Steuerverwaltung Niedersachsen
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Chronik 100 Jahre Steuerverwaltung Niedersachsen Herausgegeben vom Landesamt für Steuern Niedersachsen verfasst von Marcus Luyven Peter Niemann Christof Steil 2019 Hannover
Herausgeber: Landesamt für Steuern Niedersachsen, Waterloostraße 5, 30169 Hannover ( (05 11) 1 01 - 0 6 (05 11) 1 01 21 11 @ poststelle@z.lst.niedersachsen.de Alle Rechte vorbehalten. Ohne schriftliche Zustimmung des Herausgebers ist es auch nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus in irgendeiner Form (durch Fotokopien, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) zu vervielfältigen. Umschlaggestaltung: damm.design www.damm.design Druck: Druckhaus Pinkvoss GmbH, Hannover
Inhaltsverzeichnis Seite Grußwort 9 Einführung 10 Teil 1 Die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus 11 Abschnitt 1 Begründung der Reichsfinanzverwaltung (1919/1920) 11 1. (Vor-)Geschichte und Entwicklung 11 Elemente und Grundlinien der Finanzverwaltung 11 Bedeutung im Rahmen der staatlichen Ordnung und des Gemeinwesens 12 Finanzquellen und Regelungen 13 Macht, Recht und Gerechtigkeit 13 Organisation, Personal und Unterbringung 14 Das 19. Jahrhundert bis 1871 15 Die Finanzverwaltung im Deutschen (Kaiser-)Reich 15 2. Erzbergers Finanzreform 18 3. Spannung pur: Chronologie der Gesetzgebung im Sommer 1919 20 4. Änderungen des Steuerrechts 22 5. Die Landesfinanzämter 23 6. Die Finanzämter 24 Abschnitt 2 Unruhig: Eine neue Verwaltung in den Turbulenzen der ersten deutschen Demokratie (1920 bis 1923) 26 1. Schwierige Startbedingungen 26 2. Erste Entwicklungen 26 3. Die Inflation 1923 28 Abschnitt 3 Die „goldenen Zwanziger“ (1924 bis 24. Oktober 1929) 28 5
Seite Abschnitt 4 Die Tragödie (25. Oktober 1929 bis 30. Januar 1933) 31 1. Der schwarze Freitag und seine Folgen 31 2. Versuche der Sanierung 33 Exkurs: Bedeutende Persönlichkeiten 33 Abschnitt 5 Die nationalsozialistische Herrschaft (30. Januar 1933 bis 9. Mai 1945) 36 1. Ideologische Ausrichtung des Rechts insbesondere für die Steuerverwaltung; „Legalisierung“ des Unrechts 36 2. „Gleichschaltung“ und Instrumentalisierung der Finanzverwaltung 39 3. Mitwirkung bei der Benachteiligung, Ausbeutung, Vertreibung und Vernichtung von Juden, Sinti, Roma, Homosexuellen, Menschen mit Behinderungen 41 Personalpolitik 41 Regelungen zu finanziellen Benachteiligungen (Gesetze, Verordnungen usw.) 45 4. Finanzielle und wirtschaftliche Entwicklung 46 5. Entwicklung der Steuerverwaltung im 2. Weltkrieg 48 6. Besonderheiten der letzten Kriegsjahre 49 Teil 2 Die Zeit vom Ende des 2. Weltkrieges bis zum Aus- laufen der Aufbauhilfe in den neuen Bundesländern 51 Abschnitt 1 Vorbemerkungen 51 Abschnitt 2 Staatliche Reorganisation 51 Abschnitt 3 Das Ringen um die Finanzverfassung 53 1. Die politischen Auseinandersetzungen 53 2. Die gesetzliche Regelung 55 Abschnitt 4 Erster Wirtschaftsboom in der jungen Bundesrepublik und Auswirkungen auf die Steuerverwaltung 56 6
Seite Abschnitt 5 Die Ausbildung in der niedersächsischen Steuerverwaltung 57 Abschnitt 6 Automatische Datenverarbeitung und ein neues Organisa- sationsmodell in der niedersächsischen Steuerverwaltung 59 Abschnitt 7 Die Verfolgung von Steuerstraftaten und die Prüfung 61 von Großbetrieben Abschnitt 8 Die Aufbauhilfe in den neuen Bundesländern 63 1. Vorbemerkungen 63 2. Die Auflösung des Ostblocks und der Beitritt der 63 ostdeutschen Länder zur Bundesrepublik Deutschland 3. Die Aufbauhilfe in Sachsen-Anhalt 64 Teil 3 Start ins neue Jahrtausend, neue Herausforde- rungen und Zukunftsausblick 67 Abschitt 1 Vorbemerkungen 67 Abschitt 2 Veränderungen im organisatorischen Bereich 68 1. Infotheken 68 2. Info-Hotline 68 3. Anmeldesteuerstelle und Einheitliche Erhebungsstelle 69 4. Entwicklung der Mittelbehörde 70 a) Von der Oberfinanzdirektion Hannover (OFD) zum Landesamt für Steuern Niedersachsen (LStN) 70 b) Gründung der Task-Force 71 5. Zukunftsfähigkeit von kleineren Finanzämtern 72 Abschnitt 3 Neuerungen im Personalbereich 73 1. Einstellungsverfahren 74 Die Bewerberauslese im ehemaligen mittleren und gehobenen Dienst (Laufbahngruppe 1, 2. Einstiegsamt und Laufbahngruppe 2, 1. Einstiegsamt) 74 Die Bewerberauslese im ehemaligen höheren Dienst (Laufbahngruppe 2, 2. Einstiegsamt) 77 7
Seite 2. Personalentwicklung 77 Ehemaliger höherer Dienst 77 Ehemaliger gehobener Dienst 78 Ehemaliger mittlerer Dienst 79 3. Gesundheitsmanagement (GM) 79 4. Familienfreundlichkeit (Vereinbarkeit von Familie und Beruf) 80 5. Gründung der Steuerakademie (StAkad) 81 Abschnitt 4 Digitalisierung 82 1. Frühe Entwicklung der EDV 82 2. Beauftragung von Dataport 83 3. Das Projekt KONSENS 83 4. Abschaffung der Lohnsteuerkarte 84 5. Elektronische Einkommensteuererklärung (ELSTER) 84 6. Service vorausgefüllte Steuererklärung (VASt) 84 7. Elektronische Akte (eAkte) 85 8. Risikomanagementverfahren (RMS) 85 9. Studiengang Verwaltungsinformatik 86 10. Von Linux zu WINDOWS 86 Zukunftsausblick 87 Anhang 1 Die Länder im Kaiserreich, Weimarer Republik und heute 88 Anhang 2 Die Finanzämter auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Niedersachsen 90 Anhang 3 Auszug aus der Chronik des Finanzamts Verden über die letzten Kriegstage 94 8
Grußwort „Ohne Steuern ist kein Staat zu machen!“ - dieser Leitsatz des letzten, kürzlich verstorbenen Präsidenten der Oberfinanzdirektion Niedersachsen, Ernst-Günter Kapitza, bringt die Notwendigkeit der Steuerer- hebung durch den Staat zur Schaffung der finanziellen Basis für ein funktionierendes Gemeinwesen kurz und bündig auf den Punkt. Von den Anfängen des Steuerwesens im Altertum bis in unsere heutige digitale Zeit haben Steuern das Leben der Menschen und ihr Verhältnis zum Staat nicht unmaßgeblich beeinflusst. Kontinuität und Ver- änderung haben dabei die Steuergeschichte geprägt: zu allen Zeiten und unter allen Regimen wurden Steuern erhoben - die Art und Weise des Steuervollzugs und die Organisation der Steuerverwaltung haben sich jedoch stetig gewandelt. Ich freue mich daher sehr, dass uns mit der vorliegenden Chronik ein eingängiger und informativer Über- blick über die wechselvolle Entwicklung der niedersächsischen Steuerverwaltung der letzten hundert Jahre gegeben wird. Die Erzbergersche Finanzreform im Jahr 1919, die - heute unvorstellbar - in nur wenigen Monaten umgesetzt wurde, wirkt mit der Vereinheitlichung des zuvor stark zersplitterten deut- schen Steuerrechts und dem dreistufigen Aufbau der Steuerverwaltung im Grundsatz bis heute fort. Viele Finanzämter werden in diesem und im nächsten Jahr ihr hundertjähriges Bestehen feiern können. Es ist spannend nachzuverfolgen, wie sich die Steuerverwaltung von einer manuellen, stark obrigkeitlich ge- prägten hin zu einer modernen, hochautomatisierten und bürgerorientierten Verwaltung gewandelt hat. Mein ausdrücklicher Dank gilt dabei den drei Autoren dieser Darstellung, den Ltd. Regierungsdirektoren Christof Steil (Vorsteher des Finanzamts Nienburg/Weser) und Peter Niemann (Vorsteher des Finanzamts Burgdorf) sowie dem Regierungsdirektor Marcus Luyven (Vorsteher des Finanzamts Lingen (Ems)), die sich im Rahmen der Arbeitsgruppe „100 Jahre Steuerverwaltung/Erzbergersche Finanzreform“ dem Pro- jekt der Chronik mit großem Engagement und ausgeprägtem Sachverstand angenommen haben. Die Geschichte kennt keinen Endpunkt - und so bleibt es interessant zu beobachten, wie wir vor dem Hintergrund zunehmender Digitalisierung und der demographischen Entwicklung die Zukunft unserer Steuerverwaltung (mit)gestalten, welche internen und externen Einflüsse wirksam werden. Bekannter- maßen kann bei der Gestaltung der Zukunft die Kenntnis der Vergangenheit nicht schaden - für alle Zeit wird dabei gelten: „Ohne Steuern ist kein Staat zu machen!“ Ich wünsche Ihnen viel Freude und Erkenntnisgewinn bei der Lektüre. Herzlichst Ihr Dieter Meyer Präsident des Landesamts für Steuern Niedersachsen 9
Einführung Seit jeher, vom ersten Familienverband bis hin zu Stämmen und Völkern, wurden gemeinsam zusam- mengetragene Mittel benötigt, um Gemeinwesen zu gestalten. Heute „bedienen“ sich wohl alle Politik- bereiche steuerlicher Regelungen, um Ziele durch- und Maßnahmen umzusetzen, auf die sich die demokratisch legitimierten Akteure verständigt haben. (Umsetzungs-)Macht braucht Geld, gerade auch in unserer immer komplexer werdenden Welt. So behält die Steuerverwaltung als Teil der Finanzver- waltung ihre herausgehobene Stellung im Konzert der Ressorts. Vielleicht auch deswegen beneiden und kritisieren viele das Finanzamt (und meinen den Staat als Gesamtes). Aber ein Großteil der Bevölkerung hat die Zusammenhänge verstanden. Und doch ist jeder im staatlichen Auftrag Handelnde aufgefordert, dafür zu arbeiten, dass die Bürger1) die Steuerzahlungspflichten verstehen und dafür zu werben, dass sie diesen - mit einem guten Gefühl - nachkommen. Ein guter Anlass für diese Werbung ist das anstehende 100-jährige Jubiläum. Hat doch Erzberger2) alsals damaliger Reichsfinanzminister im Jahre 1919 durch seine Reform einen maßgeblichen Schritt hin zu zu einer (reichs-)einheitlichen Finanzverwaltung bewirkt. Dem interessierten Leser soll durch die relativ knappe Zusammenschau dieses jüngsten Geschichtsabschnittes des Fiscus3) ein facettenreicher Einblick Einblick gewährt werden. Chronologische Darstellungen, themenbezogene Abschnitte, Eindrücke von einzelnen von Personen und Bilder sollen die Lektüre abwechslungsreich Personen und anschaulich sollen die Lektüre gestalten.und abwechslungsreich Wiranschaulich hoffen, die die Bedeutung und die Entwicklung hin zu einer konsequent rechtsstaatlichen, bürgerfreundlichen, effektiv rechtsstaatlichen, fektiv arbeitenden und zukunftsorientierten Steuerverwaltung nachdrücklich zu belegen. zu 1) Zur besseren Lesbarkeit des Textes wird darauf verzichtet, Personen gendergerecht zu bezeichnen, gleichwohl beziehen sich die Angaben auf Angehörige aller Geschlechter (betrifft: Teil 1 und Teil 2). 2) Matthias Erzberger (1875 - 1921) seit 1903 jüngster (Zentrum-)Abgeordneter im Reichstag; Reichsfinanzminister vom 21. Juni 1919 bis 12. März 1920. 3) Fiscus lat. für Geldkorb; bereits seit der Zeit der römischen Kaiser eine Bezeichnung für die Staatskasse, seit Karl dem Großen zunehmend auch für zunächst die Domänen- dann aber für die gesamte Schatzkammer. 10
Teil 1 Die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus Der erste Abschnitt der Geschichte der nieder- Schaumburg-Lippe und Oldenburg. Die Finanz- sächsischen Steuerverwaltung weist die Beson- verwaltungen der Länder hatten zuvor auf der derheit auf, dass es Niedersachsen in der heutigen Ortsebene überhaupt keine Ämter, die Steuern Gestalt zu Beginn der Weimarer Republik noch wurden durch kommunale Einrichtungen erhoben. nicht gab. Die Landesfinanzämter als Mittel- Die Existenz und die Struktur der neuen Behörden behörden und die Finanzämter als Ortsbehörden wurden weder in der Zeit des Nationalsozialismus waren Einrichtungen der (damals) neu begründe- noch durch den zweiten Weltkrieg entscheidend ten Reichsfinanzverwaltung und nicht der Länder unterbrochen bzw. verändert. So gehört diese Zeit Preußen (Provinz Hannover), Braunschweig, originär in diese Chronik. Abschnitt 1 Begründung der Reichsfinanzverwaltung (1919/1920) 1. (Vor-)Geschichte und Entwicklung4) quellen des Staates. Dienste und Naturalien Elemente und Grundlinien der Finanzver- werden allerdings im gemeinnützigen Bereich waltung durch Ehrenamtliche weiterhin erbracht. Jedes Gemeinwesen, jeder Staat braucht für gemeinsame Aufgaben den Einsatz seiner Mit- Je größer ein Gemeinwesen wurde, desto mehr glieder. In den Anfängen menschlicher Ge- musste organisiert werden. Der Herrscher/Der meinschaft wurden schwere Arbeiten gemein- Staat brauchte Mitarbeiter/Bedienstete, Land sam verrichtet (Dienste) und benötigte Mittel und Gebäude, Ausrüstung und eine Struktur/ zusammengetragen (Naturalien). Die dritte Organisation für das Einnehmen und Ausge- Form einer Abgabe, eine als Geldleistung zu ben der Gelder. Die Reserve (der Schatz) entrichtende Steuer, kam als Letztes dazu und musste verwahrt werden. So kamen neben gehört heute zu den wesentlichen Einnahme- Zoll- und Steuereinnehmern auch Schatz-(Ver- 4) Weiterführende und vertiefende Ausführungen in Alfons Pausch, Von der Reichsschatzkammer zum Bundesfinanzministerium, Bonn 1969, Verlag Dr. Otto Schmidt, Köln. 11
mögens-)Verwalter, Haushälter und Bauleute Die Steuerverwaltung als Einnahmeverwal- zum Einsatz. Die „Finanzverwaltung“ bestand tung steht im Mittelpunkt dieser Chronik, sie schon immer aus den Bereichen Bau, Ver- ist aber oft untrennbar mit den anderen Teilen mögen, Haushalt, Zoll und Steuer. Und in der der Finanzverwaltung verbunden, was im Fol- mittleren und ober(st)en Ebene musste organi- genden immer wieder deutlich werden wird. siert, geführt, entschieden werden. Bedeutung im Rahmen der staatlichen Ord- Eine weitere Grundlinie findet sich in den nung und des Gemeinwesens Begriffen Macht, Recht und Gerechtigkeit. Die Finanzverwaltung in ihren jeweiligen ge- Steuerlasten wurden schon häufig und werden schichtlichen Erscheinungsformen gehörte von zum Teil noch immer als ungerecht empfun- Anfang an zu den klassischen Ressorts, zu- den. Könige und Fürsten führten auf Kosten nächst neben dem Militär. Der Herrscher ihrer Untertanen ein prunkvolles Leben. Die musste sich und seinen Hofstaat - zum Teil Aufklärung und die darauf folgenden gesell- sehr üppig - versorgen und Politik bestand oft schaftlichen Entwicklungen führten dazu, dass in Kriegen, Eroberungen und Verteidigung immer mehr Menschen Gerechtigkeit forder- zum Schutz des Herrschaftsbereichs. ten. So hat das Recht hier die wichtige Funk- tion, einen verlässlichen Grund zu legen. In Das Römische Reich war in den ersten Jahr- Steuerakten bzw. Steuer“fällen“ laufen viele hunderten n. Chr. so groß, dass die staatlichen Aspekte unserer komplexen Gesellschaft zu- Finanzen nur durch eine gut organisierte Ver- sammen, die ausschließlich nach gesetzlichen waltung sichergestellt werden konnten. Nach Grundlagen steuerlich berücksichtigt werden seinem Untergang zum Ende des 5. Jahrhun- dürfen oder müssen. Dieses Rechtmäßigkeits- derts erhoben im Gebiet des heutigen Deutsch- gebot soll zusammen mit der Möglichkeit ge- lands in den zum Teil sehr kleinen Fürsten- richtlichen Rechtsschutzes5) für Steuergerech- tümern die Kommunen die Abgaben, das tigkeit sorgen. Steuerwesen war zersplittert. Erst Karl der Große setzte wieder eine stärker strukturierte Zusammengefasst: Steuern sind für unser (für Verwaltung ein. Seine große Macht beruhte jedes) Gemeinwesen wesentlich. Zu ihrer Fest- auf seinen militärischen Erfolgen und auf dem setzung und Erhebung sind gut ausgebildetes dadurch erbeuteten unermesslichen Reichtum Personal und eine funktionierende, effektive (Reichsschatz in Aachen). Der Ort der Reichs- Verwaltung erforderlich. Und die Steuerge- insignien war der Mittelpunkt der Macht. Seit rechtigkeit muss das bestimmende, alles seiner Zeit zieht sich allerdings auch der Kom- durchdringende Prinzip sein und bleiben. petenzstreit zwischen Gliedstaaten (Landes- 5) Zu der ebenfalls 100-jährigen Geschichte der Finanzgerichte vgl. Mellinghoff, NWB 2018, Seite 2905 ff. 12
herren bzw. Ländern) und dem Reich/Bund Macht, Recht und Gerechtigkeit hinsichtlich der Steuererhebung bis heute Die Geschichte der politischen Macht in den durch. Der Föderalismus ist ca. 1.000 Jahre alt. Gebieten der heutigen Bundesrepublik Deutschland beginnt mit dem Zerfall des rö- Während über lange Zeit die Kommunen mischen Reiches im 3. bis 5. Jahrhundert nach (Reichsstädte) und Kirchen stark in die Steuer- Christus. Unter starken, machthungrigen erhebung eingebunden waren, übernahmen Persönlichkeiten entstanden wachsende Völ- dies ab ca. 1.500 zunehmend die erstarkenden ker, die durch Kultur und Sprache verbunden Landesherren. waren. Diese Zeit ist verbunden mit den Me- rowingern (Clodwig, der Frankenfürst), Karl Die zentrale Stellung als Schlüsselverwaltung6) Martell und seinem Sohn Pippin und dann Karl hat die Finanzverwaltung bis heute, auch wenn dem Großen. Pippin wurde vom Papst zum durch die Demokratisierung die Daseinsvor- König gesalbt und begründete damit (als sorge stetig erweitert wurde und viele Ressorts „König von Gottes Gnaden“) die viele Jahr- hinzukamen. Als Ergebnis systematischer Pro- hunderte währende „Allianz“ zwischen politi- zesse, die Aufgaben des Staates daraufhin zu scher und kirchlicher Macht. Mit der Wahl untersuchen, was wichtig und erforderlich ist, Ottos des I. zum König der Ostfranken im kommt eine Privatisierung der Finanzämter Jahre 956 zerfiel das große Frankenreich und bisher unstreitig nicht in Betracht. die eigentliche Geschichte Deutschlands be- gann. Die nun folgende Geschichte der gesell- Finanzquellen und Regelungen schaftlichen und machtpolitischen Entwick- Seit der Herrschaft Karls des Großen wurden die lung in Deutschland war durch Themen ge- Steuerpflichten der Menschen zunehmend klein- kennzeichnet, die nur ganz grob zusammen- teiliger geregelt. Es wurde ein System von gefasst werden können. Die deutschen Kaiser Zehntabgaben entwickelt, die in Naturalien und hatten über viele Jahrhunderte nicht nur mit seit dem 13. Jahrhundert auch in Geld erbracht der Kirche sondern auch mit den erstarkenden werden konnten. Daneben gab es noch Grund- Landesfürsten zu kämpfen. Der Kaiser als steuern und Zölle. Seit Anfang des 19. Jahrhun- Zentralgewalt hatte fast durchgehend eine derts ersetzte die Kopfsteuer die Zehntabgaben relativ schwache Stellung. Wachsende Städte und bildete mit Grundsteuer und Gewerbesteuer vergrößerten die Unterschiede zwischen Land die direkten Hauptsteuern (Kontributionen). In- und Stadt, zwischen Bauern, Bürgern, Leib- direkte Hauptsteuern waren die (vereinzelt be- eigenen, Adel und Klerus, Standesdenken reits seit dem 11. Jahrhundert bekannten) Ak- (-dünkel) bildete sich. Dieser vielfach als zisen, Verbrauchssteuern auf bestimmte Waren. ungerecht empfundenen Verhältnisse wurden 6) Der Schlüssel war seit Karl dem Großen das Symbol der Finanzverwaltung (Schlüssel zur Schatzkammer). 13
sich, auch durch die geistesgeschichtliche Ent- Gleichheit. Sie reagieren mit Unmut bis hin zu wicklung von der Renaissance über den Hu- Widerstand oder Aufstand, wenn sie hier ver- manismus zur Aufklärung, immer mehr letzt werden. Dies gilt in jeder Staatsform und Menschen bewusst. Es kam zu Aufständen, die äußert sich in der Demokratie durch mehr oder sich - wie im Dreißigjährigen Krieg - oft mit weniger Steuerwiderstand. machtpolitischen Konflikten mischten. Auch Fürsten und Kaiser gerieten unter den Einfluss Es muss hier nicht auf Einzelheiten von Recht moderneren Denkens. So kam es durch die und Gesetz in der Vergangenheit eingegangen Französische Revolution und die daraus fol- werden. Von Karl dem Großen an wurden be- genden Entwicklungen in Deutschland (z. B. reits viele Steuergesetze formuliert und es im Hambacher Fest) zu ersten Demokratie- wechselten sich Tendenzen starker Zersplitte- versuchen in der Paulskirche in Frankfurt rung mit Tendenzen zur Vereinheitlichung bzw. (1848)7). Aber Machtkämpfe prägten auch Vereinfachung ab. Und immer wirkten in die danach die gesellschaftliche und politische Gesetzgebung je nach Einflussgröße Einzel- Entwicklung und werden es wohl immer tun. interessen hinein. Besonders aufgegriffen wer- den muss dieses Thema noch einmal in den Aus- Diese Ausführungen sind zum Verständnis für führungen zu der Zeit des Nationalsozialismus. die Entwicklung der Steuerverwaltung ange- bracht, weil Steuern und ihre Verwalter immer Organisation, Personal und Unterbringung als Erscheinungen und Mittel der Macht erlebt Die Organisation, die Personalgewinnung und wurden. Deshalb stellt sich hier auch in beson- -ausbildung, Aufgaben und Kompetenzen derer Weise die Frage nach Gerechtigkeit, sowie letztlich auch die Unterbringung der Recht und Gesetz. Diese staatstheoretischen Steuerverwaltung haben sich über die Jahrhun- und auch philosophischen8) Aspekte dürfen derte stetig verfeinert und ausgeweitet. Hier hier nicht ausgespart werden. Denn sie wirken soll nur darauf verwiesen werden, dass bei der über Grund- und Menschenrechte in die Begründung der (einheitlichen) Reichsfinanz- Grundprinzipien und -regeln der Steuerverwal- verwaltung eine große Zahl von Merkmalen tung hinein. Die Menschen eines Staates haben vorzufinden ist, die ihre Vorläufer im Kaiser- ein feines Gespür für Gerechtigkeit und reich und zum Teil weit davor haben9). Insbe- 7) Manfred Mai, Deutsche Geschichte, 1999 Beltz Verlag (Auf diese Darstellung wird verwiesen, weil sie im Gegensatz zu großen Werken durch Kürze und Einfachheit einen schnellen geschichtlichen Überblick gibt.). 8) Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Auflage, 1973 Köhler Verlag Stuttgart, insbesondere Seiten 119 ff. und Seite 327 ff., wo Radbruch sich sehr grundsätzlich mit Recht und Gerechtigkeit beschäftigt. 9) Dr. Alfons Pausch, ausführlich zur Geschichte der deutschen Finanzverwaltung mit umfangreichen Nachweisen, in „Von der Reichs- schatzkammer zum Bundesfinanzministerium“, herausgegeben vom Bundesministerium der Finanzen, Bonn, Seite 5, 1969, Verlag Dr. Otto Schmidt KG. 14
sondere der bis zum Ende des Ersten Welt- Aus wirtschaftlichen Gründen, vor allem krieges andauernde Dualismus bzw. Konflikt wegen der stärker werdenden Konkurrenz der von Reich und Bundesländern (mit ihren zum industriell schon weiter entwickelten westli- Teil noch sehr starken Landesfürsten) hat seine chen Nachbarn Frankreich und England, Wurzeln in dieser Geschichte. Die stärkste wurde der Ruf lauter, die vielen Zollgrenzen Prägung erhielt die Steuerverwaltung aller- abzuschaffen. Entsprechend wurde zwischen dings durch die Entwicklungen im 19. Jahr- allen Einzelstaaten des zum 1. Januar 1834 neu hundert. gegründeten Deutschen Zollvereins versucht, die Zollschranken aufzuheben und auch man- Das 19. Jahrhundert bis 1871 che Steuergesetze und -regelungen zu verein- Mit der Auflösung des alten Deutschen heitlichen. Damit und mit dem Siegeszug der Reiches durch Napoleon im Jahre 180610) Eisenbahn ging wirtschaftlicher Aufschwung waren die Einzelstaaten wieder ganz auf sich einher. Die politische Einigung der deutschen gestellt. Napoleon gründete im selben Jahr Bundesstaaten kam aber erst 1871 zustande. den Rheinbund (praktisch ein französisches Vorher erhielt die in der Paulskirche gegrün- Protektorat), dem sich zunächst 16 und nach dete Nationalversammlung von den Einzel- und nach weitere Einzelstaaten anschlossen. staaten noch nicht genug Rückendeckung11). Hier führte er nach französischem Vorbild Der Deutsche Bund wurde mit dem Deutschen u. a. auch eine modernere Finanzverwaltung Krieg 1866 aufgelöst. In den von Preußen ein. Der Rheinbund löste sich mit dem zu- dann gegründeten Norddeutschen Bund wurde rückgehenden Einfluss Napoleons im Jahre Österreich nicht mit aufgenommen. Der im 1813 wieder auf. Als Ergebnis des Wiener Rahmen des Zollvereins gebildete Bundesrat Kongresses erhielten die deutschen Einzel- wurde 1871 zu der Vertreterkammer der Bun- staaten relativ große Souveränität. 37 dieser desstaaten im Reich, das ebenso gebildete Staaten und vier freie Reichsstädte schlossen Zollparlament mit Vertretern der Landesparla- sich zum Deutschen Bund zusammen. Die mente wurde zum Reichstag. Entwicklung der Finanzverwaltungen ging aber weiter, insbesondere auch Preußen über- Die Finanzverwaltung im Deutschen (Kaiser-) nahm Elemente des französischen Vorbildes Reich12) und führte die bis heute vorherrschende Drei- Die Reichsverfassung Bismarcks von 1871 sah stufigkeit ein. eine Reichsfinanzverwaltung vor, die aber 10) Am 6. August 1806 legte Kaiser Franz II. die römische Kaiserwürde nieder. 11) Zu stark war noch die Macht der Landesherren, insbesondere des österreichischen Fürsten Metternich, und die Revolution von 1848 wurde 1849 niedergeschlagen. 12) Der preußische König Wilhelm I. wurde am 18. Januar 1871 in Versailles zum deutschen Kaiser proklamiert. 15
noch mit nur geringen Befugnissen ausgestat- nehmend ungehemmte Aufrüstung, um insbe- tet war. Die wesentliche Aufkommenshoheit sondere mit den Seemächten England und lag noch bei den Bundesstaaten, das Reich er- Frankreich gleichzuziehen und über Kolonien hielt von den Ländern in einer Art Finanzaus- mehr Einfluss in der Welt(-Wirtschaft) zu er- gleich Matrikularbeiträge (Umlagen). Das Reich langen. Die große Mehrheit der Bevölkerung war „Kostgänger der Länder“ (Bismarck). trug diese Politik mit. Da der Einfluss der Ge- Diese Wahrnehmung Bismarcks relativierte werkschaften und Parteien, insbesondere der sich angesichts der tatsächlichen Entwicklung. SPD, im Reichstag zunahm, war es allerdings Betrug der Anteil der Matrikularbeiträge an schwierig, diese Ausgaben zu finanzieren. Der den Gesamteinnahmen des Reiches 1872 noch Reichstag, bestehend aus den auch in den Län- ca. 35 %, so verminderte sich dieser bis 1913 derparlamenten vertretenen reichskritischen kontinuierlich auf dann nur noch ca. 3 %. Hier Abgeordneten, stand dem Expansionsstreben ist nicht einmal berücksichtigt, dass die Bun- der Reichsregierung bei der Steuergesetzge- desländer ihrerseits vom Reich aus den Ver- bung bis zum Beginn des ersten Weltkrieges brauchssteuereinnahmen jeweils jährlich den meist ablehnend gegenüber. Dies veranlasste 130 Mio. Mark übersteigenden Betrag anteilig die Reichsregierung, in treuer Ergebenheit nach der sog. Franckensteinschen Klausel gegenüber dem Kaiser zunehmend Schulden (Bevölkerungsanteil) überwiesen bekamen. aufzunehmen. War das Reich 1871 noch schul- denfrei, so stiegen die Schulden bis 1913 bis Das Steueraufkommen des Reiches wuchs seit auf über 4 Mrd. Mark13). der Reichsgründung 1871 kontinuierlich sehr stark an. Dies war zum einen der zeitweise Bismarck musste dies anfangs mit einer sehr enormen wirtschaftlichen Entwicklung kleinen Verwaltung umsetzen. In den ersten („Gründerjahre“) und dem stetigen Bevölke- Reichsjahren war er selbst als Reichskanzler rungswachstum zu verdanken, wurde zum an- auch Finanzminister und das Ministerium „be- deren ausgelöst durch die wachsenden fand“ sich in seinem Arbeitszimmer. Die Ausgaben des Reiches. Diese wiederum waren hauptsächlich mit der Erhebung aller Zölle und bedingt durch zunehmende Aufgaben des Steuern betrauten Länder wurden von der Reiches im sozialen Bereich und allgemein im Reichsregierung lediglich von Aufsichtsbeam- Aufbau der Infrastruktur. Ganz wesentlicher ten kontrolliert. Ab 1879 wurde dann mit dem Faktor war aber das Militär. Nach Übernahme Reichsschatzamt ein eigenes Ministerium er- der Regentschaft durch Kaiser Wilhelm II. im richtet14). Um dem steigenden Finanzmittel- Drei-Kaiser-Jahr 1888, betrieb dieser eine zu- bedarf Herr zu werden, betrieb dieses 13) Dr. Karl Theodor von Eheberg, Deutschland unter Kaiser Wilhelm II., Berlin 1914, Verlag Reimar Hobbing, ausführlich mit Zahlen aus den Reichshaushalten auf den Seiten 99 bis 120 (zitiert nach de.wikisource.org/wiki/ Finanzen und Steuern (1914). 14) Ausführlich hierzu Pausch, aaO, Seite 86 ff. 16
Ministerium in einer Vielzahl von Vorlagen an Geld vorhanden. Durch die unsägliche Mate- den Reichstag eine umfangreiche Gesetz- rialschlacht und alle anderen wirtschaftlichen gebungspolitik. Es wurden die Steuersätze der Folgen des Krieges wuchsen die Reichsschul- bestehenden Verbrauch- und Verkehrsteuern den von ca. 4 Mrd. Mark 1913 auf unvorstell- und der Stempelabgaben ständig erhöht. bare ca. 300 Mrd. Mark (inkl. Repara- Zudem wurden laufend neue Steuern geschaf- tionsforderungen der Siegermächte) kurz nach fen und jeweils als „Steuerreform“ tituliert15). dem Krieg. Während in 1871 die Reichsabgaben sich im Wesentlichen auf Erwerbseinnahmen16), Zölle Als die Situation für die deutsche oberste und Verbrauchsteuern17) beschränkten, kamen Heeresleitung (Hindenburg und Ludendorff) in den Jahren 1893 und vor allem in 1906 viele im September 1918 ausweglos erschien, be- Verbrauchsteuern18), höhere Stempelabgaben wegte sie die großen Parteien (SPD, Zentrum, (Vorläufer der Umsatzsteuer)19) und erstma- Liberale), am 11. November 1918 den Waffen- lig20) (bisher ausschließliche Gesetzgebungs- stillstand und damit die Kapitulation in Com- kompetenz bei den Ländern) Besitzsteuern21) piegne zu unterschreiben. Ludendorff wollte hinzu. Dies führte zu deutlich mehr Personal- um jeden Preis vermeiden, dass das Militär bedarf. selbst seine Niederlage eingesteht. Auch der Kaiser zog sich komplett aus der Verantwor- Nach dem Sturz Bismarcks im Jahre 1890 tung und floh am 10. November 1918 nach und dem Ende seiner Bündnispolitik, geriet Holland. All diese Entwicklungen und die Deutschland durch sein Vormachtstreben in große Enttäuschung und das Leid des Volkes den Jahren vor dem ersten Weltkrieg zuneh- waren Ursache der Novemberrevolution. In mend in eine Isolation. Das Volk ging mit Be- deren Folge dankten sämtliche Fürsten ab, der geisterung in den ersten Weltkrieg („für Volk Kaiser am 28. November 1918 als Letzter. und Vaterland“), ohne zu ahnen, dass alles ganz anders als vorgestellt kommen würde. In diesen kaum berechenbaren aufwühlenden Durch Kriegsanleihen und einen recht hohen Zeiten fand am 19. Januar 1919 die Wahl Wehrbeitrag war zu Beginn des Krieges genug (wahlberechtigt waren zum ersten Mal Männer 15) Steuerreformen 1873, 1893 (Miquel), 1904, 1906, 1909 und 1913. 16) Aus Post- und Eisenbahnverwaltung. 17) Zölle, Tabaksteuer, Zuckersteuer, Salzsteuer, Branntweinsteuer, Brausteuer und Wechselstempelsteuer. 18) Zigarettensteuer (Banderole), Schaumweinsteuer, Leuchtmittelsteuer, Zündwarensteuer. 19) Spielkartenstempel, Börsen- und Lotteriesteuer, Frachturkundensteuer, Automobilsteuer, Fahrkartensteuer, Tantiemesteuer, Umsatzsteuer, Schecksteuer. 20) Dr. Herbert Leidel, Die Begründung der Reichsfinanzverwaltung, Schriftenreihe des BMF, Bonn 1964, Seite 49 ff. 21) Erbschaftsteuer, Wertzuwachssteuer und Banknotensteuer. 17
und Frauen) zur Nationalversammlung statt. im neu gebildeten25) ersten Kabinett der Diese trat am 6. Februar 1919 in Weimar zu- Weimarer Republik unter dem Regierungschef sammen, weil es in Berlin noch zu unruhig Philipp Scheidemann. Aufgrund der schwieri- war22). Noch bevor es zur Verabschiedung gen politischen Verhältnisse gab es in der einer Verfassung - Weimarer Reichsverfassung Weimarer Republik eine Vielzahl an Regierun- (WRV) - kam, stimmte die Nationalversamm- gen und Finanzministern26). Am 21. Juni 1919 lung unter dem massiven Druck der Alliierten wurde Matthias Erzberger Finanzminister. am 22. Juni 1919 der Annahme des Versailler Friedensvertrages zu. Die Unterzeichnung er- folgte am 28. Juni 1919 seitens der erst wenige Tage im Amt befindlichen Außenminister Hermann Müller (SPD) und Johannes Bell (Zentrum). 2. Erzbergers Finanzreform Am 9. November 1918 war das Kaiserreich Geschichte und die Republik wurde ausgeru- fen. Der letzte Kanzler des Kaiserreichs, Prinz Max von Baden, ernannte ebenfalls an diesem Tag - obwohl er dazu gar nicht befugt war - den Führer der MSPD, Friedrich Ebert23), zum Matthias Erzberger Reichskanzler. Ebert war Vorsitzender des am Folgetag gebildeten Rates der Volksbeauftrag- Schon bevor Erzberger diese Verantwortung ten, der aus je drei Mitgliedern der USPD und übernahm, gab es Bestrebungen zu einer völ- der MSPD bestand. Der nationalliberale ligen Neuaufstellung der Reichsfinanzen27). Reichstagsabgeordnete Eugen Schiffer wurde Diese waren durchgehend getragen von der Reichsstaatssekretär im Reichsschatzamt und Erkenntnis, dass die enormen Schulden und am 13. Februar 1919 Reichsfinanzminister24) Verpflichtungen des Deutschen Reiches und 22) Zu Einzelheiten dieser Ereignisse Mai, aaO, Seiten 108 bis 114. 23) Friedrich Ebert wurde von der verfassungsgebenden Nationalversammlung am 11. Februar 1919 in Weimar zum ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik gewählt. 24) Durch Erlass des Reichspräsidenten vom 21. März 1919 (RGBl. Seite 327) wurde das Reichsfinanzministerium gebildet (vorher Reichs- schatzamt). Die gesamte Verwaltung des reichseigenen Vermögens wurde dem neu gebildeten Reichsschatzamt übertragen. 25) Nachdem die verfassungsgebende Nationalversammlung zuvor im Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919 (RGBl. Seite 169) die Rechtsgrundlage dafür geschaffen hatte. 26) In 14 Jahren waren es 16 Finanzminister, vgl. dazu Pausch, aaO, Seiten 246 ff. 27) Hierzu und zum Nachfolgenden mit vielen Einzelheiten und Nachweisen Dr. Herbert Leidel, aaO, Seite 67 ff. 18
der Neuaufbau des Staates eine vereinheit- setzgebungskompetenz des Reichs für Zölle lichte, starke Finanzverwaltung erforderten. unstreitig war (Art. 6), kommt in Art. 8 zum Grundzüge waren schon in den letzten Kriegs- Ausdruck, wie stark umstritten diese Kompe- jahren erarbeitet worden. Bereits am 30. De- tenz für die Steuern war: zember 1918 legte der Rat der Volks- beauftragten ein Finanzprogramm vor28). Je- „Das Reich hat ferner die Gesetzgebung doch war allen Akteuren bewusst, dass einige über die Abgaben und sonstigen Einnah- bereits im Entwurf vorliegende Steuergesetze men, soweit sie ganz oder teilweise für einer Grundlage in der zu erarbeitenden Ver- seine Zwecke in Anspruch genommen wer- fassung bedurften. Insbesondere mussten hier den. Nimmt das Reich Abgaben oder sons- die Kompetenzen bzw. deren Verteilung auf tige Einnahmen in Anspruch, die bisher den Reich und Bundesstaaten bestimmt werden. Ländern zustanden, so hat es auf die Er- Auch eine Regelung allgemeiner Steuerrechts- haltung der Lebensfähigkeit der Länder fragen in Form einer Abgabenordnung und Rücksicht zu nehmen.“ - fast noch wichtiger - eine gesetzliche Klä- rung der Finanzverfassung mussten zuvor be- In den Artikeln 83 und 84 ist in den Formulie- schlossen werden. Dies alles sollte dafür rungen spürbar, wie sehr um die Verwaltungs- sorgen, dass die Bürger die unweigerlich kompetenz gerungen wurde. Und dieser steigenden Steuerlasten würden akzeptieren Prozess war noch nicht abgeschlossen, konnte können. Die Festsetzung und Erhebung der aber - wie aus diesen beiden Artikeln ersicht- Steuern sollte gründlich, wirksam, gleich- lich - nun durch einfaches Reichsgesetz gere- mäßig und gerecht erfolgen. gelt werden. So wurde aufgrund von vier Vorentwürfen29) Von Bedeutung ist hier auch, dass Enno vom Verfassungsausschuss der National- Becker bereits im November 1918 beauftragt versammlung am 18. Juni 1919 der 5. Ent- worden war, Regelungen für ein allgemeines wurf vorgelegt, der dann - nach weiteren Steuerrecht zu erarbeiten. Das tat er parallel zu Beratungen im gesamten Gremium30) - am den Verfassungsberatungen und legte am 31. Juli 1919 als „Verfassung des Deutschen 5. Juni 1919 seinen Entwurf der Reichsabga- Reiches“ (Weimarer Reichsverfassung - WRV) benordnung (RAO) vor. Darin war - ent- beschlossen wurde und am 11. August 1919 in sprechend dem Stand der Verfassungs- Kraft trat. Während die ausschließliche Ge- beratungen - noch vorgesehen, die Steuern 28) Fundstelle bei Leidel, aaO, Fußnote 242. 29) Vom 3. und 17. Januar 1919 und vom 17. und 21. Februar 1919. 30) 382 Männer und 41 Frauen. 19
durch die Landesverwaltungen zu erheben. 3. Spannung pur: Chronologie der Gesetz- Neu war darin aber schon, dass diese Landes- gebung im Sommer 1919 verwaltungen dreistufig (oberste, obere und Die Zielstrebigkeit Erzbergers und die Drama- Ortsbehörden) gegliedert sein sollten. Die bis- tik der Ereignisse auf dem letzten Wegstück zu her zuständigen kommunalen Stellen würden einer reichseinheitlichen Finanzverwaltung damit ausgeschlossen. lassen sich am besten in einer Tabelle veran- schaulichen: Weiter war von Bedeutung, dass alle diese Be- ratungen durch die noch laufenden Verhand- 3. Juli Beschluss des Kabinetts zu Erzbergers lungen über einen Friedensvertrag in Versailles Steuer-/Finanzreform. unter erheblichem Druck standen. Die auf 6. Juli Persönliches Schreiben Erzbergers an die Deutschland zukommenden finanziellen Las- Länder. ten waren noch nicht völlig absehbar. Als die 8. Juli Rede Erzbergers vor der Nationalver- Vertragsverhandlungen abgeschlossen waren sammlung. und die erheblichen finanziellen Lasten fest- 9. Juli Zweite Rede Erzbergers vor der National- standen, trat das gesamte Reichskabinett unter versammlung. Scheidemann zurück. Der neue Reichskanzler 13. Juli Konferenz der Länderfinanzminister mit Gustav Bauer machte den Zentrumsabgeord- Erzberger. neten Matthias Erzberger am 21. Juni 1919 zu 16. Juli Umarbeitung der Reichsabgabenordnung seinem Vizekanzler und Finanzminister. Erz- (RAO), Teil „Behörden“. berger strebte schon immer an, die Verwaltung 19. Juli Übersendung des neuen Entwurfs der der Steuern und Abgaben beim Reich zu ver- RAO an die Länder. einheitlichen. Er beschloss, dieses Vorhaben in Angriff zu nehmen und teilte dies in einem 21. Juli Kabinettsbeschluss zur RAO. persönlichen Schreiben vom 6. Juli 1919 den 24. Juli Vorlage an den Staatenausschuss32). Landesfinanzministern mit. In einem An- hang31) zu diesem Schreiben legte Erzberger 29. Juli Erzberger „schwört“ das Kabinett auf umfangreich und mit vielen Einzelbegründun- seine Pläne ein. gen die Notwendigkeit der von ihm geplanten 4. bis Beratung des RAO-Entwurfs im Staa- Gesetzesvorhaben dar. Gleichzeitig lud er die 6. August tenausschuss mit zum Teil heftigem Landesfinanzminister zu einer Konferenz am Widerstand der Länder und harten Diskussionen. 13. Juli 1919 nach Weimar ein. 31) In einem weiteren Anhang skizzierte Erzberger seine geplante Behördenstruktur. 32) Zur Zustimmung nach § 2 des Gesetzes vom 10. Februar 1919, da WRV noch nicht in Kraft. 20
6. August Zustimmung des Staatenausschusses zur 13. bis Erzberger schloss mit den Ländern, die RAO gegen die Stimmen von Bayern, 19. August dem Übergang der Verwaltungszuständig- Baden und Sachsen, nachdem Erzberger keit auf das Reich ablehnend gegenüber- einen größeren Länderanteil an den standen, einzelne Abkommen34) („Wei- Steuern und eine direkte Einflussnahme marer Abkommen“), in denen er weitere der Länder auf die Leitung der zu schaf- Zugeständnisse machte: Die Anzahl und fenden Landesfinanzämter zugestenden der Sitz der Landesfinanzämter wurden hatte33). festgelegt. Die Landesfinanzminister wur- 6. August Vorlage der so geänderten RAO an die den Präsidenten der Landesfinanzämter, Nationalversammlung. das Reich übernahm die Pensionslasten für die übernommenen Landesbeamten 11. August Bekanntmachung der WRV. und das Reich leistete Ersatz für die über- nommenen Gebäude. 12. August Erste Beratung der RAO in der National- versammlung; es wurde beschlossen, die 19. August 2. und 3. Lesung des Gesetzes über die Vorschriften über die Behördenorganisa- Reichsfinanzverwaltung und dessen Be- tion/Verwaltung (§§ 8 bis 50 und 451) aus schluss durch die Nationalversammlung der RAO herauszunehmen und in einem nach nochmaliger intensiver Debatte über eigenen Gesetz zu beschließen, um die die Festigung der Länderrechte, insbeson- Reichsfinanzverwaltung noch zum 1. Ok- dere in § 46 Abs. 4 dieses Gesetzes (davor tober 1919 einführen zu können, da die § 451 RAO). Beratungen zur RAO bis dahin nicht fer- 10. Sep- Bekanntmachung des Gesetzes über die tig sein würden. tember Reichsfinanzverwaltung35) nach Zustim- mung des Reichsrates. Es trat in Kraft zum 1. Oktober 1919. Verfassungsgebende National- versammlung 1919 in Weimar 33) Dies fand Ausdruck im dazu neu geschaffenen § 451 der RAO. 34) Mit Baden am 13./14. August, mit Bayern und Hessen am 14. August, mit Württemberg am 18. August und mit Sachsen am 18./19. August. 35) RGBl. 1919, Seite 1591. 21
Am 1. Oktober 1919 war die einheitliche Es folgte in schnellen Schritten die Reform der Reichsfinanzverwaltung begründet. Damit Steuern selbst. konnte die Arbeit an der RAO und an den ma- teriellen Steuergesetzten fortgeführt werden. Das Umsatzsteuergesetz war bereits am 26. Ju- Zudem musste nun schnell die Arbeit in den li 1918 als Weiterentwicklung des Waren- Landesfinanzämtern und den Finanzämtern umsatzstempelgesetzes vom 26. Juni 1916 be- aufgenommen werden. schlossen worden36). Es wurde noch verbessert im Umsatzsteuergesetz vom 24. Dezem- 4. Änderungen des Steuerrechts ber 1919. Die Arbeiten an der Reichsabgabenordnung konnten am 13. Dezember 1919 abgeschlossen Das Erbschaftsteuerrecht (die Erbschaftsteuer werden. Dabei wurde das Gesetz über die ist eine der ältesten Steuern überhaupt) war Reichsfinanzverwaltung wieder integriert. schon in 1906 erstmals kodifiziert worden und wurde nun durch Gesetz vom 10. Septem- ber 1919 in eine Form gebracht, die viele Elemente des heutigen Erbschaft- und Schen- kungsteuerrechts enthielt. Außer einigen Verkehr- und Verbrauchsteuern wurden weitere bedeutende Steuerrechtsmate- rien geregelt. Das Grunderwerbsteuergesetz vom 12. September 1919, das Kapitalertrag- steuergesetz vom 29. März 1920 und das Gesetz über die Steuernachsicht vom 3. Ja- nuar 1920. In materieller Hinsicht zentral waren aber das Einkommensteuergesetz vom 29. März 1920 und das Körperschaftsteuergesetz vom 30. März 1920. Beide Rechtsmaterien waren im preußischen Einkommensteuergesetz vom 24. Juni 1891 (Miquel) noch zusammen- gefasst. Das neue Einkommensteuergesetz Buchdeckel der Reichsabgabenordnung vom 13. Dezember 1919 beendete die völlige Zersplitterung der Ein- 36) Zu 100 Jahren Umsatzsteuer vgl. die Laudatio zur Festschrift von Werner Widmann in UStR 2018, Seite 617 ff. 22
kommensteuergesetze der Länder und enthielt Sitz in Oldenburg zuständig. Dabei deckte das bereits viele der im heutigen Einkommen- Landesfinanzamt Hannover außer der preu- steuergesetz enthaltenen modernen Elemente. ßischen Provinz Hannover auch die Gebiete der damaligen Bundesstaaten Braunschweig, Abgeschlossen wurde die Reform durch das Schaumburg-Lippe und Waldeck-Pyrmont ab Landessteuergesetz vom 30. März 1920, in und hatte deshalb auch eine Außenstelle in dem Erzberger versuchte, den Finanzausgleich Braunschweig. Das Landesfinanzamt Olden- zwischen Reich, Ländern37) und Gemeinden burg war zuständig für das Gebiet des Frei- dadurch zu regeln, dass die Länder und Ge- staates Oldenburg ohne dessen Provinzen meinden Anteile der o. g. Reichssteuern erhiel- Lübeck (Landesfinanzamt Mecklenburg- ten. Dies war das Ende der Matrikularbeiträge. Lübeck) und Birkenfeld (Landesfinanzamt Es sollte sich zeigen, dass während der gesam- ten Dauer der Weimarer Republik der Finanz- ausgleich ein Streitthema blieb und die jeweiligen Aufkommensanteile wiederholt ge- ändert wurden. 5. Die Landesfinanzämter Im rechtlichen Sinne „errichtet“ wurden die Landesfinanzämter38) durch die „Verordnung zur Einführung der Reichsfinanzverwaltung“ vom 27. September 1919. Landesfinanzamt Hannover 1919 Aufgrund des § 4 des Gesetzes über die Reichsfinanzverwaltung wurden vom Reichs- Cöln), aber mit Wilhelmshaven aus der Pro- finanzminister am 29. September 1919 die vinz Hannover. Cuxhaven wurde dem Landes- 26 Landesfinanzämter mit jeweiligem Sitz und finanzamt Unterelbe in Hamburg zugeordnet. Zuständigkeitsgebiet bekannt gemacht. Für das Gebiet des heutigen Bundeslandes Nieder- Zum Landesfinanzamt Hannover gehörten im sachsen waren die Landesfinanzämter Hanno- Jahre 1920 insgesamt 60 Finanzämter, wovon ver mit Sitz in Hannover und Oldenburg mit heute 12 nicht mehr bestehen39). Zum Landes- 37) Eine Liste der Bundesländer ist in Anhang 1 enthalten. 38) Eine Liste der Landesfinanzämter findet sich in der „Bekanntmachung über die Bezirkseinteilung und Sitze der Landesfinanzämter“ vom 29. September 1919, Amtsblatt der Reichsfinanzverwaltung 1919, Seite 11. 39) Die Finanzämter Achim, Blankenburg, Blumenthal, Bremervörde, Fallingbostel, Harburg I (heute wohl in Hamburg), Lehe (heute wohl mit Geestemünde das Finanzamt Wesermünde, das aber damals zu Oldenburg gehörte), Melle, Otterndorf, Rinteln, Schöningen, Weener und Zellerfeld. 23
finanzamt Oldenburg gehörten 10 Finanz- ämter ist ausführlicher dargestellt in einem ämter, von denen heute drei40) nicht mehr be- Sonderdruck der OFD-Mitteilungen anlässlich stehen41). Entsprechend den Zusagen Erz- des 75-jährigen Jubiläums der OFD Hannover. bergers an die Vertreter der Länder wurde der Braunschweigische Finanzminister erster Prä- Vorweggenommen werden kann, dass die Lan- sident des Landesfinanzamts Hannover und desfinanzämter zum 1. April 1934 umgestaltet der oldenburgische Finanzminister erster Prä- worden sind. Aus den Landesfinanzämtern sident des Landesfinanzamts Oldenburg. Oldenburg und Unterweser entstand das Lan- desfinanzamt Weser-Ems mit Sitz in Bremen. Die Landesfinanzämter waren vor die enorme Finanzämter aus den Regierungsbezirken Herausforderung gestellt, für die Steuerver- Aurich und Stade wechselten vom Landes- waltung eine neue Organisationsstruktur zu finanzamt Hannover in die Zuständigkeit des erstellen, die Finanzämter aufzubauen und neuen Landesfinanzamts Weser-Ems44). Die das neue Steuerrecht handhabbar zu machen. Außenstelle in Braunschweig wurde geschlos- Finanzämter aufzubauen bedeutete, für eine sen. Entsprechend dem Führerprinzip wurden Unterbringung zu sorgen, Personal zu finden diese Oberbehörden durch Führererlass vom und eine Ausstattung zu beschaffen. Die bisher 16. März 193745) in „Der Oberfinanzpräsident“ bei Ländern und Kommunen mit Steuersachen umbenannt. Beschäftigten wurden42) übernommen und weitere Beschäftigte aus anderen Verwaltungs- 6. Die Finanzämter bereichen (z. B. Post) ebenfalls. Zudem hatten Nach der Verordnung zur Einführung der die Landesfinanzämter für ihre eigenen Auf- Reichsfinanzverwaltung46) galten die nach gaben Personal zu rekrutieren und entspre- Landesrecht für die Festsetzung und Erhebung chend die eigene Unterbringung zu organi- von Reichssteuern bestimmten staatlichen sieren43). Die Geschichte der Landesfinanz- Amtsstellen vom 1. Oktober 1919 an als 40) Die Finanzämter Jever, Varel und Brake mussten schon sehr bald aufgelöst worden sein. 41) Das heutige Finanzamt Hannover-Land II ist durch die Teilung des bisherigen Finanzamts Hannover-Land entstanden. 42) Verordnung über die Übernahme von Landesbeamten in die Reichsfinanzverwaltung vom 29. September 1919, Amtsblatt der Reichs- finanzverwaltung 1919, Seite 10. 43) In Hannover wurden folgende Gebäude genutzt: Hardenbergstraße 3-4, Cellerheerstaße 2-4, und nach den Kriegszerstörungen konnte erst in 1959 das jetzige Gebäude in der Waterloostraße 5 bezogen werden; in Oldenburg erlebte das Landesfinanzamt eine Odyssee über die Hindenburgstraße, den Markt 15, den Schloßplatz 10, die Gartenstraße 10, den Pferdemarkt 16 und die Ratsherr-Schulze-Straße 10, bis im Jahre 1976 das Gebäude Am Festungsgraben 1 bezogen werden konnte. 44) VO’en zur Vereinfachung und Verbilligung der Reichsfinanzverwaltung vom 28. Februar und 23. März 1934 (RFBl. 1934, Seite 29 und Seite 65). 45) RFBl. 1937, Seite 31. 46) Vom 27. September 1919, RFBl. 1919, Seite 9. 24
Finanzämter47). In der Regel waren dies kom- wurden dieselben Gebäude genutzt. In man- munale Steuerämter der Landkreisverwaltun- chen Fällen stand am Eingang auch vor dem gen. Es gab also vor Ort einen nahezu 1. Oktober 1919 bereits „Finanzamt“48). nahtlosen Übergang in die Reichsfinanzver- waltung. Und genau das hatte Erzberger be- Insgesamt vollzog sich der Aufbau der Finanz- absichtigt. Die Bürger sollten nach wie vor ämter aber je nach Standort unterschiedlich, mit denselben Staatsbediensteten zu tun haben, verteilt auf die Jahre 1919 und 1920. Dies er- die ihr Geschäft auch verstanden. Und oft gibt sich sehr detailliert aus den zum Teil vor- handenen Chroniken einzelner Finanzämter49). In der Regel deckte sich der Zuständigkeits- bereich der Finanzämter mit dem jeweiligen Landkreis. Die Aufgaben der Finanzämter nahmen rasch zu. Zum einen lag dies an der umfassenden Steuerreform, die zum Ziel hatte, das Recht zu modernisieren, also systematischer, einheit- licher und gerechter zu machen, die aber vor- rangig darauf abzielte, erheblich mehr Steuern einzunehmen. Hinzu kam, dass die Wirtschaft wieder in Gang kam. Letztlich bescherte auch der Wunsch mancher Länder, die Landes- steuern durch die Finanzämter verwalten zu lassen, einen Aufgabenzuwachs. Ein doppelter Verwaltungsapparat war einfach zu teuer. Das Personal wuchs zahlenmäßig, es mussten Finanzamtsschild alt Gebäude gekauft oder gemietet werden. 47) Die mit Stand vom 15. Juni 1920 existierenden Finanzämter im gesamten Deutschen Reich ergeben sich aus der Bekanntmachung über die Sitze und Amtsbezirke der Finanzämter, Amtsblatt der Reichsfinanzverwaltung 1920, Seiten 271 ff.; vgl. für die „niedersächsischen“ Finanzämter Anhang 2. 48) Im damaligen Großherzogtum Baden hießen die Steuerbehörden schon seit 1895 „Finanzamt“. 49) Dem Finanzamt Osnabrück-Stadt liegt ein Erlass des Landesfinanzamts Hannover vom 16. März 1920 vor, der die Bildung der Finanzämter Osnabrück, Bersenbrück, Lingen, Aschendorf und Bad Bentheim regelt. Herr Uwe Kaiser berichtet in der Chronik des Finanzamts Stade von dessen Errichtung zum 1. April 1920. Dieses Datum trifft auch für das Finanzamt Lüneburg zu. In Burgdorf nahm das Finanzamt die Geschäfte am 15. Juni 1920 auf. In den Finanzämtern Verden und Westerstede ist kein eindeutiger Stichtag der Errichtung feststellbar. 25
Abschnitt 2 Unruhig: Eine neue Verwaltung in den Turbulenzen der ersten deutschen Demokratie (1920 bis 1923) 1. Schwierige Startbedingungen ters der Finanzen waren umzusetzen bzw. Das alles musste in einem Umfeld realisiert weiterzuleiten. Die Arbeit der Finanzämter war werden, das unruhig war. Es war fast alles neu. organisatorisch und fachlich zu begleiten. Im Keiner konnte sich mehr an einem Monarchen Herbst 1920 begannen die Vorbereitungen für orientieren. Die einen verunsicherte dies, die die vorläufige Veranlagung der neuen Reichs- anderen sahen es als Chance, mehr Rechte zu einkommensteuer. Namenskarteikarten und erhalten. So musste das Finanzamt Verden Sollkarten wurden angelegt. Durchgehend lange auf seine Möbel aus Bremen warten, wurden allerdings von Anfang an schon die weil dort die Transportarbeiter streikten. An- Reichssteuern bearbeitet bzw. eingenommen, dererseits ruhte die Last der Verantwortung für die vorher die Hauptsteuerbüros in den sehr stark auf den Landräten und den dort ge- Landkreisen bzw. ihre Zweigbüros zuständig wählten Kreistagen. Je nach handelnden Per- waren. Ein Schwerpunkt der Tätigkeit war im sönlichkeiten ging man mutig und beherzt Jahre 1920 die Bearbeitung der Kriegsabgaben daran, die neue Situation zu gestalten. Woh- vom Vermögenszuwachs. Im Jahre 1920 arbei- nungsnot war zu lindern, Land zu kultivieren, teten in vielen (kleinen) Finanzämtern ledig- die Stromversorgung aufzubauen, Verkehrs- lich wenige Personen, im Finanzamt Verden wege zu erneuern oder überhaupt neu zu er- z. B. vier Beamte und drei Hilfsarbeiter. Akten stellen, Schulen aufzubauen, die Finanzen wurden von den Steuerämtern übernommen. waren zu sanieren50). Nach einer vom Reichsfinanzministerium im Herbst 1920 erlassenen Geschäftsanweisung 2. Erste Entwicklungen für die Finanzämter (Vorläufer der Geschäfts- Die Landesfinanzämter mussten sich in die ordnung für die Finanzämter (FAGO)) wurden Aufgabe einer Mittelbehörde hineinfinden. noch im Jahre 1920 die ersten Geschäftsver- Die preußischen Staatssteuerämter wurden teilungspläne aufgestellt. Hiergegen protestier- Anfang 1920 aufgelöst, Personal zum Teil ten allerdings mancherorts, wie z. B. in übernommen und auch die Einrichtungen. Oldenburg, die Beschäftigten der Finanzämter. Anfragen und Anweisungen des Reichsminis- Beanstandet wurde, dass nach der neuen 50) Beispielhaft die Zusammenfassung der Tageszeitung HARKE in der Ausgabe 37 vom 13. Februar 1932, abgedruckt in „Hundert Jahre Landkreis Nienburg/Weser 1885 bis 1985“, Seite 53 ff. 26
Organisation die Inspektoren den Sekretären In den Jahren 1922 und 1923 übernahmen die in ihre (bisher selbstständige) Arbeit hinein- Finanzämter von den Hauptsteuerbüros der reden können und der Vorsitz bei den Ver- Kommunen weiterhin die Bearbeitung der anlagungskommissionen nicht sachgerecht ge- Stempelsteuern, der Kraftfahrzeugsteuer und regelt sei51). der Beförderungssteuer. Die Kirchengemein- den erhoben die Kirchensteuer bis dahin selbst, Die Einrichtung der Veranlagungskommis- einige nutzten nun die Möglichkeit und gaben sionen war von der preußischen Steuerverwal- die Festsetzung und Erhebung ebenfalls an die tung übernommen worden. Dort waren unter Finanzämter ab. Die Bearbeitung der Zwangs- dem Vorsitz des Finanzamtsvorstehers oder anleihe wurde im Jahre 1923 abgeschlossen. seines Vertreters neben Finanzamtsbeschäftig- Die Einwohnerzahlen stiegen (im Landkreis ten auch Bürger vertreten, um schwierige Verden, der noch viel kleiner war als heute) auf Steuerfälle zu klären. 28.027 im Jahre 1923. Es wurden bei Sparkas- sen und Spar- und Darlehenskassen auf dem Ende 1920 übernahmen die Finanzämter von Lande - nach Genehmigung des Landesfinanz- den Kommunen die Verwaltung der Umsatz- amts Hannover - Zahlstellen für die Steuern steuer und der Grunderwerbsteuer. Außerdem eingerichtet52). zu bearbeiten war das Reichsnotopfer, die „Luxus“-Steuer und die Besitzsteuer (Ver- Die vielen tiefgreifenden Umwälzungen in mögenszuwachssteuer). Zudem begann die dieser jungen, unerfahrenen Demokratie hin- Bearbeitung der Erbschaftsteuer, allerdings zu terließen bei den Menschen Spuren. Der Krieg der Zeit bereits bei einigen Finanzämtern hatte nicht nur schlimme Verluste (jedes Dorf zentral. beklagte viele gefallene Soldaten) und damit auch soziale Nöte hinterlassen, sondern auch Der Personalbestand stieg z. B. im Finanzamt Verunsicherung und Orientierungslosigkeit. Es Verden in 1921 auf 16, in 1922 auf 30 und in gab Auseinandersetzungen, starke Spannungen 1923 auf 39 Personen. Insgesamt herrschte in in der Parteienlandschaft durch extreme Ten- der Gefolgschaft (so wurde die Belegschaft denzen sowohl am rechten wie am linken des Finanzamts bezeichnet) ein ständiger Rand. In den Jahren 1918 bis 1921 gab es ins- Wechsel. Häufig kamen Beschäftigte aus an- gesamt 376 politische Morde, 354 davon wur- deren zum Teil weit entfernt liegenden Finanz- den von rechtsradikalen Tätern verübt. Hinzu ämtern des ganzen Reiches dazu oder wurden kam noch der Putschversuch von Hitler und dorthin abgeordnet oder versetzt. Ludendorff am 8. und 9. November 1923 in 51) Protokoll einer Protestversammlung im Haus Schöneck in Oldenburg. Dort hatten sich Sekretäre und Obersekretäre aus Finanzämtern des Landesfinanzamtsbezirks Oldenburg versammelt (Unterlage im Finanzamt Westerstede einsehbar). 52) Vgl. Chronik des Finanzamts Verden. 27
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