3 Evangelische Akademie Bad Boll
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
www.ev-akademie-boll.de September 2019 3 Ist das fair? Fair Fashion – Menschenrechte im Ausverkauf ● Kirche bekennt Farbe bei Rüstungsexport ● Schritte hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft ● Was ist Beteiligung – Sicht von jungen Menschen aus der Jugendhilfe
Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, seit einigen Jahren erlebt das Wörtchen »fair« eine wahre Re- Auf eine andere Dimension verweist die Herkunft des Wört- naissance: Es wird in allen Variationen miteinander kombi- chens »fair«: Im Englischen wird es verwendet, um ein niert. »Fair*ändern«, »FairPhone«, »Fairer Kobalt«, »Fair anständiges, redliches oder gerechtes Verhalten zu kennzeich- parken«, »Faire Woche«, »Faire Kleidung«. Mittlerweile gibt es nen. Zugleich ist es auch übersetzbar mit »schön, hübsch, sogar »Faire Fitness«. Ursprünglich stand der »Faire Handel« hell, günstig, reichlich«. In der Etymologie geht es zurück auf mit Kaffee, Tee oder Schokolade allein da; mittlerweile ist den altnordischen Ausdruck »fagr«, der so viel wie »schön, die Sehnsucht nach einem fairen Verhalten in allen Lebens- hübsch, freundlich« bedeutet. In Lettland wie auch in Litauen bereichen präsent – und das ist gut so. Dahinter verbirgt sich wird dieses Wort als Verb noch genutzt, um das Schmücken das wachsende Bewusstsein, dass die Lebenshaltung, die wir oder Hellmachen eines Raumes zu beschreiben. Auch darum heutzutage einehmen, alles andere als zukunftsfähig ist. Es geht es also mit gelebter Fairness: Die Freundlichkeit und die muss gehandelt werden – und zwar jetzt und vor allem ganz Schönheit des Lebens stehen heute auf dem Spiel, und dieses konkret. Eine Vertröstung auf eine weit entfernte Zukunft, Spiel ist ein außerordentlich ernstes Spiel geworden. Es ist aber auch ein Daher-Reden funktionieren nicht mehr. Die höchste Zeit, Räume des »Fair*änderns« zu schaffen. Beispiele, die in dieser Ausgabe des SYM aufgezählt werden, illustrieren die Notwendigkeit, aber auch die Möglichkeit In diesem Sinne thematisiert Miriam Hitzelberger (S. 8 ff.) die eines konkreten Handelns im Alltag. Produktionsweise der Kleidungsproduktion, appelliert an die große Macht der Verbraucher_innen und zeigt auch Alternati- Warum brauchen wir einen fairen Lebensstil, der alle Bereiche ven auf. Tobi Rosswog (S. 14 f.) spricht die Art des Arbeitens, des Alltags durchzieht? Eine leicht nachvollziehbare Zahl mag aber auch die Möglichkeiten einer an den Gemeingütern dies verdeutlichen: Der »Welterschöpfungstag«, also der Tag, orientierten Neuausrichtung des Arbeitslebens an. Ruth an dem die Menschheit die Ressourcen, die ihr die Erde zur Seyboldt macht in ihrem Beitrag (S. 16 f.) die Rolle der Kinder Verfügung stellt und die sie auch erneuern kann, aufgebraucht bzw. Jugendlichen stark, deren Stimme gehört werden muss, hat und damit auf »Pump« lebt, rückt im Jahreskalender wenn es um eine faire Entwicklung unserer Gesellschaft geht. immer weiter nach vorne: In den 1970er Jahren lag er noch im Die Stimme des Bad Boller Predigers, Politikers und Pazifisten Dezember, in den 2000er Jahren war es ein September-Tag, im Christoph Blumhardt kann uns darin Mahnung und Aufforde- Jahr 2019 ist es schon der 29. Juli. Ein Ende dieser massiven rung zugleich sein: »Vorwärts, ihr faulen Christen! Hinein in Übernutzung der Erde ist nicht absehbar. In Deutschland wur- die Welt, nicht heraus. ›Hinein‹ – das ist Christus!« Ich de der Welterschöpfungstag 2019 schon am 3. Mai erreicht. wünsche Ihnen in diesem Sinne eine vorwärts gerichtete Dies bedeutet, dass wir hierzulande einen Lebensstil pflegen, Lektüre der Beiträge in diesem Heft! der drei Erden benötigen würde, wenn er denn die vorhande- nen Erdressourcen berücksichtigt. Fair ist das auf keinen Fall – weder gegenüber dem Rest der Menschheit noch gegenüber der zukünftigen oder der heutigen jungen Generation. Darum hat die Inflation des Wörtchens »fair« ihre Berechtigung, und es gilt daran zu arbeiten, dass es dabei nicht nur um eine Akademiedirektor Prof. Dr. Jörg Hübner Worthülse geht, sondern um konkretes Handeln. 2 SYM 3/2019
Inhalt 4 24 Aktuell ... Vorschau ▪ Christoph Blumhardt: Tagungen vom 6. September Prediger, Politiker und bis 31. Dezember 2019 Pazifist – zum 100. Todestag ▪ Bitte um Vergebung für Um- gang mit Homosexuellen 30 ▪ Georg Lämmlin wird Direk- Aus der Akademie tor des Sozialwissenschaft- lichen Instituts der EKD ▪ Abschied von der Akademie: Susanne Meyder-Nolte und 6 Fabia Spachmann ▪ Neu in der Akademie: Akademiegeschichte 8-17 Tanja Dehner (AFV), Die Friedensbewegung in der Regina Steffes (AFV) gegenwärtigen Kulturkrise von Alfred Mechtersheimer, 1983 Schwerpunkt 32 Ist das fair? Links, 7 Menschenrechte und Umwelt im Ausverkauf. Wie Fast Onlinedokumente Kunst Fashion zur Ausbeutung von Arbeiter_innen beiträgt und Ernst ist die Kunst, heiter das die Klimakrise befeuert Von Mirjam Hitzelberger. S. 8 33 Leben. Künstler Uwe Ernst Verlosung Die Kirche bekennt Farbe. Martina Waiblinger befragt Impressum 18 Kiflemariam Gebrewold zum Thema Rüstungsexport, S. 12 Extra Politische Theologie der Schritte hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft. Von Tobi Rosswog, S. 14 34 Hoffnung. Zur Aktualität von Kommentar Christoph Blumhardt Was ist Beteiligung? Die Sicht von jungen Menschen Kurswechsel im Kranken- aus der Jugendhilfe, S. 16 haus: Ist das fair? Von Ruth Seyboldt 20 35 Rechenschafts- Titelbild bericht Statt einer ▪ Einführung von Direktor Am 6. Jahrestag des Einsturzes der Textilfabrik Rana Plaza Meditation in Bangladesh, dem 24.4.2019, bei dem damals über 1135 Dr. Jörg Hübner Dr. Denis Mukwege fordert Menschen ums Leben kamen und über 4000 Menschen ▪ Eindrücke von zwei Studien- Bundesregierung und EU zum verletzt wurden, protestieren Arbeiter_innen für bessere leiterinnen Handeln auf. Machen Sie mit! Sicherheit – auf dem Foto eine Verwandte eines Opfers. ▪ Interview mit Werner Stepanek Foto von Rehman Asad, picture alliance / NurPhoto ▪ Die Akademie in Zahlen SYM 3/2019 3
Aktuell Zum 100. Todestag von Christoph Blumhardt – Prediger, Politiker und Pazifist Die Hoffnungstheologie Blumhardts im Deutschen auf, die ihren Grund darin hätten, dass sich »der Kaiserreich zwischen 1871 und 1918 hatte Akade- Mensch als das Maß aller Dinge« sehe. Dagegen miedirektor Prof. Dr. Jörg Hübner als Thema für setzte er eine Erd-Theologie. Das Neue bei Blum- seinen Vortrag gewählt. Der Referent zeigte in hardt sei, dass er Gott in der Welt gesucht habe. vielen Facetten, wie der international denkende Im Jahr 1892 sei Hermann Hesse knapp 15-jährig Blumhardt mit dem Militarismus, der Ausbeutung während einer Adoleszenzkrise sechs Wochen in und dem Nationalismus seiner Zeit zwangsläufig Bad Boll gewesen, wo er den 50-jährigen Blum- in Konflikt geraten musste. In sechs Stationen hardt getroffen habe, sagte der Chefarzt der Kin- zeichnete Hübner das Leben Blumhardts nach, der der- und Jugendpsychiatrie im Göppinger Chris- den deutsch-französischen Krieg durch seine kol- tophsbad, Dr. Markus Löble, in seinem Impulsvor- trag. Glücklicherweise habe Dr. Heinrich Landerer die Psychiatrisierung des unglücklich verliebten und mit Suizid drohenden Jungen verhindert. Löble wies auf innere neuralgische Berührungspunkte von Hesse und Blumhardt hin, aus denen er zeit- lose Themen ableitete. Und Jahrgang 1842 seien sowohl Karl May als auch Blumhardt gewesen. Ihr Internationalismus, Anti-Rassismus, Anti-Klerika- lismus und beider entschiedener Pazifismus habe sie verbunden. Löble bezeichnete beide als heute »noch immer aktuelle und wichtige Utopisten«. Warum hat Blumhardt nicht in seiner Zeit weiterge- wirkt? Was fasziniert heute? Welche Perspektiven eröffnen sich zum Weiterdenken? – Zu diesen Fra- gen sagte Oberkirchenrat Professor Dr. Ulrich Heckel, Blumhardt sei ein einsamer Rufer in der Am Freitag, 2. August, lektive gegenseitige Verdammnis als Katastrophe Wüste geblieben, weil er in seiner Zeit alle kritisiert dem Todestag von bezeichnete. Er beleuchtete die Zeit Blumhardts als und sich mit allen angelegt habe, mit dem Kultur- Christoph Blumhardt, SPD-Landtagsabgeordneter und dessen konkrete protestantismus seiner Landeskirche und mit der gab es einen Festakt Aktionen. Das Wichtigste sei für Blumhardt die Sozialdemokratie. Seine Faszination bestehe darin, am Friedhof mit Kranz- niederlegung, Musik soziale Frage gewesen und die Achtung vor dem dass wir heute vor ähnlichen Fragen stünden wie vom Bläserensemble Menschen, betonte Hübner. Blumhardt habe auf damals. Besonders die soziale Frage sei heute vom der Jugendmusikschule die Friedens- und Menschenrechtsbewegung seiner Elend der Arbeiterschaft auf die Generationenge- Göppingen, Erinnerun- Zeit gesetzt, sich jedoch nicht dauerhaft an sie rechtigkeit zu transformieren, und es gehe darum, gen und Reden. gebunden. Sowohl von der Kirche als auch von der wie Rechte und Pflichten in einen neuen Ausgleich Sozialdemokratie enttäuscht, habe er sich für eine gebracht werden könnten. Blumhardts Zukunftszu- Am Samstag, 3. und Theologie des Friedens im Diesseits eingesetzt. gewandheit, seine Wachheit dafür, was Menschen Sonntag 4. August gab es eine Vielzahl von umtreibe, seine Lernfähigkeit verbunden mit dem weiteren gut besuchten Das über 90-jährige Urgestein der Theologie, Prof. weltweiten Horizont, das sei auch heute faszinie- Veranstaltungen: mit Dr. mult. em. Jürgen Moltmann war von Blumhardt rend. Die Idee, die Welt mit Respekt als Kosmos einer Tagung, einem beeinflusst worden. Er sprach in seinem Vortrag und als Teil der Schöpfung anzusehen, sei heute in Begegnungsabend davon, dass ein Gott der Hoffnung als Vorstellung, ihrer ökologischen Dimension anziehend. Und sei- mit Musik und einem wie ihn Blumhardt gehabt habe, einzigartig in den ne Reich-Gottes-Hoffnung, die er mit Zuversicht, feierlichen Gottes- Religionen der Welt sei. Hoffnung eröffne weite Optimismus und Tatkraft ins Diesseits transferiert dienst wurde Christoph Blumhardt in Erinne- Räume, Kreativität und ergebe Möglichkeiten, denn habe, wirke ansteckend. rung gerufen. alle Wirklichkeit sei von Möglichkeiten umgeben. Moltmann beschrieb die Geschichte von Theolo- von Annerose Fischer-Bucher aus: NWZ, 29.6.2019, gekürzt. Siehe auch S. 18-19, 32 und Fotos auf der Rückseite gieansätzen vom 16. bis zum 20. Jhd. mit Befrei- ungs- und feministischer Theologie. Er zeigte die heutigen Bedrohungen der Menschheit durch Kli- mawandel, Artensterben und atomare Bedrohung 4 SYM 3/2019
Aktuell Bitte um Vergebung bei Homosexuellen Georg Lämmlin wird Direktor des Sozial- wissenschaftlichen Instituts der EKD In einer Andacht der Sommertagung der Landes- synode stand das Gedenken an das Leid und die Georg Lämmlin (59), übernimmt die Leitung Vergebungsbitte an homosexuelle Menschen im des Sozialwissenschaftlichen Instituts (SI) der Zentrum. Landesbischof Dr. h. c. Frank Otfried July Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in sagte: »Für die vielen schmerzhaften Erfahrungen, Hannover. Der habilitierte Theologe wird Nach- die gleichgeschlechtlich empfindende Mitchristin- folger von Gerhard Wegner, der im Mai in den nen und -christen und Mitmenschen in und durch Ruhestand verabschiedet wurde. Georg Lämmlin unsere Kirche machen mussten, bitten wir um Ent- ist Studienleiter an der Evangelischen Akademie in schuldigung vor Gott und den Menschen.« Der Bad Boll. Dort ist er für die Arbeitsschwerpunkte Landesbischof schilderte Beispiele aus der langen Wirtschaftsethik, Global Governance und Europa Verfolgungsgeschichte Homosexueller und wies zuständig. Nach dem Theologiestudium in Bethel Georg Lämmlin ist darauf hin, dass »in der Vergangenheit bis in die und Heidelberg wurde Georg Lämmlin 1991 an der noch Studienleiter an der Evangelischen Gegenwart gleichgeschlechtlich empfindenden Universität Heidelberg mit einer Arbeit über das Akademie in Bad Boll. Menschen Unrecht, Verachtung, Ausgrenzung und Kirchen- und Gesellschaftsverständnis Friedrich Dort ist er für die Leid widerfahren ist: in unserer Gesellschaft – und Schleiermachers promoviert. Das Vikariat und den Arbeitsschwerpunkte in unserer Kirche. Wir sind in unserer Synode und Vorbereitungsdienst zum Pfarramt absolvierte er Wirtschaftsethik, Glo- unserer Landeskirche – jenseits der verschiedenen in der Evangelischen Landeskirche in Baden. Von bal Governance und theologischen Deutungen und persönlicher Über- 1996 bis 2002 war er Wissenschaftlicher Assistent Europa zuständig. zeugungen – der festen Auffassung, dass es einen am Lehrstuhl für Religionspädagogik an der Theo- lieblosen Umgang, geschichtsvergessene Ausgren- logischen Fakultät der Universität Heidelberg und zung oder polemische Verachtung von homo-sexu- habilitierte sich 2001 mit einer Arbeit zur homileti- ellen Menschen bei uns nicht geben soll.« schen Grundlagentheorie. An der Universität Hei- delberg war er im Anschluss als Privatdozent tätig. July wies darauf hin, dass in vielen Ländern der Nach einigen Jahren als Pfarrer der Kreuz-/Herzo- Welt homosexuelle Menschen nach wie vor ver- genriedgemeinde in Mannheim, als Polizei- und folgt, geächtet, mit dem Tode bedroht oder hin- Notfallseelsorger sowie einer berufsbegleitenden gerichtet würden. In Deutschland gebe es heute Ausbildung in Systemischer Organisationsentwick- weitgehend Gleichberechtigung und Freiheit – lung und Gemeindeberatung wechselte Lämmlin und doch lebten homosexuelle Menschen nicht 2008 als Studienleiter für gesellschaftspolitische ohne Angst, würden Opfer von Mobbing: »Wir als Jugendbildung für das Projekt ›Junge evangelische Christen in der Gemeinschaft der Kirchen – bei Verantwortungseliten‹ an die Evangelische Aka- unterschiedlichen theologischen Haltungen – ha- demie Baden. 2011 übernahm er die Leitung des ben für Menschenrechte und Menschenwürde, also Theologischen Instituts der Universität Mannheim. konkret: die Rechte auch dieser Schwestern und Ab 2014 ist er als außerplanmäßiger Professor für Brüder, für ihre Würde einzutreten und sie öffent- Praktische Theologie und seit September 2016 als lich zu bezeugen.« ... Studienleiter an der Evangelischen Akademie Bad »Wir sprechen aus: Wir haben als Kirche im Schutz Boll tätig. Seinen Dienst im SI wird Georg Lämmlin und Eintreten für gleichgeschlechtlich liebende am 1. Dezember 2019 antreten. Menschen in der Vergangenheit oftmals Diskrimi- nierung und Verfolgung mit befördert. Wir wollen Das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD (SI) bei aller theologischen Unterschiedlichkeit den begleitet und kommentiert aktuelle Entwicklungen gleichgeschlechtlich orientierten Schwestern und in Kirche und Gesellschaft. Es ist am 1. Oktober Brüdern im alltäglichen Umgang in Gemeinde, Kir- 2004 aus dem bisherigen Sozialwissenschaftlichen che und Gesellschaft kräftiger und ohne Bedingun- Institut der EKD in Bochum und dem Pastoralso- gen bezeugen: Du bist Gottes geliebtes Kind. Wir ziologischen Institut der Landeskirche Hannovers sprechen aus: Für die vielen schmerzhaften Erfah- in der Evangelischen Fachhochschule hervorge- rungen, die gleichgeschlechtlich empfindenden Mit- gangen. christinnen und -christen und Mitmenschen in und Katharina Ratschko Pressestelle der EKD, 25. Mai 2019 durch unsere Kirche machen mussten, bitten wir um Entschuldigung vor Gott und den Menschen.« Evang. Landeskirche in Württemberg, 5.7.2019, gekürzt SYM 3/2019 5
Akademiegeschichte Die Friedensbewegung in der gegenwärtigen Kulturkrise Aus: »Aktuelle Gespräche« 4/1983 muss, damit diese Konzeption aufgeht. herkömmlichen Wachstumsverständnis Feindbild zu einem erheblichen Teil als Stillstand Rückschritt ist. Die Zeit ist »Die Kulturkrise der Gegenwart« war Produkt der Art, wie man rüstet. Und reif, nach allgemein gültigen Weisheiten Titel einer Tagung vom 28.-30.1983 wenn man industriell nicht zweitrangig zu suchen. Man stellt ja auch fest, dass mit Studienleiter Christian Buchholz. sein will, kann man es sich natürlich das Maß der Gemeinsamkeit zwischen Das Ergebnis stand in den »Aktuellen nicht leisten, ein Waffensystem der den vermeintlich sich ausschließenden Gesprächen« 1983/4: »Die Aufklärung vorletzten Generation zu haben. Religionen viel größer ist, als man an- mit der autonomen Vernunft ist am genommen hat. Dahinter steckt wohl Ende angelangt. Die Grenzen des Men- Wir haben eine Rüstungskultur, und wer die Erfahrung, dass Religionen und ihre schen sind offengelegt; seine ethischen sich um die kulturellen Fragen bemüht, Gedankengebäude in sich so ambivalent Fähigkeiten sind weit hinter seiner sollte dies ganz stark berücksichtigen. sind – deswegen sind sie auch so stark technisch-organisatorischen Intelligenz Die internationalen Handelsströme sind und wirksam –, dass es dann mehr an zurückgeblieben.« Der Beitrag von ohne den Rüstungsexport und -im- den Intentionen dessen liegt, der nach Alfred Mechtersheimer (1939-2018) »Die port undenkbar. Viele Staaten würden Gemeinsamkeiten sucht, um viele zu Friedensbewegung in der gegenwärti- finanziell kollabieren, Frankreich sofort, finden, als an der tatsächlichen Situation. gen Kulturkrise« wurde damals veröf- wenn man den militärischen Teil des fentlicht – einen Auszug lesen Sie auf Handels abziehen würde. Dies kann Vom Frieden ist in allen Weltreligionen dieser Seite. Mechtersheimer, Offizier, man gar nicht mehr, die Krise wäre viel zu finden, gerade z.B. auch beim Politologe und politischer Aktivist war unübersehbar. Was militärisches Inter- Islam, obwohl dieser uns eher als eine in den 1980er Jahren als Friedensakti- esse heißt, wird nicht nur offen gesagt, den Krieg begünstigende Religion ver- vist bekannt. Von 1987-1990 war er als sondern ist verdeckt mittlerweile für die mittelt wird. Kontakte zu den Religio- Parteiloser Mitglied der Grünen Bundes- Fähigkeit der Staaten, so zu handeln, nen in allen Teilen der Welt wären eine tagsfraktion. Seit Ende der 1990er Jahre wie sie gerade handeln, unabdingbar praktische Konsequenz aus diesem Den- wurde er dem rechtsextremen Spektrum geworden. Man benutzt beispielswei- ken heraus, auch, um den Bipolarismus zugeordnet. Bei der Tagung referierten se Rüstungskooperationen in einigen in der Welt zu unterlaufen, denn es gibt ferner Prof. Dr. Günter Rohrmoser, die Regionen der Erde, wo Integrationspro- gerade da, wo religiöse Elemente stark Grüne Bundestagsabgeordnete Manon zesse im Außenverhalten der Staaten die sind, einen besonders ausgeprägten Maren-Griesebach, der Berliner Rechts- klassischen Instrumente weggenommen Ruf nach Emanzipation von den beiden anwalt Horst Mahler und der evangeli- haben. Wenn beispielsweise zwischen Supermächten und ihrem Konflikt. sche Publizist Eberhard Stammler. Amerika und China Verbindungen ver- bessert werden sollen, dann muss man Wir müssen einen neuen Ausbeutungs- »Die Welt ist militaristisch. Die bipolare sich auf dieses Feld begeben, weil man begriff verinnerlichen. Das ist sehr Konstruktion ist es vor allem – sicher sonst eigentlich so viele Angebote gar deprimierend. Wir beuten die Zukunft noch mehr die Bipolarität in den Köpfen nicht mehr hat. Fremdstationierungen aus, und zwar auf allen Gebieten. Nicht der Politiker, auch der in der Dritten in der Welt sind ja schon fast die Norm. nur im Ökologischen, wo es mittlerweile Welt –, die dazu geführt hat, dass man Man muss sich fragen, ob das Grundla- bekannt ist, auch im Ökonomischen, in der ganzen Welt eine einheitliche ge für Friedensordnung sein kann, dass was man noch leugnet, vor allem aber Rüstung hat. Armeen wurden zum fremde Truppen im eigenen Land sind. im sicherheitspolitischen Bereich. Wenn Symbol für staatliche Souveränität, und Mich stört dies nicht, weil es fremde wir die Rüstungsorganisation in Form die Industrienationen, die exportieren sind, sondern mich stört, dass damit der nuklearen Abschreckung fortschrei- (auch wir, die Bundesrepublik), sorgen Konflikte, die irgendwo in der Welt sind, ben, dann lässt sich mit einem hinläng- dafür, dass man das Militär braucht. jeweils in dieses Land oder jenes Land lichen Grad an Sicherheit sagen, dass Damit werden oft sogar erst feindliche exportiert werden können. wir hier nur deshalb leben, weil irgend- Konstellationen geschaffen, die es sonst eine nächste Generation stirbt. Das ist gar nicht gäbe. Beispielsweise haben wir Die imperialistische Phase ist zuende, kein Verfahren, dass sich auf Dauer in Europa nie eine Chance für eine wirk- es gibt wenig zu erobern, es gibt nur rechtfertigen lässt. Und das Ähnliche liche Friedensneuordnung, weil man noch Abgrenzungsprobleme. Wir brau- gilt ja auch für das Ökologische. Man dann, wenn man Nuklearwaffen zur chen neue Außenpolitik. Das wird die weiß, dass die Extrapolation der Trends Verteidigung vorsieht, entscheidend da- große Aufgabe der Supermächte sein, zu diesem Ergebnis führen würde, und für sorgt, wie der Feind aussieht. Wenn Bestandssicherung ohne Expansion zu das ist natürlich eine unheimliche, eine ich bereit bin, dass er so schlimm sein betreiben. Das ist schwer, weil nach dem bedrückende Beobachtung.« 6 SYM 3/2019
Kunst in der Akademie Ernst ist die Kunst, heiter das Leben Arbeiten von Uwe Ernst » … ich mache ja kein Konzept, nein, das ist »Uwe Ernst überlässt nichts dem Zufall. Seine ein intuitiv-fließendes Arbeiten auf ein Bilder sind das Ergebnis genau durchdachter Uwe Ernst Thema hin. Da gehören die Arbeitsblätter Prozesse, die er zunächst in mehreren Varia- dazu – mehr oder weniger ausgearbeitet … « tionen auf seinen – wie er es bezeichnet – Uwe Ernst Arbeitsblättern visualisiert. Der Vorteil dieses geboren 1947 in Vorgehens sowohl für den Künstler als auch Göppingen/Fils »Dieser Künstler ist [ … ] mit dem Zustand den Betrachter ist die schrittweise Annähe- der Welt und dem, was sich in ihr tut, nicht rung an das Endprodukt, an das ausgeführte Zeichner und Maler gerade zufrieden und traut auch der mensch- Kunstwerk. … lichen Vernunft nicht über den Weg. Er arbeitet und experimentiert zeichnet sarkastische kulturkritische Kom- Beim Betrachten der Werke von Uwe Ernst mit schwarzer Kreide auf mentare und hat sich dafür eine provokant wird einem schnell klar, dass es um symbol- Papier hermetische, Gegenständliches nur zitieren- hafte, verschlüsselte Inhalte geht, eine Art de Zeichensprache erfunden, die durchaus Alphabet der künstlerischen Sprache, die der lebt in Böbingen/Rems an Alpträume und surreale Höllenvisionen Künstler geschaffen hat und die es zu verste- erinnert. Allerdings ist da etwas, was seine hen gilt.« seit 1998 Mitglied im Künst- wüsten Bildwelten irgendwie in der Schwebe Dr. Helmut Herbst lerbund Baden-Württemberg hält und ihnen trotz des Unheimlichen, das darin passiert, Charme und ästhetischen Reiz www.ernst-kunst.de Vernissage: Sonntag, 22. September 2019, verleiht – ich kann es nur Witz nennen. Man 15:00 Uhr im Café Heuss spürt: da ist nicht nur Besessenheit, sondern Leitung: Hans-Ulrich Gehring Information: Heike Matula, Tel. 07164 79-202 auch Lust am Spiel bei seinen absurden Erfin- heike.matula@ev-akademie-boll.de dungen.« Ausstellungsdauer: Jochen Greven, 1997 22. September bis 11. November 2019 SYM 3/2019 7
Fast Fashion – fair Fashion Menschenrechte und Umwelt im Ausverkauf Wie Fast Fashion zur Ausbeutung von Arbeiter_innen beiträgt und die Klimakrise befeuert Die Bilder vom Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesh am 24. nen, von dem sie ihre Grundbedürfnisse April 2013 oder vom Brand in der Textilfabrik Ali Enterprises in Karatschi finanzieren können. Die Asia Floor (Pakistan) am 11. September 2012 sind um die Welt gegangen und haben Wage Alliance, ein Zusammenschluss für Entsetzen gesorgt – denn auch viele europäische Modeunternehmen von Menschenrechtsorganisationen und ließen in diesen Fabriken Kleidung fertigen. An den sozialen Missständen, Gewerkschaften in der Textilindustrie, aber auch an den politischen Rahmenbedingungen hat sich seither leider geht davon aus, dass in der konven- tionellen Textilproduktion nur etwa wenig geändert, wie aktuelle Studien zu Arbeitsbedingungen in der zwischen 0,5 und 3 Prozent des Ver- Textilbranche zeigen. kaufspreises an die Näher_innen gehen. Neben Niedriglöhnen sind auch gesund- Von Mirjam Hitzelberger den Baumwollanbau bis hin zum Nähen heitsschädigende Arbeitsbedingungen und Veredeln der Kleidung. Menschen- keine Seltenheit in der Textilindustrie. Der soziale Fußabdruck unserer Klei- rechtsorganisationen und Gewerk- Dazu tragen auch die verpflichtenden dung. Bis die Jeans oder die T-Shirts, schaften prangern immer wieder die Überstunden bei, da sie die Freizeit und die wir tragen, bei uns im Laden zum katastrophalen Arbeitsbedingungen in Erholungsphasen der Arbeiter_innen Verkauf ausliegen, haben die Klei- der Textilherstellung an. In den Produk- beschneiden. Aber auch der Einsatz dungsstücke bereits eine weite Reise tionsländern werden in der Regel keine von Chemikalien ohne entsprechende hinter sich. Die textile Lieferkette ist existenzsichernden Löhne gezahlt, was Schutzbekleidung, die Hitze in vielen lang und komplex und von zahlreichen dazu führt, dass Überstunden häufig auf Textilarbeiter in Dharavi, einem Slum in sozialen Missständen geprägt – ange- der Tagesordnung stehen, damit Arbei- Mumbai, Indien. es ist einer der gröten Slums fangen bei der Saatgutgewinnung für ter_innen überhaupt einen Lohn verdie- der Welt. 8 SYM 3/2019
Fast Fashion – fair fashion Fabriken und fehlende Pausenzeiten führen sen zu produzieren. Der Druck steigt, wenn es dazu, dass Arbeiter_innen einem besonders kurzfristig zu einer besonders hohen Nach- Die Macht der hohen Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind. frage kommt und schnell nachproduziert Konsument_innen Gewerkschaften in den Produktionsländern werden muss. Zu spüren bekommen dies fordern höhere Löhne, sichere Arbeitsbedin- letztlich die Arbeiter_innen, die insbesonde- Wir als Verbraucher_innen gungen und Schutz vor Gewalt am Arbeits- re bei Last-Minute-Bestellungen zu Über- können viel dazu beitragen, platz. Zwar haben einige der Produktionslän- stunden verpflichtet werden und massiven dass sich positive Verände- der einen gesetzlichen Mindestlohn, jedoch Arbeitsrechtsverletzungen ausgesetzt sind. rungen in der Modeindustrie reicht dieser nicht zum Leben. In Bangladesch Zudem lagern Zuliefererbetriebe unter hohem durchsetzen: Angefangen bei etwa beträgt der monatliche Mindestlohn Lieferdruck immer wieder auch Teile ihrer einem bewussten Textilkon- derzeit 8000 Taka (83 €) – ein existenzsi- Produktion an Subunternehmen aus, was sum, der die Frage danach, chernder Lohn, wie ihn die Gewerkschaften ein besonders hohes Risiko für Kinder- und was wir wirklich brauchen in fordern, müsste mindestens das Doppelte Zwangsarbeit birgt. den Vordergrund stellt, bis hin betragen. Gewerkschaften haben es zudem zu einem neuen, wertschät- in vielen Produktionsländern nicht leicht. Die Jeans und die Klimakrise. Die globale zenden Umgang mit dem, Gewerkschaftsfeindliche Diskriminierung ist Textilproduktion ist jedoch nicht nur von was wir bereits haben. Die weit verbreitet und so werden Arbeiter_innen enormen sozialen Missständen geprägt, Bewegung, die sich kritisch z.B. durch Einschüchterung von den Fabrik- sondern trägt auch maßgeblich zur Klima- und kreativ mit den aktuellen leitungen davon abgehalten, sich zu organi- krise bei. Die Treibhausgasemissionen der Problemen in der Textilindus- sieren. Beispiele wie das von Kalpona Akter, globalen Modeindustrie liegen mit rund 1.500 trie auseinandersetzt, wächst. Geschäftsführerin des Bangladesh Centre for Millionen Tonnen CO2 über dem gesamten Kleidertauschpartys werden Worker Solidarity (BCWS), zeigen, dass das internationalen Flug- und Schifffahrtsver- immer beliebter und bieten Engagement für Arbeiter_innenrechte nicht kehr. Doch nicht nur in puncto CO2 sind eine einfache Möglichkeit, der immer ungefährlich ist: Aufgrund ihres En- unsere Jeans, T-Shirts u.a. echte Umweltsün- Kleiderverschwendung etwas gagements saß Kalpona Akter bereits im Ge- der: Unsichtbar für uns stecken in unseren entgegenzusetzen und den fängnis. Protestaktionen von Arbeiter_innen Kleidungsstücken viele Liter Wasser, Erdöl eigenen Kleiderschrank – werden oft gewaltsam unterdrückt, wie sich und Chemikalien. So sind in einem T-Shirt losgelöst von jeglichem Kon- erst Anfang des Jahres beim Protest gegen etwa 2.500 Liter Wasser und einer Jeans im sumzwang – ›neu‹ zu bestü- die zu niedrige Anhebung des Mindestlohns Schnitt 11.000 Liter Wasser ›versteckt‹, wobei cken. Upcycling-Aktionen ge- in Bangladesh zeigte, der von der Polizei mit 85 Prozent davon beim Baumwollanbau ben Tipps und Anregungen, wie Tränengas und Gummigeschossen nieder- anfallen und 15 Prozent bei allen weiteren wir unsere Kleidung reparieren geschlagen wurde. Produktionsschritten. Auch wenn mittlerwei- oder umgestalten können, um le sogar Unternehmen wie H&M Produkte ihr neues Leben einzuhauchen. Ausbeutung mit System: Fast Fashion. Die aus Biobaumwolle anbieten, liegt der Anteil Und wenn es wirklich mal Verantwortung für die zahlreichen sozialen von Biobaumwolle nach wie vor weltweit bei etwas Neues sein soll, dann Missstände entlang der textilen Lieferkette unter einem Prozent. Im konventionellen bieten verschiedene Siegel und ist keineswegs nur den Zuliefererbetrieben, Baumwollanbau, aber auch in zahlreichen Label die Möglichkeit, Kleidung bei denen die Produktion stattfindet, an- weiteren Produktionsschritten kommen zu kaufen, die unter Bedin- zulasten. Vielmehr liegt die Verantwortung unzählige Chemikalien zum Einsatz – viele gungen produziert wurde, die bei den großen europäischen und US- davon sind giftig für Mensch und Umwelt. Mensch und Umwelt achten. amerikanischen Modeunternehmen. Fast- Aufgrund mangelnder Schutzmechanismen Fashion-Giganten wie Primark, Zara, H&M gelangen viele Chemikalien direkt ins Wasser oder Mango bringen bis zu 24 Kollektionen und schädigen so nicht nur die Gesundheit im Jahr heraus, die zum Teil wöchentlich der Arbeiter_innen. Der Anteil an Kleidung wechseln. Dies ist möglich, da der Produk- aus Kunststofffasern hat in den vergangenen tionszyklus der Kleidungsstücke, vor allem Jahren ebenfalls stark zugenommen und zu bei stark trendbezogener Kleidung, enorm einem massiven Anstieg im Erdölverbrauch komprimiert wurde und ›just in time‹ produ- der Textilindustrie geführt. Heute werden in ziert wird, um Lagerkosten zu sparen. Diese der Modeindustrie jährlich fast 100 Millionen kurzfristige Einkaufs- und Produktionsweise Tonnen Erdöl verbraucht, um Kunststofffa- geht jedoch zu Lasten der Zuliefererbetriebe, sern herzustellen. Bis 2030 wird ein Anstieg die unter enormem Druck und in starkem auf 300 Millionen Tonnen erwartet – ange- Wettbewerb zueinander stehen, in möglichst sichts der zunehmenden Erderwärmung ein kurzer Zeit hohe Volumen zu niedrigen Prei- katastrophaler Trend. SYM 3/2019 9
fast fashion - fair fashion die Bundesregierung mit dem Nationalen Aktionsplan für Wirtschaft und Menschen- Future Fashion – rechte (NAP) ausschließlich auf freiwillige Das Gemeinschaftsprojekt Selbstverpflichtungen. Bis 2020 steht ein in Baden-Württemberg sogenannter Monitoring-Prozess an, bei dem Unternehmen dazu befragt werden, welche Die Kampagne Future Fashion Schritte sie zum Schutz der Menschenrechte versteht sich als neue Bewe- in ihren Lieferketten unternehmen. Wenn gung für nachhaltige Textilien dabei weniger als die Hälfte der Unternehmen und bewusstes Konsumverhal- die Menschenrechte ausreichend schützt, ten in Baden-Württemberg. dann will die Bundesregierung gesetzliche Am Alltagsprodukt Kleidung Schritte in Erwägung ziehen. Im Monitoring- wird beispielhaft deutlich, wie Klasse statt Masse ist die Devise. Fast Fashion geht zu Lasten der schlecht bezahlten Arbeitskräfte in Übersee. Prozess werden jedoch keineswegs alle in das eigene Konsumverhalten Frage kommenden Unternehmen, sondern in einem Zusammenhang mit Die Zahlen verdeutlichen: Unsere Jeans haben nur eine zufällige Auswahl von 1.800 Un- der globalen Textilproduktion eine Menge mit dem Klimawandel zu tun ternehmen befragt. Das Monitoring beruht steht und so unmittelbare und wir als Konsument_innen tragen mit außerdem auf Selbsteinschätzungen der Auswirkungen auf die Lebens- unserer Kaufentscheidung dazu bei. Noch Unternehmen und nicht auf unabhängigen bedingungen von Menschen nie haben Menschen in Deutschland so viel Kontrollen. Der Druck muss daher insbe- weltweit hat. Ziel ist es, insbe- Kleidung gekauft wie in den letzten Jahren – sondere auf die Politik erhöht werden, damit sondere eine junge Zielgruppe und gleichzeitig noch nie so wenig Geld dafür verbindliche Standards für Unternehmen und von 15 bis 35-jährigen für ei- ausgegeben. Von 2000 bis 2015 hat sich die der Schutz von Menschenrechten und Um- nen nachhaltigen Textilkonsum Anzahl der gekauften Kleidungsstücke auf welt endlich Wirklichkeit werden. Im Herbst zu begeistern und auf öko- etwa 100 Milliarden verdoppelt. Im Schnitt startet eine breit getragene Kampagne, die faire Mode, aber auch Mög- kauft jede Person in Deutschland im Jahr etwa ein Lieferkettengesetz mit verbindlichen lichkeiten des Konsumverzichts 60 neue Kleidungsstücke, von denen 20-30% Sorgfaltspflichten fordert. Auch in Baden- aufmerksam zu machen. Das nie getragen werden. Auch in Altkleider- Württemberg hat sich ein Netzwerk gebildet, Angebot von Future Fashion sammlungen spiegelt sich dieser besorgnis- das dieses Anliegen unterstützt. ist vielfältig: Kleidertausch- erregende Trend zu immer kurzlebigeren parties, Upcycling-Aktionen, Kleidungsstücken wider: Bereits jetzt fallen Ausstellungen oder konsum- Weiterlesen: Viele der in diesem Artikel zitierten Zahlen in Deutschland jährlich rund eine Million kritische Stadtrundgänge stammen aus einer 2019 erschienenen Studie der Christ- Tonnen Altkleider an, wie der Dachverband stehen auf dem Programm. lichen Initiative Romero (CIR), die dafür u.a. Befragungen FairWertung angibt – Tendenz steigend. in Zuliefererbetrieben von C&A und Primark in Sri Lanka Daneben können ausgebil- durchführen ließ. Das »Dossier Fast Fashion« ist online dete Future Fashion Experts verfügbar oder kann bei der CIR gegen eine Gebühr von Schluss mit Freiwilligkeit – gesetzliche für Bildungsangebote in ganz 5 Euro bestellt werden. Der »Future Fashion Guide« des Verpflichtungen für unternehmerische Baden-Württemberg angefragt Dachverbands Entwicklungspolitik und der Stiftung Ent- Sorgfaltspflichten. Um nachhaltige Verän- wicklungszusammenarbeit Baden-Württemberg sowie das werden. Future Fashion ist derungen in globalen Lieferketten wie der Portal www.siegelklarheit.de bieten einen Überblick über ein Kooperationsprojekt der öko-faire Modeunternehmen und Siegel. Textilindustrie zu erzielen, fordern viele Stiftung Entwicklungszusam- zivilgesellschaftliche Organisationen in menarbeit Baden-Württemberg Deutschland gesetzliche Verpflichtungen für und des Dachverbands für Unternehmensverantwortung. Ein Liefer- Entwicklungspolitik Baden- ketten- oder Sorgfaltspflichtengesetz soll Württemberg. deutsche Unternehmen verpflichten, auf Menschenrechte und den Schutz der Umwelt Mirjam Hitzelberger ist in ihren globalen Lieferketten zu achten. Ein beim Dachverband Entwick- Anfang des Jahres bekannt gewordener, weit- lungspolitik Baden-Würt- reichender Entwurf für ein solches Gesetz aus temberg e.V. (DEAB) Pro- dem Bundesministerium für wirtschaftliche jektreferentin für Globales Lernen mit den Projekten Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) »Fair macht Schule!« und könnte ein wichtiger Schritt in Richtung Future Fashion. verpflichtende Unternehmensverantwortung mirjam.hitzelberger@ sein – doch gleichzeitig werden die hoff- deab.de nungsvollen Aussichten getrübt: Derzeit setzt 10 SYM 3/2019
Kaleidoskop Neues Siegel für faire Textilien Am 9. September möchte Entwicklungsminister Gerd Müller das staat- liche Textilsiegel »Grüner Knopf« offiziell vorstellen. Es soll Verbrau- cher_innen animieren, Kleidung zu kaufen, die nach höheren sozialen und ökologischen Standards gefertigt wurde. Der »Grüne Knopf« wird ein Siegel mit staatlicher Überwachung sein – geprüft von Prüfstellen wie dem TÜV. Das Prüfsiegel kann jede Art von Kleidung erhalten, aber auch andere Textilprodukte wie Teppiche, Gardinen, Decken, u.a. Bis Ende 2021 müssen die Firmen nur höhere Standards für die beiden letz- ten Produktionsschritte nachweisen – das Nähen und Färben der Stoffe. Später sollen sich die Anforderungen auch zum Beispiel auf den Anbau der Baumwolle ausdehnen. Eine Firma muss 20 Kriterien erfüllen. Kritik an dem Siegel kommt u.a. von der Kampagne für Saubere Kleidung. So seien keine existenzsichernden Löhne garantiert, sondern nur Mindestlöhne der Produktionsländer. Menschenrechte seien keine Grundlage. Weitere Infos: https://saubere-kleidung.de/2019/07/gruener-knopf/. S.a. S. 8-10. Kritische Aktionäre mit Aktion gegen Export von Sturmgewehren nach Mexiko und weltweit Bei der Hauptversammlung der Waf- losen und teilweise widerrechtlichen fenschmiede Heckler&Koch im Juli Exports von Sturmgewehren nach in Rottweil waren erstmals Presse- Mexiko und auch weltweit aufmerksam vertreter zugelassen. Der Umsatz war zu machen. Es gelang ihnen, Heckler & im Vergleich zum Vorjahreszeitraum Koch mit vielfachen Wortbeiträgen und um 15 Prozent auf circa 127 Millionen weit mehr als 120 Fragen in mehreren gestiegen. Unter den 50 anwesenden Fragerunden kritisch zu hinterfragen. Aktionären befanden sich auch Mit- Die Berichterstattung in den Medien glieder der »Aktion Aufschrei« und der gab dementsprechend nicht nur die ein- »Kritischen Aktionäre«, unter ihnen seitig positive Darstellung von Vorstand der Rüstungsaktivist Jürgen Grässlin. und Aufsichtsrat zu den Bilanzzahlen Den Kritischen Aktionär_innen von Heckler & Koch ist es mit 2019 wieder, sondern auch den konträren Kenntnisstand. ihrer Schweigestunde vor der Hauptversammlung (siehe Foto) Siehe auch: Rüstungsinformationsbüro: www.rib-ev.de und gelungen, visuell auf die zahlreichen Opfer des hemmungs- www.kritische-aktionaere.de und in diesem Heft S. 14-15. Informationen zum Kongo und zum Panzi-Kranken- haus von Nobelpreisträger Dr. Denis Mukwege Der Friedensnobelpreisträger Dr. Denis Mukwege kommt in dieser Ausgabe von SYM auf S. 35 mit seinem Aufruf an die Bundesregierung und die EU-Kommission vor. Der Hinter- grund für die brutale Gewalt im Kongo ist einerseits in der Kolonialgeschichte des Landes zu finden und andererseits in den wertvollen Bodenschätzen wie Coltan, das für die Mobil- funkbranche unverzichtbar ist. Milizen und Armeen kämpfen um diese Schätze. Infos dazu bei Planet Wissen: https://bit. ly/2Z55RKS. Zur Geschichte des Kongo ist hier ein Link der Bundeszentrale für politische Bildung: https://bit.ly/XjO9QP. Das Buch von Birger Thureson: »Die Hoffnung kehrt zurück. Der Arzt Denis Mukwege und sein Kampf gegen sexuelle Gewalt im Kongo« (Brandes & Apel, 2013) gibt den traumatisierten Frauen, die Dr. Mukwege seit vielen Jahren in dem von ihm gegründeten Panzi-Krankenhaus behandelt, eine Stimme und ein Gesicht. Das Buch rüttelt auf. SYM 3/2019 11
Rüstungsexport Die Kirche bekennt Farbe Martina Waiblinger befragt Kiflemariam Gebrewold zum Thema Rüstungsexport Was ist das Hauptanliegen des Projekts der Bundesregierung genehmigt – das Gründen nicht verbieten. Oft sind es po- »Rüstungsexport und Rüstungskon- ist offiziell und legal. Damit liegt die tente Staaten, die auch viele zivile Güter version«? politische Verantwortung – auch für die und Dienstleistungen aus Deutschland Es geht darum, Ideen und Fakten für den Toten – bei der Bundesregierung. importieren. Immer häufiger wird von friedensethischen Prozess, vor allem im Ankerstaaten gesprochen. Saudi-Ara- Bereich Rüstungsexporte beizusteuern. In den politischen Grundsätzen von bien, das vor wenigen Jahren noch als Im Rahmen einer Studie haben wir Mu- 2000 steht, dass Waffen nicht in Krisen- sehr problematischer Staat angesehen nitionsexporte erforschen lassen – ein gebiete geliefert werden dürfen. wurde, ist zu einem Ankerstaat avanciert sicherheitspolitisches Sachgebiet, das Ja, offiziell steht das drin. Die Grund- – zu einem Staat, der gestaltend in der bisher unterbelichtet war. Ohne Muni- sätze sind zwar rechtlich nicht bindend, Region eingreift und dadurch – so das tion funktioniert keine Waffe. Das ist aber politisch schon. Es ist dieselbe vermeintliche Argument – auch für die das Schmiermittel, mit dem Waffen erst Bundesregierung, die sagt, dass sie Waf- Sicherheit Deutschlands sorgt. funktionsfähig gemacht werden. Die fen nicht in Länder exportieren möchte, Rüstungsindustrie verdient am meisten in denen Krieg oder Bürgerkrieg besteht Und das nach dem Fall Khashoggi? an Verbrauchsgütern wie Munition und oder in denen Menschenrechtsverlet- Man redet nicht mehr darüber. Es gab an der Wartung von Waffen und Waffen- zungen auftauchen. Trotzdem findet einen temporären Waffenlieferungs- systemen. man in fast allen Konflikten dieser Welt stopp, der inzwischen wahrscheinlich Wichtig ist uns, den Menschen klarzu- deutsche Waffen. Das war in vielen Kir- wieder aufgehoben ist. Fakt ist, dass machen, dass es sich nicht um illegale chengemeinden nicht klar. Alle dachten, Saudi-Arabien kein Problem hat, Waffen Waffenhändler handelt, sondern dass man exportiert an die Bündnispartner aus deutscher Produktion oder direkt es Staaten sind, die Waffen exportieren oder die NATO. Fakt ist, dass man welt- aus Deutschland zu bekommen und im und importieren. Der Export wird von weit exportiert. Jemenkrieg einzusetzen. Die Argumentation lautet: Wenn be- Den Gemeinden in Baden ist inzwischen klar, freundete Staaten Waffen importieren Ist es nicht widersprüchlich, dass dass es einen Zusammenhang zwischen Geflüch- teten hier und Waffenexporten gibt. wollen, kann man das aus strategischen Deutschland Waffen in Länder expor- 12 SYM 3/2019
Rüstungsexport tiert, in denen sich die Bundesregierung mit aber möglich, und die erfolgreichen Start- Friedensmaßnahmen engagiert? Ups zeigen, dass Geschäftsideen, die vor fünf Da wird die Absurdität auf die Spitze ge- oder zehn Jahren undenkbar waren, heute trieben. Das wurde letztes Jahr bei einer Realität sind. Tagung in der Akademie in Bad Herrenalb thematisiert: In den MENA-Staaten (Mitt- Wem schadet die Rüstungsindustrie? lerer Osten, Nordafrika), den Staaten vom Langfristig ist klar, dass die Rüstungsin- Irak bis Marokko und vom Sudan bis Katar, dustrie der zivilen Industrie schadet. Viele gibt es überall deutsche Waffen. Die ganze Rüstungsindustrien exportieren zum Beispiel Region ist politisch instabil und bezüglich in den Nahen Osten – da gibt es schon lange der Menschenrechtslage ist es sehr schlecht zu viele Waffen. Und Waffen, die exportiert bestellt. Hier versucht man diplomatisch mit werden, kommen meist zum Einsatz. Es ist Friedensmaßnahmen etwas zu erreichen und nur eine Frage der Zeit, wann es zu einem parallel dazu liefert man Waffen. apokalyptischen Großeinsatz kommt. Wenn Kiflemariam Gebrewold leitet der Nahe Osten explodiert, wird dem gan- seit 1.1.2016 das Projekt Sind die badischen Gemeinden bezüglich zen zivilen Handel, der ungleich größer und »Rüstungsexport und Rüs- des Themas sensibilisiert? wichtiger ist, der Boden entzogen. Eine ka- tungskonversion«. Davor war er Die Leute wissen heute, dass in Baden eine putte Region ist nicht in der Lage, zivile Güter ca. 20 Jahre in der praktischen Reihe von rüstungsnahen Betrieben existiert. einzuführen. Entwicklungshilfe im Ausland Sie verstehen auch, dass zwischen Geflüch- tätig und hat die Wirkung teten und Rüstungsexporten ein Zusammen- Ist der politische Einfluss der Kirchen stark von Waffenexporten auf die hang besteht. Die, die mit Geflüchteten ar- genug, um etwas zu verändern? Entwicklung des globalen beiten, erfahren, dass viele ihr Land verlassen Wir müssen endlich systematisch und ver- Südens gesehen. Die Badi- mussten, weil dort eben jemand bewaffnet stärkt eine Allianz zwischen Entwicklungs- sche Landeskirche startete im war. Ferner ist inzwischen bekannt, dass viele politik, Sicherheitspolitik und Umweltpolitik Frühjahr 2012 einen Diskus- Entwicklungshilfeprojekte durch bewaffnete schmieden. Erst wenn diese drei Bereiche sionsprozess zu einer Neuori- Auseinandersetzungen zerstört werden. zusammengedacht werden, kann man ein entierung der Friedensethik, Daraus entwickeln sich auch Aktionen: Zum Gesamtbild erkennen. Die Kirchen haben die der in einen friedensethischen Beispiel haben 2017 Kirchengemeinden, moralische Autorität, etwas vorzuleben und Beschluss der Herbstsynode Friedensgruppen, Parteien u.a. in Lahr zum einzufordern. Der Erfolg wird davon abhän- 2013 mündete. Dieser bildet Protest gegen die Ansiedlung einer Muniti- gen, wie stark sich die Kirchen selbst posi- die Grundlage für weitere onsfabrik aufgerufen und der Gemeinderat tionieren und ob sie ökumenisch vorgehen. friedensethische Bemühungen hat mit 20 zu 13 Stimmen dagegen gestimmt. Der Papst hat sich eindeutig gegen Krieg und der Landeskirche. Kiflemariam Vielleicht ist der Protest auch auf den Rüs- Rüstungsproduktion positioniert. Ich würde Gebrewold: »Das ist das Inte- tungsatlas Baden zurückzuführen, den wir mir wünschen, dass die verschiedenen religi- ressante bei dem badischen herausgegeben haben. ösen Gemeinschaften gemeinsam vorange- friedensethischen Prozess: hen. Erst dann wird die Botschaft politisches Er wurde nicht von oben, Was ist an der Rüstungsproduktion so attrak- Gewicht bekommen. von der Synode beschlossen. tiv? Wie steht es um das Thema Konversion? Ein Problem haben die Kirchen allerdings: Davor gab es einen zweijäh- Es gibt kaum einen Zweig in der Wirtschaft, Auch sie investieren in Portfolios, in denen rigen Prozess, durch den die der so subventioniert wird wie die Rüstungs- Rüstungsgüter oder dual-use vorhanden sind. Kirchenbezirke sensibilisiert industrie. Der Staat ist Auftraggeber, er gibt Das nimmt ihnen die Glaubwürdigkeit. Dabei wurden. Jeder Kirchenbezirk Geld für die Forschung und die Erprobung gibt es heute Alternativen. Es gibt Portfolios, musste eine Stellungnahme zu und er nimmt die Ware, die Waffen, ab. Der die »Social Responsible Investment« oder dem friedenspolitischen Papier Unternehmer muss keine Kunden suchen »rüstungsfern« anbieten. Diesen Schritt der Landeskirche abgeben. Die und hat eine Abnahmegarantie – welcher müssen die Kirchen machen. Sie haben ein überwiegende Mehrheit hat Wursthersteller hat das schon? Die Leute in großes Investitionsvolumen, das für alterna- sich positioniert.« den Gemeinden fragen aber: »Warum stellen tive Investitionen genutzt werden muss – im die nicht bessere, intelligentere zivile Güter Mobilitätsbereich, im Umweltbereich oder Siehe auch: her?« Natürlich müssen Märkte erst geschaf- bei den erneuerbaren Energien. Dann ist die www.kirche-des-friedens.de fen werden und dazu braucht es langfristige Kirche glaubwürdig und wird nicht weiterhin Investitionen. Auf diesem Weg muss man die Mitglieder verlieren. So kann sie Zeichen set- Arbeitnehmerschaft mitnehmen – sie haben zen und mit ihrem Investitionsgebaren auch Angst ihre Arbeitsplätze zu verlieren. Es wäre noch Friedenspolitik betreiben. SYM 3/2019 13
alternative Ökonomie Schritte hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft Von Tobi Rosswog Klimawandel ordentlich eingeheizt oder Aber warum arbeiten wir überhaupt? in Großunternehmen andere Menschen Im Leben ist nichts umsonst. Wir Seit dem Bericht des Club of Rome 1972 global ausgebeutet werden – es spielt müssen es uns verdienen. Das war doch ist allen bewusst, dass es auf einem keine Rolle. Die ökosoziale Perspek- schon immer so. Arbeit gehört zum begrenzten Planeten kein unendliches tive wird im Namen der angeblich so Leben wie die Luft zum Atmen. Wir Wachstum geben kann. Die Wachstums- notwendigen Arbeit außer Acht gelassen müssen arbeiten gehen, um für unse- logik wird dank der Degrowth-Bewe- und vollkommen ignoriert. Dabei sollte re Lebenszeit im Austausch Geld zu gung immer mehr hinterfragt. Das ist allen klar sein: Auf einem toten Planeten bekommen, indem wir uns an eine Ar- gut und wichtig. Allerdings fehlt dabei gibt es keine Arbeitsplätze. Wenn es beitgeber_in vermieten oder verkaufen. etwas Entscheidendes: Wir stellen die nach einer aktuellen Studie unter dem Damit können wir dann unser Leben Arbeitslogik nicht in Frage, die mit ih- Titel »The Ecological Limits of Work« refinanzieren. Beispielsweise fließen rem Produktivitäts- und Beschäftigungs- von Philipp Frey vom Karlsruher Institut durchschnittlich direkt ein Drittel unse- fetisch dafür verantwortlich ist, dass für Technologie geht, müssten wir uns res Gehaltes in die Deckung der Miete, destruktive Arbeit weiterhin legitimiert von der bisher üblichen und kaum hin- nur damit wir ein Dach über dem Kopf und praktiziert wird. Das Arbeitsplatz- terfragten 40-Stunden-Woche zu einer haben. Das Ganze kommt uns als nor- argument à la »Hauptsache es gibt 9-Stunden-Woche wenden. mal, natürlich und notwendig vor, fast Arbeitsplätze« blendet alle. Egal, ob schon Gott gegeben, es wird zum Sinn- mit der Arbeit im Kohlekraftwerk dem zentrum unseres Lebens, ein Identifika- 14 SYM 3/2019
alternative Ökonomie tionsmessgerät. Ich arbeite, also bin ich? Reduktion von Arbeit, getragen zum »Es ist das Wichtigste, was wir im Leben In Anlehnung an Slavoj Žižek könnten einen von einer Bewegung, die Bewusst- lernen können: das eigene Wesen zu wir festhalten, dass es heute einfacher sein schafft und Alternativen praktisch finden und ihm treu zu bleiben. Einzig ist, sich das Ende der Welt vorzustellen, erfahrbar macht, zum anderen dauerhaft zu diesem Zweck sind wir gemacht; und als das Ende der Arbeit. Unsere Imagi- institutionalisiert in zu schaffenden keine andere Aufgabe ist wichtiger, als nationslosigkeit, der Verlust jeglicher Foren autonomer, wirtschaftsdemokra- herauszufinden, welch ein Reichtum in Utopie, Visionskraft und Phantasie der tischer Entscheidungsfindung; uns liegt. Erst dann wird unser Herz ganz, Möglichkeit eines anderen Zusammen- ● eine allgemeine, substantielle Ar- erst dann wird unsere Seele weit, erst lebens ist begraben. Und so halten uns beitszeitverkürzung, selektiv reduziert dann wird unser Denken stark.« die mentalen Infrastrukturen dazu an, nach Branchen und verbleibende Arbeit Eugen Drewermann: Das Wichtigste im einfach weiter, schneller, höher und umverteilend, im Einklang mit dem Leben. Worte mit Herz und Verstand, damit angeblich besser zu leben. Nicht global verbleibenden – sehr knappen! – Mannheim, 2015 umsonst lauten die zwei entscheidenden CO2-Budget, um möglichst unter 1.5°C Fragen in unserer Biografie: globaler Erwärmung zu bleiben; weil ich nicht erst gegen Geld meine 1. »Was möchtest Du später mal wer- ● eine Commons-orientierte Neuorga- Lebenszeit verkaufen muss. Durch den?« und später dann: 2. »Was arbeitest nisation von Arbeit, zum einen ermög- diesen Freiraum kann ich mich auf die Du?« licht durch eine soziale Grundsicherung Suche begeben, was ich wirklich in die Vieles in unserem Leben dreht sich unabhängig von Erwerbsarbeit, um eine Gesellschaft einbringen mag. Was ist um Arbeit. Wenn wir in jungen Jahren grundsätzliche Entkopplung von Ein- also mein Talent, meine Berufung oder einen Abschluss machen, um später kommen und Grundbedürfnissicherung mein Potential? eine Arbeitsstelle zu bekommen, wenn zu erreichen, zum anderen institutionell 2. Sharing: Was kann ich alles teilen? wir Freiwilligendienste und Praktika gefördert durch kostenlose Infrastruk- Was ist sowieso schon vorhanden und absolvieren, um unseren Lebenslauf zu turen, Netzwerke und Räume für andere kann genutzt werden? Beispielsweise schmücken, wenn wir in fremde Städte Formen des Herstellens und Arbeitens Umsonstläden, Kleiderschenkpartys, ziehen, um die Chancen auf einen besse- jenseits von Markt und Staat; Foodsharing oder andere emanzipatori- ren Job zu erhöhen. ● einen Umbau des Bildungssystems sche Strukturen des Teilens lassen Wege Wir arbeiten nicht aus intrinsischer, also im Hinblick darauf, welche Fähigkeiten in ein neues Miteinander erproben. Wo innerlicher, sondern aus extrinsischer junge Menschen wirklich brauchen, es nicht mehr um Eigentum, sondern Motivation: für das Geld, mit dem wir jenseits einer Zurichtung auf Verwert- um Besitz geht. unsere Grundbedürfnisse nach einem barkeit für den Arbeitsmarkt. 3. Subsistenz: Was kann ich beitragen? Dach über dem Kopf, einen gefüllten Die Idee, dass wir wieder vieles selber Bauch, Anerkennung und einigem mehr Es gibt natürlich noch viele weitere in die Hand nehmen, jenseits von Markt erfüllen. Es gilt folglich Wege jenseits Alternativen auf individueller wie auch und Staat uns gemeinsam organisieren. von Arbeit, Eigentum, Wachstum, Geld kollektiver Ebene. Individuell wäre ne- Indem wir utopietaugliche Halbinseln und Tauschlogik zu erproben. Konkret ben der Arbeitszeitverkürzung auch Kar- schaffen, wo fern der Verwertungslogik, bedarf es dafür wieder mehr des Disku- riereverweigerung eine spannende Idee. des Leistungsdrucks und der Selbstop- tierens und Streitens über das Konzept Sich eben mehr und mehr dem Arbeits- timierung Räume anderer Selbstver- Arbeit und wie wir es heute verstehen markt zu entziehen. Damit haben wir ständlichkeiten geschaffen werden. Wir sowie umsetzen. mehr freie Zeit und können uns Sinn- werden tätig und organisieren Ernäh- und Machtfragen stellen. Und vor allem rung, Energie, Pflege und viele andere Was braucht es dafür noch? können wir dann das tun, was wirklich lebensnotwendigen Dinge anders als Mit der Politik- und Nachhaltigkeitswis- sinnvoll ist. Kollektiv ist die Idee des bisher. senschaftlerin sowie Arbeitskritikerin Bedingungslosen Grundeinkommens Maja Hoffmann, die an der Wirtschafts- – oder noch besser: des Grundauskom- universität Wien zum Thema »Arbeit mens – wichtig, weil es Menschen einen Tobi Rosswog ist und Nachhaltigkeit« promoviert, fordere leistungsfreien Selbstwert zuspricht und Autor, Aktivist, freier ich in einem aktuellen Beitrag in der damit Existenz von Tätigkeit entkoppelt. Dozent & Initiator. 2018 kam sein Zeitschrift »politische ökonomie« unter Buch »After work - dem Titel »No jobs on a dead planet – Wie kommen wir dahin oder: Drei Radikale Ideen für Das sozial-ökologische Potential einer Werkzeuge für eine Gesellschaft jenseits eine Gesellschaft Postwork-Gesellschaft« unter anderem: der Arbeit jenseits der Arbeit« im oekom-Verlag 1. Suffizienz: Was brauche ich eigent- heraus. Siehe auch ● eine breite gesellschaftliche Debatte lich wirklich? Wenn ich weniger Zeug Verlosung S. 33 über Sinn und Zweck sowie die absolute brauche, habe ich mehr Zeit für anderes, SYM 3/2019 15
Sie können auch lesen