Aus Politik und Zeitgeschichte - 49/2006 4. Dezember 2006 - BPB

 
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APuZ
Aus Politik und Zeitgeschichte
                             49/2006 ´ 4. Dezember 2006

                                                China
                                                 Xuewu Gu
                            China als Akteur der Weltpolitik

                                           Bernhard Seliger
Die neue politische Úkonomie Ostasiens und die Rolle Chinas

                                              Heinrich Kreft
                  China ± Die soziale Kehrseite des Aufstiegs

                                          Thomas Heberer
                  China ± Entwicklung zur Zivilgesellschaft?

                                           Eva Sternfeld
               Umweltsituation und Umweltpolitik in China

                                          Tang Shaocheng
       Taiwanpolitik der EU ± Beschrånkungen und Chancen

           Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament
Editorial
  China war bis ins 16. Jahrhundert hinein die fortschrittlichste
Zivilisation der Welt, ein Land, das çber die Meere herrschte und
weltweiten Handel trieb. An diese Zeit scheint die Volksrepublik
China anknçpfen zu wollen. Die Groûmacht ist auf dem Weg
zur Supermacht: wirtschaftlich, politisch und militårisch.

   Chinas Wirtschaft boomt. Die von Deng Xiaoping eingeleitete
und in den Folgejahren konsequent fortgefçhrte Reform- und
Úffnungspolitik hat zu einem geradezu explodierenden Wirt-
schaftswachstum gefçhrt. Doch der rasante Aufstieg hat eine
Kehrseite. So sind neben enormen Fortschritten schwerwiegende
Konsequenzen fçr die Sozialstruktur des Landes und seine Um-
welt nicht zu çbersehen. Die Widersprçche sind groû, und sie
betreffen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaûen: Es
gibt Ansåtze einer Zivilgesellschaft neben dem Beharrungsver-
mægen der Diktatur, makroækonomische Stabilitåt neben sozia-
lem Chaos, irrwitzigen Reichtum neben bitterster Armut, Ent-
wicklung neben gravierender Umweltverschmutzung und -zer-
stærung. Die angehende Supermacht China ist wirtschaftliche
Groûmacht und Entwicklungsland in einem.

   Die Blicke der westlichen Welt auf das riesige, seit 1949 kom-
munistisch gefçhrte Land mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern
sind besorgt und begehrlich zugleich: besorgt wegen der politi-
schen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Spielregeln, die
westlichem Demokratie- und Menschenrechtsverståndnis bis-
weilen zuwiderlaufen; begehrlich wegen des groûen chinesischen
Absatzmarktes. Dabei wird leicht çbersehen, dass China långst
nicht mehr nur ein groûer Markt, sondern ± wie sein wirtschaft-
liches und strategisches Engagement in Afrika zeigt ± auch ein
groûer globaler Konkurrent ist.

                                               Katharina Belwe
Xuewu Gu           asien geprågt. Die 100 000 Mann der US-
                                                              Streitkråfte, die in erster Linie in Japan und

   China als Akteur                                           Sçdkorea stationiert sind, bilden den Aus-
                                                              gangspunkt fçr jede chinesische Sicherheits-

    der Weltpolitik
                                                              kalkulation. China muss sich damit abfinden,
                                                              dass sein Kçstenumfeld durch eine auûerregio-
                                                              nale Seemacht kontrolliert wird, die zugleich
                                                              die einzige Supermacht der Welt darstellt.
                                                                Chinas sicherheitspolitische Abhångigkeit

          D     ie Volksrepublik China hat sich dank
                ihres ununterbrochenen Wirtschafts-
          wachstums von durchschnittlichen acht bis
                                                              von den Vereinigten Staaten besteht auch
                                                              darin, dass das Schicksal Taiwans, dessen
                                                              Rçckfçhrung in den chinesischen Staat von
          neun Prozent seit Beginn der Reformen zu            der Regierungsklasse in Beijing als das Kardi-
          einem regelrechten Powerhaus der Weltwirt-          nalinteresse der chinesischen Nation des 21.
          schaft entwickelt. Seit 2004 rangiert das Reich     Jahrhunderts identifiziert wird, in der Hand
          der Mitte als die drittgræûte Handelsnation         von Washington liegt. Das Risiko, dass eine
          nur noch hinter den Vereinigten Staaten und         Militårintervention auf Taiwan China in einen
          Deutschland, aber vor Japan, Frankreich, Ita-       Krieg mit der Supermacht USA hineinreiûen
          lien und Groûbritannien.                            kænnte, måûigte bislang die chinesische Fçh-
                                                              rung bei ihren Anstrengungen nach einer Wie-
               Die unmittelbare Konsequenz dieser wirt-       dervereinigung mit der Inselrepublik.
            schaftlichen Erfolge ist ein neues China,
                                    das immer selbstbe-          Jedoch ist sich die Volksrepublik China
                                                              auch ihrer Position gegençber den USA be-
                        Xuewu Gu wusster,       souveråner
                                                              wusst. Vor allem sieht sie sich als Ståndiges
Dr. phil., geb. 1957; ordentlicher  und  aktiver  versucht,
                                                              Mitglied im UN-Sicherheitsrat auf gleicher
     Professor für Politikwissen- die Weltpolitik der         Augenhæhe mit den USA. Mit seinem Veto-
    schaft und Inhaber des Lehr- Gegenwart mitzuge-           recht kann Beijing Washingtons politische
  stuhls für Politik Ostasiens an stalten. Insbesondere       Vorhaben in New York blockieren, auch
   der Ruhr-Universität Bochum, dort, wo ihre vitalen         wenn dieses bislang nur selten eingesetzt wor-
Universitätsstraûe 150, GB1/49; Interessen im Spiel           den ist. Aber allein eine Vetodrohung reicht
                   44780 Bochum. sind, bemçht sich die        manchmal schon aus, um die Amerikaner in
                 xuewu.gu@rub.de Volksrepublik,        sich
                                                              Schwierigkeiten zu bringen. Der wegen man-
          http://www.rub.de/poa     gut  zu  positionieren.
                                    Dies gilt sowohl fçr      gelnder vælkerrechtlicher Legitimation kriti-
                                    ihr gelassenes Macht-     sierte Irakkrieg und der Zwang zum Kompro-
            spiel mit der Supermacht USA als auch fçr ihr     miss bei der Verabschiedung der internationa-
            strategisches Flirten mit den europåischen        len Sanktionen gegen Sudan sind nur zwei
            Staaten. Aber auch die Vorstæûe zur Stabilisie-   Beispiele dafçr, dass Washington bei der Ver-
            rung des regionalen Umfeldes im Asien-Pazi-       folgung seiner Zielsetzungen in bestimmten
            fik-Raum, die Umwerbung von Russland und          Konstellationen an Beijing nicht vorbeikom-
            der Vormarsch nach Afrika gehæren zu auûen-       men kann. Auch die Umwerbung Chinas
            und sicherheitspolitischen Aktivitåten der Re-    durch die Bush-Regierung beim Atomstreit
            gierung in Beijing (Peking), mit denen das chi-   mit Iran und Nordkorea veranschaulicht das
            nesische Interesse gegençber anderen weltpo-      Potenzial des chinesischen Einflusses auf die
            litischen Akteuren durchgesetzt werden soll.      amerikanische Auûenpolitik.
                                                                Neben dieser traditionellen Vetomacht hat
Das gemåûigte Machtspiel mit den USA                          China auch moderne Einflussmæglichkeiten
                                                              gegençber den USA entwickelt. So besteht fçr
          Das Verhåltnis zu den Vereinigten Staaten           das Land heute die Mæglichkeit, den amerika-
          stellt fçr die chinesische Regierung die ¹Priori-   nischen Finanzmarkt zu beeinflussen, wenn
          tåt innerhalb der Prioritåtenª (zhongzhong zhi      auch nur in einem begrenzten Umfang. China
          zhong) der chinesischen Auûen- und Sicher-          verfçgt heute mit mehr als 950 Milliarden US-
          heitspolitik dar. So ist vor allem die Sicher-      Dollar çber die græûten Devisenreserven der
          heitslage der Volksrepublik China durch die         Welt. 70 Prozent davon entfallen auf die
          Militårpråsenz der Vereinigten Staaten in Ost-      amerikanische Wåhrung bzw. amerikanische

                                                                                             APuZ 49/2006      3
Wertpapiere. Allein in die Staatsanleihen der              Auch Pråsident Hu Jintao vermied jegli-
    Vereinigten Staaten hat die chinesische Regie-           chen Eindruck von einem herausfordernden
    rung 250 Milliarden US-Dollar investiert, mit            China, als er im April 2006 die Vereinigten
    der Konsequenz, dass die amerikanischen                  Staaten besuchte. Sichtlich entspannt, kçn-
    Staatsschulden praktisch von China mitfinan-             digte er auf dem Galadinner, das der Grçnder
    ziert werden. 1 Die Perspektive, durch Redu-             von Microsoft Bill Gates zu seinen Ehren
    zierung bzw. Erhæhung des Anteils der ameri-             gab, einen entscheidenden Schritt zur Be-
    kanischen Wåhrung an den chinesischen                    kåmpfung der in China stark verbreiteten
    Devisenreserven die Abwertung bzw. Auf-                  Software-Piraterie an. 3
    wertung des US-Dollars beschleunigen und
    damit das amerikanische Wirtschaftsleben be-
    einflussen zu kænnen, wird von den chinesi-                            Strategisches Flirten mit Europa
    schen Strategen zunehmend erkannt.
                                                             Seit Jahren liebåugelt die chinesische Fçhrung
       Moderne ¹Hebelkraftª gegençber den
                                                             mit der Europåischen Union (EU) als einem
    USA entwickelt sich auch aus der Verflech-
                                                             ¹Strategischen Partnerª auf dem Weg zur
    tung der amerikanischen Volkswirtschaft mit
                                                             Realisierung einer multipolaren Weltord-
    der chinesischen. Ein jçngerer Forschungsbe-
                                                             nung. Unmittelbar nach der Veræffentlichung
    richt aus Oxford veranschaulicht, dass die
                                                             des Strategiepapiers zur Europapolitik im
    Vereinigten Staaten mit Wachstumsrçckgang
                                                             Jahre 2003 intensivierte die chinesische Re-
    und Inflationssteigerung rechnen mçssten,
                                                             gierung ihre Bemçhungen um die Umsetzung
    wenn sie ihre Wirtschaftsbeziehungen zu
                                                             ihrer strategischen Vorstellungen. Das Jahr
    China abbråchen. Hingegen werde das ameri-
                                                             2004 wurde zum ¹Europajahrª erklårt. Schon
    kanische Bruttoinlandsprodukt 2010 im Ver-
                                                             im Januar flog Staatspråsident Hu Jintao nach
    gleich zu 2001 bei einer engen Wirtschaftsko-
                                                             Paris, um mit seinem franzæsischen Amtskol-
    operation mit China um 0,7 Prozent hæher
                                                             legen Jacques Chirac die bereits seit 1997 be-
    sein als ohne Geschåfte mit China und die
                                                             stehende ¹Strategische Partnerschaftª zwi-
    Preise um 0,8 Prozent niedriger. Auch die
                                                             schen China und Frankreich auszubauen. Im
    real verfçgbaren Einkommen der amerikani-
                                                             Mai reiste Ministerpråsident Wen Jiabao in
    schen Haushalte sollen im Fall einer engen
                                                             Begleitung von Auûenminister Li Zhaoxing
    Kooperation mit China zusåtzlich um rund
                                                             und Handelsminister Bo Xilai nach Europa,
    1 000 US-Dollar steigen. 2
                                                             um Deutschland, Belgien, Italien, Irland und
      Vor dem Hintergrund, dass die amerikani-               Groûbritannien zu besuchen. In Berlin wurde
    sche Wirtschaftskraft fast fçnffach stårker als          eine Deklaration mit dem Titel ¹Partnerschaft
    die chinesische ausfållt, neigt Beijing kaum             in globaler Verantwortungª verabschiedet. In
    dazu, seine ¹wirtschaftliche Karteª als politi-          Rom erhielt der chinesische Regierungschef
    sche Waffe einzusetzen. Im Gegenteil ± die               vom damaligen italienischen Ministerpråsi-
    chinesische Fçhrung wird nicht mçde, den                 denten Silvio Berlusconi in Form einer ge-
    Aufstieg des Landes als eine friedliche Ent-             meinsamen Erklårung die Zustimmung, ¹eine
    wicklung darzustellen und die Amerikaner                 langfristige, stabile, nachhaltige und strategi-
    auf die ¹win-winª Chancen zu verweisen. So               sche Partnerschaftª zwischen China und Ita-
    schickte die chinesische Regierung im Mårz               lien aufzubauen. Auch in London konnte
    2006 eine hochrangige Delegation unter der               Wen seinen britischen Amtskollegen Tony
    Leitung der stellvertretenden Ministerpråsi-             Blair als ¹Strategischen Partnerª gewinnen.
    dentin Wu Yi mit dem Auftrag nach Amerika,               In dieser gemeinsamen Erklårung verspra-
    groû angelegte Einkaufsgeschåfte in Hæhe                 chen beide Politiker, eine ¹umfassende strate-
    von 16,2 Milliarden US-Dollar abzuwickeln,               gische Partnerschaftª zwischen China und
    um die dortigen Ressentiments çber die an-               Groûbritannien zu errichten.
    dauernden Handelsdefizite mit China zu be-
    schwichtigen.

     1 Vgl. Renmin Ribao (Volkszeitung ± Ûbersee-             3 Demzufolge werde auf chinesischen Computern der

    ausgabe) vom 25. August 2006.                            Lenovo-Gruppe das Betriebsystem Windows vor-
     2 Vgl. Margot Schçller/Makbule Top, Ho Goes to          installiert sein, um illegalen Raubkopiehåndlern keine
    Washington: Comments on the Development of U. S. ±       Chance zu geben. Vgl. Carola Milbrodt, Hu Jintaos
    China Economic Relations, in: China aktuell, 3 (2006),   Besuch in den USA ohne substanzielle Ergebnisse, in:
    S. 58.                                                   China aktuell, 3 (2006), S. 101 ±102.

4    APuZ 49/2006
Mit Ausnahme einer mit franzæsischen Ma-       zu haben. Aus ihrer Reisediplomatie gegen-
rinesoldaten durchgefçhrten Militårçbung im       çber den auûereuropåischen Machtzentren
Mårz 2004 beschrånkte sich die von der chine-     wurde abgeleitet, dass auch die neue Bundes-
sischen Seite angestrebte ¹Strategischen Part-    regierung eine aktive Chinapolitik betreiben
nerschaftª mit den Europåern noch auf das         wolle. Beijing zeigt sich bereit, mit der Bun-
Papier. Im substanziellen Bereich, in dem die     desrepublik unter Merkel einen ¹strategi-
chinesische Fçhrung konkrete und fassbare         schen Dialogª zu fçhren, in der Hoffnung,
Ergebnisse sehen wollte, konnte sie ihre Ziele    das chinesisch-deutsche Verhåltnis zu einer
nicht erreichen. Trotz intensiver Bemçhungen      der stabilsten Beziehungen Chinas zu den
der chinesischen Fçhrung und Diplomatie           europåischen Staaten auszubauen.
kann bislang in der EU keine Mehrheit fçr die
Aufhebung des seit 1989 bestehenden Waffen-
embargos gefunden werden. Auch in der                                Umwerbung von Russland
Frage der Gewåhrung des Status einer Markt-
wirtschaft, der China vor mæglichen Handels-      Aus chinesischer Sicht ist Russlands Bedeu-
einschrånkungen durch EU-Staaten schçtzen         tung fçr China einmalig: Reich an Naturres-
kænnte, wurde die chinesische Fçhrung von         sourcen und eigenwillig auf der Bçhne der
ihren ¹Strategischen Partnernª in Europa im       Weltpolitik, kann das græûte Flåchenland der
Stich gelassen. China kænne, so die europå-       Welt Chinas Aufstiegprozess beschleunigen
ische Begrçndung, erst als eine Marktwirt-        oder verlangsamen, je nachdem, welche
schaft anerkannt werden, wenn es seine            Position die politischen Eliten in Moskau
rechtsstaatlichen Mångel und seine zu hohe        zu ihrem ostasiatischen Nachbar einnehmen.
Staatsintervention in Wirtschaftsablåufe abge-    Aus historischen Erfahrungen mit ihrem
baut habe.                                        måchtigen Nachbarn im Norden haben die
                                                  Chinesen gelernt, dass das Land sich nur si-
   Offenbar aus Verårgerung çber das europå-      cher fçhlen kann, wenn das Verhåltnis zu
ische Verhalten, das aus chinesischer Sicht das   Russland auf einem konfliktarmen Niveau
so mçhsam in Gang gesetzte ¹Strategische          gehalten wird. Ruhe und Stabilitåt im Norden
Spielª verdorben hat, kçndigte die chinesi-       sind die absolute Voraussetzung fçr Sicher-
sche Regierung im Dezember 2004 an, den           heit im Sçden und nicht umgekehrt. Diese
Kauf von fçnf A 380 Airbus-Modellen im            Einsicht fçhrte dazu, dass sich die chinesische
Wert von 1,4 Milliarden US-Dollar auf Eis zu      Regierung unmittelbar nach dem Untergang
legen. Ministerpråsient Wen, der in diesem        der Sowjetunion intensiv bemçhte, Russland
Jahr zum zweiten Mal nach Europa reiste,          zu umwerben.
um an dem EU-China-Gipfel in Den Haag
im Dezember 2004 teilzunehmen, konnte                Gegenwårtig strebt die chinesische Regie-
seine Enttåuschung çber das schief gelaufene      rung danach, die vorhandene strategische
¹Europajahrª nicht verbergen. Beim Treffen        Partnerschaft zu vertiefen, die schon in der
mit Chinesen aus Ûbersee nach dem Gipfel          Regierungszeit von den Pråsidenten Boris Jel-
kritisierte er offen das europåische Junktim      zin und Jiang Zemin gegrçndet wurde.
von Menschenrechtsfragen und Waffenem-            Offensichtlich um das Potenzial zur Gegen-
bargo und forderte die EU auf, das ¹Relikt        machtbildung gegen das amerikanisch-japani-
des Kalten Kriegesª endlich aufzugeben.           sche Militårbçndnis in Ostasien zu veran-
                                                  schaulichen, intensivierten Beijing und Mos-
  Die Abwahl von Gerhard Schræder im Sep-         kau ihre Militårkooperation. Im Dezember
tember 2005 wurde von der chinesischen            2004 reiste der russische Verteidigungsminis-
Fçhrung mit Sorge beobachtet. Der Altbun-         ter Sergeij Iwanow nach Beijing, um mit der
deskanzler galt in China als realistisch den-     chinesischen Fçhrung çber neue Vertråge fçr
kender und pragmatisch handelnder Politiker.      Waffenlieferungen an China zu verhandeln.
Noch lange nach der Bildung der Groûen            Gleichzeitig wurde ein groû angelegtes Mili-
Koalition herrschte in China Ungewissheit         tårmanæver von russischen und chinesischen
darçber, ob und inwieweit die neue Bundes-        Streitkråften vereinbart, das tatsåchlich im
kanzlerin Angela Merkel die pragmatische          Sommer 2005 in China stattfand.
Chinapolitik der Regierung Schræder fortset-
zen wçrde. Erst der Besuch Merkels im Mai           Wie begrenzt diese strategische Partner-
2006 schien die chinesische Fçhrung beruhigt      schaft ist, bekam die chinesische Fçhrung

                                                                                  APuZ 49/2006      5
sehr bald zu spçren. Ende 2004 erteilte Pråsi-   des Landes konzentrieren zu kænnen. Expli-
        dent Wladimir Putin dem von China favori-        zit wird eine Regionalpolitik mit dem Ziel
        sierten Plan zum Aufbau einer Erdælpipeline      verfolgt, eine komfortable und stærungsfreie
        von Russland direkt nach Daqing im chinesi-      Umwelt fçr die inneren Reformen zu schaf-
        schen Nordosten eine Absage. Moskaus Ent-        fen und diese stabil zu halten. In diesem Kon-
        scheidung, den von Japan favorisierten Plan      text ist insbesondere Chinas Integrationspoli-
        fçr eine Erdælpipeline von Sibirien nach         tik gegençber seinen Nachbarlåndern in Sçd-
        Nachodka am russischen Pazifik zu realisie-      ostasien zu sehen.
        ren, zeigte, dass die russische Fçhrung nicht
        bereit war, das Anliegen ihres strategischen        Bereits im November 2000 hatte China den
        Partners in Beijing dem russischen National-     ASEAN-Mitgliedsstaaten vorgeschlagen, eine
        interesse çberzuordnen. Auch wenn Moskau         gemeinsame Freihandelszone zu grçnden. Im
        mit seiner Entscheidung dem chinesischen         November 2002 wurde von beiden Seiten ein
        Konkurrenten Japan nicht unbedingt einen         Rahmenabkommen unterzeichnet, das vorsah,
        Gefallen tun wollte, offenbarte das Scheitern    im Jahr 2010 die China-ASEAN-Freihandels-
        der chinesischen Pipelinediplomatie gegen-       zone ins Leben zu rufen. Wenn alles nach Plan
        çber Russland doch die Brçchigkeit und           laufen sollte, wird so im Jahre 2010 die welt-
        Schwåche der sino-russischen Partnerschaft.      græûte Freihandelszone entstehen. Gemessen
        Beijing musste sich damit abfinden, dass         an der Bevælkerungszahl wird sie die NAFTA
        Moskau nicht unbedingt auf der Seite Chinas      (North American Free Trade Agreement) und
        steht, wenn fundamentale Interessen Russ-        die Europåische Zollunion çbertreffen. Dass
        lands im Spiel sind.                             die Freihandelszone mit den ASEAN-Staaten
                                                         fçr China in erster Linie ein politisches Projekt
           Seither hat die chinesische Regierung ihre    darstellt, ist ein offenes Geheimnis, auch wenn
        Erwartungen zurçckgeschraubt; sie hofft auf      die ækonomischen Vorteile mit Blick auf die
        eine Zusage fçr den Bau einer Abzweigung         hochgradige Komplementaritåt der chinesi-
        der noch nicht fertig gestellten Pipeline in     schen und sçdostasiatischen Wirtschaften nicht
        den russischen Fernen Osten. Allerdings zæ-      zu çbersehen sind. Mit diesem Integrations-
        gert der russische Pråsident noch. Auch die      projekt will Beijing vor allem die sçdostasiati-
        gçnstige Atmosphåre des ¹Russlands-Jahresª       schen Staaten am Wirtschaftsboom Chinas be-
        in der Volksrepublik China, zu dessen Eræff-     teiligen und sich damit als eine ¹benign powerª
        nung Putin im Mårz 2006 mit einer Delegati-      pråsentieren. Von diesem Projekt erhofft man
        on von mehr als 1 000 hochrangigen Vertre-       sich, dass die Zollunion dazu beitragen kænnte,
        tern aus Wirtschaft und Politik nach Beijing     die Bedrohungsperzeption der sçdostasiati-
        gereist war, konnte die russische Regierung      schen Lånder gegençber dem Reich der Mitte
        nicht zu diesem von den Chinesen dringend        abzubauen und das Vertrauen in China zu ver-
        gewçnschten Schritt bewegen.                     stårken.

           Es hat den Anschein, dass Pråsident Putin       Im Gegensatz zu seiner Sçdostasienpolitik
        den Einsatz seiner ¹Erdælkarteª nicht nur auf    hat China offenbar erhebliche Schwierigkei-
        die westlichen Lånder beschrånken will. So-      ten, die koreanische Halbinsel zu stabilisie-
        lange China sich nicht massiv um eine Kor-       ren. In den letzten Jahren hat Beijing enorme
        rektur der bilateralen Handelsstruktur kçm-      politische wie diplomatische Ressourcen in-
        mert, deren Dominanz durch Rohstofflie-          vestiert, um den Konflikt zwischen den Ver-
        ferungen an China und durch primitiven           einigten Staaten und der Demokratischen
        Grenzhandel das groûe Russland wie ein Ent-      Volksrepublik von Korea çber den Weg di-
        wicklungsland erscheinen låsst, wird er seine    plomatischer Verhandlungen beizulegen. Es
        ¹Úlkarteª als Druckmittel nicht leichtfertig     war der chinesischen Regierung aber nur
        aus der Hand geben.                              mçhsam gelungen, vier Verhandlungsrunden
                                                         fçr die Delegationen aus den USA, Nordko-
                                                         rea, Sçdkorea, Russland, Japan sowie China
Stabilisierung des regionalen Umfeldes                   herbeizufçhren.

        In Beijing herrscht Konsens darçber, dass          Die Schwåche der chinesischen Ordnungs-
        China ein friedliches Umfeld im Asien-Pazi-      macht lieû sich nicht çbersehen, als die Ver-
        fik-Raum benætigt, um sich auf den Aufbau        handlungen Ende 2004 in eine Sackgasse ge-

    6    APuZ 49/2006
rieten, die schlieûlich zum Austritt Nordko-        lungsfåhigen, von amerikanischen Einflçssen
reas aus den Gespråchen im Februar 2005             freien, aber von Russland mitgefçhrten Ord-
fçhrte. Nur mit groûen Anstrengungen                nungs- und Sicherheitsorgan fçr die zentral-
konnte Beijing das nordkoreanische Regime           asiatische Region zu entwickeln, schien
zur Rçckkehr an den Verhandlungstisch               Schritt fçr Schritt in Erfçllung zu gehen. Im
çberreden. In der am 19. September 2005 ver-        Mai 2003 wurde die SCO auf dem Gipfeltref-
æffentlichten Gemeinsamen Erklårung ver-            fen der Staats- und Regierungschefs der Mit-
pflichtete sich Nordkorea zum Verzicht auf          gliedsstaaten China, Russland, Kasachstan,
Atomwaffen und die USA zur Unterlassung             Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan in
von Militårangriffen auf Nordkorea. Es ent-         Moskau institutionalisiert. Ein Sekretariat
stand der Eindruck, als ob es China gelungen        mit dem Sitz in Beijing wurde errichtet. Als
wåre, die Koreakrise abzuwenden.                    Fçhrer der Organisation erklårten sich China
                                                    und Russland bereit, jeweils 24 Prozent des
  Allerdings zerschlug der nordkoreanische          Budgets der SCO zu çbernehmen, wåhrend
Atomtest am 9. Oktober 2006 alle Hoffnun-           21 Prozent auf Kasachstan, 15 auf Usbekis-
gen auf eine baldige Læsung des Konfliktes.         tan, 10 auf Kirgistan und 6 Prozent auf Tad-
Pjængjang ignorierte einfach die chinesische        schikistan entfallen sollten.
Warnung im Vorfeld des Testes und setzte die
chinesische Fçhrung erst 20 Minuten vor                In jçngster Zeit zeigt Beijing auch groûes
dem Test darçber in Kenntnis. Empært çber           Interesse, seine Beziehungen zu Indien zu
das grobe Verhalten seines Verbçndeten, ver-        verbessern. Hæhepunkt dieser Annåherung
urteilte Beijing in einer ungewæhnlich scharf       war der Chinabesuch des damaligen indi-
formulierten Erklårung den Atomtest als             schen Ministerpråsidenten Atal Bahari Vaj-
¹rçcksichtslosª und ¹unakzeptabelª. Auch            payee im Juni 2003. Fçr China waren die
die Entscheidung der chinesischen Regierung,        diplomatischen Errungenschaften offensicht-
der von den USA und Japan eingebrachten             lich: In der gemeinsamen Erklårung vom 23.
UN-Resolution 1718 zum Waffenembargo                Juni 2003, die durch die beiden Regierungs-
gegen Nordkorea zuzustimmen, zeigte, dass           chefs Wen und Vajpayee unterzeichnet
die Grenze der chinesischen Geduld erreicht         wurde, erkannte Indien Tibet als Teil des Ter-
worden ist.                                         ritoriums der Volksrepublik China an und
                                                    verpflichtete sich, tibetische antichinesische
   Chinas Schwåche zeigt sich auch in seiner        Proteste auf indischem Boden zu unterbin-
Unfåhigkeit, die Amerikaner zur Akzeptanz           den. Als Gegenleistung akzeptierte China die
nordkoreanischer Bedingungen zu bewegen.            Verwaltungsgewalt Indiens çber den Kænigs-
Die US-Regierung schien nicht bereit, den           staat Sikkim, der 1975 in die indische Union
Preis im Sinne einer Normalisierung der di-         eingegliedert wurde. Die chinesische Aner-
plomatischen Beziehungen zu Nordkorea zu            kennung erfolgte jedoch nicht durch die ge-
zahlen, um Pjængjangs Atomprogramm zu               meinsame Erklårung, sondern in Form einer
stoppen. Es bleibt nach wie vor eine Heraus-        Absichtserklårung zur gegenseitigen Verein-
forderung fçr Beijing, einen gemeinsamen            barung, den Grenzhandel auch fçr Sikkim zu
Nenner zwischen dem chinesischen Wunsch             æffnen.
nach einem friedlichen Wandel in Nordkorea
und dem amerikanischen Ziel eines Regime-              Beijing schien bereit zu sein, Chinas Bezie-
wechsels herzustellen. Eine dauerhafte Stabi-       hungen zu seinem sçdasiatischen Groûnach-
litåt auf der koreanischen Halbinsel ohne eine      barn durch Vergangenheitsbewåltigung end-
gegenseitige Anerkennung zwischen den bei-          lich zu normalisieren. Das græûte Hindernis
den Kontrahenten wird es nicht geben, auch          fçr diese Aufgabe dçrfte die historisch çber-
wenn Beijing nicht mçde wçrde, sich fçr die         lieferte Grenzstreitigkeit sein, die Indien auch
Ordnung in der Region einzusetzen.                  ståndig an die Demçtigung im chinesisch-in-
                                                    dischen Grenzkrieg von 1962 erinnert. Die
   In Zentralasien konzentrierte sich die chi-      gegenseitigen territorialen Ansprçche (China
nesische Politik darauf, die im Jahre 2001 ge-      mit 90 000 und Indien mit 38 000 Quadarat-
grçndete Shanghai Cooperation Organizati-           kilometern) konnten bislang noch nicht gere-
on (SCO) ¹mit Leben zu erfçllenª. Chinas            gelt werden. Die Verhandlungen dauern noch
Vorstellung, die erste von Beijing initiierte in-   an, und eine definitive Beilegung des Streits
ternationale Organisation zu einem hand-            scheint erst in Jahren mæglich zu werden.

                                                                                     APuZ 49/2006      7
Wåhrend die Politik Chinas gegençber In-       handels Chinas ausmacht. So werden auf fast
       dien grundsåtzlich durch Initiative und Opti-     jedem afrikanischen Markt chinesische Kon-
       mismus geprågt ist, ist seine Japanpolitik        sumgçter zum Verkauf angeboten. Das Aus-
       ohne Dynamik. Wegen seiner wiederholten           maû der Durchsetzung der chinesischen Kon-
       Besuche des Yasukuni-Schreins, in dem die         sumgçter in Afrika ist so groû, dass man
       Seelen der 14 A-Klasse Kriegsverbrecher           durchaus von einer Verånderung ¹derª afri-
       ruhen, wurde der ehemalige japanische             kanischen Lebensart sprechen kann.
       Ministerpråsident Koizumi in China als ¹un-
       erwçnschtª betrachtet. Beijing lehnte jegliche       So haben etwa chinesische Plastiksandalen
       Begegnung mit ihm ab. Aus chinesischer            Eingang in jedes afrikanische Dorf gefunden
       Sicht wurde die ¹politische Basisª der chine-     und damit das alltågliche Erscheinungsbild
       sisch-japanischen Beziehungen durch die           des Kontinents auffallend veråndert: Dass
       ¹unverantwortliche Handlungª des japani-          afrikanische Frauen und Kinder sich keine
       schen Ministerpråsidenten und damit durch         traditionellen Ledersandalen leisten kænnen
       die japanische Regierung massiv geschådigt.       und daher barfuû gehen mçssen, gehært der
                                                         Vergangenheit an. 4
          Es mehrten sich in Beijing die Zeichen
       dafçr, dass die chinesische Fçhrung die Hoff-       Chinas Griff nach Afrika im 21. Jahrhun-
       nung auf Koizumi bereits aufgegeben hatte,        dert scheint das Ergebnis eines Zusammen-
       der im September 2006 sein Amt abgab. Star-       spiels von drei Faktoren zu sein: dem spçrba-
       ke Signale wurden von Beijing nach Tokio an       ren Rçckgang des westlichen Einflusses auf
       seinen Nachfolger gesandt, mit der Andeu-         Afrika sçdlich der Sahara nach dem Ende des
       tung, dass die chinesische Regierung bereit       Ost-West-Konfliktes; dem Scheitern des afri-
       sei, die Beziehungen unmittelbar zu normali-      kanischen Modernisierungsprojektes, das
       sieren, wenn der neue Regierungschef Japans       auch mit massiven Entwicklungshilfen aus
       auf den Besuch des Yasukuni-Schreins ver-         den USA, Europa und Japan bis heute nicht
       zichten sollte.                                   zum Erfolg gefçhrt werden konnte; und dem
                                                         Aufstieg der Volksrepublik China zu einem
Vormarsch nach Afrika                                    der fçhrenden Industriestaaten.

       Eines der interessantesten Phånomene, die mit       Das Reich der Mitte hat ein starkes Inte-
       dem Aufstieg Chinas einhergegangen sind, ist      resse, den afrikanischen Kontinent nach chi-
       Chinas ¹Rçckkehrª nach Afrika. Die Wieder-        nesischer Art und Weise zu industrialisieren
       entdeckung Afrikas fand in einer Zeit statt, in   und zu modernisieren. Aber der Westen
       der die Einflçsse anderer Groûmåchte auf den      scheint noch nicht dazu bereit, diese Fçh-
       Kontinent ståndig zurçckgingen. Diese Kons-       rungsrolle den Chinesen zu çberlassen. Wel-
       tellation begçnstigte die Wahrnehmung Afri-       che Parteien sich am Ende durchsetzen kæn-
       kas als ein strategisches Vakuum durch die chi-   nen, wird wahrscheinlich von den Einstellun-
       nesische Fçhrung. Mit der Wiederentdeckung        gen der Afrikaner selber abhången. China hat
       der weltpolitischen und wirtschaftlichen Be-      im Augenblick einen guten Ausgangspunkt,
       deutung Afrikas entwickelte sich in Beijing       muss aber einen Weg finden, um nicht nur das
       ein starkes Interesse, dem Kontinent mehr po-     Wohlwollen der Afrikaner, sondern auch die
       litische, wirtschaftliche und diplomatische       Zustimmung des Westens zu erreichen. Die-
       Ressourcen zu widmen.                             sen Weg zu finden, wird aber lange dauern.

          Inzwischen hat China fast alle traditionel-
                                                          4 Einwohner des westafrikanischen Inselstaats Kap
       len Handelspartner Afrikas çberholt. Nur ge-
                                                         Verde beståtigen aus eigenen Erfahrungen die Verån-
       gençber den Vereinigten Staaten mit einem
                                                         derungen ihres Lebensstandards durch das Eindringen
       Handelsvolumen von rund 60 Milliarden US          der chinesischen Konsumgçter: ¹Jetzt kænnten es sich
       Dollar (2004) musste sich das Land mit einem      alle Eltern leisten, ihren Kindern Weihnachtsgeschenke
       Handelsvolumen von 43 Milliarden US-Dol-          zu kaufen.ª Heidi Ostbo Haugen/Jorgen Carling: Sie
       lar (noch) mit einem unter seiner Ambition        wagen und gewinnen. Chinesische Håndler in Afrika,
       stehenden Platz begnçgen. Dessen ungeachtet       in: Der Ûberblick, Zeitschrift fçr ækumenische Be-
                                                         gegnung und internationale Zusammenarbeit, (2005), 4
       wurde ganz Afrika bereits von chinesischen
                                                         S. 21.
       Waren erobert, auch wenn der Handel mit
       Afrika nur zwei Prozent des Gesamtauûen-

   8    APuZ 49/2006
Bernhard Seliger         zu 200 Milliarden US-Dollar jåhrlich wird
                                                             China in diesem Jahr wohl die Grenze von

   Die neue politi-                                          1 000 Milliarden US-Dollar bei den Devisen-
                                                             reserven çberschreiten ± ein Weltrekord, der

   sche Úkonomie
                                                             jedoch wegen des ungelæsten Problems der
                                                             weiteren Entwicklung des Wechselkurses fçr
                                                             den Yuan nicht nur Freude bei den chinesi-

  Ostasiens und die                                          schen Behærden auslæst. Ein Viertel der aus-
                                                             låndischen Direktinvestitionen in Entwick-
                                                             lungslånder geht nach China, dem wichtigs-

      Rolle Chinas                                           ten Zielland fçr auslåndische Investitionen
                                                             neben den OECD-Staaten.

                                                                Wåhrend die Erfolge, aber auch die unge-

          O         ptimisten lernen Russisch, Pessimisten
                    lernen Chinesischª hieû es in den Zei-
             ten des Kalten Krieges. Heute scheint dieser
                                                             læsten Probleme Chinas ein Ergebnis der
                                                             Entwicklung der letzten 25 Jahre sind, ist die
                                                             jçngste Zeit nach der Asienkrise von 1997
             nicht ganz ernst gemeinte Spruch aktueller      und 1998 durch eine bemerkenswerte Ønde-
             denn je ± die Herausforderung, welche die       rung gekennzeichnet: War China vorher, be-
             chinesische Wirtschaft fçr die entwickelten     dingt durch die Konzentration auf die Ent-
             Volkswirtschaften in Europa und Amerika         wicklung im Innern, im Wesentlichen auûen-
                                    darstellt, wird aller-   politisch passiv ± und bedingt durch den
                                    orten diskutiert. Die    Wunsch nach Mitgliedschaft in der Welthan-
                 Bernhard Seliger                            delsgesellschaft WTO auûenwirtschaftspoli-
                                    Zunahme von Textil-
Dr. sc.pol., geb. 1970; Repräsen-                            tisch åuûerst zurçckhaltend ±, so ånderte sich
                                    importen     aus   der
  tant der Hanns-Seidel-Stiftung                             dies in den vergangenen Jahren deutlich. Dies
                                    Volksrepublik China
  in Korea, Gastprofessor an der                             betrifft vor allem den Einfluss des Landes
                                    (im Folgenden: China),
  Seoul National University, 501,                            auf seine unmittelbaren Nachbarn. China hat
                                    die zu einer Quotenre-
 Soo Young Building, Hannam-1-                               sich hier vom passiven, wenn auch wohl-
                                    gelung fçr chinesische
        Dong,Yongsan-Gu, Seoul,                              wollenden Empfånger von Investitionen und
                                    Textilien fçhrten, hat
                   Republik Korea.                           Entwicklungshilfe zum aktiven Teilnehmer
                                    ebenso dazu beigetra-
                seliger@hss.or.kr.                           an regionalen Entwicklungsprozessen gewan-
                                    gen, diese Herausfor-
                                    derung in das Bewusst-   delt. Sowohl in Sçdostasien als auch in Nord-
             sein der Europåer zu rçcken, wie die Ûber-      ostasien betreibt China nun zu seiner Interes-
             nahme europåischer Firmen durch neue            senvertretung eine aktive Auûenwirtschafts-
             chinesische Mitbewerber und die Zunahme         politik. Im Rennen um Freihandelszonen, zu
             des chinesischen Massentourismus. 1             dem auch Japan und andere Lånder der Re-
                                                             gion wie Singapur oder Sçdkorea angetreten
             Dabei ist der Aufstieg Chinas zur wirt-         sind, nimmt China inzwischen eine zentrale
          schaftlichen Groûmacht nicht neu. Er begann        Stellung ein. Zu seinen traditionellen Anlie-
          mit den Reformen unter Deng Xiaoping               gen ± etwa der Eindåmmung des amerikani-
          ab dem Jahr 1978. Nachdem China unter              schen Einflusses in der Region ± kamen neue
          Mao Zedong und seinen Nachfolgern jahr-            Interessen; vor allem die Sicherung von Roh-
          zehntelang von Armut und Hungersnæten              stoffquellen, insbesondere Energie, ist wichti-
          in einer dysfunktionalen Zentralverwaltungs-       ger geworden. Wåhrend die aktivere Rolle
          wirtschaft geprågt war, haben die marktwirt-       Chinas in der internationalen Politik sowie in
          schaftlichen Reformen zunåchst in der Land-
          wirtschaft und dann auch in der Industrie zu        1 Zur Herausforderung, die China speziell fçr Europa
          einem rasanten Wachstum gefçhrt. Seitdem           darstellt vgl. Markus Taube, Die VR China als auf-
          ist die chinesische Wirtschaft (das Bruttoin-      strebende Macht in der Weltwirtschaft: Heraus-
          landsprodukt, BIP) jåhrlich um durchschnitt-       forderungen an Europa, in: Politische Studien, 57
          lich neun, die Industrie sogar um elf Prozent      (2006) 408, S. 26 ±35. Zu den mæglichen Antworten auf
                                                             diese Herausforderung vgl. Bernhard Seliger, (2006):
          gewachsen. Ein Ende dieses Booms ist noch          Die chinesische und indische Herausforderung ± Va-
          nicht abzusehen; im Jahr 2006 wird wieder          riationen zum alten Thema ¹Ordnungspolitik versus
          eine zweistellige Wachstumsrate erwartet.          Protektionismusª, www.ordnungspolitisches-portal.
          Dank groûer Handelsçberschçsse von bis             com/00_Index_Aktuelles.html.

                                                                                                 APuZ 49/2006        9
der Region im Prinzip begrçûenswert ist, gibt    explizit gegen solche Aktivitåten, so dass die
        es auch problematische Entwicklungen, wie        Beziehungen zu China auch nach den Ønde-
        den Neomerkantilismus und die Zusammen-          rungen in Chinas Wirtschaftssystem zunåchst
        arbeit mit so genannten Schurkenstaaten im       kçhl blieben. Territoriale Konflikte (um die
        Energiesektor, aber auch die Re-Interpretati-    Spratly-Inseln und vor allem damit verbun-
        on der Geschichte als Grundlage fçr territo-     dene Úl- und Gasvorkommen) erschwerten
        riale Forderungen, die sich aus der Situation    die Beziehungen zu Vietnam, den Philippinen
        Chinas als Vielvælkerstaat ergeben.              und Japan sowie Taiwan zusåtzlich.

           Diese Neuformulierung der Rolle Chinas           Wåhrend der Asienkrise von 1997 und
        wirft fçr seine Nachbarn die Frage auf, wie      1998 bewahrheiteten sich Befçrchtungen,
        auch in Zukunft die wirtschaftliche Dynamik      China werde dem Beispiel der sçdostasiati-
        Chinas als positiver Faktor fçr die regionale    schen Lånder folgen und seine Wåhrung ab-
        Wirtschaftsentwicklung genutzt werden kann,      werten, nicht. Dies håtte sicherlich zu einer
        ohne dass sich daraus eine politische Domi-      neuen Runde kompetitiver Abwertungen ge-
        nanz ergibt. Im Folgenden soll diese Frage zu-   fçhrt. Zwar blieb China gegençber regionalen
        nåchst fçr den sçdostasiatischen, dann fçr den   Initiativen wie der Miyazawa-Initiative zur
        nordostasiatischen Raum untersucht werden.       Grçndung eines Asian Monetary Fund skep-
        Abschlieûend wird die Mæglichkeit diskutiert,    tisch, aber ein erster Schritt zur Akzeptanz
        durch umfassende Wirtschaftsintegration in       einer regionalen Verantwortung war getan,
        der Region der Problematik der wuchernden        bedingt durch den Willen der chinesischen
        bilateralen, asymmetrischen Freihandelszo-       Bçrokratie, das Verhåltnis zu den sçdostasia-
        nen sowie des Neo-Merkantilismus wirksam         tischen Nachbarn zu verbessern ± und die
        zu begegnen.                                     Chancen fçr einen WTO-Beitritt Chinas zu
                                                         erhæhen. 2
Chinas Rolle in der ækonomischen                            Nach der Asienkrise wurden die chinesi-
Integration Sçdostasiens                                 chen Wirtschaftsbeziehungen zu den sçdost-
                                                         asiatischen Staaten deutlich enger. Dies war
        Die chinesischen Beziehungen zu Sçdostasien      einerseits ein Ergebnis der gelungenen Trans-
        sind durch historische, politische, kulturelle   formation Chinas. Die wirtschaftlich erfolg-
        sowie ækonomische Komplexitåt gekenn-            reiche Kçstenregion brachte steigende Læhne
        zeichnet. Traditionell war China kulturell als   und damit auch eine Verlagerung arbeitsin-
        Ursprungsland des Konfuzianismus, politisch      tensiver Produktion mit sich. Diese erfolgte
        als Zentrum des asiatischen Kosmos sowie         zumeist nicht innerhalb Chinas, da der wenig
        ækonomisch in Teilen Sçdostasiens dominie-       entwickelte Westen des Landes keine guten
        rend. Chinesische Håndlernetzwerke spielten      Voraussetzungen fçr stabile Produktionsbe-
        teilweise seit Jahrhunderten eine wichtige       ziehungen ± etwa in Form ausreichender In-
        Rolle fçr den Handel in der Region, und in       frastruktur ± bot, sondern in die angrenzen-
        den vergangenen Jahrzehnten waren diese ein      den Lånder Sçdostasiens. Auch als Rohstoff-
        wichtiger Faktor fçr die Integration im          lieferanten fçr Chinas boomende Wirtschaft
        Rahmen der Association of Southeast Asian        gewannen die Lånder Sçdostasiens an Wich-
        Nations (ASEAN). Derzeit leben etwa 30 bis       tigkeit.
        40 Millionen ethnische Chinesen in den
        ASEAN-Staaten. Auch wenn ihr Anteil an              Auch politisch wandelte sich das Verhåltnis
        der Bevælkerung oft nur gering ist, kontrol-     Chinas zu den Nachbarn: Die territorialen
        lieren sie einen Groûteil des Auûenhandels       Konflikte mit diesen (Spratly-Inseln) bleiben
        der ASEAN-Staaten. Wåhrend der Asien-            zwar bestehen, aber wie die Nachbarn be-
        krise hat dies vor allem in Indonesien, zum      mçhte sich China, diese nicht eskalieren zu
        Teil auch in Malaysia und Thailand, zu ethni-    lassen. Das Land akzeptierte die ASEAN-Er-
        schen Konflikten gefçhrt. In den Zeiten des      klårung von 1992 fçr eine friedliche Læsung
        Kalten Krieges war die Rolle Chinas in Sçd-
        ostasien durch die Rivalitåt mit den USA und      2 Vgl. Leong H. Liew, The Role of China's Bureau-
        die Unterstçtzung diverser kommunistischer       cracy in its No-Devaluation Policy during the Asian
        Rebellengruppen gekennzeichnet. Die Grçn-        Financial Crisis, Japanese Journal of Political Science, 4
        dung der ASEAN im Jahr 1967 richtete sich        (2003), S. 61 ±76.

   10    APuZ 49/2006
des Konflikts in der sçdchinesischen See; im      jedoch der institutionelle Rahmen fçr diese
Jahr 2002 wurde diese durch eine gemeinsame       Zusammenarbeit genauer festgelegt worden
China-ASEAN-Erklårung zum Verhalten der           wåre. Im Jahr 2003 schloss China mit den
betroffenen Staaten im Konflikt ergånzt. Seit     ASEAN-Staaten einen Freundschafts- und
2005 gibt es gemeinsame Forschungsprojekte        Kooperationsvertrag, und im November 2004
Chinas mit Vietnam und den Philippinen zu         wurde im Grundsatz die Errichtung einer
den Erdælvorkommen in der Region, die in          China-ASEAN-Freihandelszone (ACFTA)
gemeinsamer Ausbeutung oder in der friedli-       bis 2010 festgeschrieben. Dies war insofern
chen Aufteilung der Vorkommen mçnden              ein chinesischer Erfolg, als auch Japan und
kænnten. Verschiedene Formen der Diploma-         Sçdkorea stark an einem solchen Freihandels-
tie, wie vor allem das ASEAN Regional             abkommen interessiert waren. Die ASEAN-
Forum als sicherheitspolitisches Forum, aber      Staaten haben zunåchst die Bedenken gegen
auch nichtoffizielle Kontakte, etwa im Rah-       die chinesische Dominanz in einem solchen
men der zweimal jåhrlich stattfindenden In-       Bçndnis zurçckgestellt, allerdings auch den
ternational Conference of Asian Political         Weg fçr Freihandelsabkommen mit den ande-
Parties, ermæglichten dies. Die Beziehungen       ren nordostasiatischen Låndern und mit den
Chinas zu Sçdostasien waren und sind von          USA freigehalten.
der Ungleichheit der Partner in Bezug auf
Græûe sowie militårisches und wirtschaftli-         Neben der Integration Chinas in regionale
ches Gewicht gekennzeichnet, weshalb ver-         und internationale Wirtschaftsråume spielt in
trauensbildende Maûnahmen ein wichtiger           Sçdostasien traditionell auch die subregionale
Teil von Chinas Beziehungen zu den Nach-          Integration eine groûe Rolle. Sie eræffnet die
barn sind. Eine regelrechte Charmeoffensive       Mæglichkeit, unter Umgehung politischer
seit Ende der neunziger Jahre fçhrte zu ver-      Konflikte zu pragmatischen Læsungen fçr
stårkten kulturellen und politischen Kontak-      grenzçberschreitende Wirtschaftskooperation
ten mit der ASEAN.                                zu gelangen. Zunåchst war dies vor allem im
                                                  Verhåltnis zu Taiwan ± in den Augen Chinas
   Die stårkere wirtschaftliche Verflechtung      eine abtrçnnige Provinz ± und zu Hong
mit Sçdostasien fçhrte auch zu einer aktive-      Kong mit seinem kapitalistischen Wirt-
ren Auûenwirtschaftspolitik Chinas in der         schaftssystem wichtig: die beiden Hauptquel-
Region. Die græûere Einbindung Chinas in          len fçr Direktinvestitionen in den chinesi-
die regionale Arbeitsteilung hatte einerseits     schen Sonderwirtschaftszonen in den achtzi-
eine græûere Interdependenz der beteiligten       ger und neunziger Jahren.
Volkswirtschaften zur Folge, was Chinas In-
teresse an der wirtschaftlichen Stabilitåt sei-      Aber auch im Verhåltnis zu Sçdostasien
ner Nachbarn erhæhte. Andererseits stærten        kam wegen der schon erwåhnten chinesi-
dadurch bestehende Handelsschranken und           schen Minderheiten und der starken chinesi-
bçrokratische Hemmnisse mehr, so dass             schen Repråsentanz gerade in den Grenzge-
Chinas Interesse an regionalem Freihandel         bieten, etwa in Burma, der subregionalen In-
konstant wuchs. War die Mitgliedschaft in         tegration eine besondere Rolle zu. Im Jahr
der Asia Pacific Economic Cooperation             1992 wurde mit Unterstçtzung der Asian
(APEC) eher ein Teil der Strategie der Ein-       Development Bank der Mekong-Wirtschafts-
bindung in den weltweiten Handel mit dem          raum zwischen China, Myanmar, Laos, Thai-
nun erreichten Ziel der WTO-Mitgliedschaft,       land, Kambodscha und Vietnam begrçndet.
so ist die regionale Kooperation eine deutli-     Im Rahmen der Greater Mekong Subregion
che Abkehr von dieser Strategie. Der APEC-        konnten zwar nicht alle regionalen Konflikte
Zusammenarbeit wird deutlich weniger Ge-          ausgeråumt werden ± beispielsweise weigerte
wicht beigemessen als der Zusammenarbeit in       sich China, durch Beitritt zur Mekong River
den neuen Kooperationsformen, vor allem           Commission den Nachbarn am unteren Me-
¹ASEAN plus dreiª (China, Japan, Korea),          kong Mitbestimmungsrechte çber seine
die zum ersten Mal im November 2001 in            Dammbauprojekte am Oberlauf des Flusses
Brunei ein Gipfeltreffen abhielten und sich       zu geben ±, aber es stellt doch ein neues
seitdem jåhrlich treffen. Im Dezember 2005        Forum fçr die friedliche Zusammenarbeit im
wurde auf dem Gipfeltreffen in Kuala Lum-         Grenzraum dar. Dies ist gerade angesichts
pur die Grçndung einer ostasiatischen Ge-         der Dominanz chinesischer Håndler entlang
meinschaft im Prinzip beschlossen, ohne dass      der Grenze Chinas zu seinen sçdostasiati-

                                                                                 APuZ 49/2006      11
schen Nachbarn eine wichtige zusåtzliche                  Chinas Rolle in der ækonomischen
     Form des Interessenausgleichs, der teilweise
     auch durch bilaterale Wirtschaftshilfen oder                      Integration Nordostasiens
     Militårhilfe wie im Falle Kambodschas funk-
     tioniert.                                        Wåhrend sich schon die Zusammenarbeit der
                                                      Staaten Sçdostasiens nicht einfach gestaltete,
                                                      fehlten fçr die wirtschaftliche Integration
        Die Voraussetzungen fçr die ækonomische       Nordostasiens çberhaupt alle Voraussetzun-
     Integration Sçdostasiens waren, verglichen       gen: Japan war und ist aus historischen Grçn-
     mit denen in Westeuropa seit den fçnfziger       den als Teil eines politischen Integrationskon-
     Jahren, wesentlich schlechter: Wåhrend sich      zeptes nur schwer vorstellbar. Der Plan zur
     die westeuropåischen Integrationspartner         Errichtung einer ¹Greater East Asia Co-Pro-
     durch relativ groûe wirtschaftliche Homoge-      sperity Sphereª unter Fçhrung Japans im
     nitåt auszeichneten, war dies in Sçdostasien     Zweiten Weltkrieg belastet zusammen mit
     nicht der Fall. In Westeuropa war in den fçnf-   der wirtschaftlichen Stårke Japans bis heute
     ziger Jahren nur eine Region, nåmlich das        die politischen Beziehungen zu den Staaten
     italienische Mezzogiorno (Sçditalien), nicht     der Region. Diese historischen Altlasten wur-
     industrialisiert; demgegençber besteht Sçd-      den durch die Besuche des ehemaligen Minis-
     ostasien seit den Anfången der ASEAN-Inte-       terpråsidenten Junichiro Koizumi im Yakusu-
     gration aus Låndern mit vællig unterschiedli-    ni-Schrein, die Zulassung von Geschichtsbç-
     chem Entwicklungsstand ± von den Handels-        chern, welche die Rolle Japans vor dem
     zentren Singapur und Hong Kong bis hin zu        Zweiten Weltkrieg relativ positiv bewerten,
     den groûen, kaum menschlich erschlossenen        und den Streit mit Korea um die Dokdo (Ta-
     Gebieten Indonesiens und spåter, bei der Er-     keshima)-Insel noch verschårft, so dass die
     weiterung um die ehemaligen indochinesi-         Beziehungen Japans zu den beiden wichtigs-
     schen Staaten, um Gebiete, die zu den årms-      ten Nachbarn in Nordostasien, China und
     ten Låndern weltweit gehærten.                   Sçdkorea, heute auf einem Tiefpunkt ange-
                                                      langt sind. Ob die Wahl von Shinzo Abe zum
        Auch die politischen Systeme waren durch      neuen Ministerpråsidenten etwas åndern
     groûe Heterogenitåt gekennzeichnet. Das          wird, ist noch offen. Zwar hat Abe sich fçr
     Prinzip der Nichteinmischung in innere An-       verbesserte Beziehungen zu den Nachbarn
     gelegenheiten, typisch fçr die ASEAN-Inte-       ausgesprochen; seine Politik der Normalisie-
     gration, war eine Folge dieser Unterschiede.     rung Japans, die unter anderem eine Ønde-
     Es ermæglichte spåter auch die Integration       rung der pazifistischen Verfassung bringen
     Vietnams und die Akzeptierung Chinas             soll, kænnte aber der Ausgangspunkt neuer
     mit ihren Einparteiensystemen. Eine weitere      Kontroversen sein. Auch wenn die wirt-
     Folge war die besondere Bedeutung der in-        schaftliche Stårke Japans noch immer ein
     formellen, subregionalen Integration. Verbin-    wichtiger Faktor fçr die ækonomische Inte-
     dend waren in Sçdostasien die gemeinsame         gration der Region ist, so hat doch die fçnf-
     Perzeption einer Bedrohung durch den Kom-        zehnjåhrige Phase der Stagnation Japan als
     munismus sowie ± spåter ± die gemeinsamen        ækonomisches Modell in Frage gestellt.
     Erfahrungen der wirtschaftlichen Entwick-
     lung, die Bedeutung japanischer Direktinves-        China ist wegen des noch nicht vollzoge-
     titionen in den achtziger Jahren und die         nen politischen Transformationsprozesses
     schon erwåhnten chinesischen Minderheiten.       gleichermaûen als Teil eines politischen Inte-
     Natçrlich ist eine solche Konstellation nicht    grationsprojektes mit den Demokratien Japan
     statisch, sondern verånderbar. Dementspre-       und Sçdkorea kaum denkbar. Historisch war
     chend war auch die Schaffung einer sçdost-       das Land Mittelpunkt des ostasiatischen Staa-
     asiatischen Identitåt (¹think ASEANª) eines      tensystems, und diese Rolle wirkt ebenfalls li-
     der Ziele bei der Grçndung der ASEAN, das        mitierend. Seitdem es mit dem so genannten
     bis heute verfolgt wird. Die Einbeziehung        Nordostasienprojekt die Geschichte der um-
     Chinas in eine gemeinsame sçdostasiatische       gebenden Region, insbesondere Nordkoreas,
     Identitåt, die eine Voraussetzung fçr den Er-    als Teil der eigenen Geschichte (re-)interpre-
     folg auch wirtschaftlicher Integration dar-      tiert, haben sich vor allem in Korea die Be-
     stellt, ist dementsprechend schwer, aber nicht   fçrchtungen vor einer erneuten Dominanz
     unmæglich.                                       Chinas verstårkt. Nach einer ¹honeymoonª-

12    APuZ 49/2006
Phase in den neunziger Jahren werden jetzt                Westeuropas) entwickelten Integrationsmo-
auch die starke Abhångigkeit von China als                delle betrachtet, verlangen alle ein Mindest-
Produktionsbasis und der chinesische Hunger               maû an institutioneller Kooperation oder In-
nach Rohstoffen und Energie in Korea skep-                tegration. Beides wird durch die politische
tischer betrachtet. Russland als letzter der              Heterogenitåt erschwert, da institutionelle
drei groûen nordostasiatischen Staaten ist                Integration (etwa im Bereich des Wettbe-
demgegençber an einer çber die wirtschaftli-              werbsrechts) auch ein Mindestmaû an ver-
che Integration hinausgehenden Kooperation                gleichbaren politischen Institutionen (etwa
nur sporadisch interessiert; sein Hauptinte-              Rechtssicherheit) voraussetzt.
resse liegt in Europa. Die russisch-chinesi-
schen Beziehungen sind zwar politisch im                     Ungeachtet der genannten Probleme gibt
Moment sehr eng, allerdings fçhrt der chine-              es doch insbesondere seit der Asienkrise ver-
sische Bevælkerungsdruck im Fernen Osten                  mehrt Initiativen zu einer engeren wirtschaft-
Russlands zu Spannungen. Auch die fortdau-                lichen Kooperation. Die Gipfeltreffen am
ernde Teilung Koreas ist ein Hindernis fçr                Rande der ¹ASEAN plus drei (China, Japan,
die Integration Nordostasiens. 3 Nordkorea                Korea)ª-Gipfel gehærten dazu, sie wurden al-
ist zwar ein weithin isolierter Staat, behålt             lerdings wegen der Kontroversen um Koizu-
aber seine strategische Bedeutung fçr China               mis Besuche des Yakusuni-Schreins vorerst
als Bollwerk gegen die amerikanische Militår-             eingefroren. Auf Ministerebene fanden in ver-
pråsenz in Korea und auch als strategisches               schiedenen Politikbereichen, vom IT-Bereich
Faustpfand im Konflikt mit den USA um die                 bis hin zur Umwelt, ebenfalls Gespråche
Zukunft Taiwans. Sçdkorea selber fçhlt sich               statt. Ein erstes groûes Projekt zur subregio-
als ¹Garnele zwischen Walenª, und misstraut               nalen Integration ± die Entwicklung des
beiden Nachbarn bzw. ihren Motiven fçr eine               Tumen-Deltas zwischen China, Nordkorea
engere Kooperation. Die Idee, als Katalysa-               und Russland ± scheiterte allerdings. Demge-
tor der wirtschaftlichen Integration eine Art             gençber bewegte die zunehmende Angst vor
¹Zçnglein an der Waageª (balancer) in Nord-               Isolierung vor allem Japan und Sçdkorea
ostasien zu werden, wie Pråsident Roh Moo-                dazu, mit einer Reihe von Staaten in Verhand-
Hyun angeregt hat, wurde von beiden klar                  lungen zur Bildung von Freihandelszonen
abgelehnt. Auch die starke Involvierung der               einzutreten. Auch çber die Schaffung einer
USA durch die enge Allianz mit Japan und                  japanisch-koreanischen Freihandelszone wird
die ± wenn auch geschwåchte ± Allianz mit                 inzwischen verhandelt, allerdings stoûen die
Sçdkorea erschweren eine engere politische                Gespråchspartner dabei immer wieder an po-
Kooperation: Von den beiden Staaten wird                  litische Grenzen. 5 Die Ausweitung dieser
sie zwar zu Recht als unerlåsslich fçr die eige-          Freihandelszone auf China wurde zwar dis-
ne Sicherheit angesehen, in China aber mit                kutiert, scheint aber derzeit politisch unmæg-
Misstrauen betrachtet.                                    lich zu sein. Dem Ausgleich der wirtschaftli-
                                                          chen und politischen Interessen Chinas und
  Damit stehen der politischen Kooperation                Japans kommt so eine zentrale Stellung fçr
und Integration in Nordostasien viele Hin-                die erfolgreiche Integration Nordostasiens,
dernisse im Wege. 4 Dies hat Auswirkungen                 aber auch Sçdostasiens zu. China muss dabei
auf die wirtschaftliche Integration. Wenn                 vier Probleme læsen, um seine neue Rolle aus-
man die (håufig mit Bezug auf die Integration             fçllen zu kænnen: Die Befçrchtungen vor
                                                          einer chinesischen wirtschaftlichen Domi-
                                                          nanz auszuråumen, die an die historische
 3 Vgl. Bernhard Seliger, Sçdkorea und die wirtschaft-
                                                          Rolle Chinas als Lehensherr umgebender Va-
liche Integration Ostasiens ± wirtschaftliche und poli-
                                                          sallenstaaten anknçpft, und die Neuinterpre-
tische Herausforderungen, in: Patrick Kællner (Hrsg.),
Korea Jahrbuch 2001, Institut fçr Asienkunde, Ham-        tation der Geschichte der Reiche im frçheren
burg 2001, S. 141±157.                                    Grenzgebiet Nordostasiens, die besonders
 4 Vgl. dazu ausfçhrlich ders., Economic Integration in   Korea mit groûem Misstrauen erfçllt, gehæ-
Northeast Asia: Preconditions and Possible Trajecto-      ren zu den politischen Herausforderungen.
ries, in: Global Economic Review, 31 (2002) 4, S. 17±
38, sowie zu den speziell auûenpolitischen Aspekten
Ludger Kçhnhardt, Northeast Asia: Obstacles to Re-         5 Vgl. Bernhard Seliger, A Free Trade Area between

gional Integration, in: TEA Study (2005) 13, Ruhr-        Japan and Korea ± Economic Prospects and Cultural
Universitåt Bochum, im Internet: http://www.ruhr-         Problems, in: Journal of Pacific Asia, 12 (2005), S. 93±
uni-bochum.de/oaw/poa/pdf/TEA%20S13.pdf.                  129.

                                                                                                APuZ 49/2006         13
Chinas Rolle als Preistreiber fçr Rohstoffe                   Erstens fçhrt eine Mischung groûer und kleiner Staa-
       und insbesondere Energie sowie seine Versu-                   ten in einem græûeren Integrationsgebiet zu einer Ent-
       che, durch Exklusivvertråge mit rohstoffrei-                  schårfung des Problems der mæglichen Dominanz
       chen Staaten seine Rohstoffbasis zu sichern                   eines Integrationspartners, Japans oder Chinas. Die
       (oft in Zusammenarbeit mit sogenannten                        Mæglichkeit eines chinesischen oder japanischen Son-
       Schurkenstaaten), zåhlen zu den wirtschaftli-                 derwegs, der zu Konflikten mit den Nachbarn fçhrt,
       chen Herausforderungen von Chinas Aufstieg                    wçrde dadurch erheblich verringert. Dabei hat sich in
       (¹Neo-Merkantilismusª). 6 Schlieûlich fçhrt                   Europa gezeigt, dass eine maûvolle Ûberrepråsentation
       das Rennen um Freihandelsvertråge in der Re-                  der kleineren Staaten als vertrauensbildende Maûnah-
       gion, um sich vor auûenpolitischer Isolation                  me erfolgreich sein kann.
       zu schçtzen, durch eine Vielzahl von Ausnah-
       meregelungen und Pråferenzzonen zu neuen                      Zweitens wçrde ein græûeres Integrationsgebiet auch
       Handelsschranken (¹spaghetti bowl effectª). 7                 wirtschaftlich fçr alle beteiligten Staaten von Vorteil
                                                                     sein, da damit Verzerrungen in der Produktionsstruk-
                                                                     tur aufgrund von Handelspråferenzen eine kleinere
Ausblick                                                             Rolle spielen. Die Schaffung eines gemeinsamen Wirt-
                                                                     schaftsraums kann dann auch positive Effekte fçr die
       Chinas Integration in die Weltwirtschaft                      politische Kooperation haben. 8 Allerdings scheinen
       sowie in die regionale Wirtschaft ist eine                    derzeit die politischen Hindernisse fçr eine umfassen-
       groûe Erfolgsgeschichte fçr das Land. Dabei                   de Integration noch zu hoch zu sein. Eine Alternative
       war China, auch bedingt durch militårische                    kænnte sein, zunåchst nur auf einem einzigen Feld von
       Schwåchen trotz der Græûe seiner Armee                        gemeinsamem Interesse die Integration zu beginnen,
       und durch innenpolitische Konflikte, stets                    zum Beispiel auf dem der Energiepolitik. 9 Allerdings
       bemçht, den friedliebenden Charakter seiner                   mçsste dieses Feld dann von den ungelæsten politi-
       wirtschaftlichen Expansion zu betonen. Diese                  schen Konflikten isoliert werden, weil es sonst, wie
       Konzentration auf Wirtschaftswachstum und                     jetzt etwa die nordostasiatischen Gipfeltreffen, zum
       -integration statt politischer Machtausçbung                  Spielball politischer (und håufig innenpolitisch moti-
       sollte durchaus auch in der Zukunft als ein                   vierter) Schachzçge wçrde.
       Motiv chinesischer Auûenwirtschaftspolitik
       ernst genommen werden. Dennoch haben                             Die Stellung Chinas im ostasiatischen Wirt-
       sich in den letzten Jahren vermehrt die oben                  schaftsraum der Zukunft bleibt eine offene
       diskutierten Konflikte ergeben, die Chinas                    Frage. Dabei spielen auch die Entwicklung
       Rolle als rein wirtschaftliche Macht weniger                  Sçdasiens, insbesondere Indiens, und die Frage
       glaubhaft erscheinen lassen. Insbesondere der                 der geographischen oder kulturellen Begren-
       trilaterale Wettbewerb mit Japan und den                      zung eines zukçnftigen Integrationsraumes
       USA ± um Rohstoffquellen und Energievor-                      (z. B. die Einbeziehung Australiens und Neu-
       kommen, um Freihandelsabkommen und                            seelands) eine wichtige Rolle. Diese Fragen las-
       auch um politischen Einfluss in der Region ±                  sen sich durch flexible institutionelle Gestal-
       ist dabei eine Quelle potenzieller Konflikte.                 tung, etwa in Form einer umfassenden Freihan-
                                                                     delszone und mæglicher engerer Kooperation
        Umfassende wirtschaftliche Integration in                    in anderen Gebieten ± etwa bei der Wåhrungs-
       Ostasien, beispielsweise im Rahmen von                        politik ± læsen. Die wichtigste Voraussetzung
       ASEAN plus drei (China, Japan, Korea),                        dafçr bleibt aber der politische Wille, wirt-
       weist einen Weg zur Entschårfung dieser                       schaftliche Zukunftsinteressen nicht durch his-
       Konflikte:                                                    torische Fragen und Prestigegehabe unnætig zu
                                                                     untergraben. Dies ist derzeit bei allen beteilig-
                                                                     ten Staaten nur bedingt gegeben.
        6 Vgl. Heinrich Kreft, Neomerkantilistische Energie-

       Diplomatie. China auf der Suche nach neuen Ener-              8 Vgl. Bernhard Seliger, The Optimum Size of East
       giequellen, in: Internationale Politik, 61 (2006) 2, S. 50±   Asian Economic Integration and the Role of Korea, in:
       57.                                                           Korea and World Affairs, 30 (summer 2006) 2 , S. 238±
        7 Vgl. Werner Pascha, Economic Integration in East
                                                                     258.
       Asia and Europe ± A Comparison, in: Karl-Peter                9 Vgl. Peter Beck, Northeast Asia's Undercurrents of
       Schænfisch/Bernhard Seliger (Hrsg.), ASEAN plus               Conflict, in: Asia Report, (2005) 108 (Seoul: Inter-
       three (China, Japan, Korea) ± towards an economic             national Crisis Group).
       union in East Asia?, Seoul-Singapur: Hanns-Seidel-
       Stiftung, 2004, S. 39±60, hier S. 48.

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