# 77 Frisch draufgeschaut - KOPS Uni Konstanz

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das Magazin der Universität Konstanz
Oktober 2022
– uni.kn/unikon

                                                                # 77
       Müssen wir                                                                                                Zeit macht
    den Tod fürchten?
    Ein Interview über verdrängte Furcht,    draufgeschaut     Frisch                                          den Unterschied
                                                                                                              Wenn Länder des Globalen Südens
          zukunftsgerichtete Wesen                                                                               einander helfen, begegnen sie
      und ein selbstbestimmtes Leben.                                                                         sich auf Augenhöhe. So die Theorie.

                                                    Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS)
                                            URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-2-saz08j4pt8i41
Wintersemester
  2022/2023

  Studium
  Generale –
  Wissenschaft
  für alle

montags 18.15 –19.45 Uhr, Audimax und Livestream

31.10.2022                             28.11.2022                            16.01.2023
Lenin, Stalin … Putin. Führerregime:   Mythen und Realität über              Methanhydrate der Meeresböden,
Tradition und Bruch in der politi-     Mehrsprachigkeit                      Gefahren und/oder Potentiale für
schen Kultur Russlands                 Prof. Dr. Theo Marinis,               das Leben auf der Erde
Dr. Benno Ennker,                      Universität Konstanz                  Prof. Dr. Gerhard Bohrmann,
Universität Tübingen                                                         marum - Universität Bremen
                                       05.12.2022
07.11.2022                             Das rätselhafte Gewebe der            23.01.2023
Fleisch aus dem Labor: Eine            Wirklichkeit. An den Grenzen des      Ethik der Translationalen Medizin
gesunde Alternative ohne Tierleid?     Wissens und darüber hinaus.           Prof. Dr. Nicola Biller-Adorno,
Prof. Dr. Petra Kluger,                Prof. Dr. Gerd Ganteför,              Universität Zürich
Hochschule Reutlingen                  Universität Konstanz
                                                                             30.01.2023
14.11.2022                             12.12.2022                            Papillomviren, Gebärmutterhals-
Die Europäische Währungsunion in       Wann ist der Mann ein Mann?           krebs und Angelman-Syndrom
Krisenzeiten                           Geschlechterrollen in der englisch-   oder: Was wir von Viren über
Prof. Dr. Almuth Scholl,               sprachigen Literatur zum Ersten       Erkrankungen lernen können
Universität Konstanz                   Weltkrieg                             Prof. Dr. Martin Scheffner,
                                                                                                                          uni.kn · wwa-grafik · wwa-druck · Foto: © Inka Reiter · 9/2022

                                       Prof. Dr. Silvia Mergenthal,          Universität Konstanz
21.11.2022                             Universität Konstanz
Differenzierte Integration –
Chance und Herausforderung             09.01.2023
für die Europäische Union              Der Ort der Religion in einer
Prof. Dr. Dirk Leuffen,                offenen Gesellschaft
Universität Konstanz                   Reinhard Kardinal Marx,
                                       Kardinal von München und Freising

                                                                                               – uni.kn/studiumgenerale
# 77

    Frisch
draufgeschaut
(Computer-) Spiele als
            Forschungsobjekt
Für die Mitarbeiter*innen des GameLab gehört Spielen zum Arbeitsalltag:
Sie beschäftigen sich aus wissenschaftlichem Interesse mit Spielen,
Spielverhalten und Spielemechaniken.

GameLab – Seite 46

        Schule in den Zeiten der
          Augmented Reality                                                         Wie etwas, das
Johannes Huwer nimmt in seiner Didaktik-Forschung die Themenbereiche
                                                                                     es eigentlich
Digitalisierung und Nachhaltigkeit in den Fokus. Die Schüler*innen sollen
nicht nur mit digitalen Medien, sondern auch über digitale Medien lernen.
                                                                                     nicht geben
Fachdidaktik der Naturwissen­schaften – Seite 32
                                                                                     dürfte, neue
                                                                                    Möglichkeiten
                                                                                        schafft
                                                                                   Bei der Forschung zum kontrollierten
                                                                                   Kristallwachstum von Biomineralien
                                                                                   wurden in der Arbeitsgruppe von Helmut
                                                                                   Cölfen Pränukleationscluster entdeckt,
                                                                                   die klassisches Lehrbuchwissen
                                                                                   ergänzen und obendrein ganz neue
                                                                                   Wege eröffnen.

                                                                                   Physikalische Chemie – Seite 52

                                                                                     Mit Avataren
                                                                                    dem Charisma
                                                                                     auf der Spur
                 Testläufe für ein
                 besseres Leben                                                    Ein interdisziplinäres Projekt erforscht,
                                                                                   wie politisches Charisma bei Politi-
                                                                                   ker*innen mit gesellschaftlich margina-
                                                                                   lisiertem Hintergrund wahrgenommen
Für Anne Kwaschik ist die kurze Lebensdauer der frühsozialistischen                wird. Diese Gruppe mit niedrigem
Siedlungs­kommunen kein Beweis für ihr Scheitern. Im Gegenteil: Die Historikerin   Status ist in der Politik immer noch
betrachtet die gelebten Zukunftsentwürfe als Sozialexperimente.                    unterrepräsentiert.

Geschichte – Seite 7                                                               The Politics of In­equality – Seite 18
Schwerpunkt: Frisch draufgeschaut                     4
                                                            Online-
Für ein besseres Leben                                7     Version
Kunststoffe neu gedacht                              13
                                                          von uni’kon
                                                              #77
Dem Charisma auf der Spur                            18
                                                             unter:
Müssen wir den Tod fürchten?                         25

„Mehr-Ärzte-für-Brasilien-Programm“ im Test          28

Lernen mit Augmented Reality                         32

Sozialsysteme: Verteilungs- versus Effizienzfragen   38

Schwarmforschung in virtueller Umgebung              42
                                                          – uni.kn/broschueren/unikon/77

Spielend forschen                                    46

Werkstatt für Kreativprojekte                        50

Weiter geht’s im Netz                                51

Mit Pränukleationscluster gegen den Zahnbohrer       52

Im Schlaglicht                                       56

Personalia                                           58      Zum
                                                            Online-
Nachruf auf Friedrich Kambartel                      61
                                                           Magazin
Diversity: Power der Vielfalt                        62   campus.kn
Otl Aicher zum 100. Geburtstag                       65

VEUK zum 25. Geburtstag                              66

Ambivalenzen des Emeritus                            68

Impressum                                            72

                                                                 – uni.kn/campus
Schwerpunkt

        Frisch
    draufgeschaut
         Kunststoff nicht als Umweltbelastung,
     sondern als nachhaltiges Material verstehen.
           Die Siedlungskommunen der früh­
           sozialistischen Bewegung nicht als
     gescheiterte Projekte, sondern als Zukunfts­
          entwürfe betrachten. Charisma nicht
      als magische Fähigkeit, sondern als Status-
        abhängige Zuschreibung wahrnehmen.
       Den Tod nicht als das Nichts, vor dem wir
       uns fürchten müssen, sondern als nichts,
           vor dem wir uns fürchten müssen,
       begreifen. Oder einfach Lehrbuchwissen
         neu schreiben. Einen frischen Blick zu
      riskieren kann auch wissenschaftlich neue
            Gebiete erschließen. In uni’kon 77
         stellen wir beispielhaft Projekte an der
           Universität Konstanz vor, die neue
                  Sichtweisen eröffnen.
4
5
Geschichte

6
Ein besseres Leben

        Testläufe für
     ein besseres Leben
           Für Anne Kwaschik ist die kurze
 Lebensdauer der frühsozialistischen Siedlungs-
     kommunen kein Beweis für ihr Scheitern,
wie sie in der Geschichtswissenschaft mehrheitlich
   gedeutet wird. Im Gegenteil: Die Historikerin
  betrachtet die gelebten Zukunftsentwürfe als
                 Sozialexperimente.

    Es gibt Utopien, und es gibt das reale Leben.   Menschen, die von den 1830er bis 1860er
    Als die Frühsozialisten aus Lyon im Jahr 1846   Jahren diese genossenschaftlichen Gemein­
    mit ihren Vorstellungen von einem alternati­    schaften gründeten, wollten genau das: eine
    ven Leben und einer alternativen Form von       neue Gesellschaft, die auf bestimmten Prin­
    Gemeinschaft in Algerien ankamen, waren         zipien beruhte. Die Tatsache, dass sie ihre
    dort schon andere: arabische Stämme in          Vorstellungen auf einer Art Testgelände ver­
    ihren Zelten. Die Kolonisierung Algeriens       sachlichten und über die Schwächen in der
    durch Frankreich war noch keine zwei Jahr­      Umsetzung ausführlich diskutierten, spricht
    zehnte im Gange. Was geschah nach der An­       für Anne Kwaschik gegen die spätere Lesart,
    kunft der Fremden vor Ort? Wie lebten die       die mit Friedrich Engels begann: der „Utopie“
    beiden Gruppen zusammen? Was passierte          als abstrakter Idee, die in „reine Phantasie“
    mit der Utopie? Fragen, die Anne Kwaschik       abdrifte.
    interessieren.
       Interessant ist die Konstellation zunächst          Die Kommunen waren
    auch in begrifflicher Hinsicht. „Utopie“ be­
    deutet im Altgriechischen so viel wie „kein             Sozialexperimente
    Ort“. Seit Thomas Mores Roman „Utopia“
    von 1516 meint eine Utopie eine Gesellschaft,   Die Professorin für Wissensgeschichte setzt
    die durch ideale soziale, religiöse und wirt­   dem ihren Forschungsansatz entgegen:
    schaftliche Beziehungen definiert ist. Die      Diese frühsozialistischen Siedlungsprojekte –

                                                                                                      7
Geschichte

         Kommunen, wie sie auch aus den 1970er            in der Nähe der Küstenstadt Oran dient ihr
         Jahren bekannt sind – waren Sozialexperi­        als gutes Beispiel, um neue Wissenssysteme
         mente im Rahmen eines wissenschaftlichen         zwischen den Vertreterinnen und Vertretern
         Reformprogramms, die vielerorts über den         des neuen Denkens und ihrer kolonialen Um­
         Globus verteilt stattfanden. Dabei interessie­   welt bzw. die Beziehungen zwischen Europä­
         ren Anne Kwaschik insbesondere die Grün­         er*innen und Araber*innen zu untersuchen.
         dungen in Algerien, Neukaledonien und
         Lateinamerika. Im Untersuchungsabschnitt         Die Organisationsform war eine
         zu Algerien gehen diese Experimente einher
         mit der Kolonialisierung Algeriens durch               Aktiengesellschaft
         Frankreich. Kolonien boten die Infrastruktu­
         ren und eine Arena, um die neuen Theorien        Die Französinnen und Franzosen, die in
         der sozialen Organisation zu erproben.           Nordafrika ankamen, hatten zum Teil zu
            Die Siedlungen testeten damit nicht nur       Hause eine gediegene gesellschaftliche Stel­
         eine neue Gesellschaftsordnung aus, son­         lung. Ärzte und Rechtsanwälte waren dar­
         dern gleichzeitig auch alternative Formen        unter, die sich in einer Art Aktiengesellschaft
         der Kolonisierung. Die Mitglieder hatten eine    organisiert hatten. Jedes Mitglied besaß An­
         Mission und waren überzeugt, dass ihr Ver­       teile, und die Satzung legte fest, wie hoch die
         ständnis von Kolonialismus besser sei als die    Aktienanteile für eine Mitgliedschaft sein
         vom französischen Staat ausgeübte Form.          mussten – nicht sehr hoch, um die Arbeiter­
         Nicht perfekt, aber besser.                      schaft nicht auszuschließen. Mit dem Geld
         Anne Kwaschik zeigt am Beispiel der 1846         kauften sie beim französischen Kriegsminis­
         gegründeten landwirtschaftlichen Sied­           terium das Land in Algerien.
         lungsgemeinschaft von Saint-Denis-Du-Sig,            Da kamen sie also an mit ihren neuen
         wie die Ideen einer neuen Lebensform in          Vorstellungen von einer Gesellschaftsord­
         die Praxis umgesetzt wurden. Die Siedlung        nung, die das Privateigentum ablehnte und

                                                                                                            Das Familistère ist
                                                                                                            ein Gebäudekomplex
                                                                                                            aus der Mitte des 19.
                                                                                                            Jahrhunderts, der von
                                                                                                            dem Fabrikanten Jean-
                                                                                                            Baptiste André Godin
                                                                                                            für seine Arbeiter
                                                                                                            und ihre Familien in
                                                                                                            Guise (Nordfrankreich)
                                                                                                            gebaut wurde. Godin
                                                                                                            war ein Anhänger
                                                                                                            von Charles Fouriers
                                                                                                            Theorien zu Produkti-
                                                                                                            ons- und Wohngenos-
                                                                                                            senschaften. Das hier
                                                                                                            abgebildete Haupt-
                                                                                                            gebäude folgt Fouriers
                                                                                                            Entwürfen für einen
                                                                                                            Sozialpalast. Es wurde
                                                                                                            seit 1865 bewohnt und
                                                                                                            gilt als einzigartiges
                                                                                                            Zeugnis der Um-
                                                                                                            setzung der sozialen
                                                                                                            Utopien und einer
                                                                                                            der ersten sozialen
                                                                                                            Wohnungsbauten der
                                                                                                            Moderne.
                                                                                                            © Kwaschik

8
Ein besseres Leben

die Gleichberechtigung der Frauen, die freie      Franzosen das Leben der algerischen Frauen
Liebe und die vergemeinschafteten Formen          erleichtern, die traditionell für das Kornmah­
des sozialen Lebens befürworteten. „Für die­      len zuständig waren.
se Mikro-Geschichten vor Ort gibt es gute
Quellen, wenn man danach sucht“, sagt die                     Lokales Wissen
Historikerin. Die Neuankömmlinge beschlos­
sen, die ansässigen arabischen Stämme                           war wichtig
nicht zu vertreiben, „weil es ihrer Vorstellung
von einer modernen Gesellschaftsordnung           Der Wissenstransfer funktionierte aber auch
widersprach. Sie haben ihnen zu einem ge­         umgekehrt. Die arabischen Bauern bearbei­
ringen Preis Land verpachtet und hielten das      teten ihre Felder mit einem einfachen Holz­
für fortschrittlich.“                             pflug, der nicht so tief pflügte, wie die teuren
    Gleichzeitig waren die Siedler natür­         Metallpflüge aus Frankreich. Die Neuen, die
lich überzeugt von der Höherwertigkeit der        ohnehin wenig Ahnung von Landwirtschaft
europäischen Kultur: Sie wollten die Einhei­      hatten, waren bereit dazuzulernen. Sie taten
mischen „zivilisieren“. Kinder sollten in die     es den Einheimischen gleich und stornierten
Schule gehen, die Stämme sollten sesshaft         die Bestellung der Hightech-Gerätschaft.
werden, Brunnen graben und Bäume pflan­               Die Geschichtswissenschaft hat sich in
zen. Und: Vielleicht könnte man danach in         der Vergangenheit wenig für diese zeitlich
einem nächsten Schritt auch über die Reali­       und örtlich begrenzten Phänomene interes­
sierung des gemeinschaftlichen Eigentums          siert. Zumal die Experimente unterm Strich
nachdenken?                                       auch nicht von großem Erfolg gekrönt wa­
    Insbesondere lag den Kommunen die             ren. „Das kann man so sehen“, sagt Anne
Verbesserung der Stellung der Frauen am           Kwaschik, „andererseits kann man aber auch
Herzen. Anne Kwaschik: „Die Anhänger              fragen, was bedeutet Erfolg als Kriterium
von Charles Fourier, dem französischen So­        für Geschichtswissenschaft? Woran lässt er
zialtheoretiker, waren der Meinung, dass          sich überhaupt messen? Auf diesen kleinen
die Stellung, die die Frau in der Gesellschaft    Flächen wurden die Themen definiert, die
einnimmt, etwas darüber aussagt, wie fort­        später in der Geschichte der Moderne wich­
schrittlich diese Gesellschaft ist.“ So waren     tig wurden: neue Besitzverhältnisse, die De­
diese frühsozialistisch inspirierten Einge­       finition von Arbeit und die Organisation von
wanderten von Saint-Denis-Du-Sig beispiels­       Freizeit, neue Formen des Zusammenlebens
weise stolz darauf, dass die einheimische         und die Auslotung des Verhältnisses von
Bevölkerung die Mühle annahm, die sie kurz        Individuum und Kollektiv, Emanzipation
nach ihrer Ankunft bauten. So konnten die         von Mann und Frau und die Bedeutung von

                                                                                                       9
Geschichte

                                                                                    Der Frühsozialist Charles Fourier
                                                                                    plante einen Sozialpalast, in dem die
                                                                                    Wege so angelegt werden sollten,
                                                                                    dass sich die Bewohner*innen immer
                                                                                    begegnen müssten. Der Gedanke
                                                                                    dahinter: Wenn sich die Menschen
                                                                                    öfter über den Weg laufen, wirken die
                                                                                    Gesetze des Kapitalismus nicht mehr
                                                                                    so stark. Auf dem Bild steht Anne
                                                                                    Kwaschik im Foyer der Universität
                                                                                    Konstanz, das ebenfalls als Begeg-
                                                                                    nungsstätte konzipiert ist, in der die
                                                                                    Universitätsmitglieder auf dem Weg
                                                                                    zur Mensa zusammentreffen.

                                                                                    Anne Kwaschik forscht aktuell zur
                                                                                    Verwissenschaftlichung des Kolonia-
                                                                                    len im 19. und 20. Jahrhundert und
                                                                                    zur Geschichte von Gesellschafts-
                                                                                    experimenten und Gegenwartsdiag-
                                                                                    nostik seit 1800. Sie ist Präsidentin
                                                                                    des Deutsch-Französischen Histori-
                                                                                    kerkomitees.

         Sexualität, Vorstellungen von sozialen Wis­    sen. Der Autor Hawthorne war Gründungs­
         senschaften und ihrer Verbindung zum           mitglied der Brook Farm.
         Leben.“                                           Neben den Statuten, die sich die Gemein­
             Nicht erst in den Kommunen der 1970er      schaften gaben, und Jahresberichten mit
         Jahren kehrten solche Lebensformen wie­        den Einnahmen und Ausgaben, sind die
         der. Die Zukunftsentwürfe der frühsozia­       Theorie-Diskussionen, zu denen Berichte
         listischen Bewegung zeigten bereits unter      vorliegen, aber auch theoretische Schriften
         den Zeitgenossen Wirkung. Die dem neuen        wichtige Quellen für Anne Kwaschik. „Pol­
         Gemeinschaftsmodell zugrundeliegende           nische Unabhängigkeitskämpfer oder belgi­
         Ideen, die auf die frühen sozialistischen      sche Feministinnen engagierten sich in die­
         Denker Robert Owen, Henri de Saint-Simon       sem Milieu und formulierten Fouriers Ideen
         und Charles Fourier zurückgehen, wurden        um, damit sie besser verständlich wurden
         – angereichert durch die Erfahrung in den      und als Handlungsanweisung unter die
         Siedlungen – zurück nach Europa getragen.      Leute gebracht werden konnten. Zahlreiche
         Dort wurden sie in Salons und Abendver­        Übersetzungen und Propagandabroschüren
         anstaltungen verbreitet. Sie beeinflussten     wurden in diesen internationalen Netzwer­
         Marx und Engels und waren für die Genos­       ken produziert.“ Die intellektuellen Einflüsse
         senschaftsbewegung maßgeblich. Auch die        sind weitreichend: Selbst einzelne Militärs
         Entstehung sozialwissenschaftlicher Diszi­     unterstützten die Kolonisierung Algeriens
         plinen ist von frühsozialistischen Denkfigu­   nach dem Vorbild der kleinen Siedlungsge­
         ren geprägt.                                   meinschaft.
                                                           Auch die Einflüsse der Umwelt spielten
             Die Brook Farm war Vorbild für             für die Kommunen eine große Rolle. Die Na­
                                                        tur und mit ihr alternative Medizin in Form
               „The Blithedale Romance“                 von Studios für Magnetismus oder Homöo­
                                                        pathie standen damals hoch im Kurs, eben­
         Die Brook Farm, eine Kommune in den USA,       so wie spiritualistische Erfahrungen. Die
         brachte es sogar zum Vorbild für einen Ro­     Theorieentwürfe Fouriers selbst wurde von
         man. „The Blithedale Romance“ von Natha­       der Außenwelt weitgehend abgelehnt, nicht
         niel Hawthorne, 1852 erschienen, themati­      so die praktische Umsetzung. „Dass man
         siert die Konflikte der Menschen zwischen      Einkommen und Ausgaben teilt, Arbeit neu
         ihren Idealen und ihren privaten Bedürfnis­    regelt, galt als extrem fortschrittlich und spä­

10
Ein besseres Leben

ter auch als realistischer als kommunistische     großen Einfluss. Und Theodor Herzl hat sie
Vorstellungen“, berichtet die Hstorikerin.        für seine Kibbuzim rezipiert. Scheitern sieht
„Was aber als absolut verrückt galt, war die      anders aus.
Frauenemanzipation. Das wissen wir aus den            Für die Aktivistinnen und Aktivisten im
Reaktionen auf frühe Vorträge der Fourieris­      19. Jahrhundert war Scheitern ohnehin kein
ten: Die Gleichberechtigung der Frau skanda­      Thema. Ihre Einstellung war experimentell.
lisierte die Öffentlichkeit zunächst mehr als     Sie waren sich sicher, dass sie mit der Um­
die Abschaffung des Privateigentums.“             setzung einer Kommune, egal wie vorläu­
    Tatsächlich sah der Alltag, was die Gleich­   fig diese war, die generelle Machbarkeit der
berechtigung der Frauen betraf, nicht ganz        Theorie beweisen würden. Denn dass sich
so utopisch aus. Immerhin aber sind Quellen       die Theorie nicht eins zu eins umsetzen ließ,
überliefert, dass Frauen und Männer in den        war eigentlich von Anfang an klar. Genau
Kommunen doch anders miteinander um­              hier sollte die Umsetzung ja offene Punkte
gegangen seien als im Rest der Gesellschaft.      oder Schwächen offenlegen.
„Und es ist selbstverständlich auch nicht so,         „Das ist ein wichtiger Punkt: Die Praxis
dass um 1840 in den Siedlungen die freie Lie­     sollte die Theorie korrigieren“, formuliert es
be praktiziert worden wäre“, so Kwaschik.         Anne Kwaschik, die noch etwas anderes an
                                                  den Menschen von Saint-Denis-Du-Sig fas­
  „Die neue Welt der Liebe“                       ziniert: „der Elan und die Energie, den eige­
                                                  nen Wohlstand und die eigene Gesellschaft
 wurde erst im 20. Jahrhundert                    zu verlassen, dahin zu gehen, wo es stickig
   zur Kenntnis genommen                          und heiß ist, wo Krieg und Krankheiten herr­
                                                  schen, um eine neue Gesellschaftsordnung
Tatsächlich wurde Fouriers Schrift „Die neue      auszutesten.“
Welt der Liebe“ von den Anhängern auch zu­           msp.
rückgehalten und erst in der Zeit der neuen
Kommunen im 20. Jahrhundert zur Kennt­
nis genommen und in Teilen auch ins Deut­                         Weitere
sche übersetzt. Für die USA lassen sich aller­                 Informationen
dings konkrete Wege von den Siedlungen in
die Emanzipationsbewegung nachweisen.
„Blithedale Romance“ mit der emanzipier­
ten Protagonistin gehört zur Pflichtlektüre
in den USA.
    Anne Kwaschik ist dabei, eine „kleine
Weltkarte“ der global verteilten Kommu­
nen zu erstellen. Neben Nordafrika waren
die USA, Lateinamerika und Osteuropa sehr
wichtige Standorte. Auch im Habsburger
Reich hatten die Ideen vom neuen Menschen                           – t1p.de/hlc63

   „Was aber als absolut verrückt galt, war
          die Frauenemanzipation.
      Die Gleichberechtigung der Frau
      skandalisierte die Öffentlichkeit
   zunächst mehr als die Abschaffung des
              Privateigentums.“

                                              Anne Kwaschik                                         11
12
Eine starke Verbindung

   Kunststoffe neu
      gedacht:
 vom Rohstoff bis zum
      Recycling

Stefan Mecking, Professor für Chemische Material-
     wissenschaft, entwickelt und erforscht mit
 seiner Arbeitsgruppe am Fachbereich Chemie der
    Universität Konstanz katalytische Verfahren,
die auf mehreren Ebenen die Umweltverträglichkeit
             von Kunststoffen steigern.

    Die weltweite Kunststoffproduktion hat in      Vor allem geringe Herstellungskosten
    den vergangenen Jahrzehnten rasant zuge­       und Beständigkeit haben jedoch auch eine
    nommen, von 1,5 Millionen Tonnen im Jahr       Schattenseite. So haben Bilder von im Meer
    1950 auf über 360 Millionen Tonnen im          schwimmenden Plastiktüten und Müllber­
    Jahr 2020. Damit zählen Kunststoffe heute      gen aus Wegwerfartikeln zuletzt stark am
    zu den weltweit wichtigsten industriellen      Image des Werkstoffs gekratzt. Teils zu Un­
    Werkstoffen. Der Grund für diesen Sieges­      recht, denn in vielen Fällen sind Kunststoffe
    zug liegt auf der Hand: Kunststoffe sind       sogar die umweltverträglichere Wahl – bei­
    äußerst flexibel, nicht nur in ihrer Form,     spielsweise, wenn Kunststoffkomponenten
    sondern auch in ihren Materialeigenschaf­      in der Fahrzeugindustrie zu geringeren
    ten. Sie sind außerdem leicht, langlebig und   Fahrzeuggewichten und damit zu dauer­
    kostengünstig.                                 haft geringerem Energieverbrauch führen.

                                                                                                    13
Chemische Materialwissenschaft

                „Tatsächlich gibt es viele alltägliche
                   und technische Anwendungen,
                 in denen bei genauer Betrachtung
                    Kunststoffe die nachhaltigste
                           Lösung sind.“
                                               Stefan Mecking

         „Tatsächlich gibt es viele alltägliche und      sant, da ihnen auf diesem Weg neue Eigen­
         technische Anwendungen, in denen bei ge­        schaften verliehen werden können. „Leider
         nauer Betrachtung Kunststoffe die nachhal­      sind jedoch viele traditionelle Katalysato­
         tigste Lösung sind“, so Mecking.                ren für diesen Bereich extrem empfindlich
                                                         gegenüber polaren Reagenzien und werden
            Entwicklung katalytischer                    durch diese zerstört, anstatt sie umzusetzen“,
                                                         schildert Mecking eine grundlegende Her­
          Verfahren als Schlüsselschritt                 ausforderung.

         Zusammen mit seiner Arbeitsgruppe ver­
         folgt Mecking daher den Ansatz, die Kunst­
         stoffe selbst umweltverträglicher zu ma­
         chen, und zwar in sämtlichen Phasen ihres
         Lebenszyklus: von der Rohstoffgewinnung
         und Synthese bis zum Abbau oder Recycling.
         Einer der Schwerpunkte der Arbeitsgruppe
         liegt deshalb auf der Erforschung katalyti­
         scher Systeme zur Herstellung innovativer
         Kunststoffe. Ihre methodische Bandbreite
         beinhaltet sowohl grundlegende mechanis­
         tische Untersuchungen zum Verständnis der
         Systeme als auch die Herstellung und Entde­
         ckung von neuen Katalysatoren und deren
         Einsatz in der Materialerzeugung.
             „Wir interessieren uns vor allem dafür,
         Katalysatoren zu entwickeln oder zu entde­
         cken, die in der Lage sind, auch polare Rea­
         genzien umzusetzen“, präzisiert Mecking.
         Dazu muss man wissen, dass viele der in­
         dustriell wichtigen Kunststoffe, wie zum
         Beispiel Polyethylen (PE), ausschließlich aus
         langen Kohlenwasserstoffketten bestehen
         und daher unpolar sind – ein Grund, warum
         sie so reaktionsträge und langlebig sind. Die
         Einführung polarer Gruppen in derartige,
         unpolare Kunststoffe ist besonders interes­

14
Kunststoffe neu gedacht

                                Von besserer Abbau- und
                                    Rezyklierbarkeit

                           Und doch gelang der Arbeitsgruppe kürzlich
                           ein großer Erfolg in diese Richtung. So wur­
                           de ein katalytisches Verfahren entdeckt, das
                           den Einbau von kleinen Mengen hochreak­
                           tiven Kohlenmonoxids in PEs erlaubt. Dabei
                           entstehen sogenannte Ketogruppen. „Durch
                           die maßvolle Erzeugung dieser Ketogrup­
                           pen bleiben die vorteilhaften mechanischen
                           Eigenschaften von PE in dem modifizierten
                           Kunststoff erhalten, er erhält aber gleichzei­
                           tig neue wünschenswerte Eigenschaften“,
                           beschreibt Mecking. So ist der modifizierte
                           Kunststoff unter anderem photoabbaubar.
                           „Wir konnten im Labor beobachten, dass
                           unser Kunststoff unter künstlichem Son­
                           nenlicht langsam zerfällt. Würden Produkte
                           aus diesem Kunststoff also ungewollt in die
                           Natur gelangen, würden sie dort um ein Viel­
                           faches schneller verwittern als Produkte aus
                           herkömmlichem PE“, erklärt Mecking.
                                Besser wäre es natürlich, würden Kunst­
                           stoffe gar nicht erst den Weg in die Umwelt
                           finden, sondern effektiv recycelt werden.
                           Auch hier bieten die katalytischen Verfah­
                           ren der AG Mecking potentielle Ansätze, um
                           die teils noch schlechten Recyclingoptionen
                           von Kunststoffen zu verbessern. So gelang
Der chemisch recycel-
bare Kunststoff der AG
                           ihnen – ebenfalls durch den katalytisch kon­
Mecking eignet sich        trollierten Einbau funktioneller Gruppen in
gut für additive Verfah-   PE-artige Kunststoffe – ein weiterer Clou. In
ren wie den 3D-Druck.      diesem Fall fungieren die eingebauten Grup­
Hier wird eine Handy-
                           pen als chemische „Sollbruchstellen“, mithil­
hülle gedruckt.
© AG Mecking               fe derer Produkte aus dem Kunststoff nach
                           Ablauf ihres Lebenszyklus per chemischem
                           Recycling nahezu vollständig in ihre Aus­
                           gangsbausteine zurückzerlegt werden kön­
                           nen. „Auch hier war die genaue Einstellung
                           der Dichte an funktionellen Gruppen im
                           Kunststoff essentiell, um keine Kompromis­
                           se bei den Materialeigenschaften eingehen
                           zu müssen“, erläutert Stefan Mecking.
                                Auf diese Weise konnte ein weiterer mo­
                           difizierter Kunststoff hergestellt werden, der
                           dem Ausgangsmaterial nicht nur ebenbürtig
                           ist, sondern neben der neugewonnenen che­
                           mischen Rezyklierbarkeit – die deutlich effek­
                           tiver und energieeffizienter ist als bestehende
                           Verfahren für PE – noch weitere Vorteile hin­
                           zugewonnen hat. So eignet er sich zum Bei­
                           spiel gut für additive Fertigungsverfahren,

                                                                                               15
Chemische Materialwissenschaft

         wie den 3D-Druck. „Natürlich geht es uns         gewünschte chemische Reaktion bewirkt.
         bei unserer Forschung nicht nur darum, die       Dieses Erweitern der natürlichen Zellma­
         Umweltverträglichkeit von Kunststoffen zu        schinerie ist einer von verschiedenen Bioraf­
         verbessern. Wir möchten auch weitere Ma­         finerie-Ansätzen, welche wir verfolgen, um
         terialeigenschaften erreichen, sei es wie hier   auch die für die Synthese von Kunststoffen
         die Eignung für additive Verfahren oder – als    benötigten Bausteine nachhaltiger zu gewin­
         weiteres Beispiel – die Kompatibilität mit an­   nen“, berichtet Mecking.
         deren Materialien“, so Mecking.                     ds.

                     Bioraffinerien
                    und Mikroalgen

         Entwickelt hat die AG Mecking ihr chemi­
         sches Recycling-Verfahren an PE-artigen
         Kunststoffen auf Basis nachwachsender Fet­
         te und Öle statt Erdöl – auf lange Sicht ein
         weiterer wichtiger Schritt in Richtung inno­
         vativer, zukunftsträchtiger Kunststoffe. Neue               Weitergehende
         katalytische Ansätze könnten hierbei auch                   Informationen
         die Verwendung von Abfallfetten oder Al­
         genölen als Rohstoff ermöglichen. „Ähnlich
         wie höhere Pflanzen betreiben viele Algen
         Photosynthese. Sie nutzen also Sonnenlicht
         als Energiequelle für die Synthese komple­
         xer Kohlenstoffverbindungen aus atmo­
         sphärischem Kohlenstoffdioxid“, erläutert
         Mecking. Nachwachsende Fette und Öle auf
         Algen-Basis bergen deshalb das Potential zur
         emissionsarmen Produktion von Bausteinen
         für Kunststoffe und Chemikalien. Anstatt                         – t1p.de/4zu2d
         aber solche Rohstoffe als Erdöl-Ersatz für
         herkömmliche petrochemische Raffinerien
         einzusetzen, sind neue, maßgeschneiderte
         katalytische Ansätze wünschenswert.
             „Um die Raffinierung nachwachsender
         Rohstoffe effizienter zu gestalten, wäre ein
         möglicher Ansatz, die in der chemischen
         Industrie benötigten Bausteine oder Che­                       Video des
         mikalien direkt in der Quelle selbst zu er­               Forschungsprojekts
         zeugen und sie dann schonend aus dieser zu
         extrahieren“, so Mecking. Gerade ist seiner
         Gruppe erstmalig ein wichtiger Meilenstein
         in Richtung solcher lebenden Bioraffinerien
         gelungen: Durch das Einschleusen eines Ka­
         talysators für eine industriell hochrelevante
         chemische Reaktion – die Olefinmetathese –
         in die Lipidspeicher von Mikroalgen konnten
         sie das natürliche Synthesespektrum dieser
         einzelligen Organismen künstlich erwei­
         tern. „Tatsächlich konnten wir nachweisen,                        – t1p.de/er8tf

         dass unser Katalysator im Lipidspeicher der
         Algen trotz der chemisch hochkomplexen
         Umgebung stabil bleibt und die von uns

16
Stefan Mecking ist
seit 2004 Professor für
Chemische Material-
wissenschaft am Fach-
bereich Chemie der
Universität Konstanz.
Er erforscht mit seiner
Arbeitsgruppe kata-
lytische Verfahren, die
auf mehreren Ebenen
die Umweltverträglich-
keit von Kunststoffen
steigern.

                          „Wir konnten im Labor beobachten, dass
                            unser Kunststoff unter künstlichem
                           Sonnenlicht langsam zerfällt. Würden
                               Produkte aus diesem Kunststoff
                            also ungewollt in die Natur gelangen,
                             würden sie dort um ein Vielfaches
                           schneller verwittern als Produkte aus
                                herkömmlichem Polyethylen.“
                                          Stefan Mecking

                                                                    17
The Politics of In­equality

                      Mit
                    Avataren
                      dem
                    Charisma
                      auf
                    der Spur
     Ein interdisziplinäres Projekt erforscht, wie
       politisches Charisma bei Politiker*innen
  mit gesellschaftlich mar­ginalisiertem Hintergrund
                 wahrgenommen wird.

18
Charisma

Bei den Avataren lassen sich einzelne Aspekte wie die Hautfarbe verändern.
Quelle: Unreal® Engine, © 1998-2022, Epic Games, Inc. All rights reserved.

                                                                      19
The Politics of In­equality

           Über Charisma wird bislang vor allem          Politikwissenschaft wird Charisma gerne
           im amerikanischen Raum geforscht, in          als eine magische Fähigkeit beschrieben,
           Deutschland betritt das interdisziplinäre     Einfluss auf andere zu nehmen“, sagt So­
           Projekt „Wahrnehmungen von politischem        ziolinguistin Judit Vári. „In unserem Pro­
           Charisma bei Sprecher*innen mit niedrigem     jekt wollen wir jedoch von dieser Idee weg­
           Status“ noch weitgehend Neuland. Das mag      kommen und strukturell ein paar konkrete
           daran liegen, dass man hierzulande „Cha­      Puzzleteilchen finden, die wir isolieren
           risma“ auch historisch bedingt mit Skepsis    und testen können, um das Bild genauer
           begegnet und die Frage mitschwingt: Gibt es   zu zeichnen.“
           auch so etwas wie „böses“ Charisma?               Ein erstes Stimmungsbild darüber, wel­
                                                         che Eigenschaften charismatischen Men­
                      Was ist eigentlich                 schen zugeschrieben werden, holten die
                                                         Wissenschaftler*innen bei einer Umfrage
                        Charisma?                        in der Langen Nacht der Wissenschaft in
                                                         Konstanz ein. Charismatisch assoziierten
           Charisma wird abhängig von der Fachdis­       die teilnehmenden Besucher*innen mit „re­
           ziplin recht unterschiedlich definiert. Der   degewandt“, „kompetent“ und „wissend“,
           kleinste gemeinsame Nenner: Charisma er­      was Ergebnissen von angloamerikanischen
           zeugt bei uns den Glauben, dass die charis­   Studien ähnelt. „Da wir sehr offen gefragt
           matische Person eine gewisse Kompetenz        hatten, wurden auch neue Eigenschaften
           hat. Die oder der Charismatische schafft      genannt, insbesondere ‚authentisch‘, was in
           es, andere Menschen zu motivieren und         anderen Charisma-Studien keine Rolle spiel­
           ihre Handlungen zu beeinflussen. „In der      te“, erzählt die Wissenschaftlerin.

                                                         Von vielen als charismatisch wahrgenommen:
                                                         Barack Obama

20
Charisma

              „Kann es sein, dass sich
           Wahrnehmungen von Charisma
                bei Menschen mit
             unterschiedlichem Status
                 unterscheiden?“
                                          Judit Vári

Das vom Exzellenzcluster „The Politics of In­    len die Forschenden sowohl die bewussten
equality“ geförderte Projekt interessiert sich   Charisma-Zuschreibungen als auch die un­
besonders dafür, wie politisches Charisma        bewussten herausfinden. Und sie arbeiten
bei Politiker*innen mit gesellschaftlich mar­    dabei mit Stimuli, bei denen nur eine Stim­
ginalisiertem Hintergrund wahrgenommen           me gehört, nur ein Bild präsentiert oder bei­
wird. Denn diese Gruppe mit niedrigem            de kombiniert werden.
Status ist in der Politik immer noch unter­         Um herauszufinden, was Menschen be­
repräsentiert. Frauen beispielsweise oder        wusst denken und fühlen, erhalten die Teil­
Menschen mit einer anderen sozialen oder         nehmenden Fragebögen und bekommen
ethnischen Herkunft als die Mehrheitsge­         genügend Zeit, um diese auszufüllen. „Die
sellschaft kommen unverhältnismäßig sel­         unbewussten Wahrnehmungen ermitteln
ten oder nur in bestimmten Funktionen vor.       wir anhand von Experimenten, die von
„Ein paar Studien untersuchen Charisma           den Teilnehmern nicht beeinflusst werden
in Verbindung mit Wahlergebnissen. Wir           können. Welche Verbindungen oder Asso­
fragen jetzt weiter: Kann es sein, dass sich     ziationen im Kopf bestehen, können wir
Wahrnehmungen von Charisma bei Men­              uns dabei über sehr kurze Reaktionszeiten
schen mit unterschiedlichem Status unter­        herleiten“, erklärt Vári und fährt fort: „So
scheiden? Dies könnte eventuell zu diesen        können Antworten, die von der sozialen Er­
Unterrepräsentationen führen“, meint Vári.       wünschtheit gesteuert werden, herausgefil­
                                                 tert werden.“
       Wie findet man mehr                          Die äußere Erscheinung, so weiß man
                                                 aus Studien, spielt bei Charisma-Wahrneh­
      über Charisma heraus?                      mung generell eine große Rolle. Damit das
                                                 Projekt-Team einzelne Puzzleteile isolieren
Mit Projektleiterin Tamara Rathcke und           kann, verwendet es keine echten Personen
Judit Vári, beide Soziolinguistinnen, sowie      in den Experimenten, sondern Avatare.
Diego Frassinelli, spezialisiert auf KI in der   Hier bringt Duangkamol Srismith Kompe­
Computerlinguistik, ist es ein schwerpunkt­      tenzen aus der kognitiven Psychologie ein,
mäßig sprachwissenschaftliches Projekt.          wenn sie zusammen mit dem Informatiker
Sein Aufbau ist so ehrgeizig wie komplex:        Stephan Streuber die Avatare entwirft.
Drei Arten von niedrigerem Status werden         Diese sollen nicht nur natürlich aussehen,
untersucht, hinsichtlich sozioökonomischem       sondern sich auch naturecht animieren
(Klasse und Bildung) und ethnischem Hin­         lassen. Mithilfe der Avatare können die For­
tergrund sowie Geschlecht. Außerdem wol­         scher*innen einzelne Faktoren isolieren,

                                                                                                     21
The Politics of In­equality

           indem sie nur einen Aspekt wie die Haut­             benutzen die gleichen Wörter, werden jedoch
           farbe verändern. Sie können die Avatare              anders im Charisma eingeschätzt, weil eben
           auch androgyn gestalten, also männliche              Merkmale des niederen Status doch heraus­
           und weibliche biologische Merkmale ver­              zuhören sind.“
           schmelzen.
               Bei den auditiven Stimuli testet das Team                 Wer kommt wie
           Variationen im Akzent und Dialekt. Bei­
           spielsweise wird bei einer Rede ein regiona­                 beim Publikum an?
           ler Dialekt oder der Akzent eines Nicht-Mut­
           tersprachlers eingebaut. Menschen können             Doch auch die Zuhörerschaft selbst beein­
           erstaunlich viel aus einer Stimme heraus­            flusst, wie Charisma-Merkmale bewertet
           hören oder herleiten, etwa einen ethnischen          werden, was noch kaum erforscht ist. Das
           Hintergrund. In der Soziolinguistik spricht          Projekt-Team legt daher einen Schwer­
           man von „social profiling“. Die Sprechweise,         punkt auf Variationen im Publikum: Bei
           wie schnell, hoch oder tief gesprochen wird,         wem kommt jemand anderes als charisma­
           spielt hier ebenso herein wie Inhaltliches:          tisch an und wovon hängt das ab? Die Al­
           Wie viele emotionale Wörter benutze ich?             tersgruppe und ihre mediale Prägung kann
           Inwiefern beziehe ich den Zuhörer in meine           einen Unterschied machen, aber auch die
           Rede mit ein?                                        eigene politische Orientierung oder der so­
               Viel wird auch in eine Stimme hineinin­          zioökonomische Hintergrund inklusive Bil­
           terpretiert, weiß Vári, das jedoch in nachvoll­      dungsgrad. Die Wissenschaftlerin erwartet
           ziehbaren Mustern. Zum Beispiel höre sich            hier sozialpsychologische Effekte wie den
           ein regionaler Dialekt manchmal nicht ganz           der In- und Out-Group: Die eigenen Grup­
           so intelligent an wie Hochdeutsch. Sie sagt:         penzugehörigen werden tendenziell positi­
           „Uns interessiert besonders die Kombination          ver bewertet als die anderen. „Interessant
           der Elemente, ob dieses Charisma auch noch           wird es dann, wenn das nicht passiert oder
           gehört wird, wenn die Person anders aus­             wenn sich hier Unterschiede feststellen las­
           sieht. Und möglicherweise sprechen zwei              sen. Nehmen wir an, jemand spricht selbst
           Personen gleich schnell, gleich hoch oder tief,      bayerisch und findet den eigenen Dialekt

                 „Und möglicherweise sprechen
             zwei Personen gleich schnell, gleich hoch
                 oder tief, benutzen die gleichen
                Wörter, werden jedoch anders im
                   Charisma eingeschätzt, weil
               eben Merkmale des niederen Status
                    doch herauszuhören sind.“
                                                   Judit Vári

22
Charisma

Judit Vári arbeitet als Postdoc im Projekt „Wahrnehmungen von politischem Charisma bei Sprecher*innen mit
niedrigem Status“, das der Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ fördert. 2021 promovierte sie an der Bangor
University in Wales, Großbritannien, über die bewusste und unbewusste Wahrnehmung und Akzeptanz von
Sprecher*innen sprachlicher Varianten.

bei einem männlichen Politiker charisma­                       Wenn es um die eigene Einschätzung von
tisch, nicht aber bei einer weiblichen Politi­                 charismatischen Personen geht, lässt Judit
kerin“, so Vári.                                               Vári doch eher Skepsis walten. Sie gibt aber
    Damit nicht genug. Das Projekt wird in                     zu, dass sie ein ähnliches Votum wie die Be­
Deutschland und Großbritannien durchge­                        sucher*innen der Langen Nacht der Wissen­
führt und vergleicht die Ergebnisse. „Allein                   schaft getroffen hätte. Diese hatten Barack
schon wegen der unterschiedlichen Organi­                      Obama als charismatische öffentliche Per­
sation der politischen Systeme erwarten wir                    sönlichkeit am häufigsten genannt.
uns große Unterschiede. Die Wahrnehmung                            cmv.
der politischen Debatten läuft ja ganz anders
ab“, meint Vári und freut sich, Politikwissen­
schaftler Susumu Shikano mit im Boot zu
haben. Aufgrund des Ländervergleichs, zu­
mal jeweils verschiedene Dialekte einbezo­
gen werden, wird das Projekt-Team sehr vie­
le Teilnehmer*innen benötigen. Sie suchen
diese gerade auch außerhalb der Universität,
um eine möglichst vielfältig politisch orien­
tierte Zuhörerschaft abzudecken.

                                                                                                                          23
Praktische Philosophie

24
Umgang mit dem Tod

                    Müssen
                  wir den Tod
                   fürchten?
Die Philosophin Susanne Burri hinterfragt
      unseren Umgang mit dem Tod.
  Ein Interview über verdrängte Furcht,
    zukunftsgerichtete Wesen und ein
        selbstbestimmtes Leben.

   uni’kon: Geht unsere Gesellschaft ratio-      Schmerz sich darin findet und wie viel Freu­
   nal mit dem Tod um, Frau Burri?               de sich in diesem Leben „abzählen“ lässt. In
Susanne Burri: Wir verdrängen den Tod und        kurz: Je mehr Freude und gute Gefühle, je
unsere eigene Sterblichkeit zu sehr. Zwar sind   weniger Schmerz und negative Gefühle, des­
es nicht wirklich Tabuthemen, aber sie sind      to besser sei ein Leben.
nahe dran. Es ist immer noch seltsam, über
den Tod zu sprechen, und das kann nur scha­         Wie kommt der Tod in diese Gleichung
den. Wir müssen alle sterben – und wir sollten      hinein?
offener damit umgehen. Das kann wichtige         Der Tod ist das Ende unserer Existenz. Wenn
Vorteile bringen, gerade bei Themen wie der      man tot ist, kann man keinen Schmerz mehr
Sterbehilfe. Das Schlimmste am modernen          empfinden – zwar auch keine Freude, aber
Umgang mit dem Tod ist das Verdrängen.           eben auch keinen Schmerz. Nach Sicht der
                                                 Epikureer bedeutet das: Wenn wir nicht
    Müssen wir den Tod denn fürchten?            mehr existieren, kann uns auch kein Leid
Das ist eine Frage, mit der sich die alten       mehr befallen. Daher sei es irrational, wenn
Griechen – insbesondere die Epikureer – sehr     man sich vor dem Tod fürchte.
intensiv beschäftigt haben. Die Epikureer
waren überzeugt: Wenn wir uns der Angst             Trotzdem ist es für uns das Natürlichste
vor dem Tod stellen und uns fragen: „Wovor          auf der Welt, dass wir uns vor dem Tod
fürchten wir uns eigentlich?“ – dann ginge          fürchten – oder ihn zumindest vermei-
die Angst weg. Denn der Zustand, tot zu sein,       den wollen.
sei an sich nicht schlimm und der Tod damit      Deswegen habe ich begonnen, mich damit
nichts Bedrohliches.                             philosophisch zu befassen. Weil ich mit den
    Die Epikureer hatten eine hedonistische      Epikureern zwar grundsätzlich einig war,
Weltsicht. Das bedeutet: Für sie bemisst sich    dann aber fand: Mein eigenes Verhalten
die Qualität des Lebens danach, wie wenig        passt nicht zu dieser Meinung.

                                                                                                25
Praktische Philosophie

          Ich hatte ein ganz simples Aha-Erlebnis: Ich            „Das schauerlichste Übel also, der Tod,
          stand an einem Fußgängerstreifen, habe
                                                                              geht uns nichts an;
          nach links und rechts geschaut und dann
          überlegt: Wenn der Tod kein Übel ist – war­             denn solange wir existieren, ist der Tod
          um schaue ich dann nach links und rechts,                    nicht da, und wenn der Tod
          bevor ich über die Straße gehe?
                                                                     da ist, existieren wir nicht mehr.“
              Ich habe das dann natürlich sofort ratio­
          nalisiert: Klar, ich will keinen Unfall haben,
          ich will keine Schmerzen erleiden. Aber ich
                                                                               Epikur, 3. Jahrhundert v. Chr.
          fand: Das trifft den Kern nicht. Ich will, ehr­
          lich gesagt, insbesondere auch den Tod ver­
          meiden.
              Mittlerweile finde ich die Idee, dass der
          Tod nichts bedeute, fast unmöglich zu ak­
          zeptieren. Was daraus folgen würde, ist auch
          eine Entwertung des Lebens. Man nimmt             sie daran denken, dass sie irgendwann (und
          dem Tod seinen Stachel, aber nur, indem           bald!) nicht mehr existieren werden. Dass
          man das Leben wertlos macht – ihm seinen          man die eigene Nicht-Existenz als etwas
          Reiz nimmt.                                       sieht, das furchteinflößend ist, ist aus meiner
                                                            Sicht irrational, auch wenn das Gefühl vie­
              Warum entwertet es das Leben?                 le Menschen kennen. Denn: Ich bin dann ja
          Das Idealbild der Epikureer vom guten Le­         nicht mehr da, was fürchte ich dann also? Da
          ben ist die Seelenruhe (Ataraxie), dass man       kommt auch das Symmetrieargument von
          gleichmütig und sorgenlos in den Tag hinein       Lukrez ins Spiel: Es gab ja auch mal eine Zeit,
          lebt. Das ist für mich eine flache Existenz.      bevor wir geboren wurden – und dies emp­
              Martha Nussbaum sagt: Als Menschen            finden wir ja auch in keiner Weise als furcht­
          sind wir zukunftsgerichtete Wesen. Wir füh­       einflößend.
          len nicht nur Freude und Schmerz, und die
          Güte eines Lebens berechnet sich nicht nur            Also eher ein „gesunder Respekt“ vor
          aus der Nettosumme von Freude und Leid.               dem Tod.
          Als Handelnde haben wir Pläne, Projekte. Wir      Im Prinzip ja. Der Tod ist ein Übel, denn er
          leben in die Zukunft hinein. Ein Beispiel: Man    nimmt uns das Leben, und das Leben ist et­
          hat Kinder und will, dass es ihnen gut geht,      was Gutes. Aber das war es dann auch schon.
          teilweise auch deswegen, weil man für sie da      Er ist nichts Seltsames, Unbegreifliches, Un­
          ist und Zeit mit ihnen verbringt. Oder man        heimliches. Und unsere Konsequenz daraus
          verfolgt ein Projekt, das einem wichtig ist –     sollte vielmehr sein: Wenn unser Leben end­
          das Teil der eigenen Identität ist.               lich ist, dann leben wir es doch so gut wie
              Der Tod bedroht diese Projekte. Er be­        möglich. Wir sollten rational mit dem Tod
          droht uns, weil wir zukunftsgerichtete            umgehen als etwas, was zwar zu vermeiden
          Wesen sind, die nicht einfach in den Tag          ist, aber nicht at all costs – nicht auf Kosten
          hineinleben. Weil wir unser Leben zukunfts­       eines gut gelebten Lebens.
          gerichtet leben, ist der Tod ein Übel, das zu
          Recht gefürchtet werden kann. Diese These            Nicht auf Kosten des Lebens – können
          finde ich sehr überzeugend.                          wir Leben und Tod denn gegenrechnen?
                                                            Was ich immer an Extrem-Bergsteigern be­
             Dann ist es wichtig, dass wir den Tod          wundere: Sie gehen offener mit dem Tod um.
             fürchten?                                      Sie betrachten ihn als kalkuliertes Risiko.
          Die Grundannahme teile ich: Der Tod muss          Sie fürchten den Tod ebenfalls – sie wollen ja
          eine Bedrohung bleiben, weil das ein siche­       nicht sterben. Aber sie fürchten ihn nicht als
          res Anzeichen dafür ist, dass unser Leben         ein absolutes Übel. Es wäre für sie auch ein
          gut und lebenswert ist. Wenn er wirklich          Übel, nicht auf den Berg zu klettern.
          keine Bedrohung mehr ist, ist unser Leben            Das muss die Grundidee sein: Das
          vielleicht gar nicht mehr so lebenswert.          schlimmste Übel wäre, dass wir das kurze
          Aber: Diese tiefe Furcht vor dem Tod, oder        Leben, das wir haben, nicht so leben, wie wir
          dass man ihn als etwas Unheimliches emp­          es eigentlich möchten. Man muss dafür na­
          findet, finde ich falsch. Es gibt Menschen,       türlich nicht gleich auf Berge klettern oder
          die einen absoluten Terror verspüren, wenn        unnötige Risiken eingehen.

26
Umgang mit dem Tod

                              Wie sähe eine Gesellschaft aus, die ratio-    man noch ein paar Monate Lebenszeit her­
                              naler mit dem Tod umginge?                    ausholt. Wenn hier ein Umdenken stattfin­
                           Einer der wichtigsten Bereiche ist für mich,     den würde, könnte die Medizin noch mehr
                           wie unsere Medizin mit dem Tod umgeht.           für den Menschen tun.
                           Eine Gesellschaft, die offener mit dem Tod
                           umgehen würde, wäre zum Beispiel der Ster­           Geht es letzten Endes um Selbstbestim-
                           behilfe gegenüber weniger abgeneigt.                 mung? Um das Recht, für sich selbst zu
                           Das Thema Sterbehilfe kommt immer noch               entscheiden, wie wir leben möchten –
                           mit einem Stigma, was ich falsch finde. Eine         und wann wir nicht mehr leben wollen?
                           Person wird häufig nur deshalb, weil sie die     Autonomie und Selbstbestimmung sind für
                           Sterbehilfe wählt, als verwirrt oder nicht zu­   mich grundlegend, ja. Da gehört für mich mit
                           rechnungsfähig betrachtet. Dabei kann es         dazu, dass wir grundsätzlich die Annahme
                           durchaus vernünftig sein, wenn eine schwer       treffen, dass jemand zurechnungsfähig ist.
                           kranke Person sich sagt: Ich möchte unter        Auch wenn unsere Meinung, was für diese
                           den Bedingungen, die zu erwarten sind,           Person gut ist, von ihrer eigenen abweicht.
                           nicht mehr leben.                                Wir haben unterschiedliche Vorstellungen
                                                                            davon, was wichtig ist im Leben. Das gilt es
                               Selbst in der Medizin ist der Tod also in    zu respektieren – auch bei Abwägungen hin­
                               gewisser Weise ein Tabu?                     sichtlich des Todes. Wenn der Tod ins Spiel
                           Wir haben in der Medizin eine ungute             kommt, dann kommt heute leider immer
                           Grundannahme, dass es um unbedingte Le­          schnell auch der Paternalismus daher, und es
                           bensverlängerung geht. Wenn etwas getan          wird über die Köpfe anderer Menschen hin­
                           werden kann, was unser Leben verlängert,         weg entschieden. Wie eben bei der Sterbehil­
                           dann wird das grundsätzlich auch getan.          fe: Wir sollten nicht für andere bestimmen,
                           Man braucht sehr gute Gründe, dass ein Arzt      dass sie ihr Leben maximal zu verlängern
                           nicht diese maximal lebensverlängernde           haben, nur weil uns das ein gutes Gefühl gibt.
                           Maßnahme wählt.                                      Wir müssen offener über den Tod spre­
                               Das scheint mir in vielen Fällen verfehlt:   chen. Dann können wir auch diese schwie­
                           Im Endeffekt geht es doch um Lebensquali­        rigen Abwägungen mit kühlerem Kopf und
                           tät. Wir sind in der Medizin zu wenig offen,     zugleich menschenfreundlicher treffen.
                           dass bestimmte Interventionen die Lebens­           Das Gespräch führte Jürgen Graf.
                           qualität zu arg beeinträchtigen, auch wenn

Susanne Burri ist Juniorprofessorin
für Praktische Philosophie unter
besonderer Berücksichtigung der
politischen Philosophie und der
Sozialphilosophie an der Universität
Konstanz. Zu ihren Forschungs-
schwerpunkten zählen die normative
Ethik und die Philosophie des Todes.

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Ethnologie

               Zeit macht
             den Unterschied

Wenn Länder des Globalen Südens einander helfen,
     kennen sie die Ausgangslagen besser,
   weil sie denen im eigenen Land ähneln, und
  begegnen sich auf Augenhöhe. So die Theorie,
        die die Ethnologin Maria Lidola am
 „Mehr-Ärzte-für-Brasilien-Programm“ überprüft.
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Die Ethnologin Maria Lidola arbeitet als wis-
senschaftliche Mitarbeiterin für Lehraufgaben
(Lecturer) zu den Schwerpunkten „Migration
und Transnationalismus“ und „Ethnographische
Methoden“ an der Universität Konstanz. Nach ihrer
Promotion an der FU Berlin war sie Gastwissen-
schaftlerin an der Bundesuniversität Rio de Janeiro
(UFRJ) in Brasilien. Ihre aktuellen Forschungen
über Süd-Süd-Beziehungen, gerade in humanitä-
ren und medizinischen Settings, gehören einem
noch kleinen, aber wachsenden Forschungsfeld in
der Ethnologie an.

                           Im August 2013 landet die erste Delegation      ein linkes Projekt der Regierung zur kom­
                           von Ärzt*innen aus Kuba in Brasilien als Teil   munistischen Unterwanderung Brasiliens.
                           des „Mehr-Ärzte-für-Brasilien-Programms“.       Die Professionalität der Ärzt*innen wird in
                           Dieses hat die brasilianische Regierung ein­    Frage gestellt: Wie könne es sein, dass so ein
                           geführt, um den Notstand im öffentlichen        kleines Land wie Kuba so viele Ärzt*innen
                           Gesundheitssektor zu lindern; insbesondere      hervorbringe, um sie nach Brasilien senden
                           kubanische Mediziner*innen sollen in den        zu können? Diese Inhalte werden auch über
                           nächsten Jahren unterstützen. Doch brasili­     Memes, satirische Bilder, auf Social Media
                           anische Ärzt*innen begrüßen die Kolleg*in­      verbreitet, die von den mittleren und unte­
                           nen aus Kuba, darunter viele nicht-weißer       ren Bevölkerungs-Schichten stark konsu­
                           Hautfarbe, mit Buhrufen. Viele werfen den       miert werden.
                           Neuankömmlingen diskriminierende und                Viele in der brasilianischen Ärzteschaft,
                           rassistische Äußerungen entgegen. Das           die sich weitgehend im privaten Sektor loka­
                           Bild geht in den brasilianischen Medien vi­     lisiert oder in Mittelschichtsgegenden tätig
                           ral. „Für mich war das ein einschneidender      ist, stützen diese Darstellungen. Dabei sind
                           Moment“, sagt Ethnologin Maria Lidola, „der     sie selbst nicht bereit, im schlecht bezahlten,
                           mich dazu bewegt hat, mich mit diesem Pro­      desolaten öffentlichen Gesundheitssektor zu
                           gramm und seiner Umsetzung vor Ort aus­         arbeiten. In den Familienkliniken weigern
                           einanderzusetzen.“                              sich einige Patient*innen, sich von „schwar­
                               Viele der kubanischen Ärzt*innen haben      zen“ Ärzt*innen untersuchen zu lassen. Eine
                           bereits einschlägige Erfahrung in interna­      kubanische Ärztin beschreibt diese für sie
                           tionalen Missionen gesammelt. Die medizi­       schmerzhafte Erfahrung: „Ich hätte nie ge­
                           nische Unterstützung für Regionen in Not        dacht, dass jemand von mir nicht behandelt
                           ist bis heute eine Art Aushängeschild der ku­   werden möchte, der die gleiche Hautfarbe
                           banischen Regierung – humanitär motiviert,      wie ich hat. Ich bin doch eine Ärztin wie alle
                           aber auch aus politischen, wirtschaftlichen     anderen auch.“
                           und nicht zuletzt ideologischen Gründen.
                           Obwohl ihnen auch andernorts politischer               Forschungsaufenthalt
                           Gegenwind entgegenwehte, glauben viele
                           der Ankommenden, dass in den brasiliani­               in aufgeheiztem Klima
                           schen Einsatzgebieten Rassismus kein The­
                           ma sei, zumindest dort, wo Menschen hilfs­      In diesem aufgeheizten Klima tritt Maria
                           bedürftig sind. Brasilien hat nach außen        Lidola 2014 ihren ersten Forschungsaufent­
                           lange den Mythos einer „Rassendemokratie“       halt in Rio de Janeiro an. In zwei Favelas mit
                           gepflegt. Weit gefehlt.                         den dortigen Familienkliniken begleitet sie
                               Es kommt zu heftigen Diskussionen in        die kubanischen Ärzt*innen und das bra­
                           konservativen Mediensendern, die sehr prä­      silianische Personal in ihrem Alltag, führt
                           sent in Brasilien sind. Dem „Mehr-Ärzte-für-    zahlreiche Interviews und arbeitet mit teil­
                           Brasilien-Programm“ wird unterstellt, es sei    nehmender Beobachtung. „In diesem sehr

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Ethnologie

         politisierten Kontext war es eine große He­     Einsätze vor Ort sind belastend
         rausforderung, Vertrauen aufzubauen. Im­            und nicht ungefährlich
         merhin fand ich als Außenstehende einen
         besseren Zugang zu den Kubaner*innen,
         zumal ich aus Ost-Deutschland komme und         Zweimal pro Woche brechen die kubanischen
         eine Mama habe, die noch in der DDR im          Mediziner*innen von den am Rande der Fave­
         Gesundheitswesen als Krankenpflegerin ge­       la gelegenen Familienkliniken auf, um Haus­
         arbeitet hat“, erzählt die Wissenschaftlerin.   besuche zu machen und dadurch ihr Viertel
             Anfangs stellt sie ein allgemeines Unbe­    und seine Bewohner*innen kennenzulernen.
         hagen der Bevölkerung gegenüber den Ku­         „Der Schritt in die Favela hinein bedeutet, sich
         baner*innen fest. Anders als erwartet seien     erst mal mit den sehr heterogenen sozialen
         Süd-Süd-Kooperationen nicht nur von mehr        Realitäten dort auseinanderzusetzen“, meint
         Verständnis für die medizinischen Notstän­      Lidola. So setzen sie den präventiven Ansatz
         de geprägt, sondern auch von Vorurteilen.       der Familienmedizin um, die Familien auch
         „Die kubanischen Ärzt*innen hatten jedoch       in ihrem sozio-ökologischen Umfeld – Wohn­
         sehr schnell heraus, woran es in den Fami­      situation, sanitäre Einrichtungen, Hygiene –
         lienkliniken fehlte“, erklärt die Ethnologin,   kennenzulernen. Auch etwas, wozu sich die
         „nämlich Zeit. So nahmen sie sich Zeit für      brasilianischen Kolleg*innen keine Zeit neh­
         ihre Patient*innen, was für diese eine neue     men, zumal Einsätze vor Ort oft körperlich
         Erfahrung war. Zuvor hatten Ärzt*innen sie      und emotional belastend und nicht immer
         nur kurz gesehen, kaum berührt, geschwei­       ungefährlich sind.
         ge denn etwas erklärt. Angesichts der über­         „Allein der Umstand, dass jemand zu ih­
         lasteten Kapazitäten ging es den brasilia­      nen nach Hause kommt, zeigt den Patient*in­
         nischen Ärzt*innen darum, möglichst viele       nen: Da ist jemand da, der kümmert sich,
         Fälle in kurzer Zeit abzuarbeiten und Medi­     sorgt sich um dich. So wird ein Gefühl der
         kamente zu verschreiben.“                       Wertschätzung vermittelt, das sie zuvor nicht

                                                                                     Ärztlicher Hausbesuch
                                                                                     in einer Favela in Rio
                                                                                     de Janeiro
                                                                                     © Maria Lidola

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