins der
                                                      Goethes „Faust“? Wozu „Nathan der        Bücher, die die Lesepatin anschleppt.
                                                            Weise“? Sind nicht moderne         Wenn man bei Google „Leseunlust be-
                                                                 Kompetenzen weitaus           kämpfen“ eingibt, findet man Lese-
                                                                   wichtiger als „huma-        Stiftungen, Lesenächte in Büchereien,
                                                                    nistische“ Bildungs-       Wettbewerbe und Tipps, wie man vor
                                                                        relikte? Mittlerwei-   allem Jungs zum Lesen verführt. Ero-
                                                                         le sind einige der    tische Literatur und Sachtexte sollen
                                                                         empörten Germa-       ganz hilfreich sein. Auf keinen Fall darf
                                                                          nistikstudenten      man deutliches Interesse daran zeigen,
                                                                           an den Schulen      dass ein Kind liest. Das evoziert nur
                                                                            gelandet. Manch    Trotz und Unmut. Die Lesepatin erinnert
                                                                            einer verweigert   sich an nächtliche Lektüren unter der
                                                                           sich offen: „Ich    Bettdecke. Heimlich, mit Taschenlampe.
                                                                           kann mit Hebbel     Heute wären manche Eltern froh, wenn
                                                                          und Keller nichts    ihr Kind unter der Bettdecke lesen wür-
                                                                          anfangen. So was     de. Irgendwie hält sich nämlich bei den
                                                                         kann ich nicht un-    Altvorderen und Pädagogen die fossile
                                                                      terrichten, tut mir      Ansicht, dass Lesen wichtig fürs Den-
                                                                   leid.“ Also wird sta-       ken und für die Persönlichkeitsentwick-
                                                                    pelweise angeschafft,      lung ist. Wie sagte der alte Deutschleh-
                                                                     was den Deutschleh-       rer immer: „Wer Bücher liest, schaut in
                                                                      rer beliebt macht:       die Welt – und nicht nur bis zum Zau-
                                                                      Schiller als Comic,      ne.“ (Goethe – Who the hell is Goethe?)
                                                                       Büchner als Man-                             Gabriele Frydrych
                                                                       ga, „Lessing light“,
                                                                       Bücher über Dro-        Was GEW-Mitglieder lesen und für die
                                                                        gensucht, Jugend-      Sommertage empfehlen, erfährt man in
                                                                         prostitution und      dieser HLZ auf den Seiten 9 bis 19….
Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung 73.Jahr Heft7/8 Juli/Aug.2020 - HLZ-Lesesommer
5     HLZ 7–8/2020       zum Inhaltsverzeichnis                                                                          C oron a - P a n d emie

       Mal sehn, was passiert ...
    In einem Interview mit der Frankfurter        und der Frankfurter Virologe Martin
    Rundschau (FR) erklärte Kultusminister        Stürmer von einem „gewissen Experi-
    Lorz am 9. Juni, er halte den Vorschlag,      ment“. Die auch von Lorz zitierte Stu-
    den Regelbetrieb an Schulen kurz vor          die aus Baden-Württemberg habe kei-
    den Sommerferien wieder aufzuneh-             neswegs ergeben, dass Kinder das Virus
    men, um die Auswirkungen auf das In-          bremsen würden. Außerdem liege noch
    fektionsgeschehen mit den „Sommerfe-          kein Endergebnis vor. Auch der Kron-
    rien als Puffer“ zu beobachten, für eine      zeuge Professor Streeck erklärte nach
    „spannende Idee“, über die er „nach-          der Veröffentlichung des Interviews in          Diskussion mit den unmittelbar Betrof-
    denke“. Tatsächlich war die Rückkehr          der FR, „dass er eine Öffnung der Schu-         fenen beschlossen. Und die drängenden
    der Grundschulen zum Regelunterricht          len als Testphase vor den Sommerferi-           Fragen der Kolleginnen und Kollegen
    ab dem 22. Juni bereits am 5. Juni in         en NICHT empfohlen hat.“                        wurden auch in den folgenden Tagen
    einer Telefonkonferenz des Landkreis-             Kaum noch eine Rolle spielte die            schlicht ignoriert. Wie soll man Kindern
    tags von Ministerpräsident Bouffier an-       Festlegung des Kultusministers in sei-          der ersten, zweiten und dritten Klassen,
    gekündigt worden.                             nem Erlass vom 7. Mai, dass alle Vorga-         die nach dem 2. Juni erst wenige Un-
       Die entsprechenden Erlasse des Mi-         ben zum Unterricht in kleineren Grup-           terrichtstage hatten, erklären, warum
    nisters, die am 10. Juni an die Schulen       pen, zu den Abstandsregeln und zum              die Abstandsregeln in der Schule von
    versandt wurden, lösten einen Sturm           Hygienekonzept „zunächst bis zu den             einem auf den anderen Tag nicht mehr
    der Entrüstung aus. Alle Stellungnah-         Sommerferien Bestand haben“. Verges-            gelten sollen, aber überall streng einzu-
    men und Interventionen der GEW Hes-           sen waren auch die Aussagen des Mi-             halten sind? Dies leite „Wasser auf die
    sen kann man auf der Homepage der             nisters, man solle nur „das Machbare            Mühlen all derer, die alle Vorkehrungen
    GEW nachlesen, weitere Informationen          machen“ und werde die Interessenver-            zur Eindämmung der Pandemie sowie-
    findet man im Corona-Blog der GEW             tretungen der Eltern, der Lehrkräfte und        so für unsinnig halten“. Der GEW-Lan-
    in dieser HLZ auf Seite 7. Widerspruch        der Schülerinnen und Schüler zukünf-            desvorstand erhielt für seinen Protest
    kam nicht nur von der GEW, sondern            tig wieder besser beteiligen. Auch die          viel Zuspruch, aber auch Widerspruch
    auch aus der Wissenschaft, von Schul-         Rückkehr der Grundschulen zum Regel-            und wütende Reaktionen. Die Diskussi-
    trägern und von Eltern. Der Vorsitzen-        unterricht, eine Entscheidung von gro-          on über die Glaubwürdigkeit und Ver-
    de des Bundeselternrats Stephan Wass-         ßer Tragweite, wurde hinter verschlos-          lässlichkeit politischen Handelns wird
    muth sprach von „Versuchsspielchen“           senen Türen ohne jede Information oder          uns auch im neuen Schuljahr begleiten.

       Aus dem Postfach der GEW                   Mit Ihrer Stellungnahme zur geplanten           Liebe GEW-ler, ich bin überhaupt nicht
                                                  Schulöffnung machen Sie sich zur Schande        aufgebracht, sondern froh, dass es für mei-
    Liebe GEW, sehr gut geschrieben! Weiter so!   der Gesellschaft. Ich bin nicht nur Mutter      ne Viertklässler noch einmal zwei Wochen
    Gibt es etwas, dass wir aktiv tun können?     von zwei schulpflichtigen Kindern, sondern      geben wird, in denen sie sich zum Abschied
    (Lehrerin)                                    auch Ärztin. (…) Ich bitte Sie daher, unseren   alle gemeinsam sehen können. Ich verstehe
                                                  Kindern die zustehende Bildung zukommen         schon die ganze Zeit über nicht, dass euer
    Ich bin fassungslos, ja es ist unglaublich!
                                                  zu lassen. Ihr feiges Verhalten macht uns       Fokus allein auf den Lehrkräften zu liegen
    Nachdem wir in den letzten Wochen unter
                                                  Eltern sauer und sprachlos, sodass ich bange    scheint. anstatt dass das Wohl der Kinder
    riesigem Aufwand wiederholt Pläne ent-
                                                  habe, ob Lehrern in Deutschland eine ad-        Priorität hat, und die brauchen die Schule
    und verworfen haben, ist jetzt für die 4.
                                                  äquate, kompetente medizinische Behand-         dringend! (Lehrerin)
    Klassen die dritte Woche mit Präsenzunter-
                                                  lung in Zukunft zustehen sollte. (Ärztin)       Wir sind empört über die kurzfristige Öff-
    richt. Für den Jahrgang 2 war heute gerade
    mal der zweite Tag in der Schule. (…) Wir     Ihr sprecht mir damit aus der Seele. Ich bin    nung der Grundschulen. Ungeachtet viro-
    sind gerade dabei, den Kindern die Corona-    zutiefst enttäuscht und geradezu verletzt       logischer Erkenntnisse sollen plötzlich be-
    Regeln nahezubringen und bei den Eltern       darüber, wie wenig meine Arbeit und die         währte Sicherheitsmaßnahmen nicht mehr
    für Verständnis zu werben – und dann das!     meines Kollegiums von unserem Dienstherrn       gelten. Wir Kolleg*innen an der Grund-
    Nicht nur dass die ganze Arbeit nahezu um-    gewertschätzt wird. Ich gehöre zur Risiko-      schule fühlen uns als Versuchskaninchen,
    sonst war, auch das Vertrauen von Kindern     gruppe und bin als Schulleiterin aus Respekt    Risikogruppen zählen plötzlich nicht mehr.
    und Eltern in Lehrkräfte und Schule wird      für mein Kollegium und zu dessen Unterstüt-     (Kollegium)
    schwer erschüttert, die Sinnhaftigkeit der    zung jeden Tag freiwillig in den Unterricht     Ich bin fassungslos! Ist die Landesregierung nun
    Einschränkungen durch die Maßnahmen           gekommen. Und nun werde ich als Versuchs-       gänzlich von allen guten Geistern verlassen?
    ist nicht mehr nachvollziehbar. (Lehrerin)    kaninchen missbraucht! (Schulleiterin)          Wir sind doch keine Versuchskaninchen!
    Liebe GEW, ich finde es mehr als wichtig,     Was sind denn Ihre Vorstellungen eines re-      Wochenlang haben wir das Unmögliche
    dass die Grundschulen ihre Tore wieder        gulären Schulbetriebes? Die Kinder hatten       möglich gemacht: Vor-Ort-Schooling der
    täglich für alle Kinder öffnen! Bei aktuell   jetzt genug frei, irgendwann muss ja mal        Abschlussklassen bei gleichzeitigem Digi-
    0,0071 % Infizierten gibt es aus meiner       was gestartet werden. Dass die Lehrer zwei      talschooling der übrigen Jahrgänge und dazu
    Sicht keinen Grund, weiter an diesen Un-      Wochen vor den Ferien keine Lust mehr ha-       das Homeschooling und Bei-Laune-Halten
    verhältnismäßigkeiten festzuhalten. Freuen    ben, kann ich verstehen! Aber sie haben in      des eigenen Grundschulkindes. (Lehrerin)
    wir uns doch mit den Kindern, anstatt wei-    der ganzen Zeit ihr volles Gehalt bezogen!      (Diese und viele andere Mails liegen der Re-
    ter dagegen anzukämpfen. (Lehrerin)           (Handwerksmeister)                              daktion im Wortlaut und mit Namen vor.)
Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung 73.Jahr Heft7/8 Juli/Aug.2020 - HLZ-Lesesommer
G E W - C oron a - B log                                                                       zum Inhaltsverzeichnis        HLZ 7–8/2020      6

                   Zimmerweg 12: Was tut die GEW?
        Der folgende Blog informiert über Akti-       len Hochschulsemester“ vor. Sie for-             Der Landtag diskutiert kontrovers
        vitäten und Statements der GEW Hessen         dern zusätzlich zu den Bundesmitteln         über den „eingeschränkten Regelbe­
        seit Mitte Mai bis zur Fertigstellung die-    finanzielle Entlastungen für Studie-         trieb“ für Kitas, der nach den Ankün-
        ser Ausgabe der HLZ Mitte Juni. Aktivi-       rende, beispielsweise durch eine Re-         digungen der Landesregierung am 2.6.
        täten der Kreis- und Bezirksverbände, der     duzierung der Mieten in Wohnheimen           wieder aufgenommen werden soll. Die
        Personalräte und vieler anderer Gremien
                                                      oder eine Stundung der Semesterbeiträ-       Oppositionsparteien werfen Sozialmi-
        der GEW sind hier nicht erfasst. Alle Stel-
        lungnahmen findet man im Wortlaut un-         ge. Dr. Simone Claar, Referatsleiterin       nister Kai Klose eine Täuschung der
        ter www.gew-hessen.de.                        Hochschule und Forschung der GEW             Eltern vor, da angesichts der Hygie-
                                                      Hessen, fordert, dass alle befristeten Ar-   nevorschriften und der personellen
        Freitag, 15. Mai                              beitsverträge mindestens um sechs Mo-        Ressourcen bestenfalls eine „erweite-
                                                      nate verlängert werden.                      re Notbetreuung“ möglich sein werde.
        Auf Einladung der Verlagsgruppe                  Per Videokonferenz stellt sich die        Andreas Werther, Erzieher und GEW-
        Rhein-Main diskutiert die GEW-Vorsit-         GEW den neuen LiV vor, da die übli-          Referent für Sozialpädagogik, fordert
        zende Maike Wiedwald mit dem Vorsit-          chen Vorstellungsrunden in den Stu-          klare Handlungsempfehlungen: „Alle
        zenden des Landeselternbeirats Korhan         dienseminaren ausfallen. Am 9. Juni          wissen, dass man kein Kind auf 1,5 Me-
        Ekinci. Das Video steht in der VRM-           lädt die GEW die LiV für das Lehr-           ter Abstand wickeln oder trösten kann
        Mediathak als Stream zur Verfügung.           amt an Gymnasien und für Berufliche          und pädagogische Kommunikation mit
                                                      Schulen ein.                                 Mund-Nasen-Schutz nicht umsetzbar
        Dienstag, 19. Mai                                                                          ist.“ Ähnlich äußert sich Till Günther,
        Christina Nickel berichtet aus dem            Dienstag, 26. Mai                            Mitarbeiter einer Kindertagesstätte im
                                                                                                   Landkreis Offenbach und Mitglied des
        Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und          Der Landtag diskutiert in erster Lesung      Bezirksvorstands der GEW Südhessen
        Lehrer über eine erfolgreiche Initiative      über die Änderungen des Schulgesetzes.       in einem Rundbrief an alle Mitglieder
        der GEW: Jetzt können auch die Lehr-          „Schule unter Pandemiebedingungen            (www.gew-suedhessen.de): „Die Gesell-
        kräfte im Vorbereitungsdienst (LiV), die      gestalten – das geht nur gemeinsam“:         schaft, die uns für unverzichtbar hält,
        eine Wiederholungsprüfung ablegen             Unter dieser Überschrift schreiben die       muss alles dafür tun, dass wir nicht bei
        müssen, entweder im Unterricht oder           GEW-Vorsitzenden Maike Wiedwald
        im Theorieformat geprüft werden. Da-                                                       und wegen unserer Arbeit erkranken!“
                                                      und Birgit Koch einen offenen Brief an
        mit ist die Verschiebung ihrer Prüfung        die Regierungsfraktionen und an die
        ins neue Schuljahr vom Tisch.                                                              Donnerstag, 28. Mai
                                                      Fraktionen von SPD, Linke und FDP.
                                                      Sie kritisieren das „Hau-Ruck-Verfah-        Die erste Präsenzsitzung des GEW-Lan-
        Mittwoch, 20. Mai                             ren“, das die Mitbestimmungsrechte der       desvorstands findet mit über 50 Teil-
        CDU und Grüne legen den 53-seitigen           Verbände und der Eltern- und Schüler-        nehmerinnen und Teilnehmern in Fulda
        Entwurf für ein „Gesetz zur Anpassung         vertretungen missachtet. Die Proteste        statt. Die gute technische Vorbereitung
        des Hessischen Schulgesetzes und wei-         zeigen Wirkung: Die Regierungsfraktio-       ermöglicht auch den Mitgliedern des
        terer Vorschriften an die Maßnahmen           nen stimmen einer schriftlichen Anhö-        Landesvorstands, die nicht angereist
        zur Bekämpfung des Corona-Virus“ vor.         rung und einer Verschiebung der drit-        sind, eine weitgehend störungsfreie
        Es soll ohne Anhörung bereits in der          ten Lesung auf den 16. Juni zu (HLZ          Teilnahme in Wort und Bild. Der Lan-
        folgenden Woche im Landtag beraten            S.35).                                       desvorstand beschließt, die Landesde-
        und beschlossen werden (HLZ S. 35).                                                        legiertenversammlung zu verschieben
                                                      Mittwoch, 27. Mai                            (siehe Kasten). Weitere Schwerpunk-
        Montag, 25. Mai                                                                            te sind die Arbeitsbelastung der Päd-
                                                      Der DGB Hessen-Thüringen stellt Ele-         agoginnen und Pädagogen durch die
        Die hessischen Studierendenvertretun-         mente eines hessischen Konjunktur-           Corona-Pandemie (HLZ S.8), der Digi-
        gen legen gemeinsam mit GEW, ver.             programms zur Diskussion. Nach An-           talPakt (S.24), die geplanten Zwangsab-
        di und DGB-Jugend einen umfangrei-            sicht des Vorsitzenden Michael Rudolph       ordnungen an Grundschulen (S.25) und
        chen Forderungskatalog zum „digita-           müssen alle Anstrengungen darauf ge-         die Änderung des Schulgesetzes (S.35).
                                                      richtet sein, die Beschäftigung zu sta-
                   LDV verschoben                     bilisieren und die Wirtschaft wieder in      Freitag, 29. Mai
                                                      Schwung zu bringen. Vorrang sollten
        Der Landesvorstand beschloss mit gro-         Investitionen in die öffentliche Infra-      Am Nachmittag erreicht die Schulen
        ßer Mehrheit, die ordentliche Landes-         struktur haben, unter anderem in Kran-       eine Mail des HKM mit einem neuen
        delegiertenversammlung der GEW Hes-           kenhäuser und Schulen, sowie die so-         Hygieneplan für den Präsenzunterricht,
        sen, die vom 5. bis zum 7. November           zial-ökologische Transformation: „Für        der am darauffolgenden Werktag, am
        2020 in Kassel stattfinden sollte, auf        den DGB stehen soziale Gerechtigkeit,        2. 6., in Kraft treten soll. Partner- und
        Grund der Pandemie auf einen neuen            Dekarbonisierung und Reduzierung des         Gruppenarbeit sind „unter Wahrung der
        Termin im Herbst 2021 zu verschieben.         Ressourceneinsatzes im Mittelpunkt.“         Abstandsregelung“ wieder erlaubt.
Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung 73.Jahr Heft7/8 Juli/Aug.2020 - HLZ-Lesesommer
7     HLZ 7–8/2020      zum Inhaltsverzeichnis

    Dienstag, 2. Juni                          Dienstag, 9. Juni
    Auch die Klassen 1 bis 3 haben jetzt       In einem Interview mit der Frankfurter
    wieder mindestens sechs Stunden pro        Rundschau erklärt Kultusminister Lorz,
    Woche Präsenzunterricht.                   er halte den Vorschlag, den Regelbe-
                                               trieb an Schulen kurz vor den Sommer-
    Mittwoch, 3. Juni                          ferien wieder aufzunehmen, für eine
                                               „spannende Idee“, über die er nach-
    Unter Bezug auf die positiven Erfah-       denke. Man habe dann die Sommer-
    rungen des Landes mit einem Sonderin-      ferien als „Puffer“, um zu sehen, wie
    vestitionsprogramm im Zuge der Welt-       sich die Aufhebung der Abstandsre-
    finanzkrise fordert die GEW Hessen ein     geln auswirkt. Tatsächlich hatte Minis-
    „Sondervermögen Bildungsinfrastruk-        terpräsident Bouffier genau dies jedoch
    tur“ in Höhe von 5 Milliarden Euro, um     bereits am 5. Juni in einer Telefonkon-
    die wirtschaftlichen Folgen der Corona-    ferenz des Landkreistags verkündet. In     Auch nach der Wiedereröffnung der Lan-
    Krise zu bewältigen und - wie in den       der Hessenschau lehnen sowohl Maike        desgeschäftsstelle der GEW im Zimmerweg
    Jahren nach 2009 - die Investitionstä-     Wiedwald als auch der Vorsitzende des      in Frankfurt arbeiten einige Mitarbeiterin-
    tigkeit des Landes und der Kommunen        Bundeselternrats Stephan Wassmuth          nen und Mitarbeiter weiterhin im Homeof-
    zu beleben. Die Folgen des inzwischen      solche Überlegungen ab (HLZ S.5).          fice. Deshalb bitten wir alle Mitglieder, ihre
    aufgelaufenen Investitonsstaus zeigen                                                 Anfragen an die GEW Hessen weiterhin
    sich aus Sicht der GEW besonders in                                                   vorzugsweise per Post (Zimmerweg 12,
                                               Mittwoch, 10. Juni                         60325 Frankfurt) oder Mail (info@gew-
    den Schulen. „Das reicht von maroden                                                  hessen.de) zu schicken. Aktuelle Infos zur
    Gebäuden über Hygieneprobleme bis          Den Schulen gehen die Erlasse zu, dass     Erreichbarkeit in den Sommerferien findet
    zur IT-Ausstattung“, sagt die GEW-Vor-     der Unterricht in den Grundschulen und     man in dieser HLZ auf Seite 2 und unter
    sitzende Birgit Koch bei der Vorstellung   an den Grundstufen der Förderschulen       www.gew-hessen.de.
    der Forderungen.                           ab dem 22. Juni bis zu den Sommerfe-
                                               rien und somit an zehn Schultagen im
    Donnerstag, 4. Juni                        Umfang von vier bzw. fünf Zeitstun-        derlich, „da sich der Mindestabstand in
                                               den wieder aufgenommen werden soll.        Krippen und Kitas nicht einhalten lässt
    Die GEW Hessen sieht die Schulleite-       Die Abstandsregeln werden aufgeho-         und in Grundschulen fahrlässig kurz-
    rinnen und Schulleiter „am Limit“. Die     ben. Lehrkräfte über 60 werden wie-        fristig aufgehoben werden soll“.
    starke Mehrfachbelastung der Mitglie-      der zum Präsenzunterricht verpflich-
    der der Schulleitungen sei nicht mehr      tet, obwohl das Infektionsrisiko durch     Dienstag, 16. Juni
    hinnehmbar: „Massive Arbeitsüberlas-       die neuen Regelungen steigt. Die Über-
    tung und wenig Arbeitspausen machen        legungen lösen einen Sturm der Entrüs-     Der geschäftsführende Landesvorstand
    auf die Dauer krank!“ Auch bei der Pla-    tung aus (HLZ S.5).                        begrüßt, dass eine Grundschullehrerin
    nung des neuen Schuljahres lasse das           Bei einer Telefonkonferenz des DGB     den Rechtsschutz der GEW erhält, um
    HKM die Schulleitungen im Regen ste-       Hessen-Thüringen mit den grünen Mi-        in einem Eilverfahren gegen die Auf-
    hen: „Es gibt bis dato keine Informa-      nistern Kai Klose (Soziales und Gesund-    hebung der Abstandsregeln in Grund-
    tionen, wie eine Balance aus Präsenz-      heit) und Tarek Al Wazir (Wirtschaft)      schulen vorzugehen.
    und Onlinelernen hergestellt werden        fordert Maike Wiedwald einen demo-            Die GEW kritisiert, dass die dem
    soll.“ Die Vorgabe, gymnasiale Lehr-       kratischen Planungsprozess, an dem         Land zur Verfügung gestellten Mittel
    kräfte per Zwangsabordnung an den          die Interessenvertretungen der Lehr-       von 37,2 Millionen Euro für die Be-
    Grundschulen einzusetzen, bringe zu-       kräfte, der Eltern und der Schülerinnen    schaffung und Ausleihe digitaler End-
    sätzliche „Unruhe und großen Unfrie-       und Schüler, die Gewerkschaften sowie      geräte an Schülerinnen und Schüler of-
    den in die Kollegien“.                     Virologinnen und Virologen beteiligt       fensichtlich „nicht abgerufen werden“.
        Maike Wiedwald nimmt an einer          werden. Für den geplanten Zwölf-Mil-       Bei Land und Schulträgern mache sich
    Diskussion des DGB mit der Hessischen      liarden-Fonds verweist sie auf drin-       die fatale Mentalität breit, nach den
    Handwerkskammer teil. Dabei geht es        gend erforderliche Investitionen in        Sommerferien sei „alles wieder normal“.
    um die Situation an den beruflichen        den Schulbau (z.B. Schultoiletten). Die
    Schulen, die Ausbildung unter Corona-      Mittel für die Digitalisierung müssten     Freitag, 19. Juni
    bedingungen und die Mitbestimmung          schnell fließen, damit die Endgeräte
    in den Berufsbildungsausschüssen.          für Schülerinnen und Schüler im neu-       Lehrkräfte und Eltern demonstrie-
                                               en Schuljahr genutzt werden können.        ren in Frankfurt und Kassel gegen die
                                                                                          überstürzte Öffnung der Grundschu-
    Montag, 8. Juni                                                                       len. Auch in Offenbach (17.6.) erklären
                                               Freitag, 12. Juni                          Grundschullehrerinnen, Grundschul-
    Hessische Studierendenvertretungen
    und Mitglieder der Gewerkschaftsju-        Die GEW-Landesvorsitzenden Bir-            lehrer und Eltern im Namen der Kinder:
    gend fordern vor dem Landtag in Wies-      git Koch und Maike Wiedwald for-           „Wir sind keine Versuchskaninchen.“
    baden eine bessere finanzielle Absi-       dern, dass sich die Beschäftigten in al-
    cherung der Studierenden, weil ihr         len hessischen Bildungseinrichtungen
    Lebensunterhalt mit den versprochenen      „freiwillig wöchentlich auf COVID-19         Alle weiteren aktuellen Infos:
    Kredite nicht gesichert werden kann.       testen lassen können“. Dies sei erfor-            www.gew-hessen. de
Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung 73.Jahr Heft7/8 Juli/Aug.2020 - HLZ-Lesesommer
C oron a - P a n d emie                                                                      zum Inhaltsverzeichnis        HLZ 7–8/2020      8

                                         Lehrkräfte am Limit
                            GEW-Forderungen zur Arbeitszeit der Lehrkräfte
        Der Landesvorstand beschäftigte sich        ausgearbeitete Materialien und Aufgaben-     Stunden und Tage für den Präsenzun-
        auf seiner Sitzung am 28. Mai in Fulda      stellungen zur Verfügung gestellt. Darüber   terricht als auch feste Zeiten und Pläne
        ausführlich mit der aktuellen Situation     hinaus wird dadurch gewährleistet, dass      für das häusliche Lernen festlegt. Diese
        in den Schulen, insbesondere auch mit       die Schülerinnen und Schüler ein quali-      Verteilung muss sich auch in den Ein-
        der Arbeitsbelastung der Lehrerinnen        fiziertes Feedback zu ihren Ergebnissen      satzplänen der Lehrkräfte abbilden: Sie
        und Lehrer. Mitglieder des Landesvor-       sowie zur individuellen Fortführung des      werden einen Stundenplan für den Prä-
        stands berichteten, dass die Arbeitszei-    Lernprozesses durch ihre Lehrerinnen und     senzunterricht haben und einen zwei-
        ten insbesondere seit der Wiederauf-        Lehrer erhalten.“ (Erlass vom 7.5.2020)
                                                                                                 ten Stundenplan mit den Fächern und
        nahme von Präsenzunterricht in der                                                       Lerngruppen, für die sie das häusli-
        Kombination mit der Betreuung des             Lernen zuhause ist Unterricht              che Lernen vorbereiten, durchführen,
        häuslichen Lernens in vielen Fällen                                                      betreuen und nachbereiten. Und auch
        „jedes akzeptable Maß überschreiten“.       Für Lehrerinnen und Lehrer ist dieses        wenn das neue Schuljahr im Regelbe-
        Dass die aus Gründen des Infektions-        Szenario, das die Eltern beruhigen soll,     trieb beginnen sollte, müssen entspre-
        schutzes gebildeten kleineren Lern-         ein Horrorszenario: Die Überlast aus ei-     chende Pläne vorgehalten werden, falls
        gruppen eine „Entlastung“ darstellen,       nem vollen Einsatz mit allen Pflicht-        eine zweite Welle der Pandemie kommt.
        wurde als „Irrtum“ angesehen:               stunden im Präsenzunterricht und einer
        „Zu der hohen Konzentration auf die Ein-    gleichzeitigen Betreuung der Schüle-
        haltung der Abstands- und Hygieneregeln     rinnen und Schüler in einem struktu-         Und das fordert die GEW Hessen
        kommt die massiv erhöhte Verantwor-         rierten häuslichen Lernen ist nicht zu       Der folgende Beschluss, der einstimmig
        tung für die eigene Gesundheit und die      leisten. Daran ändert es auch nichts,        gefasst wurde, wird von den GEW-Lan-
        der Schülerinnen und Schüler.“              wenn Lehrkräfte, die nicht im Präsenz-       desvorsitzenden in allen Gesprächen und
                                                    unterricht eingesetzt werden können,         Erklärungen der nächsten Wochen vertre-
                                                    einen Teil der Aufgaben für das häus-        ten und ist auch bereits in die Stellung-
           Überlast nicht ohne Folgen               liche Lernen übernehmen, da die Vor-         nahme der GEW zur Änderung des Schul-
        Die derzeitige „Überlast“ wird – so die     gaben des HKM nicht ohne eine enge           gesetzes eingeflossen:
        übereinstimmende Meinung der Mit-           didaktische und personelle Verzahnung        Der Unterrichtseinsatz der Lehrkräf-
        glieder des Landesvorstands – nicht         von Präsenzunterricht und häuslichem         te in der Notbetreuung, im Präsenz-
        ohne Folgen für die Gesundheit der          Lernen zu erfüllen sind. Deshalb wird        unterricht und bei der Vorbereitung,
        Lehrkräfte bleiben. Deshalb hat der         die GEW Widerstand leisten, wenn die         Durchführung und Nachbereitung des
        Landesvorstand Forderungen beschlos-        Betreuung des häuslichen Lernens aus         häuslichen Lernens richtet sich nach
        sen, die zu einer Begrenzung der Ar-        der in der Pflichtstundenverordnung          der Pflichtstundenverordnung und der
        beitsbelastung im neuen Schuljahr           geregelten Unterrichtsverpflichtung in       individuellen Pflichtstundenzahl un-
        führen sollen. Denn es besteht Grund        den Bereich der „außerunterrichtlichen       ter Berücksichtigung von Teilzeitarbeit,
        zu der Annahme, dass auch nach den          Dienstpflichten“ verlagert werden soll.      Deputaten und Abordnungen. Stunden
        Sommerferien kein Präsenzunterricht                                                      im Präsenzunterricht und Stunden zur
        im üblichen Umfang möglich sein wird.       Wie weiter im neuen Schuljahr?               Vorbereitung, Durchführung und Nach-
        Das Gesetz zur Änderung schulrechtli-                                                    bereitung des häuslichen Lernens, die
        cher Vorschriften sieht bereits vor, dass   Die vergangenen Wochen haben aus             gleichermaßen der Erfüllung der Stun-
        zunächst bis zum 31. März 2021 von          Sicht des GEW-Landesvorstands ge-            dentafel dienen, sind gleichwertig in
        den Vorgaben der Stundentafel „ab-          zeigt, dass auch die Vorbereitung,           vollem Umfang anzurechnen. Dazu ist
        gewichen“ werden kann (HLZ S. 35).          Durchführung und Nachbereitung des           die Pflichtstundenverordnung – wie
        Gleichzeitig kündigte das Hessische         häuslichen Lernens inhaltlich sehr           viele andere Rechtsvorschriften auch –
        Kultusministerium (HKM) an, dass die        komplex und zeitlich höchst aufwän-          durch einen „Pandemie-Paragrafen“ zu
        so entstehende Lücke durch „die Kom-        dig ist und im Hinblick auf Arbeitszeit      ergänzen. Die GEW schlägt vor, die Re-
        bination von Präsenzunterricht mit un-      und Arbeitsbelastung den Anforderun-         gelung wie folgt zu formulieren:
        terrichtsunterstützenden Lernsituatio-      gen des Präsenzunterrichts in nichts         „Auf die Pflichtstundenzahl der Lehrkräf-
        nen für das häusliche Lernen“ gestopft      nachsteht. Dies gilt insbesondere, wenn      te werden im Stundenplan der Schülerin-
        werden soll, „die den Schülerinnen und      die Anleitung zum häuslichen Lernen          nen und Schüler festgelegte Stunden für
        Schülern auch in den Phasen zwischen        von einer improvisierten Anfangspha-         das häusliche Lernen unter Pandemiebe-
        den Präsenzunterrichtstagen einen kon-      se in einen strukturieren „Regelbetrieb“     dingungen voll angerechnet, die von den
        tinuierlichen, von der Schule fortwäh-      übergehen soll.                              Lehrkräften inhaltlich vor- und nachbe-
        rend begleiteten Lernrhythmus“ ermög-           Die GEW geht davon aus, dass             reitet werden müssen. Die Lehrkräfte sind
                                                    Schülerinnen und Schüler für das             verpflichtet, sie in der üblichen Form zu
        lichen sollen:
                                                    nächste Schuljahr einen ganz anderen         dokumentieren.“
        „Dazu werden von den Lehrkräften für
        diese Zwischenphasen didaktisch versiert    Stundenplan bekommen, der sowohl             Harald Freiling, HLZ-Redakteur
Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung 73.Jahr Heft7/8 Juli/Aug.2020 - HLZ-Lesesommer
9      HLZ 7–8/2020     zum Inhaltsverzeichnis                                                             HLZ-LESESOMMER

                                                      Lesen im Corona-Sommer
                      Gert Hirchenhain ist ein passionierter Leser und Rezensent
    Dror Mishani (45) lebt als Übersetzer und Literaturdozent in       der Stadt Oran an der Westküste Algeri-
    Tel Aviv und stammt als Misrachi aus einer Familie sephar-         ens in den 40er Jahren des letzten Jahr-
    discher Einwanderer, die lange in Israel diskriminiert wor-        hunderts. Eine zunehmende Zahl von to-
    den sind. Er hat bisher drei Kriminalromane vorgelegt: „Ver-       ten Ratten kündigt an, dass in der Stadt
    misst“, „Die Möglichkeit eines Verbrechens“ und „Die schwere       eine Seuche ausgebrochen ist. Der Arzt Dr.
    Hand“, deren Protagonist, der eigenwillige Ermittler Avra-         Rieux erkennt die Gefahr und setzt gegen
    ham Avraham, hinter den bürgerlichen Fassaden den Spu-             große Widerstände Quarantänemaßnahmen
    ren des Bösen folgt.                                               durch. Als der Ausnahmezustand erklärt
        In seinem neuesten Werk mit dem schlichten Titel „Drei“        wird, wird Oran zum Mikrokosmos einer ge-
    wendet sich Mishani von seinem Dauerermittler ab. Dieses           schlossenen Gesellschaft, die auf eine töd-
    Buch ist ein leiser und darum sehr bewegender Roman. Drei          liche Bedrohung reagiert. Camus‘ Roman
    Frauen, Orna, Emilia und Ella, begegnen dem Anwalt Gil, der        ist die Geschichte vom Kampf gegen die
    mit allen drei Frauen eine Beziehung beginnt. Das gelingt          physische und moralische Zerstörung einer
    nur, weil alle drei ihre Sehnsüchte nach Geborgenheit, männ-       Gesellschaft während des Ausbruchs einer
    lichem Schutz und Anerkennung auf diesen Gil projizieren.          Seuche. Der Roman ist ein Plädoyer für die
    Gil bleibt lange Zeit ein dubioser Typ, der mal angibt, ge-        Solidarität angesichts existenzieller Heraus-
    schieden zu sein, mal, getrennt zu leben; auf jeden Fall aber      forderungen. Wie wir die aktuelle Corona-
    verfügt er über eine leere Wohnung in Tel Aviv. Geschickt          Pandemie später deuten werden, wird sich
    unaufdringlich nähert er sich den Frauen, die alle mehr vom        zeigen. „Die Pest“ war unmittelbar nach
    Leben erwarten als das, was sie im Moment repräsentieren.          Ausbruch der Corona-Pandemie vergrif-
    Die Lehrerin Orna, von ihrem Mann verlassen, will vor al-          fen, mittlerweile ist das Buch nachgedruckt
    lem ihren neunjährigen Sohn Eran gut durchs Leben bringen          worden und im Handel wieder zu haben.
    und lernt Gil in einem Dating-Portal für Geschiedene kennen.           Epidemien sind seit dem Mittelalter auch
    Die lettische Altenpflegerin Emilia gerät in Kontakt zu Gil,       ein Gegenstand der Literatur. Zu den beson-
    um ihren Aufenthaltsstatus klären zu lassen, und Ella, die         ders lesenswerten Titeln gehören Giovan-
    Frau eines Soldaten, Historikerin, Mutter dreier Töchter und       ni Boccaccio „Das Dekameron“ (um 1350),
    oft allein, will mehr sein als eine Gebärmaschine. Gil zeigt       Thomas Mann „Der Tod in Venedig“ (1911),
    den Frauen gegenüber schier unbegrenzte Hilfsbereitschaft          José Saramago „Die Stadt der Blinden“ und
    und sie bringen ihm großes Vertrauen entgegen, ohne das            Philipp Roth „Nemesis“ (2010).
    der Betrug und die Verführung nicht funktionieren würden.
    Erst zu spät spüren alle drei Frauen, dass sie Opfer gewor-        Gert Hirchenhain (72) hat seit 1994 über
    den sind. Was wie eine Beziehungsgeschichte beginnt, ent-          250 Buchtipps in der Melsunger Ausgabe der
    puppt sich als ungewöhnlicher, grausam-verstörender Kri-           HNA veröffentlicht und 236 davon in einem
    mi. Allerdings merkt der Leser das erst am Ende des ersten         kleinen Sammelband zusammengefasst (siehe
    Teils des Romans. Mishani ist ein Meister in der Kunst, Ver-       Kasten). Der pensionierte Lehrer für Deutsch,
                                                                       Ethik und PoWi war lange Vorsitzender des
    brechen aus der Perspektive ihrer Opfer zu entwickeln. Die-
                                                                       GEW-Kreisverbands Melsungen-Fritzlar und
    se Blickwechsel und präzisen Nahaufnahmen machen den               wohnt in Fuldabrück-Dörnhagen.
    Roman zu einem Meisterwerk. In einem Interview sagt Dror
    Mishani: „Für mich ist der Roman eine Kampfansage gegen            Dror Mishani: Drei. Roman. Diogenes Verlag Zürich 2019. 330
    die Normalisierung von Tod und Gewalt.“ Ein unglaublich            Seiten, 24 Euro
    subtiles Buch, scheinbar banal, spannend, überraschend.
                                                                       Albert Camus: Die Pest. Roman. Rowohlt Verlag Hamburg, 90.
                                                                       Auflage 2020. 352 Seiten, 12 Euro
      Die Pest: Aus gegebenem Anlass wieder gelesen
    Aus gegebenem Anlass habe ich auch mein altes Exemplar
    von „Die Pest“ wieder in die Hand genommen. Es hat zahlrei-
                                                                       Wir verlosen 236 Buchtipps von Gert Hirchenhain
    che Eselsohren, ist voller Unterstreichungen und auf einigen       236 persönliche Lesetipps, die Gert Hirchenhain seit 1994
    Seiten schon arg angegilbt. Ich las die Rowohlt Taschenbuch-       für die HNA-Melsungen schrieb, wurden Anfang 2020 in
    ausgabe 1965 als Obersekundaner; dass sie damals Schullek-         dem Buch „Gerts Aus(ge)lese“ zusammengefasst und im Ei-
    türe war, ist eher nicht anzunehmen, aber Albert Camus galt        genverlag veröffentlicht. Gert Hirchenhain hat der HLZ drei
    als ein Vertreter der existenziellen Philosophie, die er u.a. in   Exemplare zur Verfügung gestellt, die wir unter den Leserin-
    seinen Essays „Der Mythos von Sisyphos“ und „Der Mensch            nen und Lesern der HLZ verlosen. Schreiben Sie eine Mail
    in der Revolte“ dargelegt hat. Das war für mich interessant.       an freiling.hlz@t-online.de (Betreff: „HLZ-Lesesommer“).
        Camus‘ „Die Pest“ erschien 1947 und wurde umgehend             Die Auslosung erfolgt am 1. August unter allen Leserinnen
    weltberühmt. Der Autor schildert den Ausbruch der Pest in          und Lesern, deren Mail bis zum 31. Juli eingegangen ist.
Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung 73.Jahr Heft7/8 Juli/Aug.2020 - HLZ-Lesesommer
HLZ-LESESOMMER                                                                               zum Inhaltsverzeichnis           HLZ 7–8/2020        10

    Aus der Provinz
                                    Ulrich Märtin hat jetzt mehr Zeit zum Lesen
                       Im Sommer 2019 hat Andreas Maier (Jahr-               Einen grundlegenden Bruch erfährt die Geschichte im
                       gang 1967) unter dem Titel „Die Familie“           Schlusskapitel, das mit dem Satz schließt: „Meine Familie ist
                       den siebten Teil seines auf elf Bände an-          eine Familie, die immer Grabsteine gemacht hat. Auch ihren
                       gelegten autobiografischen Romanprojekts           eigenen.“ In der Familiengeschichte ist über die Jahrzehnte
                       „Ortsumgehung“ herausgebracht. Thema               die Nazizeit hartnäckig verdrängt und verleugnet worden.
                       seiner bisherigen Bücher ist sein Aufwach-         Die Mutter erklärt auf Fragen nur mantraartig: „Wir haben
                       sen in den siebziger und achtziger Jahren          den Juden doch sogar Brand gegeben.“ Nachforschungen
                       in der hessischen Provinz rund um Fried-           zerstören diese Legende und ergeben, dass das Familienver-
                       berg und in der Wetterau.                          mögen zu einem großen Teil aus der Arisierung des Firmen-
                           Auf urkomische Weise schreibt er oft ab-       grundstücks resultiert. Der Vorbesitzer des Grundstücks, der
                       surd anmutende Geschichten, die von sei-           jüdische Geschäftsmann Theodor David Seligmann, wurde
                       nen Eltern, seinen beiden Geschwistern und         1937 enteignet und starb noch im gleichen Jahr, die Spu-
                       weiteren Verwandten und ihren oft skurri-          ren seiner Ehefrau verlieren sich: „Wir sind die Kinder der
                       len Verhaltensweisen handeln. Der Vater            Schweigekinder“.
                       ist Bürgermeisterkandidat für die CDU und                                                        Ulrich Märtin
                       als Anwalt für Henninger Bräu tätig, die
                                                                          Ulrich Märtin hofft nach 35 Jahren hauptberuflicher Tätigkeit
                       Mutter Direktorin des geerbten Steinmetz-          für die GEW Hessen (HLZ S. 20), dass ihm sein neues Rentner-
                       betriebs. Der Bruder fällt als erster aus der      dasein genügend Zeit verschafft, vielbändige Romane zu lesen
                       Rolle und wird Stammgast in einem linken           und an das vor Zeiten an der Goethe-Universität abgeschlosse-
                       Jugendzentrum:                                     ne Germanistikstudium anzuknüpfen. Andreas Maiers Roman
     „Ob die bessere Welt plötzlich vom Himmel fallen solle, frag-        „Die Universität“ spielt übrigens auch an der Goethe-Uni, wenn
     te mein Vater. Das seien doch alles Wolkenkuckucksheime. Das         auch einige Jahre später...
     gäben ihm doch nur seine linken Lehrer ein! Diese Lehrer, die
     ihm solche Ideen einpflanzten, ließen sich ihr Leben genauso von     Andreas Maier: Die Familie. Suhrkamp Verlag Berlin 2019. 166
     diesem Staat bezahlen wie alle anderen.“                             Seiten, 20 Euro

     Demokratisch schreiben
                David Redelberger und die neue Schule des Schreibens
                       Ernst Alexander (kurz E. A.), Rauter, ist vor      Egal ob wir unseren Schüler*innen Medienkompetenz nä-
                       allem für seine in der gewerkschaftlichen Bil-     her bringen oder Kolleg*innen in Seminaren fortbilden wol-
                       dungsarbeit verwendeten Bücher „Wie eine           len: Wir müssen uns (nicht nur) aus demokratischen Gesichts-
                       Meinung in einem Kopf entsteht“ und „Vom           punkten verständlich ausdrücken. Rauter orientiert sich in „Die
                       Faustkeil zur Fabrik“ bekannt. Weniger be-         neue Schule des Schreibens“ vor allem an Zeitungsartikeln
                       kannt sind seine Werke über das Schreiben          und nutzt viele Beispiele, um diese auseinanderzunehmen. Ich
                       von Texten, in die er seine Erfahrungen als        habe bei jedem erneuten Lesen dazugelernt. Wahrscheinlich
                       Fortbildner für Journalist*innen einbringen        würde Rauter auch den vorliegenden Text kritisieren: zu kom-
                       konnte. „Die neue Schule des Schreibens“ ist       plizierte Wörter, zu viele Nebensätze. Das macht jedoch den
                       ein verständliches und praxisnahes Werk, das       Reiz des Buchs aus: Die eigenen Texte bekommen den Spiegel
                       sich eignet, die eigenen Texte zu verbessern.      vorgehalten. „Die neue Schule des Schreibens“ ist nicht nur
                       Verbessern im Rauterschen Sinne heißt, sie         Kolleg*innen zu empfehlen, die Sprachen oder andere textlas-
                       verständlicher und damit zugänglicher und          tige Fächer unterrichten. Das Buch ist vergriffen und nur teuer
                       demokratischer zu machen: „Bemühung um             zu erhalten. Vielleicht lohnt sich ein Anruf beim örtlichen An-
                       besseren Stil ist Bemühung um demokrati-           tiquariat. Rauters Buch „Vom Umgang mit Wörtern“ ist meist
                       schere Verhältnisse.“ Gerade in Zeiten von         günstiger erhältlich.
                       Fakenews und Verschwörungsideologie kom-                                                        David Redelberger
                       men mir seine Worte hochaktuell vor:
                                                                          David Redelberger unterrichtet Chemie, Physik und Mathe an der Erich-
    „Unverständlichkeit öffentlicher Rede ist für jeden von uns gefähr-   Kästner-Schule Baunatal und ist Sprecher der Jungen GEW Hessen.
    lich. Wer nicht weiß, aus welchen Gründen die Ereignisse eintre-
    ten, die alle angehen, entwickelt keine Lust, in öffentlichen Ange-   E. A. Rauter: Die neue Schule des Schreibens. Von der Gewalt der
    legenheiten mitzureden.“                                              Wörter. ECON Verlag Düsseldorf 1996 (vergriffen)
11     HLZ 7–8/2020     zum Inhaltsverzeichnis                                                           HLZ-LESESOMMER

                                               Lieder, die zu Tränen rühren
                      Katharina Grossardt hört gerne Eva Cassidy
     Als Musikerin und Lehrerin lese ich zwar prinzipiell sehr ger-   pie arbeiten alle nur noch 20 Stunden in
     ne, aber in den letzten Jahren leider viel zu selten. Da mir     der Woche und haben Zeit für das wesent-
     naturgemäß die Musik mehr am Herzen liegt, habe ich mich         lich Wichtige im Leben: Familie, Freunde,
     dazu entschlossen, hier eine Musik-CD-Empfehlung zu ge-          Kultur, Natur oder was einem sonst Freu-
     ben. Sie ist auch nicht „neu“, allerdings die CD, die ich in     de bereitet.
     den letzten Monaten immer wieder hören wollte. Manche                Mein Wunsch lautet deshalb: Unterstützt
     Leserinnen und Leser kennen und lieben sie vielleicht ge-        Künstlerinnen und Künstler, die in einem
     nau so wie ich, andere werden eventuell eine „Entdeckung“        „reichen“ Land wie Deutschland zu den pre-
     für sich machen.                                                 kär Beschäftigten zählen, und zeigt den Kul-
         Eva Cassidy ist als hervorragende Sängerin und Gitarris-     turinstitutionen, wie wichtig ihr sie für den
     tin ein großes Vorbild für mich. Einige der Titel auf „Song-     gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Aus-
     bird“ sind sicherlich den meisten bekannt. Die Interpretatio-    einandersetzung mit bedeutsamen Themen
     nen sind in ihrer Intensität nicht zu überbieten. Mich rühren    und die Zerstreuung und Freude am Leben haltet! Wie ent-
     sie deshalb auch oft zu Tränen. Leider wurde Eva Cassidy nur     scheidend dabei natürlich auch die kulturelle Bildung ist,
     33 Jahre alt und erlebte nicht, wie viele Menschen sie welt-     muss ich hier wohl nicht näher ausführen.
     weit mit ihren Aufnahmen erreicht hat.                           Katharina Grossardt ist Lehrerin an einem Oberstufengymnasi-
         Ich bin eine große Optimistin und würde mich freuen,         um in Rüsselsheim und auch als Sängerin und Gitarristin unter-
     wenn die Menschheit (oder zumindest ein größerer Anteil)         wegs. Wer Lust hat, kann ja mal reinhören: www.2inthemood.de
     aus den Erfahrungen, die wir alle durch die aktuelle Pande-
     mie machen, nachhaltige Schlüsse für das weitere Leben auf       Eva Cassidy: Songbird 20 (20th-Anniversary-Edition). Label:
     diesem wunderbaren Planeten ziehen würde. In meiner Uto-         Blix Street 1998.10,99 Euro

                                                         Soziale Frage von Rechts
                      Sascha Schmidt empfiehlt ein Buch über die Politik der AfD
     Nachdem die AfD bei fünf Landtagswahlen im Jahr 2016             Michael Barthel und Anna-Lena Herkehoff
     hohe Stimmengewinne unter Arbeiterinnen, Arbeitern und           untersuchen, welche Rolle die Soziale Fra-
     Arbeitslosen verzeichnen konnte, hat die Relevanz der Sozi-      ge im neurechten Magazin „Compact“ spielt.
     alen Frage für Teile des extrem rechten Spektrums deutlich       Besonders lesenswert finde ich den Beitrag
     zugenommen. Während der inzwischen rein formal aufge-            von Helmut Kellershohn, wie Marx von Ver-
     löste „Flügel“ der AfD auf einen „solidarischen Patriotismus“    tretern der Neuen Rechten interpretiert wird.
     setzt, diskutieren Teile der Neuen Rechten über einen „Anti-         Ein weiterer Schwerpunkt ist die Wirt-
     kapitalismus“ von Rechts. Einen Überblick über die mit die-      schafts- und Sozialpolitik der AfD mit Aus-
     ser Entwicklung einhergehenden wirtschafts- und sozialpo-        sagen der Bundestagsfraktion und des „Flü-
     litischen Debatten, Positionen und Konzeptionen bietet der       gels“ und einem besonderen Blick auf die
     Sammelband „Zwischen Neoliberalismus und völkischem              antiamerikanischen und antisemitischen
     ‚Antikapitalismus‘“. Im Mittelpunkt von Teil 1 des in drei       Denkfiguren in der Partei. Nicole Gohlke
     Teile gegliederten Buchs stehen ideengeschichtliche Baustei-     und Christian Schaft analysieren das Hoch-
     ne der Neuen Rechten aus der Zeit der Weimarer Republik:         schul- und Wissenschaftsprogramm. Alles in
     der „preußische Sozialismus“ von Oswald Spengler (Micha-         allem bietet der Sammelband einen gelunge-
     el Lausberg), der „nationale Sozialismus“ von Arthur Möller      nen und lesenswerten Überblick.
     van den Bruck (Volker Weiß) und das „nationalsoziale“ Kon-
     zept aus der Zeitschrift „Die Tat“ (Simon Eberhardt). Helmut     Sascha Schmidt ist als Gewerkschaftssekretär des DGB für die
     Kellershohn widmet sich dem Zusammenhang von Neolibe-            Region Wiesbaden-Rheingau-Taunus und Limburg-Weilburg zu-
     ralismus und „Konservativer Revolution“.                         ständig. Er engagiert sich in Bündnissen gegen Rassismus und
                                                                      rechte Hetze und im Netzwerk für Demokratie und Courage.
         Die Teile 2 und 3 setzen sich größtenteils mit aktuellen
     Wirtschaftskonzepten und -themen der extremen Rechten so-        Andrea Beck, Simon Eberhardt und Helmut Kellershohn: Zwi-
     wie den damit verbundenen Kampffeldern auseinander. Gi-          schen Neoliberalismus und völkischem „Antikapitalismus“. So-
     deon Botsch und Christoph Kopke analysieren die NPD in der       zial- und wissenschaftspolitische Konzepte und Debatten in-
     Ära Voigt, Tim Ackermann und Mark Haarfeldt beleuchten           nerhalb der AfD und der Neuen Rechten. Unrast Verlag Münster
     die Betriebsratskampagne der Neuen Rechten von 2018 und          (Edition DISS) 2019. 268 Seiten, 24 Euro
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