7/2021 ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN - KEINE IMPFPFLICHT DURCH DIE HINTERTÜR IMMUNITÄT GEGEN SARS-COV-2 - ERGEBNISSE DER SURVEILLANCE-STUDIE ...

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ÄRZTEBLATT
7/2021                             MECKLENBURG-VORPOMMERN

         Mohnblumenfeld bei Niex                                              Foto: Dr. G. Rücker

                                                     Keine Impfpflicht durch die Hintertür
                           Immunität gegen Sars-CoV-2 – Ergebnisse der Surveillance-Studie
                                                                         #Gesundheit2021
7/2021 ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN - KEINE IMPFPFLICHT DURCH DIE HINTERTÜR IMMUNITÄT GEGEN SARS-COV-2 - ERGEBNISSE DER SURVEILLANCE-STUDIE ...
Inhalt
Editorial                                                                 Veranstaltungen und Kongresse
   Keine Impfpflicht durch die Hintertür                            253     Impfkurse in Mecklenburg-Vorpommern              269

                                                                            Veranstaltungen der Ärztekammer M-V              269
Wissenschaft und Forschung
                                                                            Veranstaltungen in unserem Kammerbereich         269
   Immunität gegen SARS-CoV2 – Ergebnisse der
   Rostocker COVID-Surveillance-Studie                              254     Veranstaltungen in anderen Kammerbereichen       271

Junge Ärzte                                                               Aus der Kammer
   Klimawandel und Gesundheit – Was bedeutet                                Jetzt aufsteigen durch die Fortbildung
   das für uns?                                                     260     „Fachwirt für ambulante medizinische
                                                                             Versorgung“                                     272
Leserbriefe
                                                                            Bettina Rosenthal stellt aus                     272
   Nach der Pandemie ist vor der Pandemie                           262
                                                                            Die ärztliche Schweigepflicht                    273
   Leserbrief zum Artikel
  „Deutschland und seine (chronisch) kranken                              NBK Gesundheitswirtschaft
   Kinder – wie sieht es in M-V aus?                                262
                                                                            #Gesundheit2021                                  275

Aktuelles
                                                                          Geschichte der Medizin
  Zahlen zur Corona-Erkrankung 2020/2021                            263
                                                                            Ein Pommer als Leibarzt im Dienst der Kaiserin   283
  Tragbare Assistenzsysteme zum Monitoring
  und zur Unterstützung von Menschen mit                                  Personalien
  Gedächtnisstörungen                                               264
                                                                            MR Dr. med. Klaus Springfeld – 85 Jahre          287
   Einführung der neuen Zusatzbezeichnung
  „Spezielle Kardiologie für Erwachsene mit                               Rezensionen
   angeborenen Herzfehlern (EMAH)“                                  280
                                                                            Für Sie gelesen                                  288

Fortbildung
                                                                          Geburtstage
  29. Interdisziplinäre Seminar- und
                                                                            Wir beglückwünschen                              289
  Fortbildungs­woche der Ärztekammer
  Mecklenburg-Vorpommern                                            268     Impressum                                        289

   Genderneutrale Sprache
   In der deutschen Sprache sind personenbezogene Pluralformen
   grundsätzlich geschlechtsneutral. Soweit singuläre Formen wie Arzt,
   Patient, Gast o.ä. aus Gründen der Flüssigkeit und besseren Lesbar-
   keit in den Texten des Ärzteblattes Mecklenburg Vorpommern ver-
   wendet werden, bezeichnen sie wie auch die Pluralformen in jedem
   Fall sowohl Personen des weiblichen wie des männlichen als auch
   eines möglichen dritten Geschlechts.
                                                         Die Redaktion

AUSGABE 7/2021 31. JAHRGANG                                                                                                  Seite 251
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Collage: W. Schimanke
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EDITORIAL

Keine Impfpflicht durch
die Hintertür

Bereits kurz nach dem 124. Deutschen Ärztetag online haben       und Medizin, dem sich die Ärztekammer Mecklenburg-Vor-
uns wie auch andere Kammern und die Bundesärztekammer            pommern vorbehaltlos anschließt. Es muss und wird die sou-
einige Briefe und Mails erreicht, in denen die Absender er-      veräne Entscheidung der Eltern unter Abwägung individuel-
klärten, dass es „#nichtmeinaerztetag“ sei. Bereits das Hash-    ler Risiken und unter Mitwirkung der Ärzte ihres Vertrauens
tag weist darauf hin, dass es sich um eine Aktion in den (ver-   bleiben.
meintlich) sozialen Medien handelt. Hintergrund ist eine
YouTube-Kampagne des „Ärzte für eine individuelle Impf-          Interessanterweise waren die ersten Absender der o.g. Mit-
entscheidung e. V.“ – einem Verein, der bereits (vergeblich)     teilungen nicht Ärzte in unserem Bundesland. Inzwischen
versucht hatte, das Masernschutzgesetz zu stoppen.               haben sich einzelne Kollegen auch aus unserem Land in ähn-
                                                                 lichem Sinne geäußert – vielleicht, weil sie den Beschluss in
Mit dieser „Initiative“ wird Stellung gegen den Beschluss I-19   vollem Wortlaut nicht kennen, vielleicht aber auch, weil sie
des 124. Deutschen Ärztetags „Notwendige COVID-19-Impf-          der recht offensiv geführten Kampagne im Glauben, Gutes
strategie für Kinder und Jugendliche“ bezogen, der ver-          zu tun, folgen. Nach Einschätzung der Bundesärztekammer
meintlich eine Impfpflicht für Kinder und Jugendliche for-       ist die Kampagne „#nichtmeinaerztetag“ eng mit der „Quer-
dert. Zwar stellt der Beschluss in seiner Begründung ein Junk-   denkerszene“ verwoben, was sich ohne große Mühe im In-
tim zwischen dem Impfen und der Teilnahme am gesell-             ternet nachweisen lässt.
schaftlichen Leben her, fordert jedoch in erster Linie eine
nachhaltige Forschung zu Impfstoffen für Kinder und                                                    Dr. Wilfried Schimanke
Jugendliche sowie die Bestellung hinreichender Mengen
adäquater Impfstoffe. Von einer Impfpflicht ist keine Rede!

Inzwischen hat der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK)
Dr. Klaus Reinhardt klargestellt. dass die Datenlage zu Risi-
ken und Nutzen einer möglichen Corona-Impfung bei Kin-
dern und Jugendlichen derzeit noch unzureichend ist. Man
könne deshalb noch keine Empfehlung abgeben. Es dürfe
jetzt auch kein politischer und gesellschaftlicher Druck auf
die Eltern ausgeübt werden, ihre Kinder impfen zu lassen.
Obwohl die Europäische Arzneimittelbehörde dem Impfstoff
von Biontec-Pfizer für Personen ab 12 Jahre zugelassen hat,
hält sich die deutsche Ständige Impfkommission (STIKO) noch
deutlich zurück und prüft gegenwärtig das Verhältnis von
Nutzen und Risiko bei Kindern und Jugendlichen. Selbst
wenn die STIKO den Impfstoff für diese Altersgruppe emp-
fehlen sollte, bedeutet dies keine Impfpflicht. Darüber be-
steht weitgehender Konsens zwischen Politik, Wissenschaft

AUSGABE 7/2021 31. JAHRGANG                                                                                               Seite 253
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WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

    Immunität gegen SARS-CoV2 – Ergebnisse
    der Rostocker COVID-Surveillance-Studie
    Antikörper sind nach Impfung signifikant höher als nach durchgemachter Infektion

    Geerdes-Fenge HF*, Acksel E*, Bastian M**, Hemmer CJ*, Emmerich P*, ***, Löbermann M*,
    Reisinger EC*

    Einleitung                                                                         Unter der Annahme, dass aufgrund des engen Kontaktes von
                                                                                       Eltern zu ihren erkrankten Kindern der Infektionsstatus bzgl.
    In Mecklenburg-Vorpommern wurden seit März 2020 – wie                              SARS-CoV-2 von Kindern und deren Müttern kongruent ist,
    in allen deutschen Bundesländern – Maßnahmen ergriffen,                            testeten wir Mütter stellvertretend für die Kinder. Die Be-
    um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern. Insbeson-                           stimmung von Antikörpern gegen SARS-CoV-2 bei Müttern
    dere die Schließung von Kindertagesstätten und Schulen war                         sollte indirekt Auskunft über den Infektionsstatus ihrer Kin-
    und ist heftig umstritten. Zunächst gab es wenig verlässliche                      der geben.
    Daten zur Infektion, zum klinischen Verlauf und zur Infekti-
    osität bei Kindern, so dass die Wirksamkeit der Schließungen                       Antikörper gegen SARS-CoV 2
    der Kinderbildungseinrichtungen nicht belegt war. Die Zahl
    der COVID-19-Fälle lag in Mecklenburg-Vorpommern am                                Das Coronavirus SARS-CoV2 besitzt als antigene Strukturen
    31.05.2020 bei 47/100.000 Einwohnern im Vergleich zur bun-                         unter anderem das Nukleokapsid-Protein (N), das das RNA-
    desweiten Zahl von 218/100.000 Einwohnern [1]. Am                                  Genom umhüllt, sowie drei Strukturproteine, die Bestandtei-
    28.02.2021 lag die Zahl der COVID-19-Fälle in MV bei                               le der Virushülle sind: das Membran-Protein (M), das Envelo-
    1.523/100.000 Einwohnern im Vergleich zu 2.937/100.000 Ein-                        pe-Protein (E) und das Spike-Protein (S) [5]. Im Laufe einer
    wohnern bundesweit [2].                                                            Infektion werden Antikörper gegen die unterschiedlichen
    Die Dunkelziffer für COVID-19 ist im Rahmen der vermehrten                         Virusantigene gebildet, also auch gegen das Spike-Protein
    Testungen in Deutschland deutlich gesunken. Zu Beginn der                          und das Virus-Nukleokapsid. Durch die bislang zugelassenen
    Pandemie zeigten serologische Untersuchungen des Robert                            Impfstoffe wird ausschließlich eine Immunantwort gegen das
    Koch-Instituts in Bad Feilnbach im Juli 2020 4,5-mal und in                        Spike-Protein hervorgerufen.
    Kupferzell 6-mal mehr Infektionen als vor Beginn ihrer Stu-                        Dies hat zu Beginn der Impfperiode bei manchen Geimpften
    die bekannt, während in Berlin im Dezember 2020 serolo-                            zur Verwunderung geführt, da sie im Antikörpertest negativ
    gisch nur noch 2,2-mal mehr Infektionen nachgewiesen wur-                          waren, weil die ersten der verbreiteten Antikörpertests nur
    den als die offiziellen Meldezahlen anzeigten [3].                                 Anti-Nukleokapsid-Antikörper nachwiesen.
    Für das Niedrigprävalenzgebiet Rostock konnten wir zeigen,                         In der vorliegenden Studie wurden Antikörper-Tests sowohl
    dass im April 2020 keine unerkannte COVID-19 Erkrankung                            gegen Nukleokapsid als auch gegen Spike-Protein verwen-
    bei 401 getesteten Müttern von Kindern im Alter von 1-10
    Jahren nachgewiesen wurde [4]. Um die Öffnung der Kitas
    und Schulen ab Mai 2020 hinsichtlich asymptomatischer CO-
                                                                                       1
                                                                                           Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19)
    VID-19-Infektionen zu begleiten, führten wir diese Studie im                           31.05.2020. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavi-
    Raum Rostock fort mit dem Ziel, Daten zur Prävalenz der                                rus/Situationsberichte/Archiv_Mai.html
                                                                                       2
                                                                                           Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19)
    SARS-CoV-2 Infektion und zur Immunität gegen SARS-CoV-2                                28.02.2021. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavi-
                                                                                           rus/Situationsberichte/Feb_2021/Archiv_Feb_2021.html
    bei Müttern sowie zusätzlich bei Mitarbeitern/-innen von                           3
                                                                                           RKI. Studie CORONA-MONITORING lokal. https://www.rki.de/DE/Content/
    Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen zu gewinnen.                                 Gesundheitsmonitoring/Studien/cml-studie/cml-studie_node.html;jsessionid
                                                                                           =390F6A4D8DB82B1347939AF6E9646FD8.internet072
                                                                                       4
                                                                                           Reisinger EC, von Possel R, Warnke P, Geerdes-Fenge HF, Hemmer CJ, Pfef-
                                                                                           ferle S, Löbermann M, Littmann M, Emmerich P. Mütter-Screening in einem
                                                                                           COVID-19-Niedrig-Pandemiegebiet: Bestimmung SARS-CoV-2-spezifischer
                                                                                           Antikörper bei 401 Rostocker Müttern mittels ELISA und Immunfluores-
    *
     		 Abteilung für Tropenmedizin und Infektionskrankheiten, Klinik für Innere           zenz-Bestätigungstest Dtsch Med Wochenschr. 2020 Aug;145(17):e96-e100.
         Medizin, Universitätsmedizin Rostock                                              doi: 10.1055/a-1197-4293
    **
      		 Institut für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin, Universitätsmedizin   5
                                                                                           Wang MY, Zhao R, Gao LJ, Gao XF, Wang DP, Cao JM. SARS-CoV-2: Struc-
         Rostock                                                                           ture, Biology, and Structure-Based Therapeutics Development. Front Cell
    ***
         Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin, Abteilung Virologie, Hamburg           Infect Microbiol. 2020 Nov 25;10:587269. doi: 10.3389/fcimb.2020.587269

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7/2021 ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN - KEINE IMPFPFLICHT DURCH DIE HINTERTÜR IMMUNITÄT GEGEN SARS-COV-2 - ERGEBNISSE DER SURVEILLANCE-STUDIE ...
WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

det, so dass eine Unterscheidung zwischen durchgemachter          men von Atemwegsinfektionen einschließlich Geruchs- und
Infektion und Impfung möglich war.                                Geschmacksstörungen sowie Angaben zur Impfung gegen
                                                                  SARS-CoV-2. Zusätzlich untersuchten wir Partner und Kinder
Probanden, Material und Methoden                                  von Teilnehmerinnen, wenn beide Erziehungsberechtigte ihr
                                                                  Einver­ständnis mit der Blutabnahme beim Kind erklärten.
In einer prospektiven Untersuchung erhoben wir Daten zur
Prävalenz der SARS-CoV-2 Infektion und zur Immunität ge-          Im ersten Studienzeitraum im April 2020 erfolgte die Anti-
gen SARS-CoV-2 bei Rostocker Müttern mit Kindern im Al-           körperbestimmung aus dem Serum mit dem Anti-SARS-CoV-
ter von 1–10 Jahren sowie zusätzlich bei Mitarbeitern/-in-        2-ELISA (IgA und IgG) der Fa. Euroimmun, Lübeck, Deutsch-
nen von Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen im              land. Die im ELISA-Test positiv oder grenzwertig getesteten
Rostocker Raum.                                                   Seren wurden zusätzlich im indirekten Immunfluoreszenztest
Vom 20. – 22.04.2020 hatten sich 401 Rostocker Mütter mit         zur Bestimmung von Antikörpern gegen SARS‑CoV‑2 unter-
Kindern im Alter von 1–10 Jahren nach einem Zeitungsaufruf        sucht [Details siehe 4].
im Kompetenzzentrum für Klinische Studien der Universitäts-       Ab August 2020 erfolgte die Antikörperbestimmung aus dem
medizin Rostock zur Teilnahme an der Studie angemeldet. Die       Serum im Institut für Klinische Chemie und Laboratoriums-
Studienergebnisse wurden bereits publiziert [4]. In dieser ers-   medizin der Universitätsmedizin Rostock. Verwendet wurden
ten Untersuchung hatte keine der 401 getesteten Mütter An-        Antikörpertests gegen SARS-CoV-2 Nukleokapsid und gegen
tikörper gegen SARS-CoV-2. Diese Mütter wurden in der Folge       SARS-CoV-2 Spike (Elecsys® anti-N; anti-SARS-CoV-2 nucleo-
im Abstand von drei Monaten zu Folgeuntersuchungen einge-         capsid, und Elecsys® anti-S; anti-SARS-CoV-2 spike ECLIA,
laden, die im August 2020, November 2020 und Februar 2021         Roche Diagnostics). Die Ergebnisse der Antikörperbestim-
stattfanden. Zusätzlich wurden im November 2020 sowie Ja-         mung gegen SARS-CoV-2 Nukleokapsid wurden qualitativ als
nuar 2021 jeweils 75 pädagogische Mitarbeiter/-innen von          Cut-off index (COI) angegeben. Dieser gibt das Verhältnis
Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen im Rostocker            des gemessenen Signals im Verhältnis zum Cut-off Signal an.
Raum zur Teilnahme eingeladen. Die Einladung für das päda-        COI-Werte über 1 werden als positiv für die Anwesenheit von
gogische Personal an Schulen in Rostock und im Landkreis Ros-     spezifischen Antikörpern gewertet. Die Ergebnisse der Anti-
tock erfolgte durch das Ministerium für Bildung, Wissenschaft     körperbestimmung gegen SARS-CoV2 Spike wurden in U/ml
und Kultur; die Einladung für Beschäftigte in ausgewählten        angegeben. Diese Methode wurde gegen den internen Ro-
Kindertagesstätten in der Hansestadt Rostock erfolgte durch       che-Standard für Anti‑SARS‑CoV‑2‑S standardisiert. Dieser
das Ministerium für Soziales, Integration und Gleichstellung.     Standard besteht aus einem äquimolaren Gemisch aus 2 mo-
                                                                  noklonalen Antikörpern, die die Spike‑1‑RBD an 2 verschie-
Alle Studienteilnehmer erklärten schriftlich ihr Einver-          denen Epitopen binden. 1 nM dieser Antikörper entspricht
ständnis zur Teilnahme an dieser Studie und füllten einen         20 U/mL des Elecsys Anti‑SARS‑CoV‑2 S Tests. Ein internatio-
Fragebogen aus mit Angaben zu Person, Beruf, Reiseana-            naler Standard für Anti‑SARS‑CoV‑2‑S ist nicht verfügbar
mnese, Kindern, Betreuungssituation der Kinder, Sympto-           (Methodenblatt Elecsys Anti-SARS-CoV-2 S 09289267500V1.0

                                                                                                                       ANZEIGEN

AUSGABE 7/2021 31. JAHRGANG                                                                                               Seite 255
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     2020-09, Roche Diagnostics). Somit sind die Testergebnisse       Ergebnisse
     dieses Testes nicht mit Testergebnissen anderer Hersteller
     vergleichbar. Werte ≥ 0,80 U/ml werden als positiv für die       Der erste Untersuchungszeitraum der Mütterstudie war vom
     Anwesenheit von spezifischen Anti‑SARS‑CoV‑2 S Antikör-          22.-29.04.2020, der zweite vom 10.08.-08.09.2020, der dritte
     pern gewertet.                                                   vom 28.10.-16.11.2020 und der vierte vom 23.02.-03.03.2021.
                                                                      Der erste Untersuchungszeitraum für das pädagogische Per-
     Die Datenerfassung, die statistische Auswertung und die Er-      sonal war vom 02.-16.11.2020, der zweite vom 04.-05.01.2021.
     stellung der Grafiken erfolgten im Tabellenkalkulationspro-
     gramm Excel von Microsoft 2016. Für die statistische Analyse     Die Untersuchung zeigte im April 2020 bei keiner der 401
     wurde der Zweistichproben-t-Test für unabhängige Stichpro-       untersuchten Mütter weder SARS-CoV-2-RNA im Rachenab-
     ben verwendet.                                                   strich noch SARS-CoV-2-Antikörper im Blut. Im August/Sep-
                                                                      tember nahmen von den ursprünglich 401 eingeschlossenen
     Die Ethikkommission an der Universitätsmedizin Rostock er-       Müttern 376 Teilnehmerinnen, im Oktober/November 354
     teilte ein positives Votum zu dieser Studie mit Verlaufskont-    und im Februar/März 2021 noch 322 an der Untersuchung
     rollen der bereits eingeschlossenen Teilnehmerinnen und mit      teil (siehe Abbildung 1).
     dem zusätzlichen Einschluss von pädagogischem Personal aus
     Schulen und Kindertagesstätten sowie der Untersuchung von        Im Februar/März 2021 waren bereits 22 Frauen gegen CO-
     Kindern, falls beide Erziehungsberechtigte einverstanden         VID-19 geimpft, 11 von ihnen zweimalig mit Comirnaty® (Bi-
     waren (A2020–0222). Die Studie ist beim Deutschen Re­            oNTech), 2 Frauen einmalig mit Comirnaty® und 9 Frauen
     gister Klinischer Studien (DRKS) unter der Nummer                einmalig mit Vaxzevria ® (AstraZeneca) innerhalb der letzten
     DRKS00 021 614 erfasst.                                          3 Wochen vor dem Test.

                                                                      Im April und August/September 2020 konnte bei keiner der
                                                                      Mütter Antikörper nachgewiesen werden. Im November
                                                                      wurden bei 3 Frauen Antikörper gegen SARS-CoV2 Nukleo-
                                                                      kapsid nachgewiesen (bei einer Probandin COI 4,9, der im
                                                                      Verlauf im Februar auf 11,04 anstieg; bei zwei weiteren Frau-
                                                                      en 1,43 bzw. 1,35 mit fehlendem bzw. minimalem Anstieg im
                                                                      Februar auf 1,41 bzw. 1,95). Im Februar 2021 wurden bei
                                                                      5 weiteren Frauen Antikörper nachgewiesen (COI 1,35; 29,93;
                                                                      83,11; 124,3; 126,60).

                                                                      Die drei Frauen mit nur geringen Antikörpern hatten keine
                                                                      bzw. nur leichte Erkältungssymptome, keine von ihnen hatte
                                                                      Geruchs- oder Geschmacksstörungen. Von den 5 Frauen mit
                                                                      hohen Antikörpern hatten vier Erkältungssymptome, eine
                                                                      davon mit Geruchs- und Geschmacksstörung, eine Frau hatte
                                                                      die Infektion nicht bemerkt. Die beiden positiv getesteten
                                                                      Kinder und zwei der drei positiv getesteten Männer hatten
                                                                      die Erkrankung bemerkt. Von den 3 im November positiv ge-
                                                                      testeten Frauen wusste eine, dass sie vorher an COVID-19 er-
                                                                      krankt war. Im Februar gaben 4 von den 8 positiven Proban-
                                                                      dinnen an, dass sie im Vorfeld von ihrer Erkrankung wussten.

                                                                      Die Familien der positiv getesteten Frauen untersuchten wir
                                                                      ebenfalls auf Antikörper gegen SARS-CoV-2, wenn von den
                                                                      Partnern bzw. bei Kindern von beiden Elternteilen das Ein-
                                                                      verständnis zu einer Blutentnahme vorlag. Insgesamt schlos-
                                                                      sen wir zusätzlich 9 Partner und 11 Kinder der teilnehmen-
                                                                      den Mütter in die Studie ein. Von ihnen wurden 3 Männer
     Abbildung 1. Anteil der serologisch nachgewiesenen COVID-19
     Infektionen bei den Teilnehmerinnen der Rostocker Mütterstudie   und 2 Kinder positiv auf Antikörper gegen SARS-CoV-2 ge-
     von April 2020 bis Februar 2021                                  testet.

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Insgesamt wurden 9 Familien der 322 untersuchten Mütter           CoV-2 im Mittel bei COI 75,9 (±69,2) und die Antikörperkon-
mit mindestens einer serologisch positiven Person gefunden.       zentrationen gegen Spike Protein im Mittel bei 125,7 (±
■ In zwei Familien waren die Indexerkrankten die Männer,          200,6) U/ml.
   die sich bei der Arbeit angesteckt hatten und die ihre         Von den insgesamt 22 Geimpften waren 11 Frauen erst ein-
   Frauen infiziert hatten. In einer Familie erkrankte eins der   mal (1-14 Tage vor dem Test) geimpft worden. Lediglich zwei
   beiden Kinder, in der anderen Familie erkrankte das Kind       davon hatten leicht erhöhte Anti-Spike-Antikörper mit einem
   nicht. Bei allen Erkrankten wurden sowohl Nukleokapsid-        COI unter 2.
   als auch Spike-Antikörper nachgewiesen.
■ In zwei Familien wurden bei den Müttern hohe Antikörper         Die 11 zweimalig geimpften Probandinnen hatten Antikör-
   gegen Nukleokapsid und gegen Spike-Protein nachgewie-          perkonzentrationen gegen Spike-Protein von 4476 U/ml
   sen, ohne dass bei einem anderen Familienmitglied (zwei        (±2134; Spannweite 1421 – 8798). Damit waren die Antikör-
   Männer, drei Kinder) Antikörper nachgewiesen wurden.           perkonzentrationen bei den zweimalig geimpften Frauen
■ Bei drei Familien hatten die Frauen nur leicht erhöhte An-      im Mittel 35-mal höher als bei den Personen, die eine CO-
   tikörper gegen Nukleokapsid (COI 1,35-1,95) ohne Nach-         VID-19-Infektion durchgemacht haben (p
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                                                                        SARS-CoV-2 nachwiesen, 2,2-mal mehr als der Anteil der CO-
                                                                        VID-19-Meldungen [3].

                                                                        Im April 2020 gingen wir davon aus, dass eine Infektion der
                                                                        Mutter kongruent mit der Infektion der Kinder verläuft. Bei
                                                                        den 9 positiven Familien von 322 untersuchten Müttern, die
                                                                        wir im Rahmen der Studie identifiziert haben, wurde diese
                                                                        generelle Annahme nicht bestätigt. Nur in 2 Fällen waren
                                                                        Kinder infiziert. Ein Kind hatte sich bei den erkrankten Eltern
                                                                        angesteckt. Ein anderes Kind hatte sich außerhalb der Kern-
                                                                        familie angesteckt, beide Eltern hatten keine Antikörper ge-
                                                                        gen SARS-CoV-2.

                                                                        Auffällig war bei den positiv Getesteten, dass die zwei Kin-
                                                                        der besonders hohe Antikörperindizes gegen SARS-CoV-2
                                                                        Nukleokapsid hatten (COI 624,5 und 423,3), ohne dass sie
                                                                        über schwere Krankheitssymptome geklagt hatten. Kinder
                                                                        erkranken nach Infektion mit SARS-CoV-2 meist weniger
                                                                        schwer als Erwachsene, bei ihnen sind symptomlose oder
                                                                        symptomarme Verläufe häufiger [ 6]. Zu bedenken ist jedoch,
                                                                        dass auch bei Kindern schwere Verläufe auftreten können
                                                                        und Langzeitfolgen wie das Multisystem-Inflammations-Syn-
                                                                        drom auftreten können [7].

                                                                        Der von uns verwendete Antikörper-Test gegen Spike-Prote-
                                                                        in (Elecsys® anti-S; anti-SARS-CoV-2 spike ECLIA, Roche Dia-
                                                                        gnostics) hat laut eines Preprint [ 8 ] eine Sensitivität von
                                                                        97,92% und eine Spezifität von 99,95%, der Test gegen Nuk-
     Abbildung 2. Antikörper gegen Nukleokapsid- und gegen Spike-       leokapsid (Elecsys® anti-N; anti-SARS-CoV-2 nucleocapsid,
     Protein nach durchgemachter Infektion (n=12) und nach zweifa-      Roche Diagnostics) hat eine Sensitivität von 96% und eine
     cher Impfung mit Comirnaty® (n=10), COI = Cut-off Index.           Spezifität von 100% [ 9]. Die Anti-Spike-Antikörper korrelie-
     Eine Teilnehmerin, die nach einer durchgemachter Infektion 2-mal
     mit Comirnaty® geimpft wurde, hatte Spike-Protein-Antikörper       ren gut mit neutralisierenden Antikörpern [10 ], so dass bei
     von 25.000 U/ml.                                                   vorhandenen Anti-Spike-Antikörpern nach Impfung auf eine
                                                                        Immunität geschlossen werden kann.

     wohl im November 2020 als auch im Januar 2021 Antikörper           Aus der Literatur ist bekannt, dass nach einer durchgemach-
     gegen SARS-CoV-2 Nukleokapsid nachgewiesen werden (COI             ten SARS-CoV-2 Infektion und anschließender Impfung die
     2,08 bzw. 2,02).                                                   Titer durchschnittlich mehr als 140-mal höher sind als nach

     Diskussion                                                         6
                                                                             Mehta NS, Mytton OT, Mullins EWS, Fowler TA, Falconer CL, Murphy OB,
                                                                             Langenberg C, Jayatunga WJP, Eddy DH, Nguyen-Van-Tam JS. SARS-CoV-2
                                                                             (COVID-19): What Do We Know About Children? A Systematic Review. Clin
     Im April und August 2020 hatte keine Teilnehmerin der Müt-              Infect Dis. 2020 Dec 3;71(9):2469-2479. doi: 10.1093/cid/ciaa556
     terstudie Antikörper gegen SARS-CoV-2. Im November 2020
                                                                        7
                                                                             Yasuhara J, Kuno T, Takagi H, Sumitomo N. Clinical characteristics of
                                                                             COVID-19 in children: A systematic review. Pediatr Pulmonol. 2020
     wurden bei drei von 354 (0,8%) Frauen Antikörper gegen                  Oct;55(10):2565-2575. doi: 10.1002/ppul.24991
                                                                        8
                                                                             Riester E, Findeisen P, Hegel JK, Kabesch M, Ambrosch A, Rank CM, Langen
     SARS-CoV-2 Nukleokapsid nachgewiesen, wobei die Antikör-                F, Laengin T, Niederhauser C. Performance evaluation of the Roche Elecsys
     per nur mäßig erhöht waren (COI 1,35-4,9), nur eine Frau                Anti-SARS-CoV-2 S immunoassay
                                                                             Preprint: doi: https://doi.org/10.1101/2021.03.02.21252203
     wusste von einer durchgemachten Infektion. Im Februar/             9
                                                                             Ikegami S, Benirschke RC, Fakhrai-Rad H, Motamedi MH, Hockett R, David
                                                                             S, Lee HK, Kang J, Gniadek TJ. Target specific serologic analysis of COVID-19
     März 2021 wurden bei 8 von 322 Frauen (2,5%) Antikörper                 convalescent plasma. PLoS One. 2021 Apr 28;16(4):e0249938. doi: 10.1371/
     gegen SARS-CoV-2 nachgewiesen, davon wussten 4 nichts                   journal.pone.0249938
                                                                        10
                                                                             Resman Rus K, Korva M, Knap N, Avšič Županc T, Poljak M. Performance of
     von einer Infektion. Damit war die Dunkelziffer vergleichbar            the rapid high-throughput automated electrochemiluminescence immuno-
     mit einer Studie in Berlin-Mitte, die im Dezember 2020 bei              assay targeting total antibodies to the SARS-CoV-2 spike protein receptor
                                                                             binding domain in comparison to the neutralization assay. J Clin Virol. 2021
     4,4% der 2.287 getesteten Erwachsenen Antikörper gegen                  Apr 10;139:104820. doi: 10.1016/j.jcv.2021.104820

Seite 258                                                                                           ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN
7/2021 ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN - KEINE IMPFPFLICHT DURCH DIE HINTERTÜR IMMUNITÄT GEGEN SARS-COV-2 - ERGEBNISSE DER SURVEILLANCE-STUDIE ...
WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

                                                                                              ANZEIGE
durchgemachter Infektion allein [11]. Bei der Teilnehmerin
unserer Studie, die nach durchgemachter COVID-19 sich zwei-
mal mit Cormirnaty® hatte impfen lassen, waren die Spike-
Antikörper 199-mal höher als bei den übrigen Teilnehmerin-
nen mit durchgemachter Infektion.

Eine Limitation der Studie liegt in der Auswahl der Proban-
dinnen, die keinen repräsentativen Durchschnitt darstellt.
Für die Studie meldeten sich im April 2020 vor allem Mütter,
die befürchteten, sich bereits unbemerkt infiziert zu haben.
Möglicherweise achteten diese Mütter im Verlauf besonders
auf die Einhaltung der AHA-Regeln. Die Motivation zur Teil-
nahme an der Studie war hoch. Zum vierten Untersuchungs-
zeitraum kamen immer noch 80,3% der ursprünglichen Teil-
nehmerinnen. Dass 22 der 322 Frauen im April 2021 bereits
ein- oder zweimal geimpft waren, zeigt den hohen Anteil
von Teilnehmerinnen aus medizinischen oder pflegerischen
Berufen.

Zusammenfassung

■ In dem Niedrigprävalenzgebiet der Stadt Rostock zeigte
  sich im Februar/März 2021 ein Anteil von 2,5% serologisch
  nachgewiesenen Infektionen mit SARS-CoV-2 bei den 322
  getesteten Müttern.
■ Eine zweimalige Impfung erzielte im Mittel 35-mal höhere
  Spike-Antikörper als eine durchgemachte Infektion.
■ Nach durchgemachter COVID-19 Erkrankung bewirkt laut
  Literaturangaben eine Impfung gegen SARS-CoV-2 eine
  mehr als 100-fache Steigerung der Anti-Spike-Antikörper.
  Bei einer Probandin, die nach Erkrankung zweimal mit Co-
  mirnaty geimpft wurde, waren die Anti-Spike-Antikörper
  199-mal höher als der Mittelwert der Erkrankten.

                                    Literatur bei den Autoren:
                                                         Kontakt:
                                           Prof. Dr. Emil Reisinger
               Abt. für Tropenmedizin und Infektionkrankheiten,
                                     Universitätsmedizin Rostock
                                          Ernst-Heydemann-Str. 6
                                                     18057 Rostock
                            E-Mail: emil.reisinger@uni-rostock.de

11
     Manisty C, Otter AD, Treibel TA, McKnight Á, Altmann DM, Brooks T,
     Noursadeghi M, Boyton RJ, Semper A, Moon JC. Antibody response
     to first BNT162b2 dose in previously SARS-CoV-2-infected individu-
     als. Lancet. 2021 Mar 20;397(10279):1057-1058. doi: 10.1016/S0140-
     6736(21)00501-8

AUSGABE 7/2021 31. JAHRGANG                                                                    Seite 259
JUNGE ÄRZTE

     Klimawandel und Gesundheit –
     Was bedeutet das für uns?
     „Wenn die globale Erholung von COVID-19 nicht mit der           Jahren um 53,7 %, was
     Antwort auf den Klimawandel in Einklang steht, wird die         im Jahr 2018 zu 20.200
     Welt das im Pariser Abkommen festgelegte Ziel nicht errei-      Todesfällen allein in
     chen und die öffentliche Gesundheit kurz- und langfristig       Deutschland führte.4,1
     schädigen.“1                                                    Die finanziellen Kos-
                                                                     ten der hitzebedingten Sterblichkeit entsprachen 2018 dem
     Dieses Zitat stammt vom Lancet Countdown 2020 zu Ge-            Durchschnittseinkommen von 11 Millionen europäischen
     sundheit und Klimawandel: Antworten auf sich überlagern-        Bürgerinnen und Bürgern.1 Auch zum Thema Luftver-
     de Krisen und fasst die aktuelle Situation und die Forderun-    schmutzung äußerte sich der Lancet Countdown mit beun-
     gen von verschiedenen Netzwerken und Organisationen in          ruhigenden Zahlen: „(…) jedes Jahr sterben mehr als eine
     Deutschland zusammen. „Klimaschutz ist Gesundheits-             Million Menschen infolge der Luftverschmutzung durch
     schutz“ sollte als eines der wichtigsten Themen unserer Zeit    Kohlekraftwerke und rund 390.000 dieser Todesfälle waren
     eigentlich das Hauptthema beim 124. Ärztetag in Rostock         2018 auf Feinstaub zurückzuführen.“1 Das Verhängnisvollste
     sein. Doch leider fand es beim Online-Ärztetag keinen           ist aber, dass diese massiven gesundheitlichen Folgen des
     Platz, wurde kurzfristig von der Tagesordnung genommen          Klimawandels häufig diejenigen trifft, die für diese Ent-
     und auf die Tagung im Herbst verschoben. Warum es den-          wicklungen am wenigsten ursächlich sind: Kinder. Denn
     noch für jeden Einzelnen schon jetzt wichtig ist, sich mit      durch ein Fortschreiten der Klimakrise sind Kinder am meis-
     diesem Thema auseinanderzusetzten, soll dieser Artikel          ten gefährdet.5
     darstellen.
                                                                     2017 sorgte der Gesundheitssektor selbst für 4,6 % des
     Nach Einschätzungen der WHO werden die Folgen des Kli-          weltweiten Ausstoßes von Klimagasen.1 In welchem Verhält-
     mawandels zwischen 2030 und 2050 weltweit jährlich              nis diese 4,6 % stehen, beschreibt ein Artikel von Matthias
     250.000 zusätzliche Todesfälle verursachen. 2 Mit der Appro-    Wallenfels in der Ärzte-Zeitung 2019, in dem es heißt: „Ge-
     bation verpflichten wir uns als Ärztinnen und Ärzte Leben       sundheitswesen klimaschädlicher als Flugverkehr“.6 Die
     zu erhalten und zu schützen. Das bedeutet umgekehrt, dass       gute Nachricht ist aber, dass bereits erste Schritte unter-
     auch die Herausforderung des Klimaschutzes eine ärztliche       nommen werden, die Emissionen in unserer Branche zu re-
     Aufgabe sein muss. Die Deutsche Gesellschaft für Innere         duzieren. Nicht nur das Bundesministerium für Gesundheit
     Medizin formulierte 2021 bei ihrem 127. Jahreskongress da-      hat mittlerweile eine eigene Abteilung für Gesundheits-
     her treffend, dass Umwelt- und Klimaschutz mit Gesund-          schutz und Nachhaltigkeit eingerichtet, sondern auch ver-
     heitsschutz gleichzusetzen ist. 3 In vielen Bereichen der Me-   schiedene Fachgesellschaften und Kammern positionieren
     dizin hinterlässt der Klimawandel bereits jetzt deutliche       sich für mehr klimafreundlichen Gesundheitsschutz, bei-
     Spuren. Um diese gesundheitlichen Folgen des Klimawan-          spielsweise die AG Klimawandel/Gesundheit der Deutschen
     dels jedes Jahr zu dokumentieren und die Folgen eines ver-      Gesellschaft für Allgemeinmedizin. Zusätzlich gründen sich
     zögerten Handelns zu beschreiben, wurde 2016 der Lancet         immer mehr Netzwerke und Organisationen, die das Thema
     Countdown ins Leben gerufen. Der Lancet Countdown ist           Klimawandel und Gesundheit weiter publik machen, Forde-
     eine unabhängige internationale Kooperation aus 120 füh-        rungen, vor allem an die Politik, stellen oder Lösungsmög-
     renden Expertinnen und Experten aus den Klimawissen-            lichkeiten aufzeigen.
     schaften, der Medizin, des öffentlichen Gesundheitswesens
     und vielen weiteren Bereichen. Der letzte, im Dezember          Ein Beispiel dafür ist die Initiative KLUG7 (Deutsche Allianz
     2020 veröffentlichte Bericht, zeigte eine besonders besorg-     Klimawandel und Gesundheit), die sich als Netzwerk von
     niserregende Entwicklung. Gerade die vulnerablen Gruppen        Einzelpersonen, Organisationen und Verbänden aus dem
     (z.B. ältere Menschen, Kinder) waren weltweit zusätzlich        gesamten Gesundheitsbereich im Oktober 2017 gründete
     475 Millionen Hitzewellenereignissen ausgesetzt. Hitzewel-      (z.B. Eckart von Hirschhausen als prominentes Mitglied).
     lenereignisse sind Phasen aufeinander folgender, unge-          Ziel von KLUG ist es, alle Gesundheitsberufe aufzurufen,
     wöhnlich heißer Tage. So stieg die Mortalität bei über          gemeinsam bei der gesamtgesellschaftlichen Transformati-
     65-Jährigen, in Zusammenhang mit Hitze, in den letzten 20       on mitzuwirken und die Erderwärmung zu begrenzen. 2020

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JUNGE ÄRZTE

wurde von KLUG die Planetary Health Academy 8 ins Leben       der Ärzte Zeitung mit Prof. Scherer und Denis Nößler anhö-
gerufen, um Wissenslücken im Bereich des Klimawandels im      ren. Es gibt also eine Vielzahl von Möglichkeiten sich über
Gesundheitswesen zu schließen. Aktuell läuft der dritte Zy-   den Klimaschutz zu informieren und sich für ihn zu enga-
klus der internationalen Vortragsreihe der Academy, der       gieren. Denn all die oben beschriebenen Fakten sind uns
unentgeltlich online angesehen werden kann und in vielen      hinlänglich bekannt. Es ist also nicht mehr die Frage, ob wir
medizinischen Fakultäten sehr erfolgreich als Wahlpflicht-    etwas tun sollten, sondern was und wie. Und das genau
fach für Medizinstudierende etabliert wurde. Weiterhin        jetzt!
gründeten sich über KLUG auch lokale Gruppen z. B. in
Greifswald und Rostock aus, die unter dem Namen Health        „Gesundheit braucht Klimaschutz – denn gesunde Men-
for Future 9 viele verschiedene Mitglieder der Gesundheits-   schen gibt es nur auf einem gesunden Planeten.“9
berufe vereint und sich in unterschiedlichen Aktionen vor
Ort für den Klima- und Gesundheitsschutz einsetzen. Kon-                          Quellenverzeichnis bei der Autorin:
krete Ideen, was wir als Ärztinnen und Ärzte schon jetzt                              Theresa Buuck für die Jungen Ärzte
zum Thema Klimaschutz beitragen können, kann man auch                 Ärztin in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Rostock
in den aktuellen Folgen der Podcast-Serie „EvidenzUpdate“                                 Wissenschaftliche Mitarbeiterin

                                                                                                                  ANZEIGEN

AUSGABE 7/2021 31. JAHRGANG                                                                                            Seite 261
LESERBRIEFE

     Nach der Pandemie ist vor der Pandemie
     Auf den bisherigen Verlauf der SARS-CoV-2-Pandemie bli-             als Empfehlungen (Freigaben) politischer Entscheidungsträ-
     ckend, sehe ich leider nicht die Medizin, sondern die Medien        ger. Daran konnten die noch so ehrlich und gut gemeinten
     in einer führenden Rolle. Die große Pressefreiheit bedeutete        medizinischen Beratungen einiger weniger nichts mehr än-
     zugleich das Freisein von Kompetenz im Umgang mit einem             dern. Für die Zukunft kann ich mir am Beispiel der etablierten
     sensiblen Thema immenser gesellschaftlicher Bedeutung. Wie          Sachverständigenräte, auf einer medizinischen Ebene, unter
     schnell wurden vermeintliche Fakten, deren Genesis keine Rol-       der Schirmherrschaft der Ärztekammern, interdisziplinäre
     le mehr spielte, unreflektiert in einen Pool geworfen, wo sie       Gremien vorstellen, die in der Lage sind, gesichertes Wissen
     nicht mehr sachlich informierten, sondern Ängste und Verun-         für die Politik zusammenzufassen. Gremien, die nicht zu über-
     sicherungen schürten. Begriffe wie „Inzidenz“ und „R-Wert“          hören sind und wahrgenommen werden müssen. Gremien, die
     verselbständigten sich nicht etwa evidenzbasiert, sondern al-       Nutzen und Risiken restriktiver Maßnahmen austarieren und
     lein durch ihre gebetsmühlenartige Wiederholung und ewige           Kollateralschäden kalkulieren können. Wenn wir aus der bis-
     Präsenz in den Nachrichten zu isolierten Markern einer Bedro-       herigen Erfahrung der Pandemiebekämpfung wissen, dass
     hungslage. Die Politik zeigte sich weitgehend überfordert und       parlamentarisches Potential für das Management einer Krise
     verlor sich in einem aktionistischen Zirkus. Aus meiner Wahr-       nicht reicht, muss der medizinisch-wissenschaftliche Hinter-
     nehmung ist unserem Berufsstand vorzuwerfen, dass er die            grund einer Epidemie/Pandemie wesentlich stärker und kont-
     Deutungshoheit einer medizinischen Befundlage abgegeben             rolliert in politische Entscheidungen einfließen.
     hat. Die Medien transportierten sogar weitgehend unwider-
     sprochen die Indikationen des speziellen Impfstoffeinsatzes                                   PD Dr. Ulrich Hammer, Bad Doberan

     Leserbrief zum Artikel
     „Deutschland und seine (chronisch) kranken Kinder – wie sieht es in M-V aus?,
     Ausgabe 5/2021, S. 187ff.

     Der sehr ausführliche, für den Leser recht lange Beitrag von        die Leitung des Südstadt-Krankenhauses ein nachhaltiges In-
     Herrn Radke zum o.g. Thema gleicht de facto einem Offenba-          teresse an einer funktionierenden stationären Kinder- und
     rungseid. Als ehemaliger Oberarzt der Uni-Kinderklinik Ros-         Jugendmedizin in Rostock haben. Zudem fehlt der Landesre-
     tock bin ich über deren Niedergang in den letzten 15 bis 20         gierung offenbar der politische Wille, hier regulierend einzu-
     Jahren extrem irritiert. Man fragt sich, wie es zu diesem deso-     greifen und das seit mehr als 10 Jahren diskutierte Konzept
     laten Zustand kommen konnte. Insbesondere, wenn man be-             eines Eltern-Kind-Zentrums endlich umzusetzen. Man über-
     rücksichtigt, dass diese Klinik in „Ost-Zeiten“ zu den leistungs-   lässt dieses Thema den konkurrierenden Partikularinteressen
     stärksten in der ehemaligen DDR gehörte (noch vor der Cha-          – und das auf dem Rücken kranker Kinder.
     rité in Berlin). Auch in den 90er-Jahren war die Klinik allseitig   Diese werden dieses Versagen bezahlen müssen. lhnen wird
     noch bestens aufgestellt. Nach meiner Auffassung folgt der          der im Jahr 2021 geltende medizinische Qualitätsstandard vor-
     von Herrn Radke beschriebene Zustand ja keinem Naturge-             enthalten – und zwar vom Frühgeborenen bis zum Jugendli-
     setz. Er ist vielmehr Folge menschlichen (Fehl-)Handelns. Lei-      chen.
     der versäumt es Herr Radke, Roß und Reiter zu nennen und            Die Landesregierung sollte nicht warten, bis Rostock ein zwei-
     darauf hinzuweisen, wer die schweren Strukturverwerfungen           tes Wolgast wird.
     in Rostock mit Zerschlagung des Fachgebiets zu verantworten
     hat. Auch müsste man ihn fragen, welchen Beitrag er selbst                                                    Dr. Manfred Müller
     zur Verbesserung der Situation der Klinik während seines Di-                            ehem. Chefarzt der Kinderklinik Stralsund
     rektorats von 2015 bis 2018 geleistet hat.
     Aus der Ferne betrachtet scheint es derzeit so zu sein, dass
     weder die Medizinische Fakultät der Universität Rostock noch

Seite 262                                                                                    ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN
AKTUELLES

 Meldepflichtige Corona-Fälle in den Branchen der BG Gesundheits-
 dienst und Wohlfahrtspflege in 2020                                                                                                   Daten für 2020

  2500
                                                                                                                                                 Melde-       Anerkann-
                                                                                                                                                 pflichtige   te Fälle
                                                                                                                                                 Fälle
  2000
                                                                                                                                        KW 11    1            0
                                                                                                                                        KW 12    20           3
  1500
                                                                                                                                        KW 13    54           29
                                                                                                                                        KW 14    160          77
  1000
                                                                                                                                        KW 15    314          205
                                                                                                                                        KW 16    457          337
   500                                                                                                                                  KW 17    693          504
                                                                                                                                        KW 18    647          525
     0                                                                                                                                  KW 19    665          527
         KW 11
         KW 12
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         KW 52
         KW 53
         KW 17

         KW 27

         KW 37

         KW 47
                                                                                                                                        KW 20    958          760
                                                                                                                                        KW 21    855          701
                                                   Meldepflichtige Fälle   Anerkannte Fälle
                                                                                                                                        KW 22    723          540
                                                                                                                                        KW 23    514          427
 Meldepflichtige Corona-Fälle in den Branchen der BG Gesundheits-                                                                       KW 24    282          236
 dienst und Wohlfahrtspflege bis Mai 2021                                                                                               KW 25    483          393
                                                                                                                                        KW 26    416          304
                   6000                                                                                                                 KW 27    478          376
                                                                                                                                        KW 28    297          214
                   5000                                                                                                                 KW 29    357          262
                                                                                                                                        KW 30    212          145
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                                                                                                                                        KW 34    234          180
                   2000                                                                                                                 KW 35    195          136
                                                                                                                                        KW 36    111          83
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                                                                                                                                        KW 38    187          121
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         Meldepflichtige Fälle 2.605 3.487 3.602 4.182 4.046 4.634 5.437 5.256 3.978 3.662 4.804 3.344 2.984 2.065 3.087 3.366 3.291
                                                                                                                                        KW 40    128          62
         Anerkannte Fälle      1.896 2.645 2.703 3.141 3.051 3.354 4.019 3.719 2.465 2.067 1.971 1.609 1.460 915 1.305 935      616
Corona-Fälle nach Branche und Anzahl der Vollbeschäftigten in 2020:                                                                     KW 41    166          114
                                                                                                                                        KW 42    161          122
 Corona-Fälle nach Branche und Anzahl der Vollbeschäftigten in 2020:                                                                    KW 43    180          132
                                                                                                                                        KW 44    191          131
                                                                                                       		In der Zahl der Vollbe-
                                                                                                      1)

                                                                                                         schäftigten sind enthal-       KW 45    423          322
                                                                                                         ten auf Vollbeschäftigte       KW 46    572          441
                                                                                                         umgerechnete: Arbeit-
                                                                                                                                        KW 47    741          584
                                                                                                         nehmer, versicherte Un-
                                                                                                         ternehmer, ehrenamt-           KW 48    953          756
                                                                                                         lich Tätige (sofern das        KW 49    1.195        923
                                                                                                         meldende      Unterneh-
                                                                                                         men der Wohlfahrts-
                                                                                                                                        KW 50    1.509        1.155
                                                                                                         pflege zugehörig ist).         KW 51    2.170        1.609
                                                                                                         Quelle bildet die Umla-        KW 52    1.179        818
                                                                                                         gerechnung 2020 (Stand
                                                                                                         März 2021)                     KW 53    1.085        699

                                                                                                                      Alle Daten mit freundlicher Unterstützung der BGW
                                                                                                                             (Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst
                                                                                                                                                   und Wohlfahrtspflege)
1) In der Zahl der Vollbeschäftigten sind enthalten auf Vollbeschäftigte umgerechnete: Arbeitnehmer, versicherte Unternehmer, ehrenamtlich Tätige (sofern
das meldende7/2021
 AUSGABE       Unternehmen   der Wohlfahrtspflege zugehörig ist). Quelle bildet die Umlagerechnung 2020 (Stand März 2021)
                      31. JAHRGANG                                                                                                                     Seite 263

  Alle Daten mit freundlicher Unterstützung der BGW (Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege) à diesen Hinweis bitte am Ende der
AKTUELLES

    Tragbare Assistenzsysteme zum Monitoring
    und zur Unterstützung von Menschen mit
    Gedächtnisstörungen
    Doreen Görß*

    Hintergrund                                                                        und Schaltern, also Hardware mit unmittelbar haptischem
                                                                                       Feedback, bereitet vielen älteren Techniknutzern Probleme.
    Intelligente assistive Technologien bergen großes Potenzial                        Die Zielgruppe ist mit dem Gebrauch kapazitiver Oberflächen
    bei der innovativen Versorgung von Demenzkranken. Sie kön-                         nicht vertraut und muss sich das Design und die Logik der ver-
    nen zur Verbesserung der Lebensqualität von Betroffenen                            wendeten Benutzeroberflächen neu erschließen. Auch ist die
    führen, als auch die Belastung von Pflegenden und Angehöri-                        Anwendung sehr komplex und muss Schritt für Schritt erlernt
    gen von Menschen mit Gedächtnisstörungen mindern.1 Mobi-                           werden. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Mensch mit
    le technische Assistenten sind in der Allgemeinbevölkerung                         Gedächtnisstörung tendenziell Probleme hat, neue Dinge zu
    weit verbreitet. Nicht nur Smartphones, sondern auch Smart-                        erlernen bzw. Erlerntes zu behalten und die neu erlernten Ab-
    watches sind heute zu bezahlbaren Preisen verfügbar und                            läufe selbständig abzurufen. Darüber hinaus bestehen geriat-
    werden von immer mehr Menschen in ihrem Alltag einge-                              rische Komorbiditäten, bspw. sind Sehen und Hören reduziert
    setzt. Doch die zunehmende Anzahl „intelligenter“ Alltags-                         oder die Feinmotorik gestört, was den Umgang mit aktuell
    helfer findet bislang kaum Anwendung bei der Unterstützung                         verfügbaren Technologien zusätzlich erschwert. Zur Verbesse-
    von Menschen mit Gedächtnisstörungen.2 Diese können von                            rung der Versorgung von Menschen mit Demenz arbeitet Dr.
    der stetigen Weiterentwicklung mobiler assistiver Technologi-                      med. Doreen Görß im Rahmen des Clinician Scientist Program-
    en weniger profitieren.                                                            mes an der Universitätsmedizin Rostock in der Sektion Geron-
    Hierfür gibt es verschiedene Gründe. Hauptproblem ist, dass                        topsychosomatik.
    die Bedürfnisse von Menschen mit Gedächtnisstörung von den
    verfügbaren Geräten nicht abgedeckt werden. Der übliche                            Forschungsfragen
    Funktionsumfang richtet sich an gedächtnisgesunde Nutzer
    und beinhaltet selten Applikationen, die für Menschen mit                          Wie Technik zur Verbesserung der Situation von Menschen mit
    Einschränkungen des Gedächtnisses von Interesse sind. Ein                          Gedächtnisstörungen eingesetzt werden kann, ist ein weites
    weiteres großes Problem ist die Bedienbarkeit der Geräte. Die                      Feld. Dabei sind spezifische Domänen zu adressieren, welche
    Nutzergruppe von Menschen mit Gedächtnisproblemen ist                              interdisziplinär und partizipativ erforscht werden müssen, um
    mehrheitlich über 60 Jahre alt und den Umgang mit moder-                           nachhaltig einen Technologietransfer zu ermöglichen und die
    nen Technologien nicht gewohnt. Der Wegfall von Knöpfen                            Rückführung des Wissens zum Anwender zu gewährleisten. Zu-
                                                                                       sammenfassend werden mit der Arbeit diese Ziele verfolgt:
                                                                                       ■ Anwendung eines Nutzer-zentrierten Ansatzes mit fortwäh-
    *
        Ärztin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Clinican Scientists Programm
        der Universitätsmedizin Rostock                                                   render, iterativer Einbindung von Nutzer-Feedback in den
    1
        Ienca M, Jotterand F, Elger B et al. (2017) Intelligent Assistive Technology      Entwicklungsprozess von Technologien
        for Alzheimer‘s Disease and Other Dementias: A Systematic Review. Journal
        of Alzheimer‘s disease : JAD 60(1):333                                         ■ Messung und Analyse von Vital- und Aktivitätsdaten, aufge-
    2
        Vollmer Dahlke D, Ory MG. Emerging Issues of Intelligent Assistive Tech-
        nology Use Among People With Dementia and Their Caregivers: A U.S.
                                                                                          zeichnet mit mobilen Geräten, zur Identifizierung von Situa-
        Perspective. Front Public Health. 2020;8:191. Published 2020 May 21.              tionen mit Hilfsbedarf

Seite 264                                                                                                  ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN
AKTUELLES

■ Weiterentwicklung neuro-kognitiver Modelle von räumlicher
   Desorientierung, anhand von Daten aus der realen Welt
■ Entwicklung von Interventionsszenarien mit Beschreibung
   geeigneter automatisierter Aktionen von technischen Syste-
   men basierend auf der Erkennung bestimmter Situationen
Nutzerzentrierte Designansätze werden in der Produktent-
wicklung bereits seit vielen Jahren verfolgt. Voraussetzung für
ihre Implementation ist die suffiziente Kommunikation über
die Bedürfnisse der zukünftigen Nutzer. Die Feststellung der
Bedürfnisse von Menschen mit Gedächtnisstörungen z.B. mit
retrospektiven Befragungen kann schwierig sein. Daher wer-
den verschiedene Methoden der partizipativen Forschung und
Nutzerzentrierung bei Menschen mit Demenz erprobt und
                                                                  Matthias Nali und Doreen Görß bei der Vorstellung des Projektes
wissenschaftlich überprüft, ob und welche Verfahren erfolg-       gegenüber Bewohnern, Angehörigen und Mitarbeitern des Pflege-
reich angewendet werden können.                                   heims Pinnow.
Seit einigen Jahren gibt es eine Vielzahl von tragbaren Senso-
ren, welche z.B. die Aktivität ihrer Träger m.H. von Akzelero-    Aus der Praxis und aus Voruntersuchungen3 ist bekannt, dass
metern quantifizieren. Obwohl die Sensoren relativ klein und      räumliche Desorientierung eines der häufigsten Probleme von
kabellos sind, ist ihre Akzeptanz insbesondere bei Menschen       Menschen mit Demenz ist, welches als technisch adressierbar
in fortgeschrittenen Stadien der Demenz nicht immer gege-         gilt. Interdisziplinäre Arbeiten von Neuropsychologen und In-
ben. Die neueren sog. „Wearables“ haben hier einige Vorteile.     formatikern haben bereits kognitive Modelle bspw. von Weg-
Bei Smartwatches entsteht durch Einblenden eines analogen         findung konzipiert.4 Diese theoretischen Konzepte sind jedoch
Ziffernblattes der Eindruck einer herkömmlichen Uhr. Darüber      für gedächtnisgesunde Menschen entwickelt worden und be-
hinaus ermöglichen Smartwatches (je nach Hard- und Soft-          dürfen einer Anreicherung bzw. Weiterentwicklung durch
wareausstattung) ggf. die Aufzeichnung weiterer Vitaldaten        Erfahrungen aus der Praxis von Menschen mit Demenz. Aus
(neben Akzelerometrie z.B. Herzrate, Hautleitwiderstand), die     diesem Grund ist die explizite Beobachtung von Menschen mit
Bestimmung des Aufenthaltsortes (Indoor und Outdoor) und          Gedächtnisstörung bei einer Wegfindungsaufgabe in einer
erlauben eine Echtzeitübertragung der Daten auf leistungsfä-      Krankenhausumgebung ein weiterer Forschungsaspekt.
higere Systeme (abhängig von Schnittstellen, wie z.B. LTE oder    Wenn durch am Körper getragene Sensoren bei einem Men-
BLE). In gemeinsamen Forschungsprojekten mit Partnern aus         schen ein Hilfsbedarf festgestellt wurde, so wäre es wünschens-
der Informationstechnik und Informatik wird erforscht, wel-
che Parameter erfasst werden müssen, um relevante Informa-
tionen über das Verhalten (z. B. räumliche Desorientierung)       3
                                                                      Schaat S, Koldrack P, Yordanova K, Kirste T, Teipel S. Real-Time Detection
                                                                      of Spatial Disorientation in Persons with Mild Cognitive Impairment and
bzw. den Hilfsbedarf einer Person automatisiert ermitteln zu          Dementia. Gerontology. 2020;66(1):85-94. doi: 10.1159/000500971.
können und welche Plattformen und technische Infrastruktur
                                                                  4
                                                                      Manning JR, Lew TF, Li N, Sekuler R, Kahana MJ. MAGELLAN: a cogni-
                                                                      tive map-based model of human wayfinding. J Exp Psychol Gen. 2014
hierfür eingesetzt werden können.                                     Jun;143(3):1314-1330. doi: 10.1037/a0035542. Epub 2014 Feb 3.
AKTUELLES

                                                                                   EFRE Fonds (Europäischer Fonds für regionale Entwicklung) fi-
                                                                                   nanziert. SAMi soll ein interaktives Sensorarmband sein, das
                                                                                   Aktivitäten von Menschen mit Demenz (MmD) in Echtzeit ana-
                                                                                   lysiert. Über integrierte Sensoren können objektive Daten über
                                                                                   die täglichen Aktivitäten des MmD erhalten werden. Es ist ein
                                                                                   Werkzeug für die Realisierung aktivitätsbasierter Interventio-
                                                                                   nen bei der Betreuung und Pflege von MmD und beruht auf
                                                                                   dem Prinzip der aktivierenden Pflege. Allerdings ist es so konzi-
                                                                                   piert, dass sich das System nicht nur an den eigentlichen Träger
                                                                                   richtet, sondern im Bedarfsfall auch Betreuer, Pfleger oder An-
                                                                                   gehörige informiert. Innerhalb des Projektes gibt es diverse
                                                                                   Teilaspekte, die technisch realisiert, wissenschaftlich analysiert
                                                                                   und hinsichtlich des wirtschaftlichen Potenzials evaluiert wer-
                                                                                   den. Die Universitätsmedizin Rostock als ein klinischer und wis-
                                                                                   senschaftlicher Partner übernimmt maßgeblich die Anforde-
                                                                                   rungsanalyse, welche durch Hospitationen und semi-struktu-
                                                                                   rierte Interviews mit anschließender qualitativer Inhaltsanalyse
     Darstellung der Wegfindungsstudie: oben: Sensorisch erfasster                 realisiert wird. Des Weiteren wurde unter Leitung der UMR eine
     Aufenthaltsort und Gehgeschwindigkeit des Probanden bei der                   Feldstudie zur Verhaltenserfassung durchgeführt, bei der MmD
     Wegfindung. Unten links: von der Smartwatch erfasste Vitalpara-
     meter (von oben nach unten: Elektrodermale Aktivität, Blood Vo-               im Pflegeheim in ihrem Alltag beobachtet wurden, parallel zur
     lume Pressure zur Kalkulation der Herzrate und Akzelerometrie).               Ausstattung mit einer Smartwatch und der Instrumentierung
     Unten rechts: Digitale Annotation des Verhaltens in Echtzeit durch
                                                                                   der Umgebung zur Lokalisationsbestimmung indoor. In einer
     einen Studienmitarbeiter während der Untersuchung.
                                                                                   weiteren Teilstudie wurde gezielt räumliche Desorientierung im
                                                                                   Krankenhaus mit einer Wegfindungsaufgabe bei ähnlicher Sen-
     wert, wenn situationsadaptiv von dem technischen Gerät eben-                  sorausstattung untersucht. Im letzten Studienabschnitt wurde
     falls eine Hilfestellung erfolgt. Dabei ist es zur Erhöhung der               mit einer Interventionsstudie begonnen, in der die Reaktion
     Akzeptanz und der Effektivität der Intervention von Bedeu-                    und der Effekt von Interventionen der Smartwatch auf dessen
     tung, dass solche Interventionen individualisiert erfolgen, d.h.              Träger analysiert werden. Damit die Reaktion möglichst unbe-
     an den Zustand und die Ressourcen des Nutzers angepasst sind.                 einflusst vom Beobachter ist, erfolgt die Beobachtung der Ka-
     Technisch wird diese Entscheidungsfindung durch komplexe                      mera bzw. Analyse per Videoaufzeichnung. Anschließend wer-
     Algorithmen realisiert, welche basierend auf Ausgangswerten                   den die Teilnehmer zu ihren Erfahrungen mit der Smartwatch
     (z.B. Sehvermögen des Nutzers, Grad der Gedächtniseinschrän-                  im Rahmen der nutzerzentrierten Ausrichtung des Projektes
     kung, etc.) und aktuellen Parametern (von Sensoren gelieferte                 befragt. Im SAMi Projekt arbeitet die UMR eng zusammen mit
     Vitaldaten, Aufenthaltsort, etc.) Erfolgswahrscheinlichkeiten                 anderen Projektpartnern, u.a. dem DZNE (s.u.), dem Institut für
     für alle potenziell zur Verfügung stehenden Interventionen in                 Informatik der Universität Rostock oder dem Fraunhofer Insti-
     dieser Situation berechnen und schließlich eine Intervention                  tut für grafische Datenverarbeitung (IGD) Rostock.
     auswählen. Bspw. kommt in Realumgebungen, in denen immer
     auch Messunsicherheiten berücksichtigt werden müssen,                         Ergebnisse
     POMDP (partially observable Markov decision process) zur An-
     wendung.5                                                                     Initial wurde untersucht, ob das Verhalten von Menschen mit
                                                                                   Demenz mit Hilfe von Sensoren erfasst werden kann. Dafür
     Das SAMi Projekt                                                              wurde eine multimodale Feldstudie mit insgesamt 17 Men-
                                                                                   schen, wohnhaft in zwei Pflegeheimen, durchgeführt. Alle Teil-
     SAMi steht für „Sensorbasierter persönlicher Aktivitätsmanage-                nehmer waren bereits mittelgradig bis schwergradig dementiell
     mentassistent für die individualisierte stationäre Betreuung von              erkrankt. Die Einwilligungen wurden von ihren gesetzlichen
     Menschen mit Demenz“. Es ist ein seit 2017 bestehendes Ver-                   Vertretern unterzeichnet. Zum Einsatz kamen Sensoren, welche
     bundprojekt wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Partner aus               paarweise am Handgelenk und am kontralateralen Fußgelenk
     M-V und wird durch das Land Mecklenburg-Vorpommern im                         getragen wurden und das Aktivitätsniveau mittels Linearbe-
     Rahmen des Technologieförderprogramms und aus Mitteln des                     schleuniger (3-achsige Akzelerometer) gemessen haben. Als
                                                                                   besonderes Kriterium bei der Studiendurchführung gilt die
     5
         Schröder M, Bader S, Bieber G, Kirste T. IT-basiertes Aktivitätsmanage-   Dauer der Aufzeichnung, denn pro Teilnehmer wurden etwa
         ment in der Individualisierten Stationären Betreuung von Menschen mit
         Demenz. Conference Paper. Zukunft Lebensräume 2016. Frankfurt             vier Wochen seines normalen Verhaltens aufgezeichnet. Tags-

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AKTUELLES

über wurde das Verhalten der Probanden durch einen Studien-                             dass mit der Bedarfsanalyse gezeigt werden konnte, dass Me-
mitarbeiter beobachtet und in Echtzeit nach einem festgeleg-                            thoden der partizipativen Forschung und des nutzerzentrierten
ten Schema annotiert. Bei der Studie kam heraus, dass es mög-                           Forschungsansatzes auch bei Menschen mit Gedächtnisproble-
lich ist, die Sensorausstattung, -messung und Datenübertra-                             men angewandt werden können, was bisher in der Wissen-
gung in Routineabläufe eines Pflegeheims zu integrieren.6 Die                           schaft nicht unbezweifelt ist.
Auswertung der Akzelerometriedaten lieferte Informationen                               Wie wichtig die Einbeziehung von Wissen um krankheitsspezi-
über Verhaltensprofile der Bewohner. Eine Spezifizierung der                            fische Veränderungen der Kognition und des Verhaltens von
unterschiedlichen Verhaltensweisen allein anhand der Sensor-                            betroffenen Menschen zur Entwicklung nachhaltig nutzbarer
daten war mit diesem Setup jedoch nicht möglich. Allerdings                             technischer Assistenten ist, wurde bereits dargestellt. Die Diffe-
zeigen die Ergebnisse dieser und anderer Studien, dass Akzele-                          renzierung von verschiedenen dementiellen Erkrankungen ist
rometrie potenziell dazu genutzt werden kann, Agitation von                             jedoch nicht nur für die zukünftigen Hilfssysteme von Bedeu-
Menschen mit Demenz zu erfassen.7                                                       tung, sondern bereits heute bei der optimierten Behandlung
Mit Hilfe von semistrukturierten Interviews erfolgt eine syste-                         und Beratung von Betroffenen. Um die Transformation von
matische Bedarfsanalyse bezüglich der Anforderung an ein                                wissenschaftlichen Erkenntnissen und Ontologien in die Praxis
technisches Assistenzsystem. Es wurden drei Interessensgrup-                            zu unterstützen, wurde von der Arbeitsgruppe an einem Fall-
pen befragt: Patienten, Angehörige und medizinische Exper-                              beispiel die neue Krankheitsentität der limbisch prädominan-
ten. Insgesamt wurden über 32 Interviews geführt, die aufge-                            ten, altersassoziierten TDP-43-Enzephalopathie (LATE) disku-
zeichnet und anschließend transkribiert wurden. Die Befragten                           tiert. In dem kürzlich erschienen Artikel in „Der Nervenarzt“
wurden zu Problemen bei der stationären Behandlung befragt,                             werden differentialdiagnostische Überlegungen bei einer
zum Umgang mit herausforderndem Verhalten von Menschen                                  55-jährigen Patientin mit V.a. Alzheimer-Krankheit vorgestellt
mit Demenz, zum Status quo ihrer Techniknutzung, zu Ideen                               und aktuelle diagnostische Verfahren, neuropsychologische Be-
für technische Innovationen und deren Anforderungen. Die                                funde und therapeutische Konsequenzen beschrieben.8
Transkripte wurden der qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen.
Im Resultat konnten Werte von potenziellen Nutzern abgeleitet                           Mehr Informationen über das Clinician Scientist Programm der
werden, die in den Value-sensitive-design Ansatz des Vorha-                             Universitätsmedizin Rostock erhalten Sie unter www.med.uni-
bens eingebettet werden. Insbesondere Werte wie Sicherheit,                             rostock.de/forschung-lehre/forschung/clinician-scientists-ent-
Autonomie, Privatsphäre, Einfachheit oder Informationsbedürf-                           wurf
nis konnten herausgearbeitet werden. Ihre unterschiedliche                                                                      Dr. med. Doreen Görß
Gewichtung und Divergenz bei den verschiedenen Interessens-                                                              Zentrum für Nervenheilkunde
gruppen zeigen die Komplexität und teilweise Inkonsistenz auf,                                                         Sektion Gerontopsychosomatik,
mit der man bei der Entwicklung von technischer Assistenz in                                                                       Leitung Prof. Teipel
diesem Umfeld konfrontiert wird. Darüber hinaus konnten                                                         Gehlsheimer Straße 20, 18147 Rostock
funktionelle und nicht-funktionelle Anforderungen aus den                                                   E-Mail: doreen.goerss@med.uni-rostock.de
Interviews abgeleitet werden, denen unter dem Mantel von                                                                       Telefon: 0381/494 9480
Benutzerfreundlichkeit (usability) und Nutzer-Erlebnis (user-
experience) Rechnung getragen werden sollte. Als funktionelle
                                                                                                                                                   ANZEIGE
Anforderungen formulierten die Interviewten bspw. Navigati-
onsassistenz, verschiedene Alarm-Funktionen (z.B. beim Verlas-
sen einer Station), Sturzerkennung, Schlafdetektion oder Erin-
nerungen und Benachrichtigungen. Nicht-funktionelle Anfor-
derungen waren z.B. das Vorhandensein von Knöpfen, fehlen-
de Bewegungseinschränkung, eine lange Batterielaufzeit, Tra-
gekomfort oder eine ansprechende Optik. Obwohl viele der
genannten Aspekte nicht überraschend sind, ist anzumerken,

6
    Goerss, D., Hein, A., Bader, S., Halek, M., Kernebeck, S., Kirste, T., Teipel, S.
    Automated sensor-based detection of challenging behaviors in advanced
    stages of dementia in nursing homes. Alzheimer’s & Dementia (2019).
7
    Bankole, A., Anderson, M., Smith-Jackson, T., Knight, A., Oh, K. et al.
    (2012): Validation of noninvasive body sensor network technology in the
    detection of agitation in dementia. In: American journal of Alzheimer‘s
    disease and other dementias 27 (5), S. 346–354.
8
    Görß, D., Kilimann, I., Dyrba, M. et al. LATE: Nicht jede Demenz ist Alzhei-
    mer – Diskussion einer neuen Krankheitsentität am Fallbeispiel. Nervenarzt
    92, 18–26 (2021). https://doi.org/10.1007/s00115-020-00922-z

AUSGABE 7/2021 31. JAHRGANG                                                                                                                          Seite 267
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