# 77 Frisch draufgeschaut - KOPS Uni Konstanz
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das Magazin der Universität Konstanz Oktober 2022 – uni.kn/unikon # 77 Müssen wir Zeit macht den Tod fürchten? Ein Interview über verdrängte Furcht, draufgeschaut Frisch den Unterschied Wenn Länder des Globalen Südens zukunftsgerichtete Wesen einander helfen, begegnen sie und ein selbstbestimmtes Leben. sich auf Augenhöhe. So die Theorie. Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS) URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-2-saz08j4pt8i41
Wintersemester 2022/2023 Studium Generale – Wissenschaft für alle montags 18.15 –19.45 Uhr, Audimax und Livestream 31.10.2022 28.11.2022 16.01.2023 Lenin, Stalin … Putin. Führerregime: Mythen und Realität über Methanhydrate der Meeresböden, Tradition und Bruch in der politi- Mehrsprachigkeit Gefahren und/oder Potentiale für schen Kultur Russlands Prof. Dr. Theo Marinis, das Leben auf der Erde Dr. Benno Ennker, Universität Konstanz Prof. Dr. Gerhard Bohrmann, Universität Tübingen marum - Universität Bremen 05.12.2022 07.11.2022 Das rätselhafte Gewebe der 23.01.2023 Fleisch aus dem Labor: Eine Wirklichkeit. An den Grenzen des Ethik der Translationalen Medizin gesunde Alternative ohne Tierleid? Wissens und darüber hinaus. Prof. Dr. Nicola Biller-Adorno, Prof. Dr. Petra Kluger, Prof. Dr. Gerd Ganteför, Universität Zürich Hochschule Reutlingen Universität Konstanz 30.01.2023 14.11.2022 12.12.2022 Papillomviren, Gebärmutterhals- Die Europäische Währungsunion in Wann ist der Mann ein Mann? krebs und Angelman-Syndrom Krisenzeiten Geschlechterrollen in der englisch- oder: Was wir von Viren über Prof. Dr. Almuth Scholl, sprachigen Literatur zum Ersten Erkrankungen lernen können Universität Konstanz Weltkrieg Prof. Dr. Martin Scheffner, uni.kn · wwa-grafik · wwa-druck · Foto: © Inka Reiter · 9/2022 Prof. Dr. Silvia Mergenthal, Universität Konstanz 21.11.2022 Universität Konstanz Differenzierte Integration – Chance und Herausforderung 09.01.2023 für die Europäische Union Der Ort der Religion in einer Prof. Dr. Dirk Leuffen, offenen Gesellschaft Universität Konstanz Reinhard Kardinal Marx, Kardinal von München und Freising – uni.kn/studiumgenerale
# 77 Frisch draufgeschaut
(Computer-) Spiele als Forschungsobjekt Für die Mitarbeiter*innen des GameLab gehört Spielen zum Arbeitsalltag: Sie beschäftigen sich aus wissenschaftlichem Interesse mit Spielen, Spielverhalten und Spielemechaniken. GameLab – Seite 46 Schule in den Zeiten der Augmented Reality Wie etwas, das Johannes Huwer nimmt in seiner Didaktik-Forschung die Themenbereiche es eigentlich Digitalisierung und Nachhaltigkeit in den Fokus. Die Schüler*innen sollen nicht nur mit digitalen Medien, sondern auch über digitale Medien lernen. nicht geben Fachdidaktik der Naturwissenschaften – Seite 32 dürfte, neue Möglichkeiten schafft Bei der Forschung zum kontrollierten Kristallwachstum von Biomineralien wurden in der Arbeitsgruppe von Helmut Cölfen Pränukleationscluster entdeckt, die klassisches Lehrbuchwissen ergänzen und obendrein ganz neue Wege eröffnen. Physikalische Chemie – Seite 52 Mit Avataren dem Charisma auf der Spur Testläufe für ein besseres Leben Ein interdisziplinäres Projekt erforscht, wie politisches Charisma bei Politi- ker*innen mit gesellschaftlich margina- lisiertem Hintergrund wahrgenommen Für Anne Kwaschik ist die kurze Lebensdauer der frühsozialistischen wird. Diese Gruppe mit niedrigem Siedlungskommunen kein Beweis für ihr Scheitern. Im Gegenteil: Die Historikerin Status ist in der Politik immer noch betrachtet die gelebten Zukunftsentwürfe als Sozialexperimente. unterrepräsentiert. Geschichte – Seite 7 The Politics of Inequality – Seite 18
Schwerpunkt: Frisch draufgeschaut 4 Online- Für ein besseres Leben 7 Version Kunststoffe neu gedacht 13 von uni’kon #77 Dem Charisma auf der Spur 18 unter: Müssen wir den Tod fürchten? 25 „Mehr-Ärzte-für-Brasilien-Programm“ im Test 28 Lernen mit Augmented Reality 32 Sozialsysteme: Verteilungs- versus Effizienzfragen 38 Schwarmforschung in virtueller Umgebung 42 – uni.kn/broschueren/unikon/77 Spielend forschen 46 Werkstatt für Kreativprojekte 50 Weiter geht’s im Netz 51 Mit Pränukleationscluster gegen den Zahnbohrer 52 Im Schlaglicht 56 Personalia 58 Zum Online- Nachruf auf Friedrich Kambartel 61 Magazin Diversity: Power der Vielfalt 62 campus.kn Otl Aicher zum 100. Geburtstag 65 VEUK zum 25. Geburtstag 66 Ambivalenzen des Emeritus 68 Impressum 72 – uni.kn/campus
Schwerpunkt Frisch draufgeschaut Kunststoff nicht als Umweltbelastung, sondern als nachhaltiges Material verstehen. Die Siedlungskommunen der früh sozialistischen Bewegung nicht als gescheiterte Projekte, sondern als Zukunfts entwürfe betrachten. Charisma nicht als magische Fähigkeit, sondern als Status- abhängige Zuschreibung wahrnehmen. Den Tod nicht als das Nichts, vor dem wir uns fürchten müssen, sondern als nichts, vor dem wir uns fürchten müssen, begreifen. Oder einfach Lehrbuchwissen neu schreiben. Einen frischen Blick zu riskieren kann auch wissenschaftlich neue Gebiete erschließen. In uni’kon 77 stellen wir beispielhaft Projekte an der Universität Konstanz vor, die neue Sichtweisen eröffnen. 4
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Geschichte 6
Ein besseres Leben Testläufe für ein besseres Leben Für Anne Kwaschik ist die kurze Lebensdauer der frühsozialistischen Siedlungs- kommunen kein Beweis für ihr Scheitern, wie sie in der Geschichtswissenschaft mehrheitlich gedeutet wird. Im Gegenteil: Die Historikerin betrachtet die gelebten Zukunftsentwürfe als Sozialexperimente. Es gibt Utopien, und es gibt das reale Leben. Menschen, die von den 1830er bis 1860er Als die Frühsozialisten aus Lyon im Jahr 1846 Jahren diese genossenschaftlichen Gemein mit ihren Vorstellungen von einem alternati schaften gründeten, wollten genau das: eine ven Leben und einer alternativen Form von neue Gesellschaft, die auf bestimmten Prin Gemeinschaft in Algerien ankamen, waren zipien beruhte. Die Tatsache, dass sie ihre dort schon andere: arabische Stämme in Vorstellungen auf einer Art Testgelände ver ihren Zelten. Die Kolonisierung Algeriens sachlichten und über die Schwächen in der durch Frankreich war noch keine zwei Jahr Umsetzung ausführlich diskutierten, spricht zehnte im Gange. Was geschah nach der An für Anne Kwaschik gegen die spätere Lesart, kunft der Fremden vor Ort? Wie lebten die die mit Friedrich Engels begann: der „Utopie“ beiden Gruppen zusammen? Was passierte als abstrakter Idee, die in „reine Phantasie“ mit der Utopie? Fragen, die Anne Kwaschik abdrifte. interessieren. Interessant ist die Konstellation zunächst Die Kommunen waren auch in begrifflicher Hinsicht. „Utopie“ be deutet im Altgriechischen so viel wie „kein Sozialexperimente Ort“. Seit Thomas Mores Roman „Utopia“ von 1516 meint eine Utopie eine Gesellschaft, Die Professorin für Wissensgeschichte setzt die durch ideale soziale, religiöse und wirt dem ihren Forschungsansatz entgegen: schaftliche Beziehungen definiert ist. Die Diese frühsozialistischen Siedlungsprojekte – 7
Geschichte Kommunen, wie sie auch aus den 1970er in der Nähe der Küstenstadt Oran dient ihr Jahren bekannt sind – waren Sozialexperi als gutes Beispiel, um neue Wissenssysteme mente im Rahmen eines wissenschaftlichen zwischen den Vertreterinnen und Vertretern Reformprogramms, die vielerorts über den des neuen Denkens und ihrer kolonialen Um Globus verteilt stattfanden. Dabei interessie welt bzw. die Beziehungen zwischen Europä ren Anne Kwaschik insbesondere die Grün er*innen und Araber*innen zu untersuchen. dungen in Algerien, Neukaledonien und Lateinamerika. Im Untersuchungsabschnitt Die Organisationsform war eine zu Algerien gehen diese Experimente einher mit der Kolonialisierung Algeriens durch Aktiengesellschaft Frankreich. Kolonien boten die Infrastruktu ren und eine Arena, um die neuen Theorien Die Französinnen und Franzosen, die in der sozialen Organisation zu erproben. Nordafrika ankamen, hatten zum Teil zu Die Siedlungen testeten damit nicht nur Hause eine gediegene gesellschaftliche Stel eine neue Gesellschaftsordnung aus, son lung. Ärzte und Rechtsanwälte waren dar dern gleichzeitig auch alternative Formen unter, die sich in einer Art Aktiengesellschaft der Kolonisierung. Die Mitglieder hatten eine organisiert hatten. Jedes Mitglied besaß An Mission und waren überzeugt, dass ihr Ver teile, und die Satzung legte fest, wie hoch die ständnis von Kolonialismus besser sei als die Aktienanteile für eine Mitgliedschaft sein vom französischen Staat ausgeübte Form. mussten – nicht sehr hoch, um die Arbeiter Nicht perfekt, aber besser. schaft nicht auszuschließen. Mit dem Geld Anne Kwaschik zeigt am Beispiel der 1846 kauften sie beim französischen Kriegsminis gegründeten landwirtschaftlichen Sied terium das Land in Algerien. lungsgemeinschaft von Saint-Denis-Du-Sig, Da kamen sie also an mit ihren neuen wie die Ideen einer neuen Lebensform in Vorstellungen von einer Gesellschaftsord die Praxis umgesetzt wurden. Die Siedlung nung, die das Privateigentum ablehnte und Das Familistère ist ein Gebäudekomplex aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, der von dem Fabrikanten Jean- Baptiste André Godin für seine Arbeiter und ihre Familien in Guise (Nordfrankreich) gebaut wurde. Godin war ein Anhänger von Charles Fouriers Theorien zu Produkti- ons- und Wohngenos- senschaften. Das hier abgebildete Haupt- gebäude folgt Fouriers Entwürfen für einen Sozialpalast. Es wurde seit 1865 bewohnt und gilt als einzigartiges Zeugnis der Um- setzung der sozialen Utopien und einer der ersten sozialen Wohnungsbauten der Moderne. © Kwaschik 8
Ein besseres Leben die Gleichberechtigung der Frauen, die freie Franzosen das Leben der algerischen Frauen Liebe und die vergemeinschafteten Formen erleichtern, die traditionell für das Kornmah des sozialen Lebens befürworteten. „Für die len zuständig waren. se Mikro-Geschichten vor Ort gibt es gute Quellen, wenn man danach sucht“, sagt die Lokales Wissen Historikerin. Die Neuankömmlinge beschlos sen, die ansässigen arabischen Stämme war wichtig nicht zu vertreiben, „weil es ihrer Vorstellung von einer modernen Gesellschaftsordnung Der Wissenstransfer funktionierte aber auch widersprach. Sie haben ihnen zu einem ge umgekehrt. Die arabischen Bauern bearbei ringen Preis Land verpachtet und hielten das teten ihre Felder mit einem einfachen Holz für fortschrittlich.“ pflug, der nicht so tief pflügte, wie die teuren Gleichzeitig waren die Siedler natür Metallpflüge aus Frankreich. Die Neuen, die lich überzeugt von der Höherwertigkeit der ohnehin wenig Ahnung von Landwirtschaft europäischen Kultur: Sie wollten die Einhei hatten, waren bereit dazuzulernen. Sie taten mischen „zivilisieren“. Kinder sollten in die es den Einheimischen gleich und stornierten Schule gehen, die Stämme sollten sesshaft die Bestellung der Hightech-Gerätschaft. werden, Brunnen graben und Bäume pflan Die Geschichtswissenschaft hat sich in zen. Und: Vielleicht könnte man danach in der Vergangenheit wenig für diese zeitlich einem nächsten Schritt auch über die Reali und örtlich begrenzten Phänomene interes sierung des gemeinschaftlichen Eigentums siert. Zumal die Experimente unterm Strich nachdenken? auch nicht von großem Erfolg gekrönt wa Insbesondere lag den Kommunen die ren. „Das kann man so sehen“, sagt Anne Verbesserung der Stellung der Frauen am Kwaschik, „andererseits kann man aber auch Herzen. Anne Kwaschik: „Die Anhänger fragen, was bedeutet Erfolg als Kriterium von Charles Fourier, dem französischen So für Geschichtswissenschaft? Woran lässt er zialtheoretiker, waren der Meinung, dass sich überhaupt messen? Auf diesen kleinen die Stellung, die die Frau in der Gesellschaft Flächen wurden die Themen definiert, die einnimmt, etwas darüber aussagt, wie fort später in der Geschichte der Moderne wich schrittlich diese Gesellschaft ist.“ So waren tig wurden: neue Besitzverhältnisse, die De diese frühsozialistisch inspirierten Einge finition von Arbeit und die Organisation von wanderten von Saint-Denis-Du-Sig beispiels Freizeit, neue Formen des Zusammenlebens weise stolz darauf, dass die einheimische und die Auslotung des Verhältnisses von Bevölkerung die Mühle annahm, die sie kurz Individuum und Kollektiv, Emanzipation nach ihrer Ankunft bauten. So konnten die von Mann und Frau und die Bedeutung von 9
Geschichte Der Frühsozialist Charles Fourier plante einen Sozialpalast, in dem die Wege so angelegt werden sollten, dass sich die Bewohner*innen immer begegnen müssten. Der Gedanke dahinter: Wenn sich die Menschen öfter über den Weg laufen, wirken die Gesetze des Kapitalismus nicht mehr so stark. Auf dem Bild steht Anne Kwaschik im Foyer der Universität Konstanz, das ebenfalls als Begeg- nungsstätte konzipiert ist, in der die Universitätsmitglieder auf dem Weg zur Mensa zusammentreffen. Anne Kwaschik forscht aktuell zur Verwissenschaftlichung des Kolonia- len im 19. und 20. Jahrhundert und zur Geschichte von Gesellschafts- experimenten und Gegenwartsdiag- nostik seit 1800. Sie ist Präsidentin des Deutsch-Französischen Histori- kerkomitees. Sexualität, Vorstellungen von sozialen Wis sen. Der Autor Hawthorne war Gründungs senschaften und ihrer Verbindung zum mitglied der Brook Farm. Leben.“ Neben den Statuten, die sich die Gemein Nicht erst in den Kommunen der 1970er schaften gaben, und Jahresberichten mit Jahren kehrten solche Lebensformen wie den Einnahmen und Ausgaben, sind die der. Die Zukunftsentwürfe der frühsozia Theorie-Diskussionen, zu denen Berichte listischen Bewegung zeigten bereits unter vorliegen, aber auch theoretische Schriften den Zeitgenossen Wirkung. Die dem neuen wichtige Quellen für Anne Kwaschik. „Pol Gemeinschaftsmodell zugrundeliegende nische Unabhängigkeitskämpfer oder belgi Ideen, die auf die frühen sozialistischen sche Feministinnen engagierten sich in die Denker Robert Owen, Henri de Saint-Simon sem Milieu und formulierten Fouriers Ideen und Charles Fourier zurückgehen, wurden um, damit sie besser verständlich wurden – angereichert durch die Erfahrung in den und als Handlungsanweisung unter die Siedlungen – zurück nach Europa getragen. Leute gebracht werden konnten. Zahlreiche Dort wurden sie in Salons und Abendver Übersetzungen und Propagandabroschüren anstaltungen verbreitet. Sie beeinflussten wurden in diesen internationalen Netzwer Marx und Engels und waren für die Genos ken produziert.“ Die intellektuellen Einflüsse senschaftsbewegung maßgeblich. Auch die sind weitreichend: Selbst einzelne Militärs Entstehung sozialwissenschaftlicher Diszi unterstützten die Kolonisierung Algeriens plinen ist von frühsozialistischen Denkfigu nach dem Vorbild der kleinen Siedlungsge ren geprägt. meinschaft. Auch die Einflüsse der Umwelt spielten Die Brook Farm war Vorbild für für die Kommunen eine große Rolle. Die Na tur und mit ihr alternative Medizin in Form „The Blithedale Romance“ von Studios für Magnetismus oder Homöo pathie standen damals hoch im Kurs, eben Die Brook Farm, eine Kommune in den USA, so wie spiritualistische Erfahrungen. Die brachte es sogar zum Vorbild für einen Ro Theorieentwürfe Fouriers selbst wurde von man. „The Blithedale Romance“ von Natha der Außenwelt weitgehend abgelehnt, nicht niel Hawthorne, 1852 erschienen, themati so die praktische Umsetzung. „Dass man siert die Konflikte der Menschen zwischen Einkommen und Ausgaben teilt, Arbeit neu ihren Idealen und ihren privaten Bedürfnis regelt, galt als extrem fortschrittlich und spä 10
Ein besseres Leben ter auch als realistischer als kommunistische großen Einfluss. Und Theodor Herzl hat sie Vorstellungen“, berichtet die Hstorikerin. für seine Kibbuzim rezipiert. Scheitern sieht „Was aber als absolut verrückt galt, war die anders aus. Frauenemanzipation. Das wissen wir aus den Für die Aktivistinnen und Aktivisten im Reaktionen auf frühe Vorträge der Fourieris 19. Jahrhundert war Scheitern ohnehin kein ten: Die Gleichberechtigung der Frau skanda Thema. Ihre Einstellung war experimentell. lisierte die Öffentlichkeit zunächst mehr als Sie waren sich sicher, dass sie mit der Um die Abschaffung des Privateigentums.“ setzung einer Kommune, egal wie vorläu Tatsächlich sah der Alltag, was die Gleich fig diese war, die generelle Machbarkeit der berechtigung der Frauen betraf, nicht ganz Theorie beweisen würden. Denn dass sich so utopisch aus. Immerhin aber sind Quellen die Theorie nicht eins zu eins umsetzen ließ, überliefert, dass Frauen und Männer in den war eigentlich von Anfang an klar. Genau Kommunen doch anders miteinander um hier sollte die Umsetzung ja offene Punkte gegangen seien als im Rest der Gesellschaft. oder Schwächen offenlegen. „Und es ist selbstverständlich auch nicht so, „Das ist ein wichtiger Punkt: Die Praxis dass um 1840 in den Siedlungen die freie Lie sollte die Theorie korrigieren“, formuliert es be praktiziert worden wäre“, so Kwaschik. Anne Kwaschik, die noch etwas anderes an den Menschen von Saint-Denis-Du-Sig fas „Die neue Welt der Liebe“ ziniert: „der Elan und die Energie, den eige nen Wohlstand und die eigene Gesellschaft wurde erst im 20. Jahrhundert zu verlassen, dahin zu gehen, wo es stickig zur Kenntnis genommen und heiß ist, wo Krieg und Krankheiten herr schen, um eine neue Gesellschaftsordnung Tatsächlich wurde Fouriers Schrift „Die neue auszutesten.“ Welt der Liebe“ von den Anhängern auch zu msp. rückgehalten und erst in der Zeit der neuen Kommunen im 20. Jahrhundert zur Kennt nis genommen und in Teilen auch ins Deut Weitere sche übersetzt. Für die USA lassen sich aller Informationen dings konkrete Wege von den Siedlungen in die Emanzipationsbewegung nachweisen. „Blithedale Romance“ mit der emanzipier ten Protagonistin gehört zur Pflichtlektüre in den USA. Anne Kwaschik ist dabei, eine „kleine Weltkarte“ der global verteilten Kommu nen zu erstellen. Neben Nordafrika waren die USA, Lateinamerika und Osteuropa sehr wichtige Standorte. Auch im Habsburger Reich hatten die Ideen vom neuen Menschen – t1p.de/hlc63 „Was aber als absolut verrückt galt, war die Frauenemanzipation. Die Gleichberechtigung der Frau skandalisierte die Öffentlichkeit zunächst mehr als die Abschaffung des Privateigentums.“ Anne Kwaschik 11
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Eine starke Verbindung Kunststoffe neu gedacht: vom Rohstoff bis zum Recycling Stefan Mecking, Professor für Chemische Material- wissenschaft, entwickelt und erforscht mit seiner Arbeitsgruppe am Fachbereich Chemie der Universität Konstanz katalytische Verfahren, die auf mehreren Ebenen die Umweltverträglichkeit von Kunststoffen steigern. Die weltweite Kunststoffproduktion hat in Vor allem geringe Herstellungskosten den vergangenen Jahrzehnten rasant zuge und Beständigkeit haben jedoch auch eine nommen, von 1,5 Millionen Tonnen im Jahr Schattenseite. So haben Bilder von im Meer 1950 auf über 360 Millionen Tonnen im schwimmenden Plastiktüten und Müllber Jahr 2020. Damit zählen Kunststoffe heute gen aus Wegwerfartikeln zuletzt stark am zu den weltweit wichtigsten industriellen Image des Werkstoffs gekratzt. Teils zu Un Werkstoffen. Der Grund für diesen Sieges recht, denn in vielen Fällen sind Kunststoffe zug liegt auf der Hand: Kunststoffe sind sogar die umweltverträglichere Wahl – bei äußerst flexibel, nicht nur in ihrer Form, spielsweise, wenn Kunststoffkomponenten sondern auch in ihren Materialeigenschaf in der Fahrzeugindustrie zu geringeren ten. Sie sind außerdem leicht, langlebig und Fahrzeuggewichten und damit zu dauer kostengünstig. haft geringerem Energieverbrauch führen. 13
Chemische Materialwissenschaft „Tatsächlich gibt es viele alltägliche und technische Anwendungen, in denen bei genauer Betrachtung Kunststoffe die nachhaltigste Lösung sind.“ Stefan Mecking „Tatsächlich gibt es viele alltägliche und sant, da ihnen auf diesem Weg neue Eigen technische Anwendungen, in denen bei ge schaften verliehen werden können. „Leider nauer Betrachtung Kunststoffe die nachhal sind jedoch viele traditionelle Katalysato tigste Lösung sind“, so Mecking. ren für diesen Bereich extrem empfindlich gegenüber polaren Reagenzien und werden Entwicklung katalytischer durch diese zerstört, anstatt sie umzusetzen“, schildert Mecking eine grundlegende Her Verfahren als Schlüsselschritt ausforderung. Zusammen mit seiner Arbeitsgruppe ver folgt Mecking daher den Ansatz, die Kunst stoffe selbst umweltverträglicher zu ma chen, und zwar in sämtlichen Phasen ihres Lebenszyklus: von der Rohstoffgewinnung und Synthese bis zum Abbau oder Recycling. Einer der Schwerpunkte der Arbeitsgruppe liegt deshalb auf der Erforschung katalyti scher Systeme zur Herstellung innovativer Kunststoffe. Ihre methodische Bandbreite beinhaltet sowohl grundlegende mechanis tische Untersuchungen zum Verständnis der Systeme als auch die Herstellung und Entde ckung von neuen Katalysatoren und deren Einsatz in der Materialerzeugung. „Wir interessieren uns vor allem dafür, Katalysatoren zu entwickeln oder zu entde cken, die in der Lage sind, auch polare Rea genzien umzusetzen“, präzisiert Mecking. Dazu muss man wissen, dass viele der in dustriell wichtigen Kunststoffe, wie zum Beispiel Polyethylen (PE), ausschließlich aus langen Kohlenwasserstoffketten bestehen und daher unpolar sind – ein Grund, warum sie so reaktionsträge und langlebig sind. Die Einführung polarer Gruppen in derartige, unpolare Kunststoffe ist besonders interes 14
Kunststoffe neu gedacht Von besserer Abbau- und Rezyklierbarkeit Und doch gelang der Arbeitsgruppe kürzlich ein großer Erfolg in diese Richtung. So wur de ein katalytisches Verfahren entdeckt, das den Einbau von kleinen Mengen hochreak tiven Kohlenmonoxids in PEs erlaubt. Dabei entstehen sogenannte Ketogruppen. „Durch die maßvolle Erzeugung dieser Ketogrup pen bleiben die vorteilhaften mechanischen Eigenschaften von PE in dem modifizierten Kunststoff erhalten, er erhält aber gleichzei tig neue wünschenswerte Eigenschaften“, beschreibt Mecking. So ist der modifizierte Kunststoff unter anderem photoabbaubar. „Wir konnten im Labor beobachten, dass unser Kunststoff unter künstlichem Son nenlicht langsam zerfällt. Würden Produkte aus diesem Kunststoff also ungewollt in die Natur gelangen, würden sie dort um ein Viel faches schneller verwittern als Produkte aus herkömmlichem PE“, erklärt Mecking. Besser wäre es natürlich, würden Kunst stoffe gar nicht erst den Weg in die Umwelt finden, sondern effektiv recycelt werden. Auch hier bieten die katalytischen Verfah ren der AG Mecking potentielle Ansätze, um die teils noch schlechten Recyclingoptionen von Kunststoffen zu verbessern. So gelang Der chemisch recycel- bare Kunststoff der AG ihnen – ebenfalls durch den katalytisch kon Mecking eignet sich trollierten Einbau funktioneller Gruppen in gut für additive Verfah- PE-artige Kunststoffe – ein weiterer Clou. In ren wie den 3D-Druck. diesem Fall fungieren die eingebauten Grup Hier wird eine Handy- pen als chemische „Sollbruchstellen“, mithil hülle gedruckt. © AG Mecking fe derer Produkte aus dem Kunststoff nach Ablauf ihres Lebenszyklus per chemischem Recycling nahezu vollständig in ihre Aus gangsbausteine zurückzerlegt werden kön nen. „Auch hier war die genaue Einstellung der Dichte an funktionellen Gruppen im Kunststoff essentiell, um keine Kompromis se bei den Materialeigenschaften eingehen zu müssen“, erläutert Stefan Mecking. Auf diese Weise konnte ein weiterer mo difizierter Kunststoff hergestellt werden, der dem Ausgangsmaterial nicht nur ebenbürtig ist, sondern neben der neugewonnenen che mischen Rezyklierbarkeit – die deutlich effek tiver und energieeffizienter ist als bestehende Verfahren für PE – noch weitere Vorteile hin zugewonnen hat. So eignet er sich zum Bei spiel gut für additive Fertigungsverfahren, 15
Chemische Materialwissenschaft wie den 3D-Druck. „Natürlich geht es uns gewünschte chemische Reaktion bewirkt. bei unserer Forschung nicht nur darum, die Dieses Erweitern der natürlichen Zellma Umweltverträglichkeit von Kunststoffen zu schinerie ist einer von verschiedenen Bioraf verbessern. Wir möchten auch weitere Ma finerie-Ansätzen, welche wir verfolgen, um terialeigenschaften erreichen, sei es wie hier auch die für die Synthese von Kunststoffen die Eignung für additive Verfahren oder – als benötigten Bausteine nachhaltiger zu gewin weiteres Beispiel – die Kompatibilität mit an nen“, berichtet Mecking. deren Materialien“, so Mecking. ds. Bioraffinerien und Mikroalgen Entwickelt hat die AG Mecking ihr chemi sches Recycling-Verfahren an PE-artigen Kunststoffen auf Basis nachwachsender Fet te und Öle statt Erdöl – auf lange Sicht ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung inno vativer, zukunftsträchtiger Kunststoffe. Neue Weitergehende katalytische Ansätze könnten hierbei auch Informationen die Verwendung von Abfallfetten oder Al genölen als Rohstoff ermöglichen. „Ähnlich wie höhere Pflanzen betreiben viele Algen Photosynthese. Sie nutzen also Sonnenlicht als Energiequelle für die Synthese komple xer Kohlenstoffverbindungen aus atmo sphärischem Kohlenstoffdioxid“, erläutert Mecking. Nachwachsende Fette und Öle auf Algen-Basis bergen deshalb das Potential zur emissionsarmen Produktion von Bausteinen für Kunststoffe und Chemikalien. Anstatt – t1p.de/4zu2d aber solche Rohstoffe als Erdöl-Ersatz für herkömmliche petrochemische Raffinerien einzusetzen, sind neue, maßgeschneiderte katalytische Ansätze wünschenswert. „Um die Raffinierung nachwachsender Rohstoffe effizienter zu gestalten, wäre ein möglicher Ansatz, die in der chemischen Industrie benötigten Bausteine oder Che Video des mikalien direkt in der Quelle selbst zu er Forschungsprojekts zeugen und sie dann schonend aus dieser zu extrahieren“, so Mecking. Gerade ist seiner Gruppe erstmalig ein wichtiger Meilenstein in Richtung solcher lebenden Bioraffinerien gelungen: Durch das Einschleusen eines Ka talysators für eine industriell hochrelevante chemische Reaktion – die Olefinmetathese – in die Lipidspeicher von Mikroalgen konnten sie das natürliche Synthesespektrum dieser einzelligen Organismen künstlich erwei tern. „Tatsächlich konnten wir nachweisen, – t1p.de/er8tf dass unser Katalysator im Lipidspeicher der Algen trotz der chemisch hochkomplexen Umgebung stabil bleibt und die von uns 16
Stefan Mecking ist seit 2004 Professor für Chemische Material- wissenschaft am Fach- bereich Chemie der Universität Konstanz. Er erforscht mit seiner Arbeitsgruppe kata- lytische Verfahren, die auf mehreren Ebenen die Umweltverträglich- keit von Kunststoffen steigern. „Wir konnten im Labor beobachten, dass unser Kunststoff unter künstlichem Sonnenlicht langsam zerfällt. Würden Produkte aus diesem Kunststoff also ungewollt in die Natur gelangen, würden sie dort um ein Vielfaches schneller verwittern als Produkte aus herkömmlichem Polyethylen.“ Stefan Mecking 17
The Politics of Inequality Mit Avataren dem Charisma auf der Spur Ein interdisziplinäres Projekt erforscht, wie politisches Charisma bei Politiker*innen mit gesellschaftlich marginalisiertem Hintergrund wahrgenommen wird. 18
Charisma Bei den Avataren lassen sich einzelne Aspekte wie die Hautfarbe verändern. Quelle: Unreal® Engine, © 1998-2022, Epic Games, Inc. All rights reserved. 19
The Politics of Inequality Über Charisma wird bislang vor allem Politikwissenschaft wird Charisma gerne im amerikanischen Raum geforscht, in als eine magische Fähigkeit beschrieben, Deutschland betritt das interdisziplinäre Einfluss auf andere zu nehmen“, sagt So Projekt „Wahrnehmungen von politischem ziolinguistin Judit Vári. „In unserem Pro Charisma bei Sprecher*innen mit niedrigem jekt wollen wir jedoch von dieser Idee weg Status“ noch weitgehend Neuland. Das mag kommen und strukturell ein paar konkrete daran liegen, dass man hierzulande „Cha Puzzleteilchen finden, die wir isolieren risma“ auch historisch bedingt mit Skepsis und testen können, um das Bild genauer begegnet und die Frage mitschwingt: Gibt es zu zeichnen.“ auch so etwas wie „böses“ Charisma? Ein erstes Stimmungsbild darüber, wel che Eigenschaften charismatischen Men Was ist eigentlich schen zugeschrieben werden, holten die Wissenschaftler*innen bei einer Umfrage Charisma? in der Langen Nacht der Wissenschaft in Konstanz ein. Charismatisch assoziierten Charisma wird abhängig von der Fachdis die teilnehmenden Besucher*innen mit „re ziplin recht unterschiedlich definiert. Der degewandt“, „kompetent“ und „wissend“, kleinste gemeinsame Nenner: Charisma er was Ergebnissen von angloamerikanischen zeugt bei uns den Glauben, dass die charis Studien ähnelt. „Da wir sehr offen gefragt matische Person eine gewisse Kompetenz hatten, wurden auch neue Eigenschaften hat. Die oder der Charismatische schafft genannt, insbesondere ‚authentisch‘, was in es, andere Menschen zu motivieren und anderen Charisma-Studien keine Rolle spiel ihre Handlungen zu beeinflussen. „In der te“, erzählt die Wissenschaftlerin. Von vielen als charismatisch wahrgenommen: Barack Obama 20
Charisma „Kann es sein, dass sich Wahrnehmungen von Charisma bei Menschen mit unterschiedlichem Status unterscheiden?“ Judit Vári Das vom Exzellenzcluster „The Politics of In len die Forschenden sowohl die bewussten equality“ geförderte Projekt interessiert sich Charisma-Zuschreibungen als auch die un besonders dafür, wie politisches Charisma bewussten herausfinden. Und sie arbeiten bei Politiker*innen mit gesellschaftlich mar dabei mit Stimuli, bei denen nur eine Stim ginalisiertem Hintergrund wahrgenommen me gehört, nur ein Bild präsentiert oder bei wird. Denn diese Gruppe mit niedrigem de kombiniert werden. Status ist in der Politik immer noch unter Um herauszufinden, was Menschen be repräsentiert. Frauen beispielsweise oder wusst denken und fühlen, erhalten die Teil Menschen mit einer anderen sozialen oder nehmenden Fragebögen und bekommen ethnischen Herkunft als die Mehrheitsge genügend Zeit, um diese auszufüllen. „Die sellschaft kommen unverhältnismäßig sel unbewussten Wahrnehmungen ermitteln ten oder nur in bestimmten Funktionen vor. wir anhand von Experimenten, die von „Ein paar Studien untersuchen Charisma den Teilnehmern nicht beeinflusst werden in Verbindung mit Wahlergebnissen. Wir können. Welche Verbindungen oder Asso fragen jetzt weiter: Kann es sein, dass sich ziationen im Kopf bestehen, können wir Wahrnehmungen von Charisma bei Men uns dabei über sehr kurze Reaktionszeiten schen mit unterschiedlichem Status unter herleiten“, erklärt Vári und fährt fort: „So scheiden? Dies könnte eventuell zu diesen können Antworten, die von der sozialen Er Unterrepräsentationen führen“, meint Vári. wünschtheit gesteuert werden, herausgefil tert werden.“ Wie findet man mehr Die äußere Erscheinung, so weiß man aus Studien, spielt bei Charisma-Wahrneh über Charisma heraus? mung generell eine große Rolle. Damit das Projekt-Team einzelne Puzzleteile isolieren Mit Projektleiterin Tamara Rathcke und kann, verwendet es keine echten Personen Judit Vári, beide Soziolinguistinnen, sowie in den Experimenten, sondern Avatare. Diego Frassinelli, spezialisiert auf KI in der Hier bringt Duangkamol Srismith Kompe Computerlinguistik, ist es ein schwerpunkt tenzen aus der kognitiven Psychologie ein, mäßig sprachwissenschaftliches Projekt. wenn sie zusammen mit dem Informatiker Sein Aufbau ist so ehrgeizig wie komplex: Stephan Streuber die Avatare entwirft. Drei Arten von niedrigerem Status werden Diese sollen nicht nur natürlich aussehen, untersucht, hinsichtlich sozioökonomischem sondern sich auch naturecht animieren (Klasse und Bildung) und ethnischem Hin lassen. Mithilfe der Avatare können die For tergrund sowie Geschlecht. Außerdem wol scher*innen einzelne Faktoren isolieren, 21
The Politics of Inequality indem sie nur einen Aspekt wie die Haut benutzen die gleichen Wörter, werden jedoch farbe verändern. Sie können die Avatare anders im Charisma eingeschätzt, weil eben auch androgyn gestalten, also männliche Merkmale des niederen Status doch heraus und weibliche biologische Merkmale ver zuhören sind.“ schmelzen. Bei den auditiven Stimuli testet das Team Wer kommt wie Variationen im Akzent und Dialekt. Bei spielsweise wird bei einer Rede ein regiona beim Publikum an? ler Dialekt oder der Akzent eines Nicht-Mut tersprachlers eingebaut. Menschen können Doch auch die Zuhörerschaft selbst beein erstaunlich viel aus einer Stimme heraus flusst, wie Charisma-Merkmale bewertet hören oder herleiten, etwa einen ethnischen werden, was noch kaum erforscht ist. Das Hintergrund. In der Soziolinguistik spricht Projekt-Team legt daher einen Schwer man von „social profiling“. Die Sprechweise, punkt auf Variationen im Publikum: Bei wie schnell, hoch oder tief gesprochen wird, wem kommt jemand anderes als charisma spielt hier ebenso herein wie Inhaltliches: tisch an und wovon hängt das ab? Die Al Wie viele emotionale Wörter benutze ich? tersgruppe und ihre mediale Prägung kann Inwiefern beziehe ich den Zuhörer in meine einen Unterschied machen, aber auch die Rede mit ein? eigene politische Orientierung oder der so Viel wird auch in eine Stimme hineinin zioökonomische Hintergrund inklusive Bil terpretiert, weiß Vári, das jedoch in nachvoll dungsgrad. Die Wissenschaftlerin erwartet ziehbaren Mustern. Zum Beispiel höre sich hier sozialpsychologische Effekte wie den ein regionaler Dialekt manchmal nicht ganz der In- und Out-Group: Die eigenen Grup so intelligent an wie Hochdeutsch. Sie sagt: penzugehörigen werden tendenziell positi „Uns interessiert besonders die Kombination ver bewertet als die anderen. „Interessant der Elemente, ob dieses Charisma auch noch wird es dann, wenn das nicht passiert oder gehört wird, wenn die Person anders aus wenn sich hier Unterschiede feststellen las sieht. Und möglicherweise sprechen zwei sen. Nehmen wir an, jemand spricht selbst Personen gleich schnell, gleich hoch oder tief, bayerisch und findet den eigenen Dialekt „Und möglicherweise sprechen zwei Personen gleich schnell, gleich hoch oder tief, benutzen die gleichen Wörter, werden jedoch anders im Charisma eingeschätzt, weil eben Merkmale des niederen Status doch herauszuhören sind.“ Judit Vári 22
Charisma Judit Vári arbeitet als Postdoc im Projekt „Wahrnehmungen von politischem Charisma bei Sprecher*innen mit niedrigem Status“, das der Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ fördert. 2021 promovierte sie an der Bangor University in Wales, Großbritannien, über die bewusste und unbewusste Wahrnehmung und Akzeptanz von Sprecher*innen sprachlicher Varianten. bei einem männlichen Politiker charisma Wenn es um die eigene Einschätzung von tisch, nicht aber bei einer weiblichen Politi charismatischen Personen geht, lässt Judit kerin“, so Vári. Vári doch eher Skepsis walten. Sie gibt aber Damit nicht genug. Das Projekt wird in zu, dass sie ein ähnliches Votum wie die Be Deutschland und Großbritannien durchge sucher*innen der Langen Nacht der Wissen führt und vergleicht die Ergebnisse. „Allein schaft getroffen hätte. Diese hatten Barack schon wegen der unterschiedlichen Organi Obama als charismatische öffentliche Per sation der politischen Systeme erwarten wir sönlichkeit am häufigsten genannt. uns große Unterschiede. Die Wahrnehmung cmv. der politischen Debatten läuft ja ganz anders ab“, meint Vári und freut sich, Politikwissen schaftler Susumu Shikano mit im Boot zu haben. Aufgrund des Ländervergleichs, zu mal jeweils verschiedene Dialekte einbezo gen werden, wird das Projekt-Team sehr vie le Teilnehmer*innen benötigen. Sie suchen diese gerade auch außerhalb der Universität, um eine möglichst vielfältig politisch orien tierte Zuhörerschaft abzudecken. 23
Praktische Philosophie 24
Umgang mit dem Tod Müssen wir den Tod fürchten? Die Philosophin Susanne Burri hinterfragt unseren Umgang mit dem Tod. Ein Interview über verdrängte Furcht, zukunftsgerichtete Wesen und ein selbstbestimmtes Leben. uni’kon: Geht unsere Gesellschaft ratio- Schmerz sich darin findet und wie viel Freu nal mit dem Tod um, Frau Burri? de sich in diesem Leben „abzählen“ lässt. In Susanne Burri: Wir verdrängen den Tod und kurz: Je mehr Freude und gute Gefühle, je unsere eigene Sterblichkeit zu sehr. Zwar sind weniger Schmerz und negative Gefühle, des es nicht wirklich Tabuthemen, aber sie sind to besser sei ein Leben. nahe dran. Es ist immer noch seltsam, über den Tod zu sprechen, und das kann nur scha Wie kommt der Tod in diese Gleichung den. Wir müssen alle sterben – und wir sollten hinein? offener damit umgehen. Das kann wichtige Der Tod ist das Ende unserer Existenz. Wenn Vorteile bringen, gerade bei Themen wie der man tot ist, kann man keinen Schmerz mehr Sterbehilfe. Das Schlimmste am modernen empfinden – zwar auch keine Freude, aber Umgang mit dem Tod ist das Verdrängen. eben auch keinen Schmerz. Nach Sicht der Epikureer bedeutet das: Wenn wir nicht Müssen wir den Tod denn fürchten? mehr existieren, kann uns auch kein Leid Das ist eine Frage, mit der sich die alten mehr befallen. Daher sei es irrational, wenn Griechen – insbesondere die Epikureer – sehr man sich vor dem Tod fürchte. intensiv beschäftigt haben. Die Epikureer waren überzeugt: Wenn wir uns der Angst Trotzdem ist es für uns das Natürlichste vor dem Tod stellen und uns fragen: „Wovor auf der Welt, dass wir uns vor dem Tod fürchten wir uns eigentlich?“ – dann ginge fürchten – oder ihn zumindest vermei- die Angst weg. Denn der Zustand, tot zu sein, den wollen. sei an sich nicht schlimm und der Tod damit Deswegen habe ich begonnen, mich damit nichts Bedrohliches. philosophisch zu befassen. Weil ich mit den Die Epikureer hatten eine hedonistische Epikureern zwar grundsätzlich einig war, Weltsicht. Das bedeutet: Für sie bemisst sich dann aber fand: Mein eigenes Verhalten die Qualität des Lebens danach, wie wenig passt nicht zu dieser Meinung. 25
Praktische Philosophie Ich hatte ein ganz simples Aha-Erlebnis: Ich „Das schauerlichste Übel also, der Tod, stand an einem Fußgängerstreifen, habe geht uns nichts an; nach links und rechts geschaut und dann überlegt: Wenn der Tod kein Übel ist – war denn solange wir existieren, ist der Tod um schaue ich dann nach links und rechts, nicht da, und wenn der Tod bevor ich über die Straße gehe? da ist, existieren wir nicht mehr.“ Ich habe das dann natürlich sofort ratio nalisiert: Klar, ich will keinen Unfall haben, ich will keine Schmerzen erleiden. Aber ich Epikur, 3. Jahrhundert v. Chr. fand: Das trifft den Kern nicht. Ich will, ehr lich gesagt, insbesondere auch den Tod ver meiden. Mittlerweile finde ich die Idee, dass der Tod nichts bedeute, fast unmöglich zu ak zeptieren. Was daraus folgen würde, ist auch eine Entwertung des Lebens. Man nimmt sie daran denken, dass sie irgendwann (und dem Tod seinen Stachel, aber nur, indem bald!) nicht mehr existieren werden. Dass man das Leben wertlos macht – ihm seinen man die eigene Nicht-Existenz als etwas Reiz nimmt. sieht, das furchteinflößend ist, ist aus meiner Sicht irrational, auch wenn das Gefühl vie Warum entwertet es das Leben? le Menschen kennen. Denn: Ich bin dann ja Das Idealbild der Epikureer vom guten Le nicht mehr da, was fürchte ich dann also? Da ben ist die Seelenruhe (Ataraxie), dass man kommt auch das Symmetrieargument von gleichmütig und sorgenlos in den Tag hinein Lukrez ins Spiel: Es gab ja auch mal eine Zeit, lebt. Das ist für mich eine flache Existenz. bevor wir geboren wurden – und dies emp Martha Nussbaum sagt: Als Menschen finden wir ja auch in keiner Weise als furcht sind wir zukunftsgerichtete Wesen. Wir füh einflößend. len nicht nur Freude und Schmerz, und die Güte eines Lebens berechnet sich nicht nur Also eher ein „gesunder Respekt“ vor aus der Nettosumme von Freude und Leid. dem Tod. Als Handelnde haben wir Pläne, Projekte. Wir Im Prinzip ja. Der Tod ist ein Übel, denn er leben in die Zukunft hinein. Ein Beispiel: Man nimmt uns das Leben, und das Leben ist et hat Kinder und will, dass es ihnen gut geht, was Gutes. Aber das war es dann auch schon. teilweise auch deswegen, weil man für sie da Er ist nichts Seltsames, Unbegreifliches, Un ist und Zeit mit ihnen verbringt. Oder man heimliches. Und unsere Konsequenz daraus verfolgt ein Projekt, das einem wichtig ist – sollte vielmehr sein: Wenn unser Leben end das Teil der eigenen Identität ist. lich ist, dann leben wir es doch so gut wie Der Tod bedroht diese Projekte. Er be möglich. Wir sollten rational mit dem Tod droht uns, weil wir zukunftsgerichtete umgehen als etwas, was zwar zu vermeiden Wesen sind, die nicht einfach in den Tag ist, aber nicht at all costs – nicht auf Kosten hineinleben. Weil wir unser Leben zukunfts eines gut gelebten Lebens. gerichtet leben, ist der Tod ein Übel, das zu Recht gefürchtet werden kann. Diese These Nicht auf Kosten des Lebens – können finde ich sehr überzeugend. wir Leben und Tod denn gegenrechnen? Was ich immer an Extrem-Bergsteigern be Dann ist es wichtig, dass wir den Tod wundere: Sie gehen offener mit dem Tod um. fürchten? Sie betrachten ihn als kalkuliertes Risiko. Die Grundannahme teile ich: Der Tod muss Sie fürchten den Tod ebenfalls – sie wollen ja eine Bedrohung bleiben, weil das ein siche nicht sterben. Aber sie fürchten ihn nicht als res Anzeichen dafür ist, dass unser Leben ein absolutes Übel. Es wäre für sie auch ein gut und lebenswert ist. Wenn er wirklich Übel, nicht auf den Berg zu klettern. keine Bedrohung mehr ist, ist unser Leben Das muss die Grundidee sein: Das vielleicht gar nicht mehr so lebenswert. schlimmste Übel wäre, dass wir das kurze Aber: Diese tiefe Furcht vor dem Tod, oder Leben, das wir haben, nicht so leben, wie wir dass man ihn als etwas Unheimliches emp es eigentlich möchten. Man muss dafür na findet, finde ich falsch. Es gibt Menschen, türlich nicht gleich auf Berge klettern oder die einen absoluten Terror verspüren, wenn unnötige Risiken eingehen. 26
Umgang mit dem Tod Wie sähe eine Gesellschaft aus, die ratio- man noch ein paar Monate Lebenszeit her naler mit dem Tod umginge? ausholt. Wenn hier ein Umdenken stattfin Einer der wichtigsten Bereiche ist für mich, den würde, könnte die Medizin noch mehr wie unsere Medizin mit dem Tod umgeht. für den Menschen tun. Eine Gesellschaft, die offener mit dem Tod umgehen würde, wäre zum Beispiel der Ster Geht es letzten Endes um Selbstbestim- behilfe gegenüber weniger abgeneigt. mung? Um das Recht, für sich selbst zu Das Thema Sterbehilfe kommt immer noch entscheiden, wie wir leben möchten – mit einem Stigma, was ich falsch finde. Eine und wann wir nicht mehr leben wollen? Person wird häufig nur deshalb, weil sie die Autonomie und Selbstbestimmung sind für Sterbehilfe wählt, als verwirrt oder nicht zu mich grundlegend, ja. Da gehört für mich mit rechnungsfähig betrachtet. Dabei kann es dazu, dass wir grundsätzlich die Annahme durchaus vernünftig sein, wenn eine schwer treffen, dass jemand zurechnungsfähig ist. kranke Person sich sagt: Ich möchte unter Auch wenn unsere Meinung, was für diese den Bedingungen, die zu erwarten sind, Person gut ist, von ihrer eigenen abweicht. nicht mehr leben. Wir haben unterschiedliche Vorstellungen davon, was wichtig ist im Leben. Das gilt es Selbst in der Medizin ist der Tod also in zu respektieren – auch bei Abwägungen hin gewisser Weise ein Tabu? sichtlich des Todes. Wenn der Tod ins Spiel Wir haben in der Medizin eine ungute kommt, dann kommt heute leider immer Grundannahme, dass es um unbedingte Le schnell auch der Paternalismus daher, und es bensverlängerung geht. Wenn etwas getan wird über die Köpfe anderer Menschen hin werden kann, was unser Leben verlängert, weg entschieden. Wie eben bei der Sterbehil dann wird das grundsätzlich auch getan. fe: Wir sollten nicht für andere bestimmen, Man braucht sehr gute Gründe, dass ein Arzt dass sie ihr Leben maximal zu verlängern nicht diese maximal lebensverlängernde haben, nur weil uns das ein gutes Gefühl gibt. Maßnahme wählt. Wir müssen offener über den Tod spre Das scheint mir in vielen Fällen verfehlt: chen. Dann können wir auch diese schwie Im Endeffekt geht es doch um Lebensquali rigen Abwägungen mit kühlerem Kopf und tät. Wir sind in der Medizin zu wenig offen, zugleich menschenfreundlicher treffen. dass bestimmte Interventionen die Lebens Das Gespräch führte Jürgen Graf. qualität zu arg beeinträchtigen, auch wenn Susanne Burri ist Juniorprofessorin für Praktische Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der politischen Philosophie und der Sozialphilosophie an der Universität Konstanz. Zu ihren Forschungs- schwerpunkten zählen die normative Ethik und die Philosophie des Todes. 27
Ethnologie Zeit macht den Unterschied Wenn Länder des Globalen Südens einander helfen, kennen sie die Ausgangslagen besser, weil sie denen im eigenen Land ähneln, und begegnen sich auf Augenhöhe. So die Theorie, die die Ethnologin Maria Lidola am „Mehr-Ärzte-für-Brasilien-Programm“ überprüft. 28
Die Ethnologin Maria Lidola arbeitet als wis- senschaftliche Mitarbeiterin für Lehraufgaben (Lecturer) zu den Schwerpunkten „Migration und Transnationalismus“ und „Ethnographische Methoden“ an der Universität Konstanz. Nach ihrer Promotion an der FU Berlin war sie Gastwissen- schaftlerin an der Bundesuniversität Rio de Janeiro (UFRJ) in Brasilien. Ihre aktuellen Forschungen über Süd-Süd-Beziehungen, gerade in humanitä- ren und medizinischen Settings, gehören einem noch kleinen, aber wachsenden Forschungsfeld in der Ethnologie an. Im August 2013 landet die erste Delegation ein linkes Projekt der Regierung zur kom von Ärzt*innen aus Kuba in Brasilien als Teil munistischen Unterwanderung Brasiliens. des „Mehr-Ärzte-für-Brasilien-Programms“. Die Professionalität der Ärzt*innen wird in Dieses hat die brasilianische Regierung ein Frage gestellt: Wie könne es sein, dass so ein geführt, um den Notstand im öffentlichen kleines Land wie Kuba so viele Ärzt*innen Gesundheitssektor zu lindern; insbesondere hervorbringe, um sie nach Brasilien senden kubanische Mediziner*innen sollen in den zu können? Diese Inhalte werden auch über nächsten Jahren unterstützen. Doch brasili Memes, satirische Bilder, auf Social Media anische Ärzt*innen begrüßen die Kolleg*in verbreitet, die von den mittleren und unte nen aus Kuba, darunter viele nicht-weißer ren Bevölkerungs-Schichten stark konsu Hautfarbe, mit Buhrufen. Viele werfen den miert werden. Neuankömmlingen diskriminierende und Viele in der brasilianischen Ärzteschaft, rassistische Äußerungen entgegen. Das die sich weitgehend im privaten Sektor loka Bild geht in den brasilianischen Medien vi lisiert oder in Mittelschichtsgegenden tätig ral. „Für mich war das ein einschneidender ist, stützen diese Darstellungen. Dabei sind Moment“, sagt Ethnologin Maria Lidola, „der sie selbst nicht bereit, im schlecht bezahlten, mich dazu bewegt hat, mich mit diesem Pro desolaten öffentlichen Gesundheitssektor zu gramm und seiner Umsetzung vor Ort aus arbeiten. In den Familienkliniken weigern einanderzusetzen.“ sich einige Patient*innen, sich von „schwar Viele der kubanischen Ärzt*innen haben zen“ Ärzt*innen untersuchen zu lassen. Eine bereits einschlägige Erfahrung in interna kubanische Ärztin beschreibt diese für sie tionalen Missionen gesammelt. Die medizi schmerzhafte Erfahrung: „Ich hätte nie ge nische Unterstützung für Regionen in Not dacht, dass jemand von mir nicht behandelt ist bis heute eine Art Aushängeschild der ku werden möchte, der die gleiche Hautfarbe banischen Regierung – humanitär motiviert, wie ich hat. Ich bin doch eine Ärztin wie alle aber auch aus politischen, wirtschaftlichen anderen auch.“ und nicht zuletzt ideologischen Gründen. Obwohl ihnen auch andernorts politischer Forschungsaufenthalt Gegenwind entgegenwehte, glauben viele der Ankommenden, dass in den brasiliani in aufgeheiztem Klima schen Einsatzgebieten Rassismus kein The ma sei, zumindest dort, wo Menschen hilfs In diesem aufgeheizten Klima tritt Maria bedürftig sind. Brasilien hat nach außen Lidola 2014 ihren ersten Forschungsaufent lange den Mythos einer „Rassendemokratie“ halt in Rio de Janeiro an. In zwei Favelas mit gepflegt. Weit gefehlt. den dortigen Familienkliniken begleitet sie Es kommt zu heftigen Diskussionen in die kubanischen Ärzt*innen und das bra konservativen Mediensendern, die sehr prä silianische Personal in ihrem Alltag, führt sent in Brasilien sind. Dem „Mehr-Ärzte-für- zahlreiche Interviews und arbeitet mit teil Brasilien-Programm“ wird unterstellt, es sei nehmender Beobachtung. „In diesem sehr 29
Ethnologie politisierten Kontext war es eine große He Einsätze vor Ort sind belastend rausforderung, Vertrauen aufzubauen. Im und nicht ungefährlich merhin fand ich als Außenstehende einen besseren Zugang zu den Kubaner*innen, zumal ich aus Ost-Deutschland komme und Zweimal pro Woche brechen die kubanischen eine Mama habe, die noch in der DDR im Mediziner*innen von den am Rande der Fave Gesundheitswesen als Krankenpflegerin ge la gelegenen Familienkliniken auf, um Haus arbeitet hat“, erzählt die Wissenschaftlerin. besuche zu machen und dadurch ihr Viertel Anfangs stellt sie ein allgemeines Unbe und seine Bewohner*innen kennenzulernen. hagen der Bevölkerung gegenüber den Ku „Der Schritt in die Favela hinein bedeutet, sich baner*innen fest. Anders als erwartet seien erst mal mit den sehr heterogenen sozialen Süd-Süd-Kooperationen nicht nur von mehr Realitäten dort auseinanderzusetzen“, meint Verständnis für die medizinischen Notstän Lidola. So setzen sie den präventiven Ansatz de geprägt, sondern auch von Vorurteilen. der Familienmedizin um, die Familien auch „Die kubanischen Ärzt*innen hatten jedoch in ihrem sozio-ökologischen Umfeld – Wohn sehr schnell heraus, woran es in den Fami situation, sanitäre Einrichtungen, Hygiene – lienkliniken fehlte“, erklärt die Ethnologin, kennenzulernen. Auch etwas, wozu sich die „nämlich Zeit. So nahmen sie sich Zeit für brasilianischen Kolleg*innen keine Zeit neh ihre Patient*innen, was für diese eine neue men, zumal Einsätze vor Ort oft körperlich Erfahrung war. Zuvor hatten Ärzt*innen sie und emotional belastend und nicht immer nur kurz gesehen, kaum berührt, geschwei ungefährlich sind. ge denn etwas erklärt. Angesichts der über „Allein der Umstand, dass jemand zu ih lasteten Kapazitäten ging es den brasilia nen nach Hause kommt, zeigt den Patient*in nischen Ärzt*innen darum, möglichst viele nen: Da ist jemand da, der kümmert sich, Fälle in kurzer Zeit abzuarbeiten und Medi sorgt sich um dich. So wird ein Gefühl der kamente zu verschreiben.“ Wertschätzung vermittelt, das sie zuvor nicht Ärztlicher Hausbesuch in einer Favela in Rio de Janeiro © Maria Lidola 30
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