7/2021 ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN - KEINE IMPFPFLICHT DURCH DIE HINTERTÜR IMMUNITÄT GEGEN SARS-COV-2 - ERGEBNISSE DER SURVEILLANCE-STUDIE ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
ÄRZTEBLATT 7/2021 MECKLENBURG-VORPOMMERN Mohnblumenfeld bei Niex Foto: Dr. G. Rücker Keine Impfpflicht durch die Hintertür Immunität gegen Sars-CoV-2 – Ergebnisse der Surveillance-Studie #Gesundheit2021
Inhalt Editorial Veranstaltungen und Kongresse Keine Impfpflicht durch die Hintertür 253 Impfkurse in Mecklenburg-Vorpommern 269 Veranstaltungen der Ärztekammer M-V 269 Wissenschaft und Forschung Veranstaltungen in unserem Kammerbereich 269 Immunität gegen SARS-CoV2 – Ergebnisse der Rostocker COVID-Surveillance-Studie 254 Veranstaltungen in anderen Kammerbereichen 271 Junge Ärzte Aus der Kammer Klimawandel und Gesundheit – Was bedeutet Jetzt aufsteigen durch die Fortbildung das für uns? 260 „Fachwirt für ambulante medizinische Versorgung“ 272 Leserbriefe Bettina Rosenthal stellt aus 272 Nach der Pandemie ist vor der Pandemie 262 Die ärztliche Schweigepflicht 273 Leserbrief zum Artikel „Deutschland und seine (chronisch) kranken NBK Gesundheitswirtschaft Kinder – wie sieht es in M-V aus? 262 #Gesundheit2021 275 Aktuelles Geschichte der Medizin Zahlen zur Corona-Erkrankung 2020/2021 263 Ein Pommer als Leibarzt im Dienst der Kaiserin 283 Tragbare Assistenzsysteme zum Monitoring und zur Unterstützung von Menschen mit Personalien Gedächtnisstörungen 264 MR Dr. med. Klaus Springfeld – 85 Jahre 287 Einführung der neuen Zusatzbezeichnung „Spezielle Kardiologie für Erwachsene mit Rezensionen angeborenen Herzfehlern (EMAH)“ 280 Für Sie gelesen 288 Fortbildung Geburtstage 29. Interdisziplinäre Seminar- und Wir beglückwünschen 289 Fortbildungswoche der Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern 268 Impressum 289 Genderneutrale Sprache In der deutschen Sprache sind personenbezogene Pluralformen grundsätzlich geschlechtsneutral. Soweit singuläre Formen wie Arzt, Patient, Gast o.ä. aus Gründen der Flüssigkeit und besseren Lesbar- keit in den Texten des Ärzteblattes Mecklenburg Vorpommern ver- wendet werden, bezeichnen sie wie auch die Pluralformen in jedem Fall sowohl Personen des weiblichen wie des männlichen als auch eines möglichen dritten Geschlechts. Die Redaktion AUSGABE 7/2021 31. JAHRGANG Seite 251
EDITORIAL Keine Impfpflicht durch die Hintertür Bereits kurz nach dem 124. Deutschen Ärztetag online haben und Medizin, dem sich die Ärztekammer Mecklenburg-Vor- uns wie auch andere Kammern und die Bundesärztekammer pommern vorbehaltlos anschließt. Es muss und wird die sou- einige Briefe und Mails erreicht, in denen die Absender er- veräne Entscheidung der Eltern unter Abwägung individuel- klärten, dass es „#nichtmeinaerztetag“ sei. Bereits das Hash- ler Risiken und unter Mitwirkung der Ärzte ihres Vertrauens tag weist darauf hin, dass es sich um eine Aktion in den (ver- bleiben. meintlich) sozialen Medien handelt. Hintergrund ist eine YouTube-Kampagne des „Ärzte für eine individuelle Impf- Interessanterweise waren die ersten Absender der o.g. Mit- entscheidung e. V.“ – einem Verein, der bereits (vergeblich) teilungen nicht Ärzte in unserem Bundesland. Inzwischen versucht hatte, das Masernschutzgesetz zu stoppen. haben sich einzelne Kollegen auch aus unserem Land in ähn- lichem Sinne geäußert – vielleicht, weil sie den Beschluss in Mit dieser „Initiative“ wird Stellung gegen den Beschluss I-19 vollem Wortlaut nicht kennen, vielleicht aber auch, weil sie des 124. Deutschen Ärztetags „Notwendige COVID-19-Impf- der recht offensiv geführten Kampagne im Glauben, Gutes strategie für Kinder und Jugendliche“ bezogen, der ver- zu tun, folgen. Nach Einschätzung der Bundesärztekammer meintlich eine Impfpflicht für Kinder und Jugendliche for- ist die Kampagne „#nichtmeinaerztetag“ eng mit der „Quer- dert. Zwar stellt der Beschluss in seiner Begründung ein Junk- denkerszene“ verwoben, was sich ohne große Mühe im In- tim zwischen dem Impfen und der Teilnahme am gesell- ternet nachweisen lässt. schaftlichen Leben her, fordert jedoch in erster Linie eine nachhaltige Forschung zu Impfstoffen für Kinder und Dr. Wilfried Schimanke Jugendliche sowie die Bestellung hinreichender Mengen adäquater Impfstoffe. Von einer Impfpflicht ist keine Rede! Inzwischen hat der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK) Dr. Klaus Reinhardt klargestellt. dass die Datenlage zu Risi- ken und Nutzen einer möglichen Corona-Impfung bei Kin- dern und Jugendlichen derzeit noch unzureichend ist. Man könne deshalb noch keine Empfehlung abgeben. Es dürfe jetzt auch kein politischer und gesellschaftlicher Druck auf die Eltern ausgeübt werden, ihre Kinder impfen zu lassen. Obwohl die Europäische Arzneimittelbehörde dem Impfstoff von Biontec-Pfizer für Personen ab 12 Jahre zugelassen hat, hält sich die deutsche Ständige Impfkommission (STIKO) noch deutlich zurück und prüft gegenwärtig das Verhältnis von Nutzen und Risiko bei Kindern und Jugendlichen. Selbst wenn die STIKO den Impfstoff für diese Altersgruppe emp- fehlen sollte, bedeutet dies keine Impfpflicht. Darüber be- steht weitgehender Konsens zwischen Politik, Wissenschaft AUSGABE 7/2021 31. JAHRGANG Seite 253
WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG Immunität gegen SARS-CoV2 – Ergebnisse der Rostocker COVID-Surveillance-Studie Antikörper sind nach Impfung signifikant höher als nach durchgemachter Infektion Geerdes-Fenge HF*, Acksel E*, Bastian M**, Hemmer CJ*, Emmerich P*, ***, Löbermann M*, Reisinger EC* Einleitung Unter der Annahme, dass aufgrund des engen Kontaktes von Eltern zu ihren erkrankten Kindern der Infektionsstatus bzgl. In Mecklenburg-Vorpommern wurden seit März 2020 – wie SARS-CoV-2 von Kindern und deren Müttern kongruent ist, in allen deutschen Bundesländern – Maßnahmen ergriffen, testeten wir Mütter stellvertretend für die Kinder. Die Be- um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern. Insbeson- stimmung von Antikörpern gegen SARS-CoV-2 bei Müttern dere die Schließung von Kindertagesstätten und Schulen war sollte indirekt Auskunft über den Infektionsstatus ihrer Kin- und ist heftig umstritten. Zunächst gab es wenig verlässliche der geben. Daten zur Infektion, zum klinischen Verlauf und zur Infekti- osität bei Kindern, so dass die Wirksamkeit der Schließungen Antikörper gegen SARS-CoV 2 der Kinderbildungseinrichtungen nicht belegt war. Die Zahl der COVID-19-Fälle lag in Mecklenburg-Vorpommern am Das Coronavirus SARS-CoV2 besitzt als antigene Strukturen 31.05.2020 bei 47/100.000 Einwohnern im Vergleich zur bun- unter anderem das Nukleokapsid-Protein (N), das das RNA- desweiten Zahl von 218/100.000 Einwohnern [1]. Am Genom umhüllt, sowie drei Strukturproteine, die Bestandtei- 28.02.2021 lag die Zahl der COVID-19-Fälle in MV bei le der Virushülle sind: das Membran-Protein (M), das Envelo- 1.523/100.000 Einwohnern im Vergleich zu 2.937/100.000 Ein- pe-Protein (E) und das Spike-Protein (S) [5]. Im Laufe einer wohnern bundesweit [2]. Infektion werden Antikörper gegen die unterschiedlichen Die Dunkelziffer für COVID-19 ist im Rahmen der vermehrten Virusantigene gebildet, also auch gegen das Spike-Protein Testungen in Deutschland deutlich gesunken. Zu Beginn der und das Virus-Nukleokapsid. Durch die bislang zugelassenen Pandemie zeigten serologische Untersuchungen des Robert Impfstoffe wird ausschließlich eine Immunantwort gegen das Koch-Instituts in Bad Feilnbach im Juli 2020 4,5-mal und in Spike-Protein hervorgerufen. Kupferzell 6-mal mehr Infektionen als vor Beginn ihrer Stu- Dies hat zu Beginn der Impfperiode bei manchen Geimpften die bekannt, während in Berlin im Dezember 2020 serolo- zur Verwunderung geführt, da sie im Antikörpertest negativ gisch nur noch 2,2-mal mehr Infektionen nachgewiesen wur- waren, weil die ersten der verbreiteten Antikörpertests nur den als die offiziellen Meldezahlen anzeigten [3]. Anti-Nukleokapsid-Antikörper nachwiesen. Für das Niedrigprävalenzgebiet Rostock konnten wir zeigen, In der vorliegenden Studie wurden Antikörper-Tests sowohl dass im April 2020 keine unerkannte COVID-19 Erkrankung gegen Nukleokapsid als auch gegen Spike-Protein verwen- bei 401 getesteten Müttern von Kindern im Alter von 1-10 Jahren nachgewiesen wurde [4]. Um die Öffnung der Kitas und Schulen ab Mai 2020 hinsichtlich asymptomatischer CO- 1 Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) VID-19-Infektionen zu begleiten, führten wir diese Studie im 31.05.2020. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavi- Raum Rostock fort mit dem Ziel, Daten zur Prävalenz der rus/Situationsberichte/Archiv_Mai.html 2 Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) SARS-CoV-2 Infektion und zur Immunität gegen SARS-CoV-2 28.02.2021. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavi- rus/Situationsberichte/Feb_2021/Archiv_Feb_2021.html bei Müttern sowie zusätzlich bei Mitarbeitern/-innen von 3 RKI. Studie CORONA-MONITORING lokal. https://www.rki.de/DE/Content/ Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen zu gewinnen. Gesundheitsmonitoring/Studien/cml-studie/cml-studie_node.html;jsessionid =390F6A4D8DB82B1347939AF6E9646FD8.internet072 4 Reisinger EC, von Possel R, Warnke P, Geerdes-Fenge HF, Hemmer CJ, Pfef- ferle S, Löbermann M, Littmann M, Emmerich P. Mütter-Screening in einem COVID-19-Niedrig-Pandemiegebiet: Bestimmung SARS-CoV-2-spezifischer Antikörper bei 401 Rostocker Müttern mittels ELISA und Immunfluores- * Abteilung für Tropenmedizin und Infektionskrankheiten, Klinik für Innere zenz-Bestätigungstest Dtsch Med Wochenschr. 2020 Aug;145(17):e96-e100. Medizin, Universitätsmedizin Rostock doi: 10.1055/a-1197-4293 ** Institut für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin, Universitätsmedizin 5 Wang MY, Zhao R, Gao LJ, Gao XF, Wang DP, Cao JM. SARS-CoV-2: Struc- Rostock ture, Biology, and Structure-Based Therapeutics Development. Front Cell *** Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin, Abteilung Virologie, Hamburg Infect Microbiol. 2020 Nov 25;10:587269. doi: 10.3389/fcimb.2020.587269 Seite 254 ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN
WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG det, so dass eine Unterscheidung zwischen durchgemachter men von Atemwegsinfektionen einschließlich Geruchs- und Infektion und Impfung möglich war. Geschmacksstörungen sowie Angaben zur Impfung gegen SARS-CoV-2. Zusätzlich untersuchten wir Partner und Kinder Probanden, Material und Methoden von Teilnehmerinnen, wenn beide Erziehungsberechtigte ihr Einverständnis mit der Blutabnahme beim Kind erklärten. In einer prospektiven Untersuchung erhoben wir Daten zur Prävalenz der SARS-CoV-2 Infektion und zur Immunität ge- Im ersten Studienzeitraum im April 2020 erfolgte die Anti- gen SARS-CoV-2 bei Rostocker Müttern mit Kindern im Al- körperbestimmung aus dem Serum mit dem Anti-SARS-CoV- ter von 1–10 Jahren sowie zusätzlich bei Mitarbeitern/-in- 2-ELISA (IgA und IgG) der Fa. Euroimmun, Lübeck, Deutsch- nen von Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen im land. Die im ELISA-Test positiv oder grenzwertig getesteten Rostocker Raum. Seren wurden zusätzlich im indirekten Immunfluoreszenztest Vom 20. – 22.04.2020 hatten sich 401 Rostocker Mütter mit zur Bestimmung von Antikörpern gegen SARS‑CoV‑2 unter- Kindern im Alter von 1–10 Jahren nach einem Zeitungsaufruf sucht [Details siehe 4]. im Kompetenzzentrum für Klinische Studien der Universitäts- Ab August 2020 erfolgte die Antikörperbestimmung aus dem medizin Rostock zur Teilnahme an der Studie angemeldet. Die Serum im Institut für Klinische Chemie und Laboratoriums- Studienergebnisse wurden bereits publiziert [4]. In dieser ers- medizin der Universitätsmedizin Rostock. Verwendet wurden ten Untersuchung hatte keine der 401 getesteten Mütter An- Antikörpertests gegen SARS-CoV-2 Nukleokapsid und gegen tikörper gegen SARS-CoV-2. Diese Mütter wurden in der Folge SARS-CoV-2 Spike (Elecsys® anti-N; anti-SARS-CoV-2 nucleo- im Abstand von drei Monaten zu Folgeuntersuchungen einge- capsid, und Elecsys® anti-S; anti-SARS-CoV-2 spike ECLIA, laden, die im August 2020, November 2020 und Februar 2021 Roche Diagnostics). Die Ergebnisse der Antikörperbestim- stattfanden. Zusätzlich wurden im November 2020 sowie Ja- mung gegen SARS-CoV-2 Nukleokapsid wurden qualitativ als nuar 2021 jeweils 75 pädagogische Mitarbeiter/-innen von Cut-off index (COI) angegeben. Dieser gibt das Verhältnis Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen im Rostocker des gemessenen Signals im Verhältnis zum Cut-off Signal an. Raum zur Teilnahme eingeladen. Die Einladung für das päda- COI-Werte über 1 werden als positiv für die Anwesenheit von gogische Personal an Schulen in Rostock und im Landkreis Ros- spezifischen Antikörpern gewertet. Die Ergebnisse der Anti- tock erfolgte durch das Ministerium für Bildung, Wissenschaft körperbestimmung gegen SARS-CoV2 Spike wurden in U/ml und Kultur; die Einladung für Beschäftigte in ausgewählten angegeben. Diese Methode wurde gegen den internen Ro- Kindertagesstätten in der Hansestadt Rostock erfolgte durch che-Standard für Anti‑SARS‑CoV‑2‑S standardisiert. Dieser das Ministerium für Soziales, Integration und Gleichstellung. Standard besteht aus einem äquimolaren Gemisch aus 2 mo- noklonalen Antikörpern, die die Spike‑1‑RBD an 2 verschie- Alle Studienteilnehmer erklärten schriftlich ihr Einver- denen Epitopen binden. 1 nM dieser Antikörper entspricht ständnis zur Teilnahme an dieser Studie und füllten einen 20 U/mL des Elecsys Anti‑SARS‑CoV‑2 S Tests. Ein internatio- Fragebogen aus mit Angaben zu Person, Beruf, Reiseana- naler Standard für Anti‑SARS‑CoV‑2‑S ist nicht verfügbar mnese, Kindern, Betreuungssituation der Kinder, Sympto- (Methodenblatt Elecsys Anti-SARS-CoV-2 S 09289267500V1.0 ANZEIGEN AUSGABE 7/2021 31. JAHRGANG Seite 255
WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG 2020-09, Roche Diagnostics). Somit sind die Testergebnisse Ergebnisse dieses Testes nicht mit Testergebnissen anderer Hersteller vergleichbar. Werte ≥ 0,80 U/ml werden als positiv für die Der erste Untersuchungszeitraum der Mütterstudie war vom Anwesenheit von spezifischen Anti‑SARS‑CoV‑2 S Antikör- 22.-29.04.2020, der zweite vom 10.08.-08.09.2020, der dritte pern gewertet. vom 28.10.-16.11.2020 und der vierte vom 23.02.-03.03.2021. Der erste Untersuchungszeitraum für das pädagogische Per- Die Datenerfassung, die statistische Auswertung und die Er- sonal war vom 02.-16.11.2020, der zweite vom 04.-05.01.2021. stellung der Grafiken erfolgten im Tabellenkalkulationspro- gramm Excel von Microsoft 2016. Für die statistische Analyse Die Untersuchung zeigte im April 2020 bei keiner der 401 wurde der Zweistichproben-t-Test für unabhängige Stichpro- untersuchten Mütter weder SARS-CoV-2-RNA im Rachenab- ben verwendet. strich noch SARS-CoV-2-Antikörper im Blut. Im August/Sep- tember nahmen von den ursprünglich 401 eingeschlossenen Die Ethikkommission an der Universitätsmedizin Rostock er- Müttern 376 Teilnehmerinnen, im Oktober/November 354 teilte ein positives Votum zu dieser Studie mit Verlaufskont- und im Februar/März 2021 noch 322 an der Untersuchung rollen der bereits eingeschlossenen Teilnehmerinnen und mit teil (siehe Abbildung 1). dem zusätzlichen Einschluss von pädagogischem Personal aus Schulen und Kindertagesstätten sowie der Untersuchung von Im Februar/März 2021 waren bereits 22 Frauen gegen CO- Kindern, falls beide Erziehungsberechtigte einverstanden VID-19 geimpft, 11 von ihnen zweimalig mit Comirnaty® (Bi- waren (A2020–0222). Die Studie ist beim Deutschen Re oNTech), 2 Frauen einmalig mit Comirnaty® und 9 Frauen gister Klinischer Studien (DRKS) unter der Nummer einmalig mit Vaxzevria ® (AstraZeneca) innerhalb der letzten DRKS00 021 614 erfasst. 3 Wochen vor dem Test. Im April und August/September 2020 konnte bei keiner der Mütter Antikörper nachgewiesen werden. Im November wurden bei 3 Frauen Antikörper gegen SARS-CoV2 Nukleo- kapsid nachgewiesen (bei einer Probandin COI 4,9, der im Verlauf im Februar auf 11,04 anstieg; bei zwei weiteren Frau- en 1,43 bzw. 1,35 mit fehlendem bzw. minimalem Anstieg im Februar auf 1,41 bzw. 1,95). Im Februar 2021 wurden bei 5 weiteren Frauen Antikörper nachgewiesen (COI 1,35; 29,93; 83,11; 124,3; 126,60). Die drei Frauen mit nur geringen Antikörpern hatten keine bzw. nur leichte Erkältungssymptome, keine von ihnen hatte Geruchs- oder Geschmacksstörungen. Von den 5 Frauen mit hohen Antikörpern hatten vier Erkältungssymptome, eine davon mit Geruchs- und Geschmacksstörung, eine Frau hatte die Infektion nicht bemerkt. Die beiden positiv getesteten Kinder und zwei der drei positiv getesteten Männer hatten die Erkrankung bemerkt. Von den 3 im November positiv ge- testeten Frauen wusste eine, dass sie vorher an COVID-19 er- krankt war. Im Februar gaben 4 von den 8 positiven Proban- dinnen an, dass sie im Vorfeld von ihrer Erkrankung wussten. Die Familien der positiv getesteten Frauen untersuchten wir ebenfalls auf Antikörper gegen SARS-CoV-2, wenn von den Partnern bzw. bei Kindern von beiden Elternteilen das Ein- verständnis zu einer Blutentnahme vorlag. Insgesamt schlos- sen wir zusätzlich 9 Partner und 11 Kinder der teilnehmen- den Mütter in die Studie ein. Von ihnen wurden 3 Männer Abbildung 1. Anteil der serologisch nachgewiesenen COVID-19 Infektionen bei den Teilnehmerinnen der Rostocker Mütterstudie und 2 Kinder positiv auf Antikörper gegen SARS-CoV-2 ge- von April 2020 bis Februar 2021 testet. Seite 256 ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN
WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG Insgesamt wurden 9 Familien der 322 untersuchten Mütter CoV-2 im Mittel bei COI 75,9 (±69,2) und die Antikörperkon- mit mindestens einer serologisch positiven Person gefunden. zentrationen gegen Spike Protein im Mittel bei 125,7 (± ■ In zwei Familien waren die Indexerkrankten die Männer, 200,6) U/ml. die sich bei der Arbeit angesteckt hatten und die ihre Von den insgesamt 22 Geimpften waren 11 Frauen erst ein- Frauen infiziert hatten. In einer Familie erkrankte eins der mal (1-14 Tage vor dem Test) geimpft worden. Lediglich zwei beiden Kinder, in der anderen Familie erkrankte das Kind davon hatten leicht erhöhte Anti-Spike-Antikörper mit einem nicht. Bei allen Erkrankten wurden sowohl Nukleokapsid- COI unter 2. als auch Spike-Antikörper nachgewiesen. ■ In zwei Familien wurden bei den Müttern hohe Antikörper Die 11 zweimalig geimpften Probandinnen hatten Antikör- gegen Nukleokapsid und gegen Spike-Protein nachgewie- perkonzentrationen gegen Spike-Protein von 4476 U/ml sen, ohne dass bei einem anderen Familienmitglied (zwei (±2134; Spannweite 1421 – 8798). Damit waren die Antikör- Männer, drei Kinder) Antikörper nachgewiesen wurden. perkonzentrationen bei den zweimalig geimpften Frauen ■ Bei drei Familien hatten die Frauen nur leicht erhöhte An- im Mittel 35-mal höher als bei den Personen, die eine CO- tikörper gegen Nukleokapsid (COI 1,35-1,95) ohne Nach- VID-19-Infektion durchgemacht haben (p
WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG SARS-CoV-2 nachwiesen, 2,2-mal mehr als der Anteil der CO- VID-19-Meldungen [3]. Im April 2020 gingen wir davon aus, dass eine Infektion der Mutter kongruent mit der Infektion der Kinder verläuft. Bei den 9 positiven Familien von 322 untersuchten Müttern, die wir im Rahmen der Studie identifiziert haben, wurde diese generelle Annahme nicht bestätigt. Nur in 2 Fällen waren Kinder infiziert. Ein Kind hatte sich bei den erkrankten Eltern angesteckt. Ein anderes Kind hatte sich außerhalb der Kern- familie angesteckt, beide Eltern hatten keine Antikörper ge- gen SARS-CoV-2. Auffällig war bei den positiv Getesteten, dass die zwei Kin- der besonders hohe Antikörperindizes gegen SARS-CoV-2 Nukleokapsid hatten (COI 624,5 und 423,3), ohne dass sie über schwere Krankheitssymptome geklagt hatten. Kinder erkranken nach Infektion mit SARS-CoV-2 meist weniger schwer als Erwachsene, bei ihnen sind symptomlose oder symptomarme Verläufe häufiger [ 6]. Zu bedenken ist jedoch, dass auch bei Kindern schwere Verläufe auftreten können und Langzeitfolgen wie das Multisystem-Inflammations-Syn- drom auftreten können [7]. Der von uns verwendete Antikörper-Test gegen Spike-Prote- in (Elecsys® anti-S; anti-SARS-CoV-2 spike ECLIA, Roche Dia- gnostics) hat laut eines Preprint [ 8 ] eine Sensitivität von 97,92% und eine Spezifität von 99,95%, der Test gegen Nuk- Abbildung 2. Antikörper gegen Nukleokapsid- und gegen Spike- leokapsid (Elecsys® anti-N; anti-SARS-CoV-2 nucleocapsid, Protein nach durchgemachter Infektion (n=12) und nach zweifa- Roche Diagnostics) hat eine Sensitivität von 96% und eine cher Impfung mit Comirnaty® (n=10), COI = Cut-off Index. Spezifität von 100% [ 9]. Die Anti-Spike-Antikörper korrelie- Eine Teilnehmerin, die nach einer durchgemachter Infektion 2-mal mit Comirnaty® geimpft wurde, hatte Spike-Protein-Antikörper ren gut mit neutralisierenden Antikörpern [10 ], so dass bei von 25.000 U/ml. vorhandenen Anti-Spike-Antikörpern nach Impfung auf eine Immunität geschlossen werden kann. wohl im November 2020 als auch im Januar 2021 Antikörper Aus der Literatur ist bekannt, dass nach einer durchgemach- gegen SARS-CoV-2 Nukleokapsid nachgewiesen werden (COI ten SARS-CoV-2 Infektion und anschließender Impfung die 2,08 bzw. 2,02). Titer durchschnittlich mehr als 140-mal höher sind als nach Diskussion 6 Mehta NS, Mytton OT, Mullins EWS, Fowler TA, Falconer CL, Murphy OB, Langenberg C, Jayatunga WJP, Eddy DH, Nguyen-Van-Tam JS. SARS-CoV-2 (COVID-19): What Do We Know About Children? A Systematic Review. Clin Im April und August 2020 hatte keine Teilnehmerin der Müt- Infect Dis. 2020 Dec 3;71(9):2469-2479. doi: 10.1093/cid/ciaa556 terstudie Antikörper gegen SARS-CoV-2. Im November 2020 7 Yasuhara J, Kuno T, Takagi H, Sumitomo N. Clinical characteristics of COVID-19 in children: A systematic review. Pediatr Pulmonol. 2020 wurden bei drei von 354 (0,8%) Frauen Antikörper gegen Oct;55(10):2565-2575. doi: 10.1002/ppul.24991 8 Riester E, Findeisen P, Hegel JK, Kabesch M, Ambrosch A, Rank CM, Langen SARS-CoV-2 Nukleokapsid nachgewiesen, wobei die Antikör- F, Laengin T, Niederhauser C. Performance evaluation of the Roche Elecsys per nur mäßig erhöht waren (COI 1,35-4,9), nur eine Frau Anti-SARS-CoV-2 S immunoassay Preprint: doi: https://doi.org/10.1101/2021.03.02.21252203 wusste von einer durchgemachten Infektion. Im Februar/ 9 Ikegami S, Benirschke RC, Fakhrai-Rad H, Motamedi MH, Hockett R, David S, Lee HK, Kang J, Gniadek TJ. Target specific serologic analysis of COVID-19 März 2021 wurden bei 8 von 322 Frauen (2,5%) Antikörper convalescent plasma. PLoS One. 2021 Apr 28;16(4):e0249938. doi: 10.1371/ gegen SARS-CoV-2 nachgewiesen, davon wussten 4 nichts journal.pone.0249938 10 Resman Rus K, Korva M, Knap N, Avšič Županc T, Poljak M. Performance of von einer Infektion. Damit war die Dunkelziffer vergleichbar the rapid high-throughput automated electrochemiluminescence immuno- mit einer Studie in Berlin-Mitte, die im Dezember 2020 bei assay targeting total antibodies to the SARS-CoV-2 spike protein receptor binding domain in comparison to the neutralization assay. J Clin Virol. 2021 4,4% der 2.287 getesteten Erwachsenen Antikörper gegen Apr 10;139:104820. doi: 10.1016/j.jcv.2021.104820 Seite 258 ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN
WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG ANZEIGE durchgemachter Infektion allein [11]. Bei der Teilnehmerin unserer Studie, die nach durchgemachter COVID-19 sich zwei- mal mit Cormirnaty® hatte impfen lassen, waren die Spike- Antikörper 199-mal höher als bei den übrigen Teilnehmerin- nen mit durchgemachter Infektion. Eine Limitation der Studie liegt in der Auswahl der Proban- dinnen, die keinen repräsentativen Durchschnitt darstellt. Für die Studie meldeten sich im April 2020 vor allem Mütter, die befürchteten, sich bereits unbemerkt infiziert zu haben. Möglicherweise achteten diese Mütter im Verlauf besonders auf die Einhaltung der AHA-Regeln. Die Motivation zur Teil- nahme an der Studie war hoch. Zum vierten Untersuchungs- zeitraum kamen immer noch 80,3% der ursprünglichen Teil- nehmerinnen. Dass 22 der 322 Frauen im April 2021 bereits ein- oder zweimal geimpft waren, zeigt den hohen Anteil von Teilnehmerinnen aus medizinischen oder pflegerischen Berufen. Zusammenfassung ■ In dem Niedrigprävalenzgebiet der Stadt Rostock zeigte sich im Februar/März 2021 ein Anteil von 2,5% serologisch nachgewiesenen Infektionen mit SARS-CoV-2 bei den 322 getesteten Müttern. ■ Eine zweimalige Impfung erzielte im Mittel 35-mal höhere Spike-Antikörper als eine durchgemachte Infektion. ■ Nach durchgemachter COVID-19 Erkrankung bewirkt laut Literaturangaben eine Impfung gegen SARS-CoV-2 eine mehr als 100-fache Steigerung der Anti-Spike-Antikörper. Bei einer Probandin, die nach Erkrankung zweimal mit Co- mirnaty geimpft wurde, waren die Anti-Spike-Antikörper 199-mal höher als der Mittelwert der Erkrankten. Literatur bei den Autoren: Kontakt: Prof. Dr. Emil Reisinger Abt. für Tropenmedizin und Infektionkrankheiten, Universitätsmedizin Rostock Ernst-Heydemann-Str. 6 18057 Rostock E-Mail: emil.reisinger@uni-rostock.de 11 Manisty C, Otter AD, Treibel TA, McKnight Á, Altmann DM, Brooks T, Noursadeghi M, Boyton RJ, Semper A, Moon JC. Antibody response to first BNT162b2 dose in previously SARS-CoV-2-infected individu- als. Lancet. 2021 Mar 20;397(10279):1057-1058. doi: 10.1016/S0140- 6736(21)00501-8 AUSGABE 7/2021 31. JAHRGANG Seite 259
JUNGE ÄRZTE Klimawandel und Gesundheit – Was bedeutet das für uns? „Wenn die globale Erholung von COVID-19 nicht mit der Jahren um 53,7 %, was Antwort auf den Klimawandel in Einklang steht, wird die im Jahr 2018 zu 20.200 Welt das im Pariser Abkommen festgelegte Ziel nicht errei- Todesfällen allein in chen und die öffentliche Gesundheit kurz- und langfristig Deutschland führte.4,1 schädigen.“1 Die finanziellen Kos- ten der hitzebedingten Sterblichkeit entsprachen 2018 dem Dieses Zitat stammt vom Lancet Countdown 2020 zu Ge- Durchschnittseinkommen von 11 Millionen europäischen sundheit und Klimawandel: Antworten auf sich überlagern- Bürgerinnen und Bürgern.1 Auch zum Thema Luftver- de Krisen und fasst die aktuelle Situation und die Forderun- schmutzung äußerte sich der Lancet Countdown mit beun- gen von verschiedenen Netzwerken und Organisationen in ruhigenden Zahlen: „(…) jedes Jahr sterben mehr als eine Deutschland zusammen. „Klimaschutz ist Gesundheits- Million Menschen infolge der Luftverschmutzung durch schutz“ sollte als eines der wichtigsten Themen unserer Zeit Kohlekraftwerke und rund 390.000 dieser Todesfälle waren eigentlich das Hauptthema beim 124. Ärztetag in Rostock 2018 auf Feinstaub zurückzuführen.“1 Das Verhängnisvollste sein. Doch leider fand es beim Online-Ärztetag keinen ist aber, dass diese massiven gesundheitlichen Folgen des Platz, wurde kurzfristig von der Tagesordnung genommen Klimawandels häufig diejenigen trifft, die für diese Ent- und auf die Tagung im Herbst verschoben. Warum es den- wicklungen am wenigsten ursächlich sind: Kinder. Denn noch für jeden Einzelnen schon jetzt wichtig ist, sich mit durch ein Fortschreiten der Klimakrise sind Kinder am meis- diesem Thema auseinanderzusetzten, soll dieser Artikel ten gefährdet.5 darstellen. 2017 sorgte der Gesundheitssektor selbst für 4,6 % des Nach Einschätzungen der WHO werden die Folgen des Kli- weltweiten Ausstoßes von Klimagasen.1 In welchem Verhält- mawandels zwischen 2030 und 2050 weltweit jährlich nis diese 4,6 % stehen, beschreibt ein Artikel von Matthias 250.000 zusätzliche Todesfälle verursachen. 2 Mit der Appro- Wallenfels in der Ärzte-Zeitung 2019, in dem es heißt: „Ge- bation verpflichten wir uns als Ärztinnen und Ärzte Leben sundheitswesen klimaschädlicher als Flugverkehr“.6 Die zu erhalten und zu schützen. Das bedeutet umgekehrt, dass gute Nachricht ist aber, dass bereits erste Schritte unter- auch die Herausforderung des Klimaschutzes eine ärztliche nommen werden, die Emissionen in unserer Branche zu re- Aufgabe sein muss. Die Deutsche Gesellschaft für Innere duzieren. Nicht nur das Bundesministerium für Gesundheit Medizin formulierte 2021 bei ihrem 127. Jahreskongress da- hat mittlerweile eine eigene Abteilung für Gesundheits- her treffend, dass Umwelt- und Klimaschutz mit Gesund- schutz und Nachhaltigkeit eingerichtet, sondern auch ver- heitsschutz gleichzusetzen ist. 3 In vielen Bereichen der Me- schiedene Fachgesellschaften und Kammern positionieren dizin hinterlässt der Klimawandel bereits jetzt deutliche sich für mehr klimafreundlichen Gesundheitsschutz, bei- Spuren. Um diese gesundheitlichen Folgen des Klimawan- spielsweise die AG Klimawandel/Gesundheit der Deutschen dels jedes Jahr zu dokumentieren und die Folgen eines ver- Gesellschaft für Allgemeinmedizin. Zusätzlich gründen sich zögerten Handelns zu beschreiben, wurde 2016 der Lancet immer mehr Netzwerke und Organisationen, die das Thema Countdown ins Leben gerufen. Der Lancet Countdown ist Klimawandel und Gesundheit weiter publik machen, Forde- eine unabhängige internationale Kooperation aus 120 füh- rungen, vor allem an die Politik, stellen oder Lösungsmög- renden Expertinnen und Experten aus den Klimawissen- lichkeiten aufzeigen. schaften, der Medizin, des öffentlichen Gesundheitswesens und vielen weiteren Bereichen. Der letzte, im Dezember Ein Beispiel dafür ist die Initiative KLUG7 (Deutsche Allianz 2020 veröffentlichte Bericht, zeigte eine besonders besorg- Klimawandel und Gesundheit), die sich als Netzwerk von niserregende Entwicklung. Gerade die vulnerablen Gruppen Einzelpersonen, Organisationen und Verbänden aus dem (z.B. ältere Menschen, Kinder) waren weltweit zusätzlich gesamten Gesundheitsbereich im Oktober 2017 gründete 475 Millionen Hitzewellenereignissen ausgesetzt. Hitzewel- (z.B. Eckart von Hirschhausen als prominentes Mitglied). lenereignisse sind Phasen aufeinander folgender, unge- Ziel von KLUG ist es, alle Gesundheitsberufe aufzurufen, wöhnlich heißer Tage. So stieg die Mortalität bei über gemeinsam bei der gesamtgesellschaftlichen Transformati- 65-Jährigen, in Zusammenhang mit Hitze, in den letzten 20 on mitzuwirken und die Erderwärmung zu begrenzen. 2020 Seite 260 ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN
JUNGE ÄRZTE wurde von KLUG die Planetary Health Academy 8 ins Leben der Ärzte Zeitung mit Prof. Scherer und Denis Nößler anhö- gerufen, um Wissenslücken im Bereich des Klimawandels im ren. Es gibt also eine Vielzahl von Möglichkeiten sich über Gesundheitswesen zu schließen. Aktuell läuft der dritte Zy- den Klimaschutz zu informieren und sich für ihn zu enga- klus der internationalen Vortragsreihe der Academy, der gieren. Denn all die oben beschriebenen Fakten sind uns unentgeltlich online angesehen werden kann und in vielen hinlänglich bekannt. Es ist also nicht mehr die Frage, ob wir medizinischen Fakultäten sehr erfolgreich als Wahlpflicht- etwas tun sollten, sondern was und wie. Und das genau fach für Medizinstudierende etabliert wurde. Weiterhin jetzt! gründeten sich über KLUG auch lokale Gruppen z. B. in Greifswald und Rostock aus, die unter dem Namen Health „Gesundheit braucht Klimaschutz – denn gesunde Men- for Future 9 viele verschiedene Mitglieder der Gesundheits- schen gibt es nur auf einem gesunden Planeten.“9 berufe vereint und sich in unterschiedlichen Aktionen vor Ort für den Klima- und Gesundheitsschutz einsetzen. Kon- Quellenverzeichnis bei der Autorin: krete Ideen, was wir als Ärztinnen und Ärzte schon jetzt Theresa Buuck für die Jungen Ärzte zum Thema Klimaschutz beitragen können, kann man auch Ärztin in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Rostock in den aktuellen Folgen der Podcast-Serie „EvidenzUpdate“ Wissenschaftliche Mitarbeiterin ANZEIGEN AUSGABE 7/2021 31. JAHRGANG Seite 261
LESERBRIEFE Nach der Pandemie ist vor der Pandemie Auf den bisherigen Verlauf der SARS-CoV-2-Pandemie bli- als Empfehlungen (Freigaben) politischer Entscheidungsträ- ckend, sehe ich leider nicht die Medizin, sondern die Medien ger. Daran konnten die noch so ehrlich und gut gemeinten in einer führenden Rolle. Die große Pressefreiheit bedeutete medizinischen Beratungen einiger weniger nichts mehr än- zugleich das Freisein von Kompetenz im Umgang mit einem dern. Für die Zukunft kann ich mir am Beispiel der etablierten sensiblen Thema immenser gesellschaftlicher Bedeutung. Wie Sachverständigenräte, auf einer medizinischen Ebene, unter schnell wurden vermeintliche Fakten, deren Genesis keine Rol- der Schirmherrschaft der Ärztekammern, interdisziplinäre le mehr spielte, unreflektiert in einen Pool geworfen, wo sie Gremien vorstellen, die in der Lage sind, gesichertes Wissen nicht mehr sachlich informierten, sondern Ängste und Verun- für die Politik zusammenzufassen. Gremien, die nicht zu über- sicherungen schürten. Begriffe wie „Inzidenz“ und „R-Wert“ hören sind und wahrgenommen werden müssen. Gremien, die verselbständigten sich nicht etwa evidenzbasiert, sondern al- Nutzen und Risiken restriktiver Maßnahmen austarieren und lein durch ihre gebetsmühlenartige Wiederholung und ewige Kollateralschäden kalkulieren können. Wenn wir aus der bis- Präsenz in den Nachrichten zu isolierten Markern einer Bedro- herigen Erfahrung der Pandemiebekämpfung wissen, dass hungslage. Die Politik zeigte sich weitgehend überfordert und parlamentarisches Potential für das Management einer Krise verlor sich in einem aktionistischen Zirkus. Aus meiner Wahr- nicht reicht, muss der medizinisch-wissenschaftliche Hinter- nehmung ist unserem Berufsstand vorzuwerfen, dass er die grund einer Epidemie/Pandemie wesentlich stärker und kont- Deutungshoheit einer medizinischen Befundlage abgegeben rolliert in politische Entscheidungen einfließen. hat. Die Medien transportierten sogar weitgehend unwider- sprochen die Indikationen des speziellen Impfstoffeinsatzes PD Dr. Ulrich Hammer, Bad Doberan Leserbrief zum Artikel „Deutschland und seine (chronisch) kranken Kinder – wie sieht es in M-V aus?, Ausgabe 5/2021, S. 187ff. Der sehr ausführliche, für den Leser recht lange Beitrag von die Leitung des Südstadt-Krankenhauses ein nachhaltiges In- Herrn Radke zum o.g. Thema gleicht de facto einem Offenba- teresse an einer funktionierenden stationären Kinder- und rungseid. Als ehemaliger Oberarzt der Uni-Kinderklinik Ros- Jugendmedizin in Rostock haben. Zudem fehlt der Landesre- tock bin ich über deren Niedergang in den letzten 15 bis 20 gierung offenbar der politische Wille, hier regulierend einzu- Jahren extrem irritiert. Man fragt sich, wie es zu diesem deso- greifen und das seit mehr als 10 Jahren diskutierte Konzept laten Zustand kommen konnte. Insbesondere, wenn man be- eines Eltern-Kind-Zentrums endlich umzusetzen. Man über- rücksichtigt, dass diese Klinik in „Ost-Zeiten“ zu den leistungs- lässt dieses Thema den konkurrierenden Partikularinteressen stärksten in der ehemaligen DDR gehörte (noch vor der Cha- – und das auf dem Rücken kranker Kinder. rité in Berlin). Auch in den 90er-Jahren war die Klinik allseitig Diese werden dieses Versagen bezahlen müssen. lhnen wird noch bestens aufgestellt. Nach meiner Auffassung folgt der der im Jahr 2021 geltende medizinische Qualitätsstandard vor- von Herrn Radke beschriebene Zustand ja keinem Naturge- enthalten – und zwar vom Frühgeborenen bis zum Jugendli- setz. Er ist vielmehr Folge menschlichen (Fehl-)Handelns. Lei- chen. der versäumt es Herr Radke, Roß und Reiter zu nennen und Die Landesregierung sollte nicht warten, bis Rostock ein zwei- darauf hinzuweisen, wer die schweren Strukturverwerfungen tes Wolgast wird. in Rostock mit Zerschlagung des Fachgebiets zu verantworten hat. Auch müsste man ihn fragen, welchen Beitrag er selbst Dr. Manfred Müller zur Verbesserung der Situation der Klinik während seines Di- ehem. Chefarzt der Kinderklinik Stralsund rektorats von 2015 bis 2018 geleistet hat. Aus der Ferne betrachtet scheint es derzeit so zu sein, dass weder die Medizinische Fakultät der Universität Rostock noch Seite 262 ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN
AKTUELLES Meldepflichtige Corona-Fälle in den Branchen der BG Gesundheits- dienst und Wohlfahrtspflege in 2020 Daten für 2020 2500 Melde- Anerkann- pflichtige te Fälle Fälle 2000 KW 11 1 0 KW 12 20 3 1500 KW 13 54 29 KW 14 160 77 1000 KW 15 314 205 KW 16 457 337 500 KW 17 693 504 KW 18 647 525 0 KW 19 665 527 KW 11 KW 12 KW 13 KW 14 KW 15 KW 16 KW 18 KW 19 KW 20 KW 21 KW 22 KW 23 KW 24 KW 25 KW 26 KW 28 KW 29 KW 30 KW 31 KW 32 KW 33 KW 34 KW 35 KW 36 KW 38 KW 39 KW 40 KW 41 KW 42 KW 43 KW 44 KW 45 KW 46 KW 48 KW 49 KW 50 KW 51 KW 52 KW 53 KW 17 KW 27 KW 37 KW 47 KW 20 958 760 KW 21 855 701 Meldepflichtige Fälle Anerkannte Fälle KW 22 723 540 KW 23 514 427 Meldepflichtige Corona-Fälle in den Branchen der BG Gesundheits- KW 24 282 236 dienst und Wohlfahrtspflege bis Mai 2021 KW 25 483 393 KW 26 416 304 6000 KW 27 478 376 KW 28 297 214 5000 KW 29 357 262 KW 30 212 145 4000 KW 31 214 131 KW 32 215 151 3000 KW 33 181 114 KW 34 234 180 2000 KW 35 195 136 KW 36 111 83 1000 KW 37 124 95 KW 38 187 121 0 KW 1 KW 2 KW 3 KW 4 KW 5 KW 6 KW 7 KW 8 KW 9 KW 10 KW 11 KW 12 KW 13 KW 14 KW 15 KW 16 KW 17 KW 39 196 157 Meldepflichtige Fälle 2.605 3.487 3.602 4.182 4.046 4.634 5.437 5.256 3.978 3.662 4.804 3.344 2.984 2.065 3.087 3.366 3.291 KW 40 128 62 Anerkannte Fälle 1.896 2.645 2.703 3.141 3.051 3.354 4.019 3.719 2.465 2.067 1.971 1.609 1.460 915 1.305 935 616 Corona-Fälle nach Branche und Anzahl der Vollbeschäftigten in 2020: KW 41 166 114 KW 42 161 122 Corona-Fälle nach Branche und Anzahl der Vollbeschäftigten in 2020: KW 43 180 132 KW 44 191 131 In der Zahl der Vollbe- 1) schäftigten sind enthal- KW 45 423 322 ten auf Vollbeschäftigte KW 46 572 441 umgerechnete: Arbeit- KW 47 741 584 nehmer, versicherte Un- ternehmer, ehrenamt- KW 48 953 756 lich Tätige (sofern das KW 49 1.195 923 meldende Unterneh- men der Wohlfahrts- KW 50 1.509 1.155 pflege zugehörig ist). KW 51 2.170 1.609 Quelle bildet die Umla- KW 52 1.179 818 gerechnung 2020 (Stand März 2021) KW 53 1.085 699 Alle Daten mit freundlicher Unterstützung der BGW (Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege) 1) In der Zahl der Vollbeschäftigten sind enthalten auf Vollbeschäftigte umgerechnete: Arbeitnehmer, versicherte Unternehmer, ehrenamtlich Tätige (sofern das meldende7/2021 AUSGABE Unternehmen der Wohlfahrtspflege zugehörig ist). Quelle bildet die Umlagerechnung 2020 (Stand März 2021) 31. JAHRGANG Seite 263 Alle Daten mit freundlicher Unterstützung der BGW (Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege) à diesen Hinweis bitte am Ende der
AKTUELLES Tragbare Assistenzsysteme zum Monitoring und zur Unterstützung von Menschen mit Gedächtnisstörungen Doreen Görß* Hintergrund und Schaltern, also Hardware mit unmittelbar haptischem Feedback, bereitet vielen älteren Techniknutzern Probleme. Intelligente assistive Technologien bergen großes Potenzial Die Zielgruppe ist mit dem Gebrauch kapazitiver Oberflächen bei der innovativen Versorgung von Demenzkranken. Sie kön- nicht vertraut und muss sich das Design und die Logik der ver- nen zur Verbesserung der Lebensqualität von Betroffenen wendeten Benutzeroberflächen neu erschließen. Auch ist die führen, als auch die Belastung von Pflegenden und Angehöri- Anwendung sehr komplex und muss Schritt für Schritt erlernt gen von Menschen mit Gedächtnisstörungen mindern.1 Mobi- werden. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Mensch mit le technische Assistenten sind in der Allgemeinbevölkerung Gedächtnisstörung tendenziell Probleme hat, neue Dinge zu weit verbreitet. Nicht nur Smartphones, sondern auch Smart- erlernen bzw. Erlerntes zu behalten und die neu erlernten Ab- watches sind heute zu bezahlbaren Preisen verfügbar und läufe selbständig abzurufen. Darüber hinaus bestehen geriat- werden von immer mehr Menschen in ihrem Alltag einge- rische Komorbiditäten, bspw. sind Sehen und Hören reduziert setzt. Doch die zunehmende Anzahl „intelligenter“ Alltags- oder die Feinmotorik gestört, was den Umgang mit aktuell helfer findet bislang kaum Anwendung bei der Unterstützung verfügbaren Technologien zusätzlich erschwert. Zur Verbesse- von Menschen mit Gedächtnisstörungen.2 Diese können von rung der Versorgung von Menschen mit Demenz arbeitet Dr. der stetigen Weiterentwicklung mobiler assistiver Technologi- med. Doreen Görß im Rahmen des Clinician Scientist Program- en weniger profitieren. mes an der Universitätsmedizin Rostock in der Sektion Geron- Hierfür gibt es verschiedene Gründe. Hauptproblem ist, dass topsychosomatik. die Bedürfnisse von Menschen mit Gedächtnisstörung von den verfügbaren Geräten nicht abgedeckt werden. Der übliche Forschungsfragen Funktionsumfang richtet sich an gedächtnisgesunde Nutzer und beinhaltet selten Applikationen, die für Menschen mit Wie Technik zur Verbesserung der Situation von Menschen mit Einschränkungen des Gedächtnisses von Interesse sind. Ein Gedächtnisstörungen eingesetzt werden kann, ist ein weites weiteres großes Problem ist die Bedienbarkeit der Geräte. Die Feld. Dabei sind spezifische Domänen zu adressieren, welche Nutzergruppe von Menschen mit Gedächtnisproblemen ist interdisziplinär und partizipativ erforscht werden müssen, um mehrheitlich über 60 Jahre alt und den Umgang mit moder- nachhaltig einen Technologietransfer zu ermöglichen und die nen Technologien nicht gewohnt. Der Wegfall von Knöpfen Rückführung des Wissens zum Anwender zu gewährleisten. Zu- sammenfassend werden mit der Arbeit diese Ziele verfolgt: ■ Anwendung eines Nutzer-zentrierten Ansatzes mit fortwäh- * Ärztin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Clinican Scientists Programm der Universitätsmedizin Rostock render, iterativer Einbindung von Nutzer-Feedback in den 1 Ienca M, Jotterand F, Elger B et al. (2017) Intelligent Assistive Technology Entwicklungsprozess von Technologien for Alzheimer‘s Disease and Other Dementias: A Systematic Review. Journal of Alzheimer‘s disease : JAD 60(1):333 ■ Messung und Analyse von Vital- und Aktivitätsdaten, aufge- 2 Vollmer Dahlke D, Ory MG. Emerging Issues of Intelligent Assistive Tech- nology Use Among People With Dementia and Their Caregivers: A U.S. zeichnet mit mobilen Geräten, zur Identifizierung von Situa- Perspective. Front Public Health. 2020;8:191. Published 2020 May 21. tionen mit Hilfsbedarf Seite 264 ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN
AKTUELLES ■ Weiterentwicklung neuro-kognitiver Modelle von räumlicher Desorientierung, anhand von Daten aus der realen Welt ■ Entwicklung von Interventionsszenarien mit Beschreibung geeigneter automatisierter Aktionen von technischen Syste- men basierend auf der Erkennung bestimmter Situationen Nutzerzentrierte Designansätze werden in der Produktent- wicklung bereits seit vielen Jahren verfolgt. Voraussetzung für ihre Implementation ist die suffiziente Kommunikation über die Bedürfnisse der zukünftigen Nutzer. Die Feststellung der Bedürfnisse von Menschen mit Gedächtnisstörungen z.B. mit retrospektiven Befragungen kann schwierig sein. Daher wer- den verschiedene Methoden der partizipativen Forschung und Nutzerzentrierung bei Menschen mit Demenz erprobt und Matthias Nali und Doreen Görß bei der Vorstellung des Projektes wissenschaftlich überprüft, ob und welche Verfahren erfolg- gegenüber Bewohnern, Angehörigen und Mitarbeitern des Pflege- reich angewendet werden können. heims Pinnow. Seit einigen Jahren gibt es eine Vielzahl von tragbaren Senso- ren, welche z.B. die Aktivität ihrer Träger m.H. von Akzelero- Aus der Praxis und aus Voruntersuchungen3 ist bekannt, dass metern quantifizieren. Obwohl die Sensoren relativ klein und räumliche Desorientierung eines der häufigsten Probleme von kabellos sind, ist ihre Akzeptanz insbesondere bei Menschen Menschen mit Demenz ist, welches als technisch adressierbar in fortgeschrittenen Stadien der Demenz nicht immer gege- gilt. Interdisziplinäre Arbeiten von Neuropsychologen und In- ben. Die neueren sog. „Wearables“ haben hier einige Vorteile. formatikern haben bereits kognitive Modelle bspw. von Weg- Bei Smartwatches entsteht durch Einblenden eines analogen findung konzipiert.4 Diese theoretischen Konzepte sind jedoch Ziffernblattes der Eindruck einer herkömmlichen Uhr. Darüber für gedächtnisgesunde Menschen entwickelt worden und be- hinaus ermöglichen Smartwatches (je nach Hard- und Soft- dürfen einer Anreicherung bzw. Weiterentwicklung durch wareausstattung) ggf. die Aufzeichnung weiterer Vitaldaten Erfahrungen aus der Praxis von Menschen mit Demenz. Aus (neben Akzelerometrie z.B. Herzrate, Hautleitwiderstand), die diesem Grund ist die explizite Beobachtung von Menschen mit Bestimmung des Aufenthaltsortes (Indoor und Outdoor) und Gedächtnisstörung bei einer Wegfindungsaufgabe in einer erlauben eine Echtzeitübertragung der Daten auf leistungsfä- Krankenhausumgebung ein weiterer Forschungsaspekt. higere Systeme (abhängig von Schnittstellen, wie z.B. LTE oder Wenn durch am Körper getragene Sensoren bei einem Men- BLE). In gemeinsamen Forschungsprojekten mit Partnern aus schen ein Hilfsbedarf festgestellt wurde, so wäre es wünschens- der Informationstechnik und Informatik wird erforscht, wel- che Parameter erfasst werden müssen, um relevante Informa- tionen über das Verhalten (z. B. räumliche Desorientierung) 3 Schaat S, Koldrack P, Yordanova K, Kirste T, Teipel S. Real-Time Detection of Spatial Disorientation in Persons with Mild Cognitive Impairment and bzw. den Hilfsbedarf einer Person automatisiert ermitteln zu Dementia. Gerontology. 2020;66(1):85-94. doi: 10.1159/000500971. können und welche Plattformen und technische Infrastruktur 4 Manning JR, Lew TF, Li N, Sekuler R, Kahana MJ. MAGELLAN: a cogni- tive map-based model of human wayfinding. J Exp Psychol Gen. 2014 hierfür eingesetzt werden können. Jun;143(3):1314-1330. doi: 10.1037/a0035542. Epub 2014 Feb 3.
AKTUELLES EFRE Fonds (Europäischer Fonds für regionale Entwicklung) fi- nanziert. SAMi soll ein interaktives Sensorarmband sein, das Aktivitäten von Menschen mit Demenz (MmD) in Echtzeit ana- lysiert. Über integrierte Sensoren können objektive Daten über die täglichen Aktivitäten des MmD erhalten werden. Es ist ein Werkzeug für die Realisierung aktivitätsbasierter Interventio- nen bei der Betreuung und Pflege von MmD und beruht auf dem Prinzip der aktivierenden Pflege. Allerdings ist es so konzi- piert, dass sich das System nicht nur an den eigentlichen Träger richtet, sondern im Bedarfsfall auch Betreuer, Pfleger oder An- gehörige informiert. Innerhalb des Projektes gibt es diverse Teilaspekte, die technisch realisiert, wissenschaftlich analysiert und hinsichtlich des wirtschaftlichen Potenzials evaluiert wer- den. Die Universitätsmedizin Rostock als ein klinischer und wis- senschaftlicher Partner übernimmt maßgeblich die Anforde- rungsanalyse, welche durch Hospitationen und semi-struktu- rierte Interviews mit anschließender qualitativer Inhaltsanalyse Darstellung der Wegfindungsstudie: oben: Sensorisch erfasster realisiert wird. Des Weiteren wurde unter Leitung der UMR eine Aufenthaltsort und Gehgeschwindigkeit des Probanden bei der Feldstudie zur Verhaltenserfassung durchgeführt, bei der MmD Wegfindung. Unten links: von der Smartwatch erfasste Vitalpara- meter (von oben nach unten: Elektrodermale Aktivität, Blood Vo- im Pflegeheim in ihrem Alltag beobachtet wurden, parallel zur lume Pressure zur Kalkulation der Herzrate und Akzelerometrie). Ausstattung mit einer Smartwatch und der Instrumentierung Unten rechts: Digitale Annotation des Verhaltens in Echtzeit durch der Umgebung zur Lokalisationsbestimmung indoor. In einer einen Studienmitarbeiter während der Untersuchung. weiteren Teilstudie wurde gezielt räumliche Desorientierung im Krankenhaus mit einer Wegfindungsaufgabe bei ähnlicher Sen- wert, wenn situationsadaptiv von dem technischen Gerät eben- sorausstattung untersucht. Im letzten Studienabschnitt wurde falls eine Hilfestellung erfolgt. Dabei ist es zur Erhöhung der mit einer Interventionsstudie begonnen, in der die Reaktion Akzeptanz und der Effektivität der Intervention von Bedeu- und der Effekt von Interventionen der Smartwatch auf dessen tung, dass solche Interventionen individualisiert erfolgen, d.h. Träger analysiert werden. Damit die Reaktion möglichst unbe- an den Zustand und die Ressourcen des Nutzers angepasst sind. einflusst vom Beobachter ist, erfolgt die Beobachtung der Ka- Technisch wird diese Entscheidungsfindung durch komplexe mera bzw. Analyse per Videoaufzeichnung. Anschließend wer- Algorithmen realisiert, welche basierend auf Ausgangswerten den die Teilnehmer zu ihren Erfahrungen mit der Smartwatch (z.B. Sehvermögen des Nutzers, Grad der Gedächtniseinschrän- im Rahmen der nutzerzentrierten Ausrichtung des Projektes kung, etc.) und aktuellen Parametern (von Sensoren gelieferte befragt. Im SAMi Projekt arbeitet die UMR eng zusammen mit Vitaldaten, Aufenthaltsort, etc.) Erfolgswahrscheinlichkeiten anderen Projektpartnern, u.a. dem DZNE (s.u.), dem Institut für für alle potenziell zur Verfügung stehenden Interventionen in Informatik der Universität Rostock oder dem Fraunhofer Insti- dieser Situation berechnen und schließlich eine Intervention tut für grafische Datenverarbeitung (IGD) Rostock. auswählen. Bspw. kommt in Realumgebungen, in denen immer auch Messunsicherheiten berücksichtigt werden müssen, Ergebnisse POMDP (partially observable Markov decision process) zur An- wendung.5 Initial wurde untersucht, ob das Verhalten von Menschen mit Demenz mit Hilfe von Sensoren erfasst werden kann. Dafür Das SAMi Projekt wurde eine multimodale Feldstudie mit insgesamt 17 Men- schen, wohnhaft in zwei Pflegeheimen, durchgeführt. Alle Teil- SAMi steht für „Sensorbasierter persönlicher Aktivitätsmanage- nehmer waren bereits mittelgradig bis schwergradig dementiell mentassistent für die individualisierte stationäre Betreuung von erkrankt. Die Einwilligungen wurden von ihren gesetzlichen Menschen mit Demenz“. Es ist ein seit 2017 bestehendes Ver- Vertretern unterzeichnet. Zum Einsatz kamen Sensoren, welche bundprojekt wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Partner aus paarweise am Handgelenk und am kontralateralen Fußgelenk M-V und wird durch das Land Mecklenburg-Vorpommern im getragen wurden und das Aktivitätsniveau mittels Linearbe- Rahmen des Technologieförderprogramms und aus Mitteln des schleuniger (3-achsige Akzelerometer) gemessen haben. Als besonderes Kriterium bei der Studiendurchführung gilt die 5 Schröder M, Bader S, Bieber G, Kirste T. IT-basiertes Aktivitätsmanage- Dauer der Aufzeichnung, denn pro Teilnehmer wurden etwa ment in der Individualisierten Stationären Betreuung von Menschen mit Demenz. Conference Paper. Zukunft Lebensräume 2016. Frankfurt vier Wochen seines normalen Verhaltens aufgezeichnet. Tags- Seite 266 ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN
AKTUELLES über wurde das Verhalten der Probanden durch einen Studien- dass mit der Bedarfsanalyse gezeigt werden konnte, dass Me- mitarbeiter beobachtet und in Echtzeit nach einem festgeleg- thoden der partizipativen Forschung und des nutzerzentrierten ten Schema annotiert. Bei der Studie kam heraus, dass es mög- Forschungsansatzes auch bei Menschen mit Gedächtnisproble- lich ist, die Sensorausstattung, -messung und Datenübertra- men angewandt werden können, was bisher in der Wissen- gung in Routineabläufe eines Pflegeheims zu integrieren.6 Die schaft nicht unbezweifelt ist. Auswertung der Akzelerometriedaten lieferte Informationen Wie wichtig die Einbeziehung von Wissen um krankheitsspezi- über Verhaltensprofile der Bewohner. Eine Spezifizierung der fische Veränderungen der Kognition und des Verhaltens von unterschiedlichen Verhaltensweisen allein anhand der Sensor- betroffenen Menschen zur Entwicklung nachhaltig nutzbarer daten war mit diesem Setup jedoch nicht möglich. Allerdings technischer Assistenten ist, wurde bereits dargestellt. Die Diffe- zeigen die Ergebnisse dieser und anderer Studien, dass Akzele- renzierung von verschiedenen dementiellen Erkrankungen ist rometrie potenziell dazu genutzt werden kann, Agitation von jedoch nicht nur für die zukünftigen Hilfssysteme von Bedeu- Menschen mit Demenz zu erfassen.7 tung, sondern bereits heute bei der optimierten Behandlung Mit Hilfe von semistrukturierten Interviews erfolgt eine syste- und Beratung von Betroffenen. Um die Transformation von matische Bedarfsanalyse bezüglich der Anforderung an ein wissenschaftlichen Erkenntnissen und Ontologien in die Praxis technisches Assistenzsystem. Es wurden drei Interessensgrup- zu unterstützen, wurde von der Arbeitsgruppe an einem Fall- pen befragt: Patienten, Angehörige und medizinische Exper- beispiel die neue Krankheitsentität der limbisch prädominan- ten. Insgesamt wurden über 32 Interviews geführt, die aufge- ten, altersassoziierten TDP-43-Enzephalopathie (LATE) disku- zeichnet und anschließend transkribiert wurden. Die Befragten tiert. In dem kürzlich erschienen Artikel in „Der Nervenarzt“ wurden zu Problemen bei der stationären Behandlung befragt, werden differentialdiagnostische Überlegungen bei einer zum Umgang mit herausforderndem Verhalten von Menschen 55-jährigen Patientin mit V.a. Alzheimer-Krankheit vorgestellt mit Demenz, zum Status quo ihrer Techniknutzung, zu Ideen und aktuelle diagnostische Verfahren, neuropsychologische Be- für technische Innovationen und deren Anforderungen. Die funde und therapeutische Konsequenzen beschrieben.8 Transkripte wurden der qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen. Im Resultat konnten Werte von potenziellen Nutzern abgeleitet Mehr Informationen über das Clinician Scientist Programm der werden, die in den Value-sensitive-design Ansatz des Vorha- Universitätsmedizin Rostock erhalten Sie unter www.med.uni- bens eingebettet werden. Insbesondere Werte wie Sicherheit, rostock.de/forschung-lehre/forschung/clinician-scientists-ent- Autonomie, Privatsphäre, Einfachheit oder Informationsbedürf- wurf nis konnten herausgearbeitet werden. Ihre unterschiedliche Dr. med. Doreen Görß Gewichtung und Divergenz bei den verschiedenen Interessens- Zentrum für Nervenheilkunde gruppen zeigen die Komplexität und teilweise Inkonsistenz auf, Sektion Gerontopsychosomatik, mit der man bei der Entwicklung von technischer Assistenz in Leitung Prof. Teipel diesem Umfeld konfrontiert wird. Darüber hinaus konnten Gehlsheimer Straße 20, 18147 Rostock funktionelle und nicht-funktionelle Anforderungen aus den E-Mail: doreen.goerss@med.uni-rostock.de Interviews abgeleitet werden, denen unter dem Mantel von Telefon: 0381/494 9480 Benutzerfreundlichkeit (usability) und Nutzer-Erlebnis (user- experience) Rechnung getragen werden sollte. Als funktionelle ANZEIGE Anforderungen formulierten die Interviewten bspw. Navigati- onsassistenz, verschiedene Alarm-Funktionen (z.B. beim Verlas- sen einer Station), Sturzerkennung, Schlafdetektion oder Erin- nerungen und Benachrichtigungen. Nicht-funktionelle Anfor- derungen waren z.B. das Vorhandensein von Knöpfen, fehlen- de Bewegungseinschränkung, eine lange Batterielaufzeit, Tra- gekomfort oder eine ansprechende Optik. Obwohl viele der genannten Aspekte nicht überraschend sind, ist anzumerken, 6 Goerss, D., Hein, A., Bader, S., Halek, M., Kernebeck, S., Kirste, T., Teipel, S. Automated sensor-based detection of challenging behaviors in advanced stages of dementia in nursing homes. Alzheimer’s & Dementia (2019). 7 Bankole, A., Anderson, M., Smith-Jackson, T., Knight, A., Oh, K. et al. (2012): Validation of noninvasive body sensor network technology in the detection of agitation in dementia. In: American journal of Alzheimer‘s disease and other dementias 27 (5), S. 346–354. 8 Görß, D., Kilimann, I., Dyrba, M. et al. LATE: Nicht jede Demenz ist Alzhei- mer – Diskussion einer neuen Krankheitsentität am Fallbeispiel. Nervenarzt 92, 18–26 (2021). https://doi.org/10.1007/s00115-020-00922-z AUSGABE 7/2021 31. JAHRGANG Seite 267
Sie können auch lesen