Aus Politik und Zeitgeschichte

 
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Beilage zur Wochenzeitung

            1. Juni 2004

Aus Politik
und Zeitgeschichte
3 Maria-Paz Weisshaar      Essay
            Dem lieben Gott ins Handwerk pfuschen:
            Risiken und Chancen der Gentechnik
6 Johannes Reiter
            Menschenwçrde als Maûstab
14 Matthias Kettner
            Forschungsfreiheit und Menschenwçrde am
            Beispiel der Stammzellforschung
23 Sigrid Graumann/Andreas Poltermann
            Klonen: ein Schlçssel zur Heilung oder eine
            Verletzung der Menschenwçrde?
31 Markus Zimmermann-Acklin
            Der gute Tod. Zur Sterbehilfe in Europa
39 Christoph Baumgartner
            Ethische Aspekte nanotechnologischer
            Forschung und Entwicklung in der Medizin

                                         B 23 ± 24/2004
Editorial                               Menschenwçrde der Verfassungs-
          Herausgegeben von                                                     norm vorangestellt sei, andererseits
                                        n Die Fortschritte in der techni-       um ein abgestuftes Konzept der
          der Bundeszentrale
                                        schen Zivilisation haben zuneh-         Menschenwçrde.
          fçr politische Bildung
          Adenauerallee 86              mend die Frage nach der Wçrde
          53113 Bonn.
                                        des Menschen aufgeworfen. Insbe-        n Auch bei der Frage der Sterbe-
                                        sondere auf den Gebieten Gen-           hilfe geht es letztlich um die Wçrde
                                        technologie, Bioethik, Molekular-       des Menschen. Was heiût ¹wçrdig
Redaktion:                              biologie und jçngst bei der             und selbstbestimmtª sterben? Mar-
Dr. Katharina Belwe                     Nanotechnologie stellt sich auf         kus Zimmermann-Acklin stellt
Dr. Hans-Georg Golz                     Grund der technischen Neuerun-          europåische Studien vor, die zei-
Dr. Ludwig Watzal                       gen die Frage nach mæglichen            gen, wie mit der Frage der Sterbe-
(verantwortlich fçr diese Ausgabe)      Grenzen wissenschaftlichen Han-         hilfe umgegangen wird. Sodann
Hans G. Bauer                           delns. In Deutschland besteht weit-     beschreibt er die Sterbehilfede-
Telefon: (0 18 88) 5 15-0               gehender Konsens darçber, jedes         batte in Frankreich, Deutschland
Internet:                               Klonen gesetzlich zu verbieten.         und der Schweiz, die sich grenz-
www.bpb.de/publikationen/apuz           Auch die Freigabe der Forschung         çberschreitend als komplex und
E-Mail: apuz@bpb.de
                                        an embryonalen Stammzellen ist          schwierig gestalte.
                                        umstritten. Auf internationaler
Druck:                                  Ebene wird dies jedoch vællig           n Die Stammzellforschung bewegt
Frankfurter Societåts-Druckerei GmbH,   anders gesehen.                         sich im Spannungsfeld zwischen
60268 Frankfurt am Main                 n Bundeskanzler Gerhard Schræder        der Forderung nach einer Ethik des
Vertrieb und Leserservice:              tritt fçr eine Politik ohne ideologi-   Heilens und einer Ethik des For-
Die Vertriebsabteilung                  sche Scheuklappen und gegen             schens. Zwischen diesen beiden
der Wochenzeitung                  ,    grundsåtzliche Verbote ein, weil sie    Ansprçchen muss eine verantwor-
Frankenallee 71 ± 81,                   nicht nur unrealistisch, sondern        tungsbewusste Gçterabwågung
60327 Frankfurt am Main,                auch unverantwortlich seien.            stattfinden. Matthias Kettner dis-
Telefon (0 69) 75 01-42 53,             Deutschland kænne es sich im Zeit-      kutiert Pro- und Kontra-Positionen
Telefax (0 69) 75 01-45 02,             alter des europåischen Binnen-          am Beispiel der Stammzellfor-
                                        marktes nicht leisten, Lizenzferti-     schung. Vertreter beider Richtun-
E-Mail: parlament@fsd.de,
                                        gungen und Anwendungslæsungen           gen nehmen die Menschenwçrde
nimmt entgegen:
                                        nur zu importieren. Was nçtzt in        fçr ihre jeweilige Position in
* Nachforderungen der Beilage           Deutschland ein Verbot, wenn            Anspruch. Einen Automatismus auf
Aus Politik und Zeitgeschichte          gen- und biotechnische Forschun-        immer weiteren Fortschritt kænne
* Abonnementsbestellungen der           gen çberall sonst erlaubt sind?         es aber nicht geben. Wie in der
Wochenzeitung                           n Zusåtzliche Restriktionen in der      Stammzellforschung, so scheiden
                                        Forschung kænnten Deutschland           sich auch beim Klonen die Geister.
einschlieûlich Beilage zum Preis
                                        weiter im Wissenschaftswettbe-          Hier wird zwischen Fortpflanzungs-
von Euro 9,57 vierteljåhrlich,
                                        werb zurçckwerfen und fçr Wis-          und Forschungs-Klonen unterschie-
Jahresvorzugspreis Euro 34,90                                                   den. Sigrid Graumann und Andreas
einschlieûlich Mehrwertsteuer;          senschaftler mit internationalem
                                        Ruf noch unattraktiver erscheinen       Poltermann diskutieren nicht nur
Kçndigung drei Wochen vor Ablauf                                                die Unterschiede, sondern
des Berechnungszeitraumes;              lassen. Es geht deshalb nach
                                        Ansicht von Maria-Pia Weisshaar         beschreiben die Schwierigkeiten,
* Bestellungen von Sammel-              um eine Entmystifizierung der Gen-      die es auf europåischer- und UN-
mappen fçr die Beilage                  technologie und der Bioethik.           Ebene gibt, um zu einer einheitli-
zum Preis von Euro 3,58                 Durch eine Aufklårungskampagne          chen Bewertung zu kommen.
zuzçglich Verpackungskosten,            kænne eine hæhere Akzeptanz die-
Portokosten und Mehrwertsteuer.         ser Methoden erreicht werden.           n Scheint ein Konsens çber ein
                                        Moral und Úkonomie dçrften nicht        weltweites Verbot beim Fortpflan-
Die Veræffentlichungen
                                        vermengt werden.                        zungs-Klonen mæglich, gestaltet
in der Beilage                                                                  sich die Debatte beim Forschungs-
Aus Politik und Zeitgeschichte          n Im Pluralismus der Weltanschau-       Klonen um einiges schwieriger. Die
stellen keine Meinungsåuûerung          ungen scheint sich zunehmend die        diagnostischen und therapeuti-
des Herausgebers dar;                   Unantastbarkeit der Menschen-           schen Mæglichkeiten, welche die
sie dienen lediglich der                wçrde als einzig konsensfåhiger         Nanotechnologie in der Medizin
Unterrichtung und Urteilsbildung.       Orientierungspunkt herauszustel-        eræffnet, werfen neben ethischen
                                        len. Trotz dieser weitgehenden          auch Fragen nach dem Menschen-
Fçr Unterrichtszwecke dçrfen            Einigkeit hat sich in jçngster Zeit
Kopien in Klassensatzstårke                                                     bild auf, die von Christoph Baum-
                                        eine Debatte çber die verfassungs-      gartner diskutiert werden.
hergestellt werden.                     rechtliche Auslegung von Artikel 1
                                        Grundgesetz entzçndet. Der Streit
                                        findet nach Meinung von Johannes
ISSN 0479-611 X
                                        Reiter auf zwei Ebenen statt: Einer-
                                        seits gehe es um die Frage, ob die      Ludwig Watzal                     n
Maria-Paz Weisshaar

           Dem lieben Gott ins Handwerk pfuschen:
            Risiken und Chancen der Gentechnik

Die Diskussion über Nutzen und Risiken der Bio-        genommen, und jede Zelle enthält einen Satz des
und Gentechnik beherrschte die Jahre von 1998          kompletten Genoms, d. h. alle Gene, die eine
bis 2001. Die „grüne Gentechnik“ kämpfte auch          Tomate hat. Das trifft natürlich genauso auf jedes
1997 gegen wachsende Widerstände. Erst als sich        andere Gemüse, Obst und auch Fleisch zu.
im Jahr 2001 die Medien mit der „roten“ Gentech-
nik befassten, sank der Anteil kritischer Vorbe-       Beim Zubereiten der Lebensmittel, z. B. durch
halte und stieg die Akzeptanz gegenüber gentech-       Kochen, werden die Gene nicht zerstört, nur die
nisch    herstellten    Medikamenten      in    der    DNA wird denaturiert, d. h., die Doppelhelixstruk-
Bevölkerung. Die Entschlüsselung der menschli-         tur der DNA löst sich in die beiden Einzelstränge
chen Erbanlage und die Diskussion um das Klonen        auf. So enthalten auch zubereitete Speisen alle-
von Menschen sowie die Forschung mit embryona-         samt DNA. Bier oder Wein enthalten ebenfalls
len Stammzellen führte neue Aspekte in die             DNA, da neben Resten des pflanzlichen Erbmate-
öffentliche Diskussion ein. Die Debatte findet seit-   rials auch die DNA der verwendeten Mikroorga-
her auf allen politischen Ebenen statt. Im Zusam-      nismen enthalten sind. Eines der wenigen Lebens-
menhang mit der Genforschung werden in den             mittel, das keine DNA mehr enthält, ist Zucker.
Medien immer häufiger Moral und Ökonomie               Die mit der Nahrung aufgenommenen Gene wer-
gegenübergestellt und gegeneinander abgewogen.         den im Magen-Darm-Trakt auf chemischem Wege
In diesem Wirrwarr von unterschiedlichen und           mit Hilfe von Enzymen (Eiweißmoleküle/Pro-
häufig auch widerstreitenden Interessen ist es         teine) verdaut und bis zu den kleinsten Einheiten,
nicht einfach, sich zurechtzufinden und schließlich    einzelnen Nukleotiden (Grundbaustein der Nukle-
zu einer eigenen Position zu gelangen. Umso wich-      insäure), abgebaut. Anschließend werden die
tiger ist daher eine nüchterne Darstellung der         DNA-Stücke zusammen mit allen anderen verdau-
Sachverhalte.                                          ten Nahrungsbestandteilen über die Darmschleim-
                                                       haut in den Blutkreislauf aufgenommen und zur
Gentechnik wird definiert als die Gesamtheit der       Leber transportiert. Dort wird schließlich entschie-
Methoden, die zur Bildung neuer Kombinationen          den, was zur Weiterleitung im Körper zugelassen
vererbbaren Materials führt. Die Technik besteht       wird.
im Einfügen von Nukleinsäuremolekülen, die
außerhalb der Zelle hergestellt werden, in einen       Was würde sich ändern, wenn die aufgenommenen
neuen Organismus, in dem diese DNA normaler-           Lebensmittel gentechnisch verändert worden
weise nicht vorkommt. Die neue DNA kann sich           wären? Nehmen wir als Beispiel die „Gentomate“
dort stabil vermehren. Dadurch entstehen Orga-         (die Flavr Savr1 Tomate), die als erstes „gentech-
nismen mit neuem Erbmaterial, die nicht in der         nisch verändertes“ Lebensmittel 1994 in den USA
Natur anzutreffen sind; sie werden als Gentech-        auf den Markt kam. Die „Gentomate“ wurde in
nisch Veränderte Organismen (GVO) bezeichnet.          langjährigen Analysen auf jedes denkbare Risiko
Das Ausgangsmaterial für diese neue Konstruk-          hin geprüft. Die amerikanische Zulassungsbehörde
tion ist das Erbmaterial, das als DNA (Desoxyri-       hat ihr völlige Unbedenklichkeit bescheinigt:
bonukleinsäure) bezeichnet wird. Daneben wer-          „Diese Tomate ist genauso unbedenklich wie alle
den weitere Werkzeuge benötigt wie „Molekulare         anderen auf dem Markt befindlichen Tomaten.“
Scheren“ (Restriktionsenzyme), um DNA-Frag-            Bei herkömmlich gezüchteten Tomaten werden
mente in geeigneter Größe zu schneiden, und            viele der Sicherheitsüberprüfungen gar nicht
Transportsysteme (Vektoren), welche die neue           durchgeführt, obwohl die theoretischen Risiken
Erbinformation in einen neuen Wirt einschleusen        hier genauso vorhanden sind. Es ist eine Selbstver-
und zur Entfaltung bringen. Im Falle der Diskus-       ständlichkeit, dass jeder Anwender einer Techno-
sion um gentechnisch veränderte Lebensmittel           logie deren Auswirkungen auf Mensch und
müssen wir uns bewusst sein, dass die DNA über-        Umwelt zu berücksichtigen hat. Ein neuer Zweig
all ist, sie ist ausgesprochen stabil, der Mensch      der Gentechnik, die Risikoforschung, beschäftigt
„isst“ immer Gene: Beim Verzehr z. B. von Toma-        sich mit dieser Fragestellung. Mit welchen Risiken
ten werden unzählige einzelne Tomatenzellen auf-       haben wir es zu tun?

3                                                             Aus Politik und Zeitgeschichte   B 23 – 24 / 2004
Das am häufigsten diskutierte Risiko sind die         möglich, in der Züchtung als Marker benötigte
sogenannten „Positionseffekte“. Was versteht man      Antibiotika-Resistenz-Gene durch Rückkreuzung
darunter? Alle Lebewesen produzieren Enzyme           wieder zu entfernen. Der zweitsicherste Weg ist
(Proteine) entsprechend ihrer genetischen Infor-      die Verwendung der Resistenz-Gene für Antibio-
mation auf der DNA. Bei den Genen, die „aktiv“        tika, die nicht mehr therapeutisch eingesetzt wer-
sind, wird zunächst von der DNA eine Kopie            den, wie es bei Kanamycin der Fall ist. Die Resis-
(mRNA, MessengerRNA) gemacht, die dann in             tenzübertragung ist aber sehr unwahrscheinlich, da
das Eiweißmolekül übersetzt wird. Eine Möglich-       die natürliche Aufnahme von Fremd-DNA durch
keit, Gene auszuschalten, besteht darin, eine         die Bakterien sehr gering ist, zumal das Resistenz-
Negativkopie des Gens in den Organismus einzu-        Gen in der Gentomate in das Erbmaterial der
bringen (Antisense-Gen), welche die mRNA aus-         Tomate eingebaut ist. Man schätzt, dass wir mit
löscht. Damit kann das Eiweißmolekül nicht her-       der täglichen Nahrung mindestens 1,5 Millionen
gestellt werden. Diese Methode wurde bei der          Mikroorganismen aufnehmen, die natürlicher-
Gentomate angewandt, um ein bestimmtes Gen –          weise Antibiotika-Resistenz-Gene tragen. Es gibt
die Polygalacturonase – auszuschalten. Durch Ein-     bis heute aber keinerlei Hinweise darauf, dass
führung eines Gens können an der eingeführten         eines dieser Gene jemals auf unsere Darmflora
Stelle Veränderungen in der DNA auftreten, die        übertragen worden wäre. Die Ziele der Anwen-
man als „Positionseffekte“ bezeichnet. Im Fall der    dung der Gentechnik im Lebensmittelbereich sind
Tomate könnte z. B. ein anderes Tomaten-Gen           heute nichts anderes als die Anwendung der klassi-
beeinflusst werden, das in der Nähe der Einfüh-       schen Züchtungsverfahren: geschmacklich ein-
rungsstelle liegt: Das entsprechende Tomaten-         wandfreie, ertragreiche und widerstandsfähige
Eiweißmolekül würde dann in niedrigeren oder          Lebensmittel zu erzeugen. Die Gentechnik geht
höheren Konzentrationen gebildet, und in der          sogar noch weiter, indem sie zum Umweltschutz
Tomatenpflanze können Inhaltsstoffe entstehen,        beiträgt, da weniger Pestizide verwendet werden
ausfallen oder in anderen Konzentrationen auftre-     müssen.
ten. Nur durch das zusätzlich in umgekehrter
                                                      Die Chancen und der Nutzen der Gentechnik wer-
Orientierung eingebrachte tomateneigene Gen
                                                      den aber besonders bei der Anwendung dieser
entsteht kein neues Protein. Stattdessen wird das
                                                      Technologie in der Medizin deutlich. Zurzeit wer-
Protein Polygalacturonase, das für den schnellen
                                                      den schon eine ganze Reihe von Medikamenten
Verderb verantwortlich ist, nur noch in sehr gerin-
                                                      gentechnisch produziert wie das Humaninsulin,
gen Mengen gebildet. Bei dem Positionseffekt
                                                      das menschliche Wachstumshormon, der Tumor-
handelt es sich aber nicht um einen Risikofaktor,
                                                      Nekrose-Faktor, ein Protein des menschlichen
der gentechnischspezifisch ist: Jede neue Tomate
                                                      Immunsystems, das in der Krebstherapie zur
sowie andere Gemüse oder Fruchtsorten, die
                                                      Abtötung der Krebszellen verwendet wird, um nur
„klassisch“ gezüchtet werden, bergen dieselben
                                                      einige zu nennen. Somit werden die Produktions-
Risiken und sogar höhere, da diese die erwähnten
                                                      kosten verringert, dies führt unter anderem auf-
Prüfverfahren nicht durchlaufen.
                                                      grund der explodierenden Gesundheitskosten zu
                                                      einer höheren Akzeptanz der Gentechnik. Nur bei
Ein gentechnikspezifisches Risiko ist dagegen die
                                                      der Anwendung der Gentechnik in der Genthera-
Verbreitung des zusätzlich als Erkennungszeichen
                                                      pie ist eine politische Debatte legitim, denn, um
in die Gentomate eingebrachte Marker-Gen.
                                                      Jens Reich zu zitieren: „Ein Eingriff in die Freiheit
Diese Marker-Gene enthalten den Bauplan für ein
                                                      der Forschung ist dann geboten und nur dann
Enzym, welches für die Antibiotika-Resistenz ver-
                                                      gerechtfertigt, wenn es sich um die Wahrung oder
antwortlich ist. Die Marker-Gene sind notwendig
                                                      die Verletzung von Grundrechten dreht.“
für das Auffinden der Tomatenzellen, welche die
gewünschten Neueigenschaften tragen. Es ist ein       Mit Hilfe der Gentherapie werden überwiegend
Marker für den Erfolg des Gentransfers und            auf der Basis gentechnischer Methoden Therapien
gleichzeitig eine Selektion, da nur die Tomatenzel-   zur Heilung genetisch bedingter Defekte des Men-
len, die diese Antibiotika-Resistenz tragen, auf      schen durchgeführt wie z. B. die Sichelzellanämie
Antibiotika enthaltenden Nährböden wachsen            oder Defekte im menschlichen Wachstumshor-
können. Im Fall der Gentomaten wurde Kanamy-          mon. Heute beschäftigt sich immerhin die Hälfte
cin als Antibiotikum verwendet. Falls aber Bakte-     aller gentherapeutischen klinischen Studien mit
rien im Darmtrakt von Menschen, welche die            Krebserkrankungen. Hier werden wie in der „grü-
neuen Tomaten verzehrt haben, ein solches Anti-       nen Gentechnik“ dieselben Werkzeuge eingesetzt,
biotika-Resistenz-Gen aufnehmen und tatsächlich       aber als Träger (Vektor) werden meist virale Vek-
das entsprechende Resistenzprotein bilden wür-        toren aus Retroviren verwendet, da diese sehr effi-
den, gibt es mehrere Ansätze, die zur Risikomini-     zient Gene in neue Wirte einschleusen können. Im
mierung führen: Heute ist es technisch bereits        Gegensatz zur „Grünen Gentechnik“ ist die Gen-

Aus Politik und Zeitgeschichte   B 23 – 24 / 2004                                                        4
therapie sehr teuer, die Risiken sind aufgrund der    dem Jahr 1993 zeigt. Deutschland und Dänemark
viralen Gene schwer abzuschätzen, da die Retro-       sind im Vergleich zu anderen europäischen Län-
viren Sequenzen (Teile der DNA) mit anderen           dern besonders skeptisch und zurückhaltend, was
Retroviren austauschen können. Das Risiko ist         die Anwendung der Gentechnik anbelangt. Die
jedoch dann sehr gering, wenn beispielsweise          Studie zeigt aber noch einen anderen Befund: Je
Retroviren von Mäusen verwendet werden, weil          größer das Wissen über die Gentechnologie ist,
die Viren im normalen Fall stark wirtsspezifisch      desto höher ist ihre Akzeptanz.
sind, d. h., Pflanzenviren befallen nur Pflanzen,
                                                      Um die bioethische Diskussion einzudämmen,
Bakterienviren nur Bakterien etc. Die Genthera-
                                                      wird bisher die Gentherapie nur auf somatische
pie wird erst dann angewandt, wenn es keine wei-
                                                      Zellen angewandt, sodass nur die behandelte Per-
tere Therapiemöglichkeit mehr gibt.
                                                      son davon betroffen ist. Die Anwendung der Gen-
Eigentlich lassen sich die komplexen Zusammen-        therapie auf Stammzellen wird heute intensiv und
hänge der Akzeptanz oder Ablehnung der Gen-           kontrovers diskutiert, da die Auswirkungen auf
technik nicht allein auf Risiko- und Nutzenab-        die Nachkommen übertragen werden. In diesem
schätzungen reduzieren. Die Entwicklung auf dem       Zusammenhang muss man sich die Frage stellen:
Gebiet der Gentechnik, insbesondere im medizini-      Wer würde es wagen, zu sagen, welche Behinde-
schen Bereich, hat die Notwendigkeit einer Bio-       rung geheilt werden soll und welche nicht? Wer
ethik hervorgerufen. Diese neue Disziplin wirft       soll den Maßstab dafür setzen, welche Behinde-
kritische Fragen über Chancen und Risiken der         rung verhindert werden soll und welche nicht? Bei
Gentechnik für Mensch und Natur auf. Aber diese       diesen Entscheidungen muss man sich bewusst
junge Disziplin kann zurzeit keine einheitliche und   sein, dass ein Eingriff in die Forschungsfreiheit tief
allgemein verbindliche Lösung für die Bewälti-        greifende Konsequenzen haben kann. Wann und
gung der Probleme geben, welche durch die             mit welcher Begründung wird ein kategorisches
Anwendung der Gentechnik unter anderem in der         moralisches Verbot der Anwendung der Genthera-
Gentherapie hervorgerufen werden. Man unter-          pie an Stammzellen gerechtfertigt? Ich stimme der
scheidet zwei unterschiedliche Einstellungen zur      Forderung von Dagmar Schipanski aus dem Spie-
Entwicklung der Gentechnologie: Die eine ist          gel vom 12. Januar 2004 zu: „Wir brauchen einen
gekennzeichnet durch die Bedenken hinsichtlich        Durchbruch und keine Denkverbote, die Medizin
der angestrebten Ziele, die andere durch eine         muss neue Wege gehen.“ Damit Deutschland im
unbedenkliche Zweck-Mittel-Relation. Die Reak-        Wissenschaftswettbewerb mithalten kann, sollte es
tionen sind aber länderspezifisch, wie eine Studie    keine Restriktionen in der Forschung geben, so
im Auftrag der Europäischen Kommission aus            wie es das Humboldt’sche Ideal vorsieht.

5                                                             Aus Politik und Zeitgeschichte   B 23 – 24 / 2004
Johannes Reiter

                            Menschenwürde als Maßstab

Wir müssen zugeben, dass unsere Gesellschaft                     die Stellung des Menschen in der technischen Zivi-
kein einheitliches Welt- und Menschenbild mehr                   lisation sowie der sich daraus ergebenden Fragen
besitzt. Der Pluralismus der Weltanschauungen ist                des Umgangs mit biotechnischen und biomedizini-
in der modernen Welt eine Tatsache. Deshalb                      schen Problemen. In einer Welt, in der sich Wissen
erscheint auch ein gemeinsames Handeln auf                       und Können immer rasanter vermehren, muss
Grund gemeinsamer Wertvorstellungen kaum                         stets neu ermittelt werden, inwieweit neuartige
mehr möglich. Gerade in dieser Situation dürfte                  technologische, medizinische und gesellschaftliche
der tiefere Grund für die permanenten religiösen,                Entwicklungen die Menschenwürde berühren.
weltanschaulichen, sittlichen und rechtlichen Kri-
sen des heutigen Menschen zu suchen sein. Dieser
Pluralismus ist für uns umso bedrängender, als wir
heute global in Konfrontation mit anderen Natio-
nen, ja sogar mit völlig anderen Kulturen – alten
                                                                  Begriffsgeschichte und Begründung
und neuen – stehen, die den gleichen Wahrheitsan-                         der Menschenwürde
spruch stellen wie wir.

Als Orientierungspunkt innerhalb dieses breit                    Um den Gehalt der Menschenwürdegarantie
gefächerten Pluralismus wird gerne und vermehrt                  genauer herauszuarbeiten, muss ihre ideenge-
die Menschenwürde herangezogen.1 Sie scheint                     schichtliche Tradition ins Auge gefasst werden.3 In
offenbar der allgemeine Nenner zu sein, der das                  der antiken Philosophie wird die Würde in zwei
ethische Grundanliegen der modernen Welt zum                     recht unterschiedlichen Kontexten gebraucht.
Ausdruck bringt und auf den alle Forderungen                     Zum einen ist mit Würde die Kennzeichnung einer
nach Humanität bezogen werden können. Die                        sozialen Position innerhalb der Gesellschaft
Menschenwürde will den für das geordnete                         gemeint. Würde wird vor allem als Leistung des
Zusammenleben notwendigen Konsens herstellen.                    Einzelnen, ebenso aber auch als eine Funktion der
Weil sie für den Menschen als solchen gilt – also                Gesellschaft verstanden. Insofern gibt es ein Mehr
unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Reli-                   oder Weniger an Würde. Würde ist zum anderen
gion und Weltanschauung, politischen Überzeu-                    dasjenige, was jeden Menschen vor der nicht-
gungen, gesellschaftlicher Stellung, Gesundheits-                menschlichen Kreatur auszeichnet. Deshalb
zustand, Geschlecht und wodurch sich sonst noch                  kommt allen Menschen dieselbe Würde zu. Beide
Menschen unterscheiden mögen –, kann sie grund-                  Bedeutungsvarianten des Begriffs lassen sich
legend für alle politisch-gesellschaftlichen Ord-                bereits bei Cicero nachweisen.
nungen sein.2 Derzeit steht die Menschenwürde im                 Als Grund für die zuletzt genannte Auffassung
Zentrum der ethischen Auseinandersetzung um                      von der unverlierbaren Menschenwürde galt der
                                                                 Stoa die Teilhabe des Menschen an der Vernunft,
1 Vgl. Johannes Schwartländer, Art. Menschenwürde/Per-
sonwürde, in: Lexikon der Bioethik, Bd. 2, Gütersloh 1998,
                                                                 den christlichen Autoren der Antike und des Mit-
S. 683 –688, hier S. 683: „Die Menschenwürde bestimmt in         telalters die Gottebenbildlichkeit des Menschen
der Gegenwart national, regional und global den ethischen        und seine unmittelbare Beziehung zu Gott, die
und vor allem den rechtsethischen Grundlagendiskurs (. . .).     durch die Menschwerdung Gottes in Jesus Chris-
Dieser Diskurs betrifft zunächst und vor allem das Verhältnis
von Politik und Ethik. Er bestimmt aber auch das Verhältnis
                                                                 tus bestätigt wurde.
von Wissenschaft und Ethik und wird – gerade auf dem Bo-         Eine neue Sicht der menschlichen Würde bringt
den der sich an die Achtung der Würde des Menschen und die
Grundrechte bindenden Verfassung der Bundesrepublik              die Renaissance. Der italienische Humanist Pico
Deutschland – durch die Entwicklung von Wissenschaft und
Technik in immer neuer Weise erforderlich.“                      3 Vgl. Rolf-Peter Horstmann, Art. Menschenwürde, in:
2 „Träger dieser menschenrechtlichen Würde ist jedes             Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hrsg.),
menschliche Wesen, unabhängig von seinem Entwicklungs-           Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Basel–
stand, seiner Leistungsfähigkeit und seiner gleichsam sub-       Stuttgart 1980, Sp. 1124 –1127; Kurt Bayertz, Art. Menschen-
jektiven und objektiven Zuständlichkeit. Sie gilt also für den   würde, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Phi-
Ungeborenen ebenso wie für den missgebildeten Geborenen          losophie, Bd. 1, Hamburg 1999, S. 824 –826; Robert Spae-
und sogar für den Verbrecher. Sie besteht also für das           mann, Über den Begriff der Menschenwürde, in: Ernst-
menschliche Wesen von seiner Empfängnis bis zu seinem            Wolfgang Böckenförde/Robert Spaemann (Hrsg.), Men-
Tod.“ J. Schwartländer, ebd., S. 686.                            schenrechte und Menschenwürde, Stuttgart 1987, S. 295 –313.

Aus Politik und Zeitgeschichte       B 23 – 24 / 2004                                                                      6
della Mirandola kommt auf Grund von Überlegun-             noch einen Schritt weiter und bindet die Würde
gen über die Ähnlichkeit des Menschen mit Gott             der Person in den Begriff der Gerechtigkeit ein,
zu der auf stoische Lehren zurückgehenden Über-            indem er für die Verwirklichung der Gerechtigkeit
zeugung, dass der Mensch alles in sich vereint, also       von jedem Menschen fordert, die Würde des ande-
einen Mikrokosmos darstellt, in dem alle Möglich-          ren ebenso zu respektieren wie die eigene.
keiten angelegt sind. Zwischen diesen Möglichkei-
ten eine Wahl zu treffen, dies ist nach Pico die           Eine erneute Besinnung auf die Menschenwürde
dem Menschen von Gott gegebene Bestimmung.                 setzt danach erst wieder im 20. Jahrhundert ein,
Die den Menschen auszeichnende Würde ist also              nicht zuletzt unter dem Eindruck der den Men-
seine Freiheit.                                            schen entwürdigenden Vorgänge im „Dritten
Mit der beginnenden Neuzeit rückt erneut die Ver-          Reich“. Nach dem Zweiten Weltkrieg findet der
nunftbestimmung in den Mittelpunkt. Während                Menschenwürdebegriff vermehrt Eingang sowohl
der Aufklärung wird die Auffassung der Würde als           in das nationale wie auch in das internationale
                                                           Recht. In der Bundesrepublik Deutschland bildet
Freiheit mit der stoischen Auffassung der Würde
                                                           die Menschenwürde den Mittelpunkt des Wertsy-
als Teilhabe an der Vernunft verbunden. Der fran-
                                                           stems der Verfassung und die Basis sowie den Gel-
zösische Philosoph Blaise Pascal und der Staats-
                                                           tungsgrund der Grundrechte. Im Grundgesetz von
und Völkerrechtstheoretiker Samuel Pufendorf
sehen die Würde in der Freiheit des Menschen,              1949 heißt es in Artikel 1: „(1) Die Würde des
das durch die Vernunft Erkannte zu wählen und zu           Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu
tun. Pufendorf, dessen Lehre übrigens Einfluss auf         schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
die amerikanische Erklärung der Menschenrechte             (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu
von 1776 hatte, verbindet diesen Gedanken der              unverletzlichen und unveräußerlichen Menschen-
Würde mit dem der Gleichheit aller Menschen, da            rechten als Grundlage jeder menschlichen
allen Menschen als solchen diese Eigenschaft               Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit
zukomme.                                                   in der Welt.“ In der Präambel der Allgemeinen
                                                           Erklärung der Menschenrechte der Vereinten
Eine wichtige Stellung nimmt der Begriff der Men-          Nationen von 1948 heißt es, dass „die Anerken-
schenwürde sodann in der Moralphilosophie Kants            nung der allen Mitgliedern der menschlichen
ein, wie er sie in der „Grundlegung zur Metaphy-           Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen
sik der Sitten“ (1785) entwickelt. Kant unterschei-        und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der
det im Bereich menschlicher Zwecksetzungen zwi-            Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der
schen dem, was einen Preis, und dem, was eine              Welt bildet“5. Weiter heißt es dann in Artikel 1:
Würde hat. „Was einen Preis hat, an dessen Stelle          „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und
kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt           Rechten geboren.“ Die Vereinten Nationen folgen
werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist,          damit, ebenso wie später die Bundesrepublik
mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine            Deutschland, einem universalistischen Verständnis
Würde.“ Nur ein Wesen, das in der Lage ist, sich           der Menschenwürde. Würde kommt dem Men-
selbst Zwecke zu setzen, kommt als letzter Bezugs-         schen bereits als Mitglied der Gattung Mensch zu.
punkt, als Selbstzweck jeder Zwecksetzung, in              Das heißt, sie gilt für alle Menschen, ohne dass
Frage. Der Grund dafür, dass die menschliche
Natur Würde hat, ist nach Kant die Autonomie               5 „Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich die
                                                           Völkergemeinschaft konkret, politisch bzw. rechtspolitisch
des Menschen, das heißt seine Möglichkeit, in              darauf verständigt, die Idee der Menschenwürde und die
Freiheit einem Gesetz unterworfen zu sein, also            Schutz- bzw. die Freiheitsrechte eines jeden Einzelnen als
sittlich sein zu können.4                                  Basis für das Zusammenleben der Menschen anzuerkennen.
                                                           Es handelt sich um eine interkulturelle Einigung. Der fran-
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wird der                 zösische Diplomat Stéphane Hessel, der damals bei den Be-
                                                           ratungen der Menschenrechtskommission zugegen war, be-
Begriff Menschenwürde dann zu einem politischen            richtete im Rückblick, für die Betonung des „Gewissens“
Schlagwort der Arbeiterbewegung. Die Forderun-             habe ein chinesischer Jurist plädiert; den Begriff Menschen-
gen nach einem menschenwürdigen Dasein und                 würde hätten vor allem katholische Kulturen eingebracht.
nach menschenwürdigen Zuständen gehören zu                 Bei der Abstimmung enthielt sich Saudi-Arabien dann aller-
                                                           dings der Stimme, weil dieses islamische Land die Kodifizie-
den Hauptparolen der frühen Sozialisten. Ferdi-            rung der Religionsfreiheit nicht nachvollzog. Inzwischen
nand Lassalle fordert, dass die materielle Lage der        werden Menschenrechte in der islamischen Welt zumindest
arbeitenden Klasse verbessert und den Arbeitern            dem Grundsatz nach anerkannt, und zwar mit Hilfe einer
zu einem wahrhaft menschenwürdigen Dasein ver-             Deutung, der zufolge die Menschenrechte nicht neuzeitlich-
                                                           westlichen Ursprungs, sondern im Islam selbst verwurzelt
holfen wird. Der Franzose Pierre Proudhon geht             seien. Außerdem enthielten sich 1948 sechs sozialistische
                                                           Staaten und bezeichnenderweise Südafrika.“ Hartmut Kreß,
4 Vgl. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (Weischedel-   Menschenwürde im modernen Pluralismus, Hannover 1999,
Ausgabe), Bd. IV, Darmstadt 1956, S. 600.                  S. 33.

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dafür erst bestimmte Leistungen erbracht oder             getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt,
bestimmte Qualitäten erfüllt werden müssten.              zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe
Auch das „Übereinkommen zum Schutz der Men-               herabgewürdigt wird.“7 Anders ausgedrückt: Es
schenrechte und der Menschenwürde im Hinblick             widerspricht der Menschenwürde, wenn der
auf die Anwendung von Biologie und Medizin:               Mensch einer Behandlung ausgesetzt wird, die
Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin                seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt
des Europarates“ vom 4. April 1997 nimmt sowohl           beziehungsweise unterwandert. Die Menschen-
den Begriff der Menschenwürde als auch den                würde wird hierbei im Wesentlichen ex negativo
Schutz des Menschen als Gattungswesen in seine            bestimmt. Das heißt konkret: Die Menschenwürde
Präambel auf. Dort ist die Rede von der „Notwen-          ist betroffen durch Folter, Sklaverei, Ausrottung
digkeit der Achtung des Menschen sowohl als               bestimmter Gruppen, Geburtenverhinderung oder
Individuum als auch als Mitglied der menschlichen         Verschleppung, Unterwerfung unter unmenschli-
Gattung“ und von der „Anerkennung der Bedeu-              che oder erniedrigende Strafe oder Behandlung,
tung der Wahrung der Menschenwürde“. Darüber              Brandmarkung, Vernichtung so genannten unwer-
hinaus wird die Menschenwürde auch in Artikel 1           ten Lebens oder durch Menschenversuche.8 Diese
ausdrücklich verankert. Als jüngstes Dokument             Kasuistik resultiert also im Wesentlichen aus Ver-
des internationalen Rechts hat die EU-Grundrech-          letzungstatbeständen durch Unrechtssysteme. Die
techarta vom 7. Dezember 2000 den Begriff der             Plausibilität der Objektformel beruht nicht zuletzt
menschlichen Würde sowohl in die Präambel als             auf der historischen Erfahrung der Instrumentali-
auch in Artikel 1 aufgenommen. „In dem Bewusst-           sierung von Menschen durch totalitäre Staaten.
sein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes        Und deshalb wurde der Menschenwürdegedanke
gründet sich die Union auf die unteilbaren und            auch in Reaktion auf die NS-Diktatur in das
universellen Werte der Würde des Menschen, der            Grundgesetz aufgenommen. Insofern stellt die
Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität“, heißt      Rede von der Menschenwürde ein aus der Lei-
es in der Präambel. Und Artikel 1 lautet: „Die            densgeschichte der Menschheit erwachsenes Sinn-
Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu            angebot an die Welt dar.
achten und zu schützen.“                                  Dürig hat seine Objektformel immer nur als Leit-
Die zuvor angeführten Menschenwürde-Doku-                 faden verstanden; diese bedarf jeweils näherer
mente stützen sich auf anthropologische Grund-            Konkretisierung und inhaltlicher Auslegung. Das
aussagen, die eindeutige Vorgaben zu ihrer Expli-         bedeutet aber keine Relativierung im Hinblick auf
kation enthalten: Die Menschenwürde kommt                 ihre Geltung. Als nähere positive Bestimmung
allen Menschen gleicherweise zu. Die Würde des            „jener Kernzonen und elementaren Bedingungen,
Menschen ist mit seiner Existenz gegeben und              die Art. 1 I gegen schwere Verletzungen schützen
Gegenstand nicht einer Zuerkenntnis, sondern              soll“, nennt Wolfram Höfling: 1. Achtung und
Anerkenntnis. Die Würde ist der Existenz eines            Schutz der körperlichen Integrität; 2. Sicherung
Menschen immanent, dem Leben eines Menschen               menschengerechter Lebensgrundlagen; 3. Gewähr-
„koextensiv“, sie ist nicht teilbar, in keiner Phase      leistung elementarer Rechtsgleichheit; 4. Wahrung
seines Lebens ist der Mensch ohne sie. Die zeitli-        der personalen Identität.9
che Folge von Lebensphasen eines Subjekts
(Embryo, Fetus, Kind, Erwachsener) darf nicht in          Die ethische Bedeutung des Menschenwürdege-
eine Aufeinanderfolge verschiedener Subjekte              dankens liegt vor allem und insbesondere darin,
umgedeutet werden.6                                       dass die Menschenwürde als das Fundament der
                                                          Menschenrechte herausgestellt wird. Die Men-
                                                          schenwürde führt zur Formulierung der Men-
                                                          schenrechte hin, bedarf aber umgekehrt auch der
    Der Inhalt der Menschenwürde                          politisch-rechtlichen Absicherung durch eben
                                                          diese Rechte; sie begründet die Schutz- und Frei-
                                                          heitsrechte des Menschen und schärft diese ein.10
Was macht nun den Schutz der Menschenwürde
aus? Was ist ihr Inhalt? Wie realisiert sie sich, und     7 Günter Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschen-
                                                          würde, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 81 (1956), S. 117 –
wo wird sie konkret? Auf diese Fragen versucht            157, hier S. 127.
der Verfassungsrechtler Günter Dürig mit der so           8 Vgl. das Urteil des Hessischen Staatsgerichtshofes, in:
genannten, an Kant erinnernden „Objektformel“             Deutsches Verwaltungsblatt (DVBL), 89 (1974), S. 940 ff.
zu antworten. In dem von ihm verfassten Grundge-          9 Vgl. Wolfram Höfling, Kommentierung des Art. 1 (Schutz
                                                          der Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechtsbin-
setzkommentar heißt es: „Die Menschenwürde ist            dung), in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar,
                                                          München 20023, S. 78 –115, hier S. 87.
6 Vgl. Günther Pöltner, Grundkurs Medizin – Ethik, Wien   10 Zur Menschenwürde aus ethischer und rechtlicher Sicht
2002, S. 50.                                              vgl. Deutscher Bundestag (Hrsg.), Enquete-Kommission

Aus Politik und Zeitgeschichte   B 23 – 24 / 2004                                                                     8
und dementsprechend breit war das Echo auf den
    Der Streit um die Menschenwürde                             Artikel. Für Böckenförde markiert die Neukom-
                                                                mentierung durch Herdegen einen Epochenbruch.
                                                                Nach Dürig ist die Menschenwürdegarantie ein
Dies ist grob umrissen das bislang weithin herr-                „sittlicher Wert“, der als „vorpositives Funda-
schende Menschenwürdekonzept, mit dem zwar                      ment“, als „naturrechtlicher Anker“ dem positiven
nicht überall Frieden gestiftet, aber zumindest Dis-            Verfassungsrecht vorangestellt ist.13 Dürig wollte
kurskriege in Grenzen gehalten wurden. Seit Sep-                sozusagen vor die Klammer des konkret normier-
tember vergangenen Jahres wird, jedenfalls für die              ten Rechts eine ewige und unantastbare Substanz
Öffentlichkeit erkennbar, über dieses traditionelle             ziehen, die keinerlei Abwägungen zugänglich,
Menschenwürdekonzept gestritten. Der Anlass war                 deshalb unantastbar ist. Im Gegensatz zu den
folgender: In der 42. Ergänzungslieferung (Februar              Grundrechten, die Grenzen und Abwägungen
2003) zu dem maßgeblichen Grundgesetz-Kom-                      unterliegen, ist das Achtungs- und Schutzgebot der
mentar, dem so genannten „Maunz-Dürig“11, hat                   Menschenwürde universal und unantastbar, keinen
der Bonner Staats- und Völkerrechtler Matthias                  Abwägungen zugänglich.
Herdegen nach 45 Jahren eine Neukommentierung
des ursprünglich von Günter Dürig bearbeiteten
Artikels 1 Absatz 1 des Grundgesetzes vorgenom-
men. Daraufhin unterzog im September 2003 der                   Herdegen verzichtet auf diesen, dem positiven
ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolf-                  Verfassungsrecht vorgeordneten Anspruch und
gang Böckenförde in der „Frankfurter Allgemeinen                bezeichnet ihn als deklaratorische und nostalgi-
Zeitung“ die Kommentierung durch Herdegen                       sche Größe (Nr. 17). Damit aber, so räsoniert Bök-
einer Fundamentalkritik.12                                      kenförde, gehe der fundamentalen Norm des
                                                                Grundgesetzes die „tragende Achse“ verloren.14
Schon die Überschrift seines Beitrags „Die Würde                Das Neue bei Herdegen ist der Wechsel, den er
des Menschen war unantastbar“ lässt aufmerken,                  vollzieht: Die Menschenwürde ist nicht mehr vor-
                                                                positives Fundament der Verfassungsnorm, son-
Recht und Ethik der modernen Medizin. Schlussbericht (Zur       dern sie wird zur „Verfassungsnorm auf gleicher
Sache 2/2002), Berlin 2002, S. 21 –44; Hans Michael Baum-       Ebene“15. Damit ist sie zugleich für „Abwägungen
gartner/Ludger Honnefelder/Wolfgang Wickler u. a., Men-
schenwürde und Lebensschutz: Philosophische Aspekte, in:
                                                                und Angemessenheitsgesichtspunkte“ geöffnet,
Günter Rager (Hrsg.), Beginn, Personalität und Würde des        „anheimgegeben und anvertraut der Gesellschaft
Menschen, Freiburg i. Br. 1997, S. 161 –242; Kurt Bayertz,      der Verfassungsinterpreten, für die kein verbindli-
Die Idee der Menschenwürde: Probleme und Paradoxien, in:        cher Kanon der Interpretationswege existiert“16.
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 81 (1995), S. 465 –
481; Ernst Benda, Verständigungsversuche über die Würde
des Menschen, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), 54
(2001), S. 2147 f.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Menschen-
würde als normatives Prinzip. Die Grundrechte in der bio-       Will man die Umstände der Entstehung der Men-
ethischen Debatte, in: Juristenzeitung (JZ), (2003), S. 809 –   schenwürdegarantie im Grundgesetz bei deren
815; Erhard Denninger, Embryo und Grundgesetz. Schutz des       aktueller Interpretation überhaupt noch in
Lebens und der Menschenwürde vor Nidation und Geburt, in:
KritV, 86 (2003), S. 191 –209; Sigrid Graumann (Hrsg.), Die     Betracht ziehen, so zeigt sich Folgendes: Bei der
Genkontroverse. Grundpositionen, Freiburg i. Br. 2001; Ei-      Abstimmung über den Menschenwürde-Artikel,
lert Herms (Hrsg.), Menschenbild und Menschenwürde, Gü-         so ist aus den Protokollen zu ersehen, hat im Parla-
tersloh 2001; Matthias Kettner (Hrsg.), Biomedizin und          mentarischen Rat „eine gegenüber Religion und
Menschenwürde, Frankfurt/M. 2004; Johannes Reiter, Über
die Ethik der Menschenwürde, in: Albert Raffelt (Hrsg.),        Metaphysik abstinente Haltung“ zwar denkbar
Weg und Weite. Festschrift für Karl Lehmann, Freiburg i. Br.    knapp, aber doch obsiegt. Die Menschenwürde ist
2001, S. 443 –454.                                              im Grundgesetz nicht „von Gott“ gegeben, aber
11 Theodor Maunz/Günter Dürig/Roman Herzog/Rupert               auch nicht „gegen“ ihn. Sie ist indes – und das ist
Scholz (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, München 2003.
12 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, in: Frankfurter All-        ihre Pointe – auch nicht vom Staat gegeben. Sie ist
gemeine Zeitung vom 3. 9. 2003, S. 33 und 35. Herdegen ist      vorgegeben, liegt dem Gemeinwesen voraus. Und
allerdings nicht der Einzige, der in seiner Kommentierung       dieses „voraus“ ist mit der rechtlichen Anerken-
von der traditionellen Meinung abweicht. Herdegens Auf-         nung der Unantastbarkeit der Menschenwürde
fassung vergleichbar ist die des an der Universität Würzburg
lehrenden Staatsrechtlers Horst Dreier; vgl. den von ihm        ausgesprochen.17
herausgegebenen Grundgesetzkommentar, Bd. I, München
20042, und darin seine Kommentierung zu Art. 1 GG. Bö-          13 So E.-W. Böckenförde, ebd., S. 33.
ckenförde vermutet daher, dass in dem Wechsel der Kom-          14 Ebd.
mentierung auch ein Generationsunterschied zum Ausdruck         15 Ebd., S. 35.
kommt. Eine Ausnahme würde hier allerdings der Staats-          16 Ebd.
rechtler Wolfram Höfling von der Universität in Köln ma-        17 Vgl. Uwe Justus Wenzel, Menschenwürde und Men-
chen; vgl. seine Kommentierung des Art. 1 GG, in: M. Sachs      schenbild. Über die Relativität des Absoluten, in: Neue Zür-
(Hrsg.) (Anm. 9).                                               cher Zeitung vom 15. 11. 2003.

9                                                                       Aus Politik und Zeitgeschichte      B 23 – 24 / 2004
Würdeschutz“, stellt Böckenförde fest, „ist für
Gestufter Schutz der Menschenwürde                                   viele Abstufungen und Variationen offen. Über
                                                                     seine eigene Relativierung führt er notwendig
                                                                     auch zur Relativierung der Unabdingbarkeit der
Die Menschenwürde als solche zieht Herdegen                          Menschenwürde selbst, wiewohl der Anschein
nicht in Zweifel. Sie kommt „allen Menschen als                      erweckt wird, diese bestünde fort. (. . .) Letztlich
Gattungswesen“ zu und hängt auch „nicht an                           geht es um den Freiraum für die Gewährung und
irgendwelchen geistigen und körperlichen Fähig-                      den Abbau von Würdeschutz nach Angemessen-
keiten des Einzelnen oder sozialen Merkmalen“.                       heitsvorstellungen des Interpreten.“19 Zwar betont
(Nr. 48) Dem kann man uneingeschränkt zustim-                        Herdegen, dass es in einem gestuften Würde-
men. Dann aber kommt der Schlüsselsatz, an dem                       schutz-System nicht nur ein Weniger, sondern
sich die Geister scheiden: „Trotz des kategorischen                  durch spezielle Schutzvorkehrungen auch ein
Würdeanspruchs aller Menschen sind Art und                           Mehr an Schutz geben könne (Nr. 67), aber leider
Maß des Würdeschutzes für Differenzierungen                          bricht sich diese Auffassung in seiner Kommentie-
durchaus offen, die den konkreten Umständen                          rung keine Bahn.
Rechnung tragen.“ (Nr. 50) Herdegen plädiert
daher für eine „prozesshafte Betrachtung des Wür-
deschutzes mit entwicklungsabhängiger Intensität
eines bestehenden Achtungs- und Schutzanspru-                            Biomedizin und Menschenwürde
ches“ (Nr. 56). Dabei richtet sich nicht der Würde-
anspruch als solcher (das „Ob“) nach dem Stand
der Entwicklung, sondern sein Inhalt (das „Wie“)                     Wie sich Herdegens gestuftes Menschenwürdekon-
(Nr. 56). So verstärke sich der Würdeanspruch des                    zept konkret auswirkt, sei an einigen Themenfel-
Embryos in vitro nach Implantation (Einpflan-                        dern aus der Biomedizin illustriert. Nach Herde-
zung) und Nidation (Einnistung) und weiter mit                       gens Verständnis der Menschenwürde wird durch
dem Heranwachsen im Mutterleib. Die unter-                           diese nur weniges uneingeschränkt garantiert, vie-
schiedslose Qualität des Würdeanspruchs von                          les dagegen ermöglicht. Aus der Menschenwürde-
Zygote einerseits und geborenem Menschen ande-                       garantie folgt für ihn nicht nur die Verwirklichung
rerseits – meint Herdegen feststellen zu können –                    eines Kinderwunsches, sondern auch die Freiheit,
sei der Geistesgeschichte der letzten Jahrhunderte                   sich der Methoden der modernen Fortpflanzungs-
fremd. Auch lasse sich die Rechtsprechung des                        medizin zu bedienen. Weder die homologe noch
Bundesverfassungsgerichts nur auf der Grundlage                      die heterologe Insemination, noch die In-vitro-Fer-
eines entwicklungsabhängigen Würdeschutzes                           tilisation stellen demnach eine Verletzung der
widerspruchsfrei darstellen. Und schließlich                         Menschenwürde dar. Dagegen sah Dürig in der
beziehe sich die Achtung der Menschenwürde                           heterologen Insemination noch eine eindeutige
meist auf das Subjekt zwischenmenschlicher                           Verletzung der Menschenwürde: „Der Samenspen-
Beziehungen. Diese seien aber in einem frühen                        der, denen es gleichgültig ist, wem das Sperma zur
Stadium menschlicher Entwicklung nur schwer                          Verfügung gestellt wird, und was aus den Kindern
erlebbar, so dass eine Würdeverletzung zu diesem                     wird, kann überhaupt nur schaudernd gedacht wer-
Zeitpunkt nur mit Zurückhaltung angenommen                           den. Der Ehemann wird zu einer ,vertretbaren
werden könne (Nr. 65 – 67).18 „Ein so gesehener                      Größe‘ degradiert. Von der Mutter wird vorausge-
                                                                     setzt, dass sie den Gatten als austauschbar hin-
18 Zu dieser Feststellung Herdegens bemerkt Thomas                   nimmt (. . .). Das Kind wird systematisch in seinem
Traub: „Dieser Versuch, der Verfassung die Vorstellung einer         Recht getroffen, seine blutsmäßige Abstammung
mit Ausmaß von der Entwicklung abhängigen Menschen-                  zu erfahren.“ Der Staat habe hier nicht nur die
würde zu unterstellen, hätte sich auch in der Darstellung
ausführlicher mit den Gegenargumenten auseinandersetzen              Pflicht der Nichtlegalisierung, sondern eine echte
sollen. Der Hinweis auf die Geistesgeschichte erschöpft sich         Schutz- und Abwehrpflicht. Selbst die Leihmutter-
leider ohne jeden weiterführenden Hinweis auf die schlichte          schaft lässt nach Herdegen die Menschenwürde
Behauptung, das Recht differenziere ,seit jeher‘ nach dem            unberührt. „Weder der Embryo noch die geneti-
Stand der menschlichen Entwicklung. Abgesehen davon, dass
Herdegen selbst an anderer Stelle die Relevanz der geistes-          sche Mutter oder die Tragemutter werden dadurch
geschichtlichen Entwicklung für diesen Fragenkomplex rela-           in ihrer Würde tangiert.“ (Nr. 97) Die gemeinsame
tiviert (Nr. 55), weist der 1. Teil, 1. Titel § 10 des Preußischen   Arbeitsgruppe des Bundesministers für Forschung
Allgemeinen Landrechts von 1794 in eine andere Richtung.             und Technologie und des Bundesministers der
In dieser Bestimmung, auf die auch das Bundesverfassungs-
gericht hinweist, ist festgelegt, dass ,die allgemeinen Rechte       Justiz, die so genannte Benda-Kommission, hatte
der Menschheit (. . .) auch den noch ungeborenen Kindern,
schon von der Zeit ihrer Empfängnis‘, gebühren. Ebenso er-           konsistent darstellen, als nicht überzeugend.“ Thomas Traub,
weist sich Herdegens Annahme, nur auf der Grundlage eines            Schutz der Menschenwürde in Stufen?, in: Zeitschrift für Le-
gestuften Würdeschutzes lasse sich die Rechtsprechung des            bensrecht, 12 (2003), S. 130 –134, hier S. 132.
Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch                19 E.-W. Böckenförde (Anm. 12), S. 33.

Aus Politik und Zeitgeschichte         B 23 – 24 / 2004                                                                       10
dies noch anders gesehen: „Eine Vereinbarung               rapieverbot auf Grund der noch mit der Keim-
über eine Ersatzmutterschaft missachtet die Men-           bahntherapie verbundenen Gesundheitsrisiken für
schenwürde des Kindes, denn sie lässt außer acht,          die Nachkommenschaft läge auf einer anderen
dass die Entwicklung im Mutterleib ein wichtiger           Ebene. Unter Hinweis auf diese Risiken – aber
Teil der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes ist         nicht nur auf sie – hat jedoch die Benda-Kommis-
und dass der biologischen wie psychischen Bezie-           sion aus verfassungsrechtlichen Überlegungen ein
hung zwischen der Schwangeren und dem Kind für             Verbot der Keimbahntherapie gefordert: „Es ist
diese Entwicklung besondere Bedeutung zu-                  davon auszugehen, dass ein gezielter Gentransfer
kommt. Diese besonders geartete Beziehung, die             in menschliche Keimbahnzellen derzeit nicht mög-
durch die natürliche Verbindung des ungeborenen            lich ist. Da aber ein ungezielter Gentransfer mit
Lebens mit dem der Mutter begründet wird,                  unvorhersehbaren Risiken für die Betroffenen und
würde beeinträchtigt, wenn die Schwangerschaft             deren Nachkommen verbunden ist, lässt sich diese
als eine Art Dienstleistung übernommen würde.              Methode mit der Grundentscheidung des Art. 1
Die für die Entwicklung des Kindes wesentliche             Abs. 1 GG für den Schutz der Menschenwürde
enge persönliche Beziehung zwischen der Schwan-            und auch mit dem objektiv-rechtlichen Gehalt des
geren und dem Kind könnte unter diesen Umstän-             Grundrechts auf Leben und körperliche Unver-
den kaum zustande kommen. Deshalb bestehen                 sehrtheit in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht verein-
generell Bedenken gegen eine Ersatzmutterschaft,           baren, weil das menschliche Leben hier zum
auch gegen eine ,altruistisch‘ übernommene.“20 Im          Objekt für Experimente würde. Darüber hinaus
Embryonenschutzgesetz ist die Ersatzmutterschaft           würde die Durchführung des Gentransfers bei
auch aus diesen Erwägungen heraus im Paragraph             einer größeren Anzahl Embryonen mit dem Ziel,
1 Abs. 1 Nr. 2 verboten.                                   später nur die wenigen erfolgreich transformierten
                                                           Embryonen austragen zu lassen, mit dem auch den
Totipotenten Zellen, also solchen Zellen, die die          Embryonen zu gewährenden Lebensschutz nicht
Fähigkeit haben, sich zu einem ganzen Individuum           in Einklang stehen.“21
zu entwickeln, kommt nach Herdegen keine Men-
schenwürde zu – obwohl der Gesetzgeber im                  Im europäischen Bereich gibt es schon länger
Embryonenschutzgesetz       solche   Zellen   als          Befürchtungen im Hinblick auf mögliche manipu-
Embryonen ansieht. Folglich stellt auch die                lative Veränderungen der menschlichen Identität.
Abspaltung von Zellen eines Embryos im Acht-               Die Parlamentarische Versammlung des Europara-
zellstadium, etwa zu Diagnosezwecken, für Herde-           tes hat bereits im Jahr 1982 in einer Entschließung
gen kein rechtliches Problem dar (Nr. 64). Die             die Anerkennung eines Menschenrechts auf „nicht
Menschenwürde, so Herdegen, sei auch für die               künstlich veränderte“ Erbanlagen gefordert. Maß-
Präimplantationsdiagnostik (PID) wenig ergiebig            nahmen der „genetischen Veredelung“, also posi-
und bleibe im Normalfall unberührt. Die Untersu-           tive Eugenik bzw. Menschenzüchtung, sind für
chung der genetischen Disposition zu bestimmten            Herdegen ebenfalls keine Verletzung der Men-
Krankheiten liege außerhalb des Schutzbereiches            schenwürde. „In der Schrankenziehung liegt eine
von Art. 1 Abs. 1 GG. „Begründen lässt sich eine           verfassungsrechtlich     schwach      determinierte
Gefährdung der Menschenwürde allenfalls mit                Gestaltungsaufgabe des Gesetzgebers.“ (Nr. 102)
dem ,Selektionsdruck‘, der von einer PID mit               Herdegens These eines entwicklungsbedingten
,positiv‘-eugenischer Zielsetzung (im Dienste der          Würdeschutzes zeigt sich besonders prägnant, wo
,Züchtung‘ gewünschter Anlagen) ausgeht.“                  es um den Umgang mit so genannten überzähligen
(Nr. 106)                                                  Embryonen geht: „In der Verwendung ,überzähli-
                                                           ger‘ Embryonen, die bei einer In-vitro-Fertilisa-
Die Menschenwürde wird nach Herdegen auch                  tion nicht zur Implantation kommen und übrig
nicht durch die Keimbahntherapie berührt. Jenen,           bleiben, für Zwecke der Stammzellforschung mag
die dies anders sehen, hält er entgegen, sie verträ-       man eine fremdnützige ,Instrumentalisierung‘
ten eine „erstaunlich langlebige Vorstellung über          sehen. Jedoch sind diese Embryonen mangels
eine unveränderliche, natürliche Ordnung und die           Implantation zum Absterben verurteilt und verfü-
Frevelhaftigkeit korrigierender Eingriffe selbst zu        gen deshalb über keine Entwicklungsperspektive
Heilungszwecken“. „Dass die Menschenwürde                  mehr. Deshalb erscheint die Gewinnung embryo-
einen Bestandsschutz von Erbkrankheiten tragen             naler Stammzellen aus diesen Embryonen für eine
soll“, sei nicht nachvollziehbar. (Nr. 101) Ein The-       therapieorientierte Forschung oder unmittelbar zu
                                                           Heilungszwecken – auch im Hinblick auf die
20 Der Bundesminister für Forschung und Technologie        Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und
(Hrsg.), In-vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gen-
therapie. Bericht der gemeinsamen Arbeitsgruppe des Bun-   Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG – nicht als erniedrigende
desministers für Forschung und Technologie und des Bun-
desministers der Justiz, München 1985, S. 23.              21   Ebd. S. 46.

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oder sonst würdeverletzende Behandlung. Ein                   Würdeanspruch.“ Darüber hinaus meint Herde-
striktes Verbot dieser Verwendung muss sich eine              gen, dass sich aus der Menschenwürde auch ein
andere Rechtfertigung suchen als den Würde-                   Recht auf Selbsttötung ableiten lasse. (Nr. 85) Frü-
schutz.“ (Nr. 107) Anders sieht dies sein Bonner              heren Kommentatoren galt der Selbstmord als ver-
Kollege Christian Hillgruber: „Auch die verwais-              werflich, weil er der Substanz der Menschenwürde
ten Embryonen haben als ,morituri‘ noch einen                 widerspreche.
letzten Anspruch, der unter allen Umständen zu
erfüllen ist: den auf einen menschenwürdigen, das
heißt ,nutzlosen‘ Tod.“ Der ebenfalls aus Bonn
stammende Staatsrechtler Josef Isensee sieht es
ähnlich: Die alleinige ihrer Würde entsprechende               Menschenwürde – keine Leerformel
Behandlung dieser Embryonen sei, sie sterben zu
lassen.22
                                                              Die Geschichte der Menschenwürde, dies haben
Auch beim therapeutischen Klonen, bei dem die                 die einleitenden Überlegungen gezeigt, ist zugleich
Gewinnung von Stammzellmaterial im Vorder-                    die Geschichte ihrer Begründung und Auslegung.
grund steht, stelle die Menschenwürde keinen Ver-             Trotz einer prinzipiellen und völkerübergreifenden
botsgrund dar. Der Würdeschutz erstrecke sich                 Zustimmung zur Menschenwürde begegnet man
nicht auf den so erzeugten Embryo in vitro.                   zuweilen auch dem Einwand, der Begriff sei
Zudem liege keine Würdeverletzung des Spenders                unklar. Im modernen, weltanschaulich neutralen,
der duplizierten Chromosomen vor, da ja ein Her-              säkularen Staat bilde er eine Leerformel, es han-
anreifen zum Menschen nicht beabsichtigt sei                  dele sich um eine „metaphysische Ballastvorstel-
(Nr. 99).23 Anders dagegen handelt es sich beim               lung“ oder – so schon Theodor Heuß – um eine
reproduktiven Klonen auch für Herdegen um eine                „nicht interpretierte These“. Eine heutige inflatio-
evidente Menschenwürdeverletzung, und zwar der                näre Berufung auf die Menschenwürde entwerte
des geklonten Spenders. „Der geklonte Mensch                  diese nochmals zusätzlich.24 Im Hinblick auf die-
wird gezielt genetisch dupliziert und damit bewusst           sen Einwand muss man zugeben, dass die Gefahr
seiner genetischen Identität durch die Hervorbrin-            einer oberflächlichen Inanspruchnahme der Men-
gung eines genetisch gleich ausgestatteten Men-               schenwürde durchaus vorhanden ist. Entscheiden-
schen beraubt. Das Einverständnis der geklonten               der aber ist, dass die Menschenwürde sehr wohl
Person zu einem völlig von natürlichen Zeugungs-              gehaltvoll, formal und inhaltlich ertragreich in
bedingungen entfernten Reproduktionsprozess                   unterschiedliche Blickrichtungen hin ausgelegt
übersteigt deren Dispositionsbefugnis.“ (Nr. 98)              werden kann. „Dieser Sachverhalt, dass sich Men-
                                                              schenwürde in gefüllter, menschendienlicher
Ebenso stelle die Bildung von Chimären (Zellver-              Weise konkretisieren lässt, spricht gegen die
bände mit mehr als zwei Eltern) und Hybriden                  These, es handele sich lediglich um eine Leerfor-
(Lebewesen, die aus der Verschmelzung von Ei-                 mel.“25
und Samenzelle verschiedener Spezies hervorge-
hen) eine Menschenwürdeverletzung dar. Verletzt               Es sind dann vor allem auch die skizzierten
werde die Menschenwürde des Spenders der ver-                 Schwierigkeiten der inhaltlichen Bestimmung von
wendeten Keimzelle. (Nr. 100)                                 Menschenwürde, die es geraten erscheinen lassen,
                                                              sie als Berufungsinstanz bei der Lösung ethischer
Die Menschenwürde entfaltet ihre Relevanz auch                und rechtlicher Kontroversen nicht zu überschät-
am Lebensende. Man kann hier Herdegen weitge-                 zen. Schon 1840 hatte Schopenhauer die sorgfäl-
hend zustimmen, wenn er feststellt: „Zur Men-                 tige Verwendung des Begriffes angemahnt und
schenwürde gehört das Recht, bei schweren Lei-                bemängelt, dass dieser Ausdruck zum „Schibbo-
den und körperlichem oder geistigem Verfall                   leth aller rath- und gedankenlosen Moralisten
(unter dem Vorbehalt hinreichender Urteilsfähig-              [geworden sei], die ihren Mangel an einer wirkli-
keit) über ein Sterben in Würde zu entscheiden,               chen, oder wenigstens doch irgend etwas sagenden
insbesondere das Recht, den Abbruch lebensver-                Grundlage der Moral hinter jenem imponierenden
längernder Maßnahmen zu verlangen. Ein                        Ausdruck ,Würde des Menschen‘ verstecken“26.
Anspruch auf aktive Sterbehilfe überspannt den
                                                              24 Zitiert bei Ernst Benda, Erprobung der Menschenwürde
22 Vgl. Martina Fietz, Volles Recht auf Leben?, in: Rheini-   am Beispiel der Humangenetik, in: Rainer Flöhl (Hrsg.),
scher Merkur vom 12. Februar 2004.                            Genforschung – Fluch oder Segen?, München 1985, S. 205 –
23 Anders sieht dies W. Höfling (Anm. 9), S. 88: „Die ge-     231, hier S. 214.
zielte Herstellung von Embryonen, etwa im Wege des so ge-     25 H. Kreß (Anm. 5), S. 170 f.
nannten ,therapeutischen Klonens‘, zum Zweck der späteren     26 Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage
Vernichtung durch forscherischen und industriellen Ver-       der Moral, in: Werke in fünf Bänden, hrsg. von Ludger Lüt-
brauch verstößt aber gegen Art. 1 I GG.“                      gehaus, Bd. III, Zürich 1988, S. 522.

Aus Politik und Zeitgeschichte     B 23 – 24 / 2004                                                                  12
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