Aus Politik und Zeitgeschichte
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Beilage zur Wochenzeitung 1. Juni 2004 Aus Politik und Zeitgeschichte 3 Maria-Paz Weisshaar Essay Dem lieben Gott ins Handwerk pfuschen: Risiken und Chancen der Gentechnik 6 Johannes Reiter Menschenwçrde als Maûstab 14 Matthias Kettner Forschungsfreiheit und Menschenwçrde am Beispiel der Stammzellforschung 23 Sigrid Graumann/Andreas Poltermann Klonen: ein Schlçssel zur Heilung oder eine Verletzung der Menschenwçrde? 31 Markus Zimmermann-Acklin Der gute Tod. Zur Sterbehilfe in Europa 39 Christoph Baumgartner Ethische Aspekte nanotechnologischer Forschung und Entwicklung in der Medizin B 23 ± 24/2004
Editorial Menschenwçrde der Verfassungs- Herausgegeben von norm vorangestellt sei, andererseits n Die Fortschritte in der techni- um ein abgestuftes Konzept der der Bundeszentrale schen Zivilisation haben zuneh- Menschenwçrde. fçr politische Bildung Adenauerallee 86 mend die Frage nach der Wçrde 53113 Bonn. des Menschen aufgeworfen. Insbe- n Auch bei der Frage der Sterbe- sondere auf den Gebieten Gen- hilfe geht es letztlich um die Wçrde technologie, Bioethik, Molekular- des Menschen. Was heiût ¹wçrdig Redaktion: biologie und jçngst bei der und selbstbestimmtª sterben? Mar- Dr. Katharina Belwe Nanotechnologie stellt sich auf kus Zimmermann-Acklin stellt Dr. Hans-Georg Golz Grund der technischen Neuerun- europåische Studien vor, die zei- Dr. Ludwig Watzal gen die Frage nach mæglichen gen, wie mit der Frage der Sterbe- (verantwortlich fçr diese Ausgabe) Grenzen wissenschaftlichen Han- hilfe umgegangen wird. Sodann Hans G. Bauer delns. In Deutschland besteht weit- beschreibt er die Sterbehilfede- Telefon: (0 18 88) 5 15-0 gehender Konsens darçber, jedes batte in Frankreich, Deutschland Internet: Klonen gesetzlich zu verbieten. und der Schweiz, die sich grenz- www.bpb.de/publikationen/apuz Auch die Freigabe der Forschung çberschreitend als komplex und E-Mail: apuz@bpb.de an embryonalen Stammzellen ist schwierig gestalte. umstritten. Auf internationaler Druck: Ebene wird dies jedoch vællig n Die Stammzellforschung bewegt Frankfurter Societåts-Druckerei GmbH, anders gesehen. sich im Spannungsfeld zwischen 60268 Frankfurt am Main n Bundeskanzler Gerhard Schræder der Forderung nach einer Ethik des Vertrieb und Leserservice: tritt fçr eine Politik ohne ideologi- Heilens und einer Ethik des For- Die Vertriebsabteilung sche Scheuklappen und gegen schens. Zwischen diesen beiden der Wochenzeitung , grundsåtzliche Verbote ein, weil sie Ansprçchen muss eine verantwor- Frankenallee 71 ± 81, nicht nur unrealistisch, sondern tungsbewusste Gçterabwågung 60327 Frankfurt am Main, auch unverantwortlich seien. stattfinden. Matthias Kettner dis- Telefon (0 69) 75 01-42 53, Deutschland kænne es sich im Zeit- kutiert Pro- und Kontra-Positionen Telefax (0 69) 75 01-45 02, alter des europåischen Binnen- am Beispiel der Stammzellfor- marktes nicht leisten, Lizenzferti- schung. Vertreter beider Richtun- E-Mail: parlament@fsd.de, gungen und Anwendungslæsungen gen nehmen die Menschenwçrde nimmt entgegen: nur zu importieren. Was nçtzt in fçr ihre jeweilige Position in * Nachforderungen der Beilage Deutschland ein Verbot, wenn Anspruch. Einen Automatismus auf Aus Politik und Zeitgeschichte gen- und biotechnische Forschun- immer weiteren Fortschritt kænne * Abonnementsbestellungen der gen çberall sonst erlaubt sind? es aber nicht geben. Wie in der Wochenzeitung n Zusåtzliche Restriktionen in der Stammzellforschung, so scheiden Forschung kænnten Deutschland sich auch beim Klonen die Geister. einschlieûlich Beilage zum Preis weiter im Wissenschaftswettbe- Hier wird zwischen Fortpflanzungs- von Euro 9,57 vierteljåhrlich, werb zurçckwerfen und fçr Wis- und Forschungs-Klonen unterschie- Jahresvorzugspreis Euro 34,90 den. Sigrid Graumann und Andreas einschlieûlich Mehrwertsteuer; senschaftler mit internationalem Ruf noch unattraktiver erscheinen Poltermann diskutieren nicht nur Kçndigung drei Wochen vor Ablauf die Unterschiede, sondern des Berechnungszeitraumes; lassen. Es geht deshalb nach Ansicht von Maria-Pia Weisshaar beschreiben die Schwierigkeiten, * Bestellungen von Sammel- um eine Entmystifizierung der Gen- die es auf europåischer- und UN- mappen fçr die Beilage technologie und der Bioethik. Ebene gibt, um zu einer einheitli- zum Preis von Euro 3,58 Durch eine Aufklårungskampagne chen Bewertung zu kommen. zuzçglich Verpackungskosten, kænne eine hæhere Akzeptanz die- Portokosten und Mehrwertsteuer. ser Methoden erreicht werden. n Scheint ein Konsens çber ein Moral und Úkonomie dçrften nicht weltweites Verbot beim Fortpflan- Die Veræffentlichungen vermengt werden. zungs-Klonen mæglich, gestaltet in der Beilage sich die Debatte beim Forschungs- Aus Politik und Zeitgeschichte n Im Pluralismus der Weltanschau- Klonen um einiges schwieriger. Die stellen keine Meinungsåuûerung ungen scheint sich zunehmend die diagnostischen und therapeuti- des Herausgebers dar; Unantastbarkeit der Menschen- schen Mæglichkeiten, welche die sie dienen lediglich der wçrde als einzig konsensfåhiger Nanotechnologie in der Medizin Unterrichtung und Urteilsbildung. Orientierungspunkt herauszustel- eræffnet, werfen neben ethischen len. Trotz dieser weitgehenden auch Fragen nach dem Menschen- Fçr Unterrichtszwecke dçrfen Einigkeit hat sich in jçngster Zeit Kopien in Klassensatzstårke bild auf, die von Christoph Baum- eine Debatte çber die verfassungs- gartner diskutiert werden. hergestellt werden. rechtliche Auslegung von Artikel 1 Grundgesetz entzçndet. Der Streit findet nach Meinung von Johannes ISSN 0479-611 X Reiter auf zwei Ebenen statt: Einer- seits gehe es um die Frage, ob die Ludwig Watzal n
Maria-Paz Weisshaar Dem lieben Gott ins Handwerk pfuschen: Risiken und Chancen der Gentechnik Die Diskussion über Nutzen und Risiken der Bio- genommen, und jede Zelle enthält einen Satz des und Gentechnik beherrschte die Jahre von 1998 kompletten Genoms, d. h. alle Gene, die eine bis 2001. Die „grüne Gentechnik“ kämpfte auch Tomate hat. Das trifft natürlich genauso auf jedes 1997 gegen wachsende Widerstände. Erst als sich andere Gemüse, Obst und auch Fleisch zu. im Jahr 2001 die Medien mit der „roten“ Gentech- nik befassten, sank der Anteil kritischer Vorbe- Beim Zubereiten der Lebensmittel, z. B. durch halte und stieg die Akzeptanz gegenüber gentech- Kochen, werden die Gene nicht zerstört, nur die nisch herstellten Medikamenten in der DNA wird denaturiert, d. h., die Doppelhelixstruk- Bevölkerung. Die Entschlüsselung der menschli- tur der DNA löst sich in die beiden Einzelstränge chen Erbanlage und die Diskussion um das Klonen auf. So enthalten auch zubereitete Speisen alle- von Menschen sowie die Forschung mit embryona- samt DNA. Bier oder Wein enthalten ebenfalls len Stammzellen führte neue Aspekte in die DNA, da neben Resten des pflanzlichen Erbmate- öffentliche Diskussion ein. Die Debatte findet seit- rials auch die DNA der verwendeten Mikroorga- her auf allen politischen Ebenen statt. Im Zusam- nismen enthalten sind. Eines der wenigen Lebens- menhang mit der Genforschung werden in den mittel, das keine DNA mehr enthält, ist Zucker. Medien immer häufiger Moral und Ökonomie Die mit der Nahrung aufgenommenen Gene wer- gegenübergestellt und gegeneinander abgewogen. den im Magen-Darm-Trakt auf chemischem Wege In diesem Wirrwarr von unterschiedlichen und mit Hilfe von Enzymen (Eiweißmoleküle/Pro- häufig auch widerstreitenden Interessen ist es teine) verdaut und bis zu den kleinsten Einheiten, nicht einfach, sich zurechtzufinden und schließlich einzelnen Nukleotiden (Grundbaustein der Nukle- zu einer eigenen Position zu gelangen. Umso wich- insäure), abgebaut. Anschließend werden die tiger ist daher eine nüchterne Darstellung der DNA-Stücke zusammen mit allen anderen verdau- Sachverhalte. ten Nahrungsbestandteilen über die Darmschleim- haut in den Blutkreislauf aufgenommen und zur Gentechnik wird definiert als die Gesamtheit der Leber transportiert. Dort wird schließlich entschie- Methoden, die zur Bildung neuer Kombinationen den, was zur Weiterleitung im Körper zugelassen vererbbaren Materials führt. Die Technik besteht wird. im Einfügen von Nukleinsäuremolekülen, die außerhalb der Zelle hergestellt werden, in einen Was würde sich ändern, wenn die aufgenommenen neuen Organismus, in dem diese DNA normaler- Lebensmittel gentechnisch verändert worden weise nicht vorkommt. Die neue DNA kann sich wären? Nehmen wir als Beispiel die „Gentomate“ dort stabil vermehren. Dadurch entstehen Orga- (die Flavr Savr1 Tomate), die als erstes „gentech- nismen mit neuem Erbmaterial, die nicht in der nisch verändertes“ Lebensmittel 1994 in den USA Natur anzutreffen sind; sie werden als Gentech- auf den Markt kam. Die „Gentomate“ wurde in nisch Veränderte Organismen (GVO) bezeichnet. langjährigen Analysen auf jedes denkbare Risiko Das Ausgangsmaterial für diese neue Konstruk- hin geprüft. Die amerikanische Zulassungsbehörde tion ist das Erbmaterial, das als DNA (Desoxyri- hat ihr völlige Unbedenklichkeit bescheinigt: bonukleinsäure) bezeichnet wird. Daneben wer- „Diese Tomate ist genauso unbedenklich wie alle den weitere Werkzeuge benötigt wie „Molekulare anderen auf dem Markt befindlichen Tomaten.“ Scheren“ (Restriktionsenzyme), um DNA-Frag- Bei herkömmlich gezüchteten Tomaten werden mente in geeigneter Größe zu schneiden, und viele der Sicherheitsüberprüfungen gar nicht Transportsysteme (Vektoren), welche die neue durchgeführt, obwohl die theoretischen Risiken Erbinformation in einen neuen Wirt einschleusen hier genauso vorhanden sind. Es ist eine Selbstver- und zur Entfaltung bringen. Im Falle der Diskus- ständlichkeit, dass jeder Anwender einer Techno- sion um gentechnisch veränderte Lebensmittel logie deren Auswirkungen auf Mensch und müssen wir uns bewusst sein, dass die DNA über- Umwelt zu berücksichtigen hat. Ein neuer Zweig all ist, sie ist ausgesprochen stabil, der Mensch der Gentechnik, die Risikoforschung, beschäftigt „isst“ immer Gene: Beim Verzehr z. B. von Toma- sich mit dieser Fragestellung. Mit welchen Risiken ten werden unzählige einzelne Tomatenzellen auf- haben wir es zu tun? 3 Aus Politik und Zeitgeschichte B 23 – 24 / 2004
Das am häufigsten diskutierte Risiko sind die möglich, in der Züchtung als Marker benötigte sogenannten „Positionseffekte“. Was versteht man Antibiotika-Resistenz-Gene durch Rückkreuzung darunter? Alle Lebewesen produzieren Enzyme wieder zu entfernen. Der zweitsicherste Weg ist (Proteine) entsprechend ihrer genetischen Infor- die Verwendung der Resistenz-Gene für Antibio- mation auf der DNA. Bei den Genen, die „aktiv“ tika, die nicht mehr therapeutisch eingesetzt wer- sind, wird zunächst von der DNA eine Kopie den, wie es bei Kanamycin der Fall ist. Die Resis- (mRNA, MessengerRNA) gemacht, die dann in tenzübertragung ist aber sehr unwahrscheinlich, da das Eiweißmolekül übersetzt wird. Eine Möglich- die natürliche Aufnahme von Fremd-DNA durch keit, Gene auszuschalten, besteht darin, eine die Bakterien sehr gering ist, zumal das Resistenz- Negativkopie des Gens in den Organismus einzu- Gen in der Gentomate in das Erbmaterial der bringen (Antisense-Gen), welche die mRNA aus- Tomate eingebaut ist. Man schätzt, dass wir mit löscht. Damit kann das Eiweißmolekül nicht her- der täglichen Nahrung mindestens 1,5 Millionen gestellt werden. Diese Methode wurde bei der Mikroorganismen aufnehmen, die natürlicher- Gentomate angewandt, um ein bestimmtes Gen – weise Antibiotika-Resistenz-Gene tragen. Es gibt die Polygalacturonase – auszuschalten. Durch Ein- bis heute aber keinerlei Hinweise darauf, dass führung eines Gens können an der eingeführten eines dieser Gene jemals auf unsere Darmflora Stelle Veränderungen in der DNA auftreten, die übertragen worden wäre. Die Ziele der Anwen- man als „Positionseffekte“ bezeichnet. Im Fall der dung der Gentechnik im Lebensmittelbereich sind Tomate könnte z. B. ein anderes Tomaten-Gen heute nichts anderes als die Anwendung der klassi- beeinflusst werden, das in der Nähe der Einfüh- schen Züchtungsverfahren: geschmacklich ein- rungsstelle liegt: Das entsprechende Tomaten- wandfreie, ertragreiche und widerstandsfähige Eiweißmolekül würde dann in niedrigeren oder Lebensmittel zu erzeugen. Die Gentechnik geht höheren Konzentrationen gebildet, und in der sogar noch weiter, indem sie zum Umweltschutz Tomatenpflanze können Inhaltsstoffe entstehen, beiträgt, da weniger Pestizide verwendet werden ausfallen oder in anderen Konzentrationen auftre- müssen. ten. Nur durch das zusätzlich in umgekehrter Die Chancen und der Nutzen der Gentechnik wer- Orientierung eingebrachte tomateneigene Gen den aber besonders bei der Anwendung dieser entsteht kein neues Protein. Stattdessen wird das Technologie in der Medizin deutlich. Zurzeit wer- Protein Polygalacturonase, das für den schnellen den schon eine ganze Reihe von Medikamenten Verderb verantwortlich ist, nur noch in sehr gerin- gentechnisch produziert wie das Humaninsulin, gen Mengen gebildet. Bei dem Positionseffekt das menschliche Wachstumshormon, der Tumor- handelt es sich aber nicht um einen Risikofaktor, Nekrose-Faktor, ein Protein des menschlichen der gentechnischspezifisch ist: Jede neue Tomate Immunsystems, das in der Krebstherapie zur sowie andere Gemüse oder Fruchtsorten, die Abtötung der Krebszellen verwendet wird, um nur „klassisch“ gezüchtet werden, bergen dieselben einige zu nennen. Somit werden die Produktions- Risiken und sogar höhere, da diese die erwähnten kosten verringert, dies führt unter anderem auf- Prüfverfahren nicht durchlaufen. grund der explodierenden Gesundheitskosten zu einer höheren Akzeptanz der Gentechnik. Nur bei Ein gentechnikspezifisches Risiko ist dagegen die der Anwendung der Gentechnik in der Genthera- Verbreitung des zusätzlich als Erkennungszeichen pie ist eine politische Debatte legitim, denn, um in die Gentomate eingebrachte Marker-Gen. Jens Reich zu zitieren: „Ein Eingriff in die Freiheit Diese Marker-Gene enthalten den Bauplan für ein der Forschung ist dann geboten und nur dann Enzym, welches für die Antibiotika-Resistenz ver- gerechtfertigt, wenn es sich um die Wahrung oder antwortlich ist. Die Marker-Gene sind notwendig die Verletzung von Grundrechten dreht.“ für das Auffinden der Tomatenzellen, welche die gewünschten Neueigenschaften tragen. Es ist ein Mit Hilfe der Gentherapie werden überwiegend Marker für den Erfolg des Gentransfers und auf der Basis gentechnischer Methoden Therapien gleichzeitig eine Selektion, da nur die Tomatenzel- zur Heilung genetisch bedingter Defekte des Men- len, die diese Antibiotika-Resistenz tragen, auf schen durchgeführt wie z. B. die Sichelzellanämie Antibiotika enthaltenden Nährböden wachsen oder Defekte im menschlichen Wachstumshor- können. Im Fall der Gentomaten wurde Kanamy- mon. Heute beschäftigt sich immerhin die Hälfte cin als Antibiotikum verwendet. Falls aber Bakte- aller gentherapeutischen klinischen Studien mit rien im Darmtrakt von Menschen, welche die Krebserkrankungen. Hier werden wie in der „grü- neuen Tomaten verzehrt haben, ein solches Anti- nen Gentechnik“ dieselben Werkzeuge eingesetzt, biotika-Resistenz-Gen aufnehmen und tatsächlich aber als Träger (Vektor) werden meist virale Vek- das entsprechende Resistenzprotein bilden wür- toren aus Retroviren verwendet, da diese sehr effi- den, gibt es mehrere Ansätze, die zur Risikomini- zient Gene in neue Wirte einschleusen können. Im mierung führen: Heute ist es technisch bereits Gegensatz zur „Grünen Gentechnik“ ist die Gen- Aus Politik und Zeitgeschichte B 23 – 24 / 2004 4
therapie sehr teuer, die Risiken sind aufgrund der dem Jahr 1993 zeigt. Deutschland und Dänemark viralen Gene schwer abzuschätzen, da die Retro- sind im Vergleich zu anderen europäischen Län- viren Sequenzen (Teile der DNA) mit anderen dern besonders skeptisch und zurückhaltend, was Retroviren austauschen können. Das Risiko ist die Anwendung der Gentechnik anbelangt. Die jedoch dann sehr gering, wenn beispielsweise Studie zeigt aber noch einen anderen Befund: Je Retroviren von Mäusen verwendet werden, weil größer das Wissen über die Gentechnologie ist, die Viren im normalen Fall stark wirtsspezifisch desto höher ist ihre Akzeptanz. sind, d. h., Pflanzenviren befallen nur Pflanzen, Um die bioethische Diskussion einzudämmen, Bakterienviren nur Bakterien etc. Die Genthera- wird bisher die Gentherapie nur auf somatische pie wird erst dann angewandt, wenn es keine wei- Zellen angewandt, sodass nur die behandelte Per- tere Therapiemöglichkeit mehr gibt. son davon betroffen ist. Die Anwendung der Gen- Eigentlich lassen sich die komplexen Zusammen- therapie auf Stammzellen wird heute intensiv und hänge der Akzeptanz oder Ablehnung der Gen- kontrovers diskutiert, da die Auswirkungen auf technik nicht allein auf Risiko- und Nutzenab- die Nachkommen übertragen werden. In diesem schätzungen reduzieren. Die Entwicklung auf dem Zusammenhang muss man sich die Frage stellen: Gebiet der Gentechnik, insbesondere im medizini- Wer würde es wagen, zu sagen, welche Behinde- schen Bereich, hat die Notwendigkeit einer Bio- rung geheilt werden soll und welche nicht? Wer ethik hervorgerufen. Diese neue Disziplin wirft soll den Maßstab dafür setzen, welche Behinde- kritische Fragen über Chancen und Risiken der rung verhindert werden soll und welche nicht? Bei Gentechnik für Mensch und Natur auf. Aber diese diesen Entscheidungen muss man sich bewusst junge Disziplin kann zurzeit keine einheitliche und sein, dass ein Eingriff in die Forschungsfreiheit tief allgemein verbindliche Lösung für die Bewälti- greifende Konsequenzen haben kann. Wann und gung der Probleme geben, welche durch die mit welcher Begründung wird ein kategorisches Anwendung der Gentechnik unter anderem in der moralisches Verbot der Anwendung der Genthera- Gentherapie hervorgerufen werden. Man unter- pie an Stammzellen gerechtfertigt? Ich stimme der scheidet zwei unterschiedliche Einstellungen zur Forderung von Dagmar Schipanski aus dem Spie- Entwicklung der Gentechnologie: Die eine ist gel vom 12. Januar 2004 zu: „Wir brauchen einen gekennzeichnet durch die Bedenken hinsichtlich Durchbruch und keine Denkverbote, die Medizin der angestrebten Ziele, die andere durch eine muss neue Wege gehen.“ Damit Deutschland im unbedenkliche Zweck-Mittel-Relation. Die Reak- Wissenschaftswettbewerb mithalten kann, sollte es tionen sind aber länderspezifisch, wie eine Studie keine Restriktionen in der Forschung geben, so im Auftrag der Europäischen Kommission aus wie es das Humboldt’sche Ideal vorsieht. 5 Aus Politik und Zeitgeschichte B 23 – 24 / 2004
Johannes Reiter Menschenwürde als Maßstab Wir müssen zugeben, dass unsere Gesellschaft die Stellung des Menschen in der technischen Zivi- kein einheitliches Welt- und Menschenbild mehr lisation sowie der sich daraus ergebenden Fragen besitzt. Der Pluralismus der Weltanschauungen ist des Umgangs mit biotechnischen und biomedizini- in der modernen Welt eine Tatsache. Deshalb schen Problemen. In einer Welt, in der sich Wissen erscheint auch ein gemeinsames Handeln auf und Können immer rasanter vermehren, muss Grund gemeinsamer Wertvorstellungen kaum stets neu ermittelt werden, inwieweit neuartige mehr möglich. Gerade in dieser Situation dürfte technologische, medizinische und gesellschaftliche der tiefere Grund für die permanenten religiösen, Entwicklungen die Menschenwürde berühren. weltanschaulichen, sittlichen und rechtlichen Kri- sen des heutigen Menschen zu suchen sein. Dieser Pluralismus ist für uns umso bedrängender, als wir heute global in Konfrontation mit anderen Natio- nen, ja sogar mit völlig anderen Kulturen – alten Begriffsgeschichte und Begründung und neuen – stehen, die den gleichen Wahrheitsan- der Menschenwürde spruch stellen wie wir. Als Orientierungspunkt innerhalb dieses breit Um den Gehalt der Menschenwürdegarantie gefächerten Pluralismus wird gerne und vermehrt genauer herauszuarbeiten, muss ihre ideenge- die Menschenwürde herangezogen.1 Sie scheint schichtliche Tradition ins Auge gefasst werden.3 In offenbar der allgemeine Nenner zu sein, der das der antiken Philosophie wird die Würde in zwei ethische Grundanliegen der modernen Welt zum recht unterschiedlichen Kontexten gebraucht. Ausdruck bringt und auf den alle Forderungen Zum einen ist mit Würde die Kennzeichnung einer nach Humanität bezogen werden können. Die sozialen Position innerhalb der Gesellschaft Menschenwürde will den für das geordnete gemeint. Würde wird vor allem als Leistung des Zusammenleben notwendigen Konsens herstellen. Einzelnen, ebenso aber auch als eine Funktion der Weil sie für den Menschen als solchen gilt – also Gesellschaft verstanden. Insofern gibt es ein Mehr unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Reli- oder Weniger an Würde. Würde ist zum anderen gion und Weltanschauung, politischen Überzeu- dasjenige, was jeden Menschen vor der nicht- gungen, gesellschaftlicher Stellung, Gesundheits- menschlichen Kreatur auszeichnet. Deshalb zustand, Geschlecht und wodurch sich sonst noch kommt allen Menschen dieselbe Würde zu. Beide Menschen unterscheiden mögen –, kann sie grund- Bedeutungsvarianten des Begriffs lassen sich legend für alle politisch-gesellschaftlichen Ord- bereits bei Cicero nachweisen. nungen sein.2 Derzeit steht die Menschenwürde im Als Grund für die zuletzt genannte Auffassung Zentrum der ethischen Auseinandersetzung um von der unverlierbaren Menschenwürde galt der Stoa die Teilhabe des Menschen an der Vernunft, 1 Vgl. Johannes Schwartländer, Art. Menschenwürde/Per- sonwürde, in: Lexikon der Bioethik, Bd. 2, Gütersloh 1998, den christlichen Autoren der Antike und des Mit- S. 683 –688, hier S. 683: „Die Menschenwürde bestimmt in telalters die Gottebenbildlichkeit des Menschen der Gegenwart national, regional und global den ethischen und seine unmittelbare Beziehung zu Gott, die und vor allem den rechtsethischen Grundlagendiskurs (. . .). durch die Menschwerdung Gottes in Jesus Chris- Dieser Diskurs betrifft zunächst und vor allem das Verhältnis von Politik und Ethik. Er bestimmt aber auch das Verhältnis tus bestätigt wurde. von Wissenschaft und Ethik und wird – gerade auf dem Bo- Eine neue Sicht der menschlichen Würde bringt den der sich an die Achtung der Würde des Menschen und die Grundrechte bindenden Verfassung der Bundesrepublik die Renaissance. Der italienische Humanist Pico Deutschland – durch die Entwicklung von Wissenschaft und Technik in immer neuer Weise erforderlich.“ 3 Vgl. Rolf-Peter Horstmann, Art. Menschenwürde, in: 2 „Träger dieser menschenrechtlichen Würde ist jedes Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hrsg.), menschliche Wesen, unabhängig von seinem Entwicklungs- Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Basel– stand, seiner Leistungsfähigkeit und seiner gleichsam sub- Stuttgart 1980, Sp. 1124 –1127; Kurt Bayertz, Art. Menschen- jektiven und objektiven Zuständlichkeit. Sie gilt also für den würde, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Phi- Ungeborenen ebenso wie für den missgebildeten Geborenen losophie, Bd. 1, Hamburg 1999, S. 824 –826; Robert Spae- und sogar für den Verbrecher. Sie besteht also für das mann, Über den Begriff der Menschenwürde, in: Ernst- menschliche Wesen von seiner Empfängnis bis zu seinem Wolfgang Böckenförde/Robert Spaemann (Hrsg.), Men- Tod.“ J. Schwartländer, ebd., S. 686. schenrechte und Menschenwürde, Stuttgart 1987, S. 295 –313. Aus Politik und Zeitgeschichte B 23 – 24 / 2004 6
della Mirandola kommt auf Grund von Überlegun- noch einen Schritt weiter und bindet die Würde gen über die Ähnlichkeit des Menschen mit Gott der Person in den Begriff der Gerechtigkeit ein, zu der auf stoische Lehren zurückgehenden Über- indem er für die Verwirklichung der Gerechtigkeit zeugung, dass der Mensch alles in sich vereint, also von jedem Menschen fordert, die Würde des ande- einen Mikrokosmos darstellt, in dem alle Möglich- ren ebenso zu respektieren wie die eigene. keiten angelegt sind. Zwischen diesen Möglichkei- ten eine Wahl zu treffen, dies ist nach Pico die Eine erneute Besinnung auf die Menschenwürde dem Menschen von Gott gegebene Bestimmung. setzt danach erst wieder im 20. Jahrhundert ein, Die den Menschen auszeichnende Würde ist also nicht zuletzt unter dem Eindruck der den Men- seine Freiheit. schen entwürdigenden Vorgänge im „Dritten Mit der beginnenden Neuzeit rückt erneut die Ver- Reich“. Nach dem Zweiten Weltkrieg findet der nunftbestimmung in den Mittelpunkt. Während Menschenwürdebegriff vermehrt Eingang sowohl der Aufklärung wird die Auffassung der Würde als in das nationale wie auch in das internationale Recht. In der Bundesrepublik Deutschland bildet Freiheit mit der stoischen Auffassung der Würde die Menschenwürde den Mittelpunkt des Wertsy- als Teilhabe an der Vernunft verbunden. Der fran- stems der Verfassung und die Basis sowie den Gel- zösische Philosoph Blaise Pascal und der Staats- tungsgrund der Grundrechte. Im Grundgesetz von und Völkerrechtstheoretiker Samuel Pufendorf sehen die Würde in der Freiheit des Menschen, 1949 heißt es in Artikel 1: „(1) Die Würde des das durch die Vernunft Erkannte zu wählen und zu Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu tun. Pufendorf, dessen Lehre übrigens Einfluss auf schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. die amerikanische Erklärung der Menschenrechte (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu von 1776 hatte, verbindet diesen Gedanken der unverletzlichen und unveräußerlichen Menschen- Würde mit dem der Gleichheit aller Menschen, da rechten als Grundlage jeder menschlichen allen Menschen als solchen diese Eigenschaft Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit zukomme. in der Welt.“ In der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Eine wichtige Stellung nimmt der Begriff der Men- Nationen von 1948 heißt es, dass „die Anerken- schenwürde sodann in der Moralphilosophie Kants nung der allen Mitgliedern der menschlichen ein, wie er sie in der „Grundlegung zur Metaphy- Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen sik der Sitten“ (1785) entwickelt. Kant unterschei- und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der det im Bereich menschlicher Zwecksetzungen zwi- Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der schen dem, was einen Preis, und dem, was eine Welt bildet“5. Weiter heißt es dann in Artikel 1: Würde hat. „Was einen Preis hat, an dessen Stelle „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt Rechten geboren.“ Die Vereinten Nationen folgen werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, damit, ebenso wie später die Bundesrepublik mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Deutschland, einem universalistischen Verständnis Würde.“ Nur ein Wesen, das in der Lage ist, sich der Menschenwürde. Würde kommt dem Men- selbst Zwecke zu setzen, kommt als letzter Bezugs- schen bereits als Mitglied der Gattung Mensch zu. punkt, als Selbstzweck jeder Zwecksetzung, in Das heißt, sie gilt für alle Menschen, ohne dass Frage. Der Grund dafür, dass die menschliche Natur Würde hat, ist nach Kant die Autonomie 5 „Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich die Völkergemeinschaft konkret, politisch bzw. rechtspolitisch des Menschen, das heißt seine Möglichkeit, in darauf verständigt, die Idee der Menschenwürde und die Freiheit einem Gesetz unterworfen zu sein, also Schutz- bzw. die Freiheitsrechte eines jeden Einzelnen als sittlich sein zu können.4 Basis für das Zusammenleben der Menschen anzuerkennen. Es handelt sich um eine interkulturelle Einigung. Der fran- Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wird der zösische Diplomat Stéphane Hessel, der damals bei den Be- ratungen der Menschenrechtskommission zugegen war, be- Begriff Menschenwürde dann zu einem politischen richtete im Rückblick, für die Betonung des „Gewissens“ Schlagwort der Arbeiterbewegung. Die Forderun- habe ein chinesischer Jurist plädiert; den Begriff Menschen- gen nach einem menschenwürdigen Dasein und würde hätten vor allem katholische Kulturen eingebracht. nach menschenwürdigen Zuständen gehören zu Bei der Abstimmung enthielt sich Saudi-Arabien dann aller- dings der Stimme, weil dieses islamische Land die Kodifizie- den Hauptparolen der frühen Sozialisten. Ferdi- rung der Religionsfreiheit nicht nachvollzog. Inzwischen nand Lassalle fordert, dass die materielle Lage der werden Menschenrechte in der islamischen Welt zumindest arbeitenden Klasse verbessert und den Arbeitern dem Grundsatz nach anerkannt, und zwar mit Hilfe einer zu einem wahrhaft menschenwürdigen Dasein ver- Deutung, der zufolge die Menschenrechte nicht neuzeitlich- westlichen Ursprungs, sondern im Islam selbst verwurzelt holfen wird. Der Franzose Pierre Proudhon geht seien. Außerdem enthielten sich 1948 sechs sozialistische Staaten und bezeichnenderweise Südafrika.“ Hartmut Kreß, 4 Vgl. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (Weischedel- Menschenwürde im modernen Pluralismus, Hannover 1999, Ausgabe), Bd. IV, Darmstadt 1956, S. 600. S. 33. 7 Aus Politik und Zeitgeschichte B 23 – 24 / 2004
dafür erst bestimmte Leistungen erbracht oder getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, bestimmte Qualitäten erfüllt werden müssten. zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe Auch das „Übereinkommen zum Schutz der Men- herabgewürdigt wird.“7 Anders ausgedrückt: Es schenrechte und der Menschenwürde im Hinblick widerspricht der Menschenwürde, wenn der auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Mensch einer Behandlung ausgesetzt wird, die Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt des Europarates“ vom 4. April 1997 nimmt sowohl beziehungsweise unterwandert. Die Menschen- den Begriff der Menschenwürde als auch den würde wird hierbei im Wesentlichen ex negativo Schutz des Menschen als Gattungswesen in seine bestimmt. Das heißt konkret: Die Menschenwürde Präambel auf. Dort ist die Rede von der „Notwen- ist betroffen durch Folter, Sklaverei, Ausrottung digkeit der Achtung des Menschen sowohl als bestimmter Gruppen, Geburtenverhinderung oder Individuum als auch als Mitglied der menschlichen Verschleppung, Unterwerfung unter unmenschli- Gattung“ und von der „Anerkennung der Bedeu- che oder erniedrigende Strafe oder Behandlung, tung der Wahrung der Menschenwürde“. Darüber Brandmarkung, Vernichtung so genannten unwer- hinaus wird die Menschenwürde auch in Artikel 1 ten Lebens oder durch Menschenversuche.8 Diese ausdrücklich verankert. Als jüngstes Dokument Kasuistik resultiert also im Wesentlichen aus Ver- des internationalen Rechts hat die EU-Grundrech- letzungstatbeständen durch Unrechtssysteme. Die techarta vom 7. Dezember 2000 den Begriff der Plausibilität der Objektformel beruht nicht zuletzt menschlichen Würde sowohl in die Präambel als auf der historischen Erfahrung der Instrumentali- auch in Artikel 1 aufgenommen. „In dem Bewusst- sierung von Menschen durch totalitäre Staaten. sein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes Und deshalb wurde der Menschenwürdegedanke gründet sich die Union auf die unteilbaren und auch in Reaktion auf die NS-Diktatur in das universellen Werte der Würde des Menschen, der Grundgesetz aufgenommen. Insofern stellt die Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität“, heißt Rede von der Menschenwürde ein aus der Lei- es in der Präambel. Und Artikel 1 lautet: „Die densgeschichte der Menschheit erwachsenes Sinn- Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu angebot an die Welt dar. achten und zu schützen.“ Dürig hat seine Objektformel immer nur als Leit- Die zuvor angeführten Menschenwürde-Doku- faden verstanden; diese bedarf jeweils näherer mente stützen sich auf anthropologische Grund- Konkretisierung und inhaltlicher Auslegung. Das aussagen, die eindeutige Vorgaben zu ihrer Expli- bedeutet aber keine Relativierung im Hinblick auf kation enthalten: Die Menschenwürde kommt ihre Geltung. Als nähere positive Bestimmung allen Menschen gleicherweise zu. Die Würde des „jener Kernzonen und elementaren Bedingungen, Menschen ist mit seiner Existenz gegeben und die Art. 1 I gegen schwere Verletzungen schützen Gegenstand nicht einer Zuerkenntnis, sondern soll“, nennt Wolfram Höfling: 1. Achtung und Anerkenntnis. Die Würde ist der Existenz eines Schutz der körperlichen Integrität; 2. Sicherung Menschen immanent, dem Leben eines Menschen menschengerechter Lebensgrundlagen; 3. Gewähr- „koextensiv“, sie ist nicht teilbar, in keiner Phase leistung elementarer Rechtsgleichheit; 4. Wahrung seines Lebens ist der Mensch ohne sie. Die zeitli- der personalen Identität.9 che Folge von Lebensphasen eines Subjekts (Embryo, Fetus, Kind, Erwachsener) darf nicht in Die ethische Bedeutung des Menschenwürdege- eine Aufeinanderfolge verschiedener Subjekte dankens liegt vor allem und insbesondere darin, umgedeutet werden.6 dass die Menschenwürde als das Fundament der Menschenrechte herausgestellt wird. Die Men- schenwürde führt zur Formulierung der Men- schenrechte hin, bedarf aber umgekehrt auch der Der Inhalt der Menschenwürde politisch-rechtlichen Absicherung durch eben diese Rechte; sie begründet die Schutz- und Frei- heitsrechte des Menschen und schärft diese ein.10 Was macht nun den Schutz der Menschenwürde aus? Was ist ihr Inhalt? Wie realisiert sie sich, und 7 Günter Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschen- würde, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 81 (1956), S. 117 – wo wird sie konkret? Auf diese Fragen versucht 157, hier S. 127. der Verfassungsrechtler Günter Dürig mit der so 8 Vgl. das Urteil des Hessischen Staatsgerichtshofes, in: genannten, an Kant erinnernden „Objektformel“ Deutsches Verwaltungsblatt (DVBL), 89 (1974), S. 940 ff. zu antworten. In dem von ihm verfassten Grundge- 9 Vgl. Wolfram Höfling, Kommentierung des Art. 1 (Schutz der Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechtsbin- setzkommentar heißt es: „Die Menschenwürde ist dung), in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, München 20023, S. 78 –115, hier S. 87. 6 Vgl. Günther Pöltner, Grundkurs Medizin – Ethik, Wien 10 Zur Menschenwürde aus ethischer und rechtlicher Sicht 2002, S. 50. vgl. Deutscher Bundestag (Hrsg.), Enquete-Kommission Aus Politik und Zeitgeschichte B 23 – 24 / 2004 8
und dementsprechend breit war das Echo auf den Der Streit um die Menschenwürde Artikel. Für Böckenförde markiert die Neukom- mentierung durch Herdegen einen Epochenbruch. Nach Dürig ist die Menschenwürdegarantie ein Dies ist grob umrissen das bislang weithin herr- „sittlicher Wert“, der als „vorpositives Funda- schende Menschenwürdekonzept, mit dem zwar ment“, als „naturrechtlicher Anker“ dem positiven nicht überall Frieden gestiftet, aber zumindest Dis- Verfassungsrecht vorangestellt ist.13 Dürig wollte kurskriege in Grenzen gehalten wurden. Seit Sep- sozusagen vor die Klammer des konkret normier- tember vergangenen Jahres wird, jedenfalls für die ten Rechts eine ewige und unantastbare Substanz Öffentlichkeit erkennbar, über dieses traditionelle ziehen, die keinerlei Abwägungen zugänglich, Menschenwürdekonzept gestritten. Der Anlass war deshalb unantastbar ist. Im Gegensatz zu den folgender: In der 42. Ergänzungslieferung (Februar Grundrechten, die Grenzen und Abwägungen 2003) zu dem maßgeblichen Grundgesetz-Kom- unterliegen, ist das Achtungs- und Schutzgebot der mentar, dem so genannten „Maunz-Dürig“11, hat Menschenwürde universal und unantastbar, keinen der Bonner Staats- und Völkerrechtler Matthias Abwägungen zugänglich. Herdegen nach 45 Jahren eine Neukommentierung des ursprünglich von Günter Dürig bearbeiteten Artikels 1 Absatz 1 des Grundgesetzes vorgenom- men. Daraufhin unterzog im September 2003 der Herdegen verzichtet auf diesen, dem positiven ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolf- Verfassungsrecht vorgeordneten Anspruch und gang Böckenförde in der „Frankfurter Allgemeinen bezeichnet ihn als deklaratorische und nostalgi- Zeitung“ die Kommentierung durch Herdegen sche Größe (Nr. 17). Damit aber, so räsoniert Bök- einer Fundamentalkritik.12 kenförde, gehe der fundamentalen Norm des Grundgesetzes die „tragende Achse“ verloren.14 Schon die Überschrift seines Beitrags „Die Würde Das Neue bei Herdegen ist der Wechsel, den er des Menschen war unantastbar“ lässt aufmerken, vollzieht: Die Menschenwürde ist nicht mehr vor- positives Fundament der Verfassungsnorm, son- Recht und Ethik der modernen Medizin. Schlussbericht (Zur dern sie wird zur „Verfassungsnorm auf gleicher Sache 2/2002), Berlin 2002, S. 21 –44; Hans Michael Baum- Ebene“15. Damit ist sie zugleich für „Abwägungen gartner/Ludger Honnefelder/Wolfgang Wickler u. a., Men- schenwürde und Lebensschutz: Philosophische Aspekte, in: und Angemessenheitsgesichtspunkte“ geöffnet, Günter Rager (Hrsg.), Beginn, Personalität und Würde des „anheimgegeben und anvertraut der Gesellschaft Menschen, Freiburg i. Br. 1997, S. 161 –242; Kurt Bayertz, der Verfassungsinterpreten, für die kein verbindli- Die Idee der Menschenwürde: Probleme und Paradoxien, in: cher Kanon der Interpretationswege existiert“16. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 81 (1995), S. 465 – 481; Ernst Benda, Verständigungsversuche über die Würde des Menschen, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), 54 (2001), S. 2147 f.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Menschen- würde als normatives Prinzip. Die Grundrechte in der bio- Will man die Umstände der Entstehung der Men- ethischen Debatte, in: Juristenzeitung (JZ), (2003), S. 809 – schenwürdegarantie im Grundgesetz bei deren 815; Erhard Denninger, Embryo und Grundgesetz. Schutz des aktueller Interpretation überhaupt noch in Lebens und der Menschenwürde vor Nidation und Geburt, in: KritV, 86 (2003), S. 191 –209; Sigrid Graumann (Hrsg.), Die Betracht ziehen, so zeigt sich Folgendes: Bei der Genkontroverse. Grundpositionen, Freiburg i. Br. 2001; Ei- Abstimmung über den Menschenwürde-Artikel, lert Herms (Hrsg.), Menschenbild und Menschenwürde, Gü- so ist aus den Protokollen zu ersehen, hat im Parla- tersloh 2001; Matthias Kettner (Hrsg.), Biomedizin und mentarischen Rat „eine gegenüber Religion und Menschenwürde, Frankfurt/M. 2004; Johannes Reiter, Über die Ethik der Menschenwürde, in: Albert Raffelt (Hrsg.), Metaphysik abstinente Haltung“ zwar denkbar Weg und Weite. Festschrift für Karl Lehmann, Freiburg i. Br. knapp, aber doch obsiegt. Die Menschenwürde ist 2001, S. 443 –454. im Grundgesetz nicht „von Gott“ gegeben, aber 11 Theodor Maunz/Günter Dürig/Roman Herzog/Rupert auch nicht „gegen“ ihn. Sie ist indes – und das ist Scholz (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, München 2003. 12 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, in: Frankfurter All- ihre Pointe – auch nicht vom Staat gegeben. Sie ist gemeine Zeitung vom 3. 9. 2003, S. 33 und 35. Herdegen ist vorgegeben, liegt dem Gemeinwesen voraus. Und allerdings nicht der Einzige, der in seiner Kommentierung dieses „voraus“ ist mit der rechtlichen Anerken- von der traditionellen Meinung abweicht. Herdegens Auf- nung der Unantastbarkeit der Menschenwürde fassung vergleichbar ist die des an der Universität Würzburg lehrenden Staatsrechtlers Horst Dreier; vgl. den von ihm ausgesprochen.17 herausgegebenen Grundgesetzkommentar, Bd. I, München 20042, und darin seine Kommentierung zu Art. 1 GG. Bö- 13 So E.-W. Böckenförde, ebd., S. 33. ckenförde vermutet daher, dass in dem Wechsel der Kom- 14 Ebd. mentierung auch ein Generationsunterschied zum Ausdruck 15 Ebd., S. 35. kommt. Eine Ausnahme würde hier allerdings der Staats- 16 Ebd. rechtler Wolfram Höfling von der Universität in Köln ma- 17 Vgl. Uwe Justus Wenzel, Menschenwürde und Men- chen; vgl. seine Kommentierung des Art. 1 GG, in: M. Sachs schenbild. Über die Relativität des Absoluten, in: Neue Zür- (Hrsg.) (Anm. 9). cher Zeitung vom 15. 11. 2003. 9 Aus Politik und Zeitgeschichte B 23 – 24 / 2004
Würdeschutz“, stellt Böckenförde fest, „ist für Gestufter Schutz der Menschenwürde viele Abstufungen und Variationen offen. Über seine eigene Relativierung führt er notwendig auch zur Relativierung der Unabdingbarkeit der Die Menschenwürde als solche zieht Herdegen Menschenwürde selbst, wiewohl der Anschein nicht in Zweifel. Sie kommt „allen Menschen als erweckt wird, diese bestünde fort. (. . .) Letztlich Gattungswesen“ zu und hängt auch „nicht an geht es um den Freiraum für die Gewährung und irgendwelchen geistigen und körperlichen Fähig- den Abbau von Würdeschutz nach Angemessen- keiten des Einzelnen oder sozialen Merkmalen“. heitsvorstellungen des Interpreten.“19 Zwar betont (Nr. 48) Dem kann man uneingeschränkt zustim- Herdegen, dass es in einem gestuften Würde- men. Dann aber kommt der Schlüsselsatz, an dem schutz-System nicht nur ein Weniger, sondern sich die Geister scheiden: „Trotz des kategorischen durch spezielle Schutzvorkehrungen auch ein Würdeanspruchs aller Menschen sind Art und Mehr an Schutz geben könne (Nr. 67), aber leider Maß des Würdeschutzes für Differenzierungen bricht sich diese Auffassung in seiner Kommentie- durchaus offen, die den konkreten Umständen rung keine Bahn. Rechnung tragen.“ (Nr. 50) Herdegen plädiert daher für eine „prozesshafte Betrachtung des Wür- deschutzes mit entwicklungsabhängiger Intensität eines bestehenden Achtungs- und Schutzanspru- Biomedizin und Menschenwürde ches“ (Nr. 56). Dabei richtet sich nicht der Würde- anspruch als solcher (das „Ob“) nach dem Stand der Entwicklung, sondern sein Inhalt (das „Wie“) Wie sich Herdegens gestuftes Menschenwürdekon- (Nr. 56). So verstärke sich der Würdeanspruch des zept konkret auswirkt, sei an einigen Themenfel- Embryos in vitro nach Implantation (Einpflan- dern aus der Biomedizin illustriert. Nach Herde- zung) und Nidation (Einnistung) und weiter mit gens Verständnis der Menschenwürde wird durch dem Heranwachsen im Mutterleib. Die unter- diese nur weniges uneingeschränkt garantiert, vie- schiedslose Qualität des Würdeanspruchs von les dagegen ermöglicht. Aus der Menschenwürde- Zygote einerseits und geborenem Menschen ande- garantie folgt für ihn nicht nur die Verwirklichung rerseits – meint Herdegen feststellen zu können – eines Kinderwunsches, sondern auch die Freiheit, sei der Geistesgeschichte der letzten Jahrhunderte sich der Methoden der modernen Fortpflanzungs- fremd. Auch lasse sich die Rechtsprechung des medizin zu bedienen. Weder die homologe noch Bundesverfassungsgerichts nur auf der Grundlage die heterologe Insemination, noch die In-vitro-Fer- eines entwicklungsabhängigen Würdeschutzes tilisation stellen demnach eine Verletzung der widerspruchsfrei darstellen. Und schließlich Menschenwürde dar. Dagegen sah Dürig in der beziehe sich die Achtung der Menschenwürde heterologen Insemination noch eine eindeutige meist auf das Subjekt zwischenmenschlicher Verletzung der Menschenwürde: „Der Samenspen- Beziehungen. Diese seien aber in einem frühen der, denen es gleichgültig ist, wem das Sperma zur Stadium menschlicher Entwicklung nur schwer Verfügung gestellt wird, und was aus den Kindern erlebbar, so dass eine Würdeverletzung zu diesem wird, kann überhaupt nur schaudernd gedacht wer- Zeitpunkt nur mit Zurückhaltung angenommen den. Der Ehemann wird zu einer ,vertretbaren werden könne (Nr. 65 – 67).18 „Ein so gesehener Größe‘ degradiert. Von der Mutter wird vorausge- setzt, dass sie den Gatten als austauschbar hin- 18 Zu dieser Feststellung Herdegens bemerkt Thomas nimmt (. . .). Das Kind wird systematisch in seinem Traub: „Dieser Versuch, der Verfassung die Vorstellung einer Recht getroffen, seine blutsmäßige Abstammung mit Ausmaß von der Entwicklung abhängigen Menschen- zu erfahren.“ Der Staat habe hier nicht nur die würde zu unterstellen, hätte sich auch in der Darstellung ausführlicher mit den Gegenargumenten auseinandersetzen Pflicht der Nichtlegalisierung, sondern eine echte sollen. Der Hinweis auf die Geistesgeschichte erschöpft sich Schutz- und Abwehrpflicht. Selbst die Leihmutter- leider ohne jeden weiterführenden Hinweis auf die schlichte schaft lässt nach Herdegen die Menschenwürde Behauptung, das Recht differenziere ,seit jeher‘ nach dem unberührt. „Weder der Embryo noch die geneti- Stand der menschlichen Entwicklung. Abgesehen davon, dass Herdegen selbst an anderer Stelle die Relevanz der geistes- sche Mutter oder die Tragemutter werden dadurch geschichtlichen Entwicklung für diesen Fragenkomplex rela- in ihrer Würde tangiert.“ (Nr. 97) Die gemeinsame tiviert (Nr. 55), weist der 1. Teil, 1. Titel § 10 des Preußischen Arbeitsgruppe des Bundesministers für Forschung Allgemeinen Landrechts von 1794 in eine andere Richtung. und Technologie und des Bundesministers der In dieser Bestimmung, auf die auch das Bundesverfassungs- gericht hinweist, ist festgelegt, dass ,die allgemeinen Rechte Justiz, die so genannte Benda-Kommission, hatte der Menschheit (. . .) auch den noch ungeborenen Kindern, schon von der Zeit ihrer Empfängnis‘, gebühren. Ebenso er- konsistent darstellen, als nicht überzeugend.“ Thomas Traub, weist sich Herdegens Annahme, nur auf der Grundlage eines Schutz der Menschenwürde in Stufen?, in: Zeitschrift für Le- gestuften Würdeschutzes lasse sich die Rechtsprechung des bensrecht, 12 (2003), S. 130 –134, hier S. 132. Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch 19 E.-W. Böckenförde (Anm. 12), S. 33. Aus Politik und Zeitgeschichte B 23 – 24 / 2004 10
dies noch anders gesehen: „Eine Vereinbarung rapieverbot auf Grund der noch mit der Keim- über eine Ersatzmutterschaft missachtet die Men- bahntherapie verbundenen Gesundheitsrisiken für schenwürde des Kindes, denn sie lässt außer acht, die Nachkommenschaft läge auf einer anderen dass die Entwicklung im Mutterleib ein wichtiger Ebene. Unter Hinweis auf diese Risiken – aber Teil der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes ist nicht nur auf sie – hat jedoch die Benda-Kommis- und dass der biologischen wie psychischen Bezie- sion aus verfassungsrechtlichen Überlegungen ein hung zwischen der Schwangeren und dem Kind für Verbot der Keimbahntherapie gefordert: „Es ist diese Entwicklung besondere Bedeutung zu- davon auszugehen, dass ein gezielter Gentransfer kommt. Diese besonders geartete Beziehung, die in menschliche Keimbahnzellen derzeit nicht mög- durch die natürliche Verbindung des ungeborenen lich ist. Da aber ein ungezielter Gentransfer mit Lebens mit dem der Mutter begründet wird, unvorhersehbaren Risiken für die Betroffenen und würde beeinträchtigt, wenn die Schwangerschaft deren Nachkommen verbunden ist, lässt sich diese als eine Art Dienstleistung übernommen würde. Methode mit der Grundentscheidung des Art. 1 Die für die Entwicklung des Kindes wesentliche Abs. 1 GG für den Schutz der Menschenwürde enge persönliche Beziehung zwischen der Schwan- und auch mit dem objektiv-rechtlichen Gehalt des geren und dem Kind könnte unter diesen Umstän- Grundrechts auf Leben und körperliche Unver- den kaum zustande kommen. Deshalb bestehen sehrtheit in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht verein- generell Bedenken gegen eine Ersatzmutterschaft, baren, weil das menschliche Leben hier zum auch gegen eine ,altruistisch‘ übernommene.“20 Im Objekt für Experimente würde. Darüber hinaus Embryonenschutzgesetz ist die Ersatzmutterschaft würde die Durchführung des Gentransfers bei auch aus diesen Erwägungen heraus im Paragraph einer größeren Anzahl Embryonen mit dem Ziel, 1 Abs. 1 Nr. 2 verboten. später nur die wenigen erfolgreich transformierten Embryonen austragen zu lassen, mit dem auch den Totipotenten Zellen, also solchen Zellen, die die Embryonen zu gewährenden Lebensschutz nicht Fähigkeit haben, sich zu einem ganzen Individuum in Einklang stehen.“21 zu entwickeln, kommt nach Herdegen keine Men- schenwürde zu – obwohl der Gesetzgeber im Im europäischen Bereich gibt es schon länger Embryonenschutzgesetz solche Zellen als Befürchtungen im Hinblick auf mögliche manipu- Embryonen ansieht. Folglich stellt auch die lative Veränderungen der menschlichen Identität. Abspaltung von Zellen eines Embryos im Acht- Die Parlamentarische Versammlung des Europara- zellstadium, etwa zu Diagnosezwecken, für Herde- tes hat bereits im Jahr 1982 in einer Entschließung gen kein rechtliches Problem dar (Nr. 64). Die die Anerkennung eines Menschenrechts auf „nicht Menschenwürde, so Herdegen, sei auch für die künstlich veränderte“ Erbanlagen gefordert. Maß- Präimplantationsdiagnostik (PID) wenig ergiebig nahmen der „genetischen Veredelung“, also posi- und bleibe im Normalfall unberührt. Die Untersu- tive Eugenik bzw. Menschenzüchtung, sind für chung der genetischen Disposition zu bestimmten Herdegen ebenfalls keine Verletzung der Men- Krankheiten liege außerhalb des Schutzbereiches schenwürde. „In der Schrankenziehung liegt eine von Art. 1 Abs. 1 GG. „Begründen lässt sich eine verfassungsrechtlich schwach determinierte Gefährdung der Menschenwürde allenfalls mit Gestaltungsaufgabe des Gesetzgebers.“ (Nr. 102) dem ,Selektionsdruck‘, der von einer PID mit Herdegens These eines entwicklungsbedingten ,positiv‘-eugenischer Zielsetzung (im Dienste der Würdeschutzes zeigt sich besonders prägnant, wo ,Züchtung‘ gewünschter Anlagen) ausgeht.“ es um den Umgang mit so genannten überzähligen (Nr. 106) Embryonen geht: „In der Verwendung ,überzähli- ger‘ Embryonen, die bei einer In-vitro-Fertilisa- Die Menschenwürde wird nach Herdegen auch tion nicht zur Implantation kommen und übrig nicht durch die Keimbahntherapie berührt. Jenen, bleiben, für Zwecke der Stammzellforschung mag die dies anders sehen, hält er entgegen, sie verträ- man eine fremdnützige ,Instrumentalisierung‘ ten eine „erstaunlich langlebige Vorstellung über sehen. Jedoch sind diese Embryonen mangels eine unveränderliche, natürliche Ordnung und die Implantation zum Absterben verurteilt und verfü- Frevelhaftigkeit korrigierender Eingriffe selbst zu gen deshalb über keine Entwicklungsperspektive Heilungszwecken“. „Dass die Menschenwürde mehr. Deshalb erscheint die Gewinnung embryo- einen Bestandsschutz von Erbkrankheiten tragen naler Stammzellen aus diesen Embryonen für eine soll“, sei nicht nachvollziehbar. (Nr. 101) Ein The- therapieorientierte Forschung oder unmittelbar zu Heilungszwecken – auch im Hinblick auf die 20 Der Bundesminister für Forschung und Technologie Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und (Hrsg.), In-vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gen- therapie. Bericht der gemeinsamen Arbeitsgruppe des Bun- Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG – nicht als erniedrigende desministers für Forschung und Technologie und des Bun- desministers der Justiz, München 1985, S. 23. 21 Ebd. S. 46. 11 Aus Politik und Zeitgeschichte B 23 – 24 / 2004
oder sonst würdeverletzende Behandlung. Ein Würdeanspruch.“ Darüber hinaus meint Herde- striktes Verbot dieser Verwendung muss sich eine gen, dass sich aus der Menschenwürde auch ein andere Rechtfertigung suchen als den Würde- Recht auf Selbsttötung ableiten lasse. (Nr. 85) Frü- schutz.“ (Nr. 107) Anders sieht dies sein Bonner heren Kommentatoren galt der Selbstmord als ver- Kollege Christian Hillgruber: „Auch die verwais- werflich, weil er der Substanz der Menschenwürde ten Embryonen haben als ,morituri‘ noch einen widerspreche. letzten Anspruch, der unter allen Umständen zu erfüllen ist: den auf einen menschenwürdigen, das heißt ,nutzlosen‘ Tod.“ Der ebenfalls aus Bonn stammende Staatsrechtler Josef Isensee sieht es ähnlich: Die alleinige ihrer Würde entsprechende Menschenwürde – keine Leerformel Behandlung dieser Embryonen sei, sie sterben zu lassen.22 Die Geschichte der Menschenwürde, dies haben Auch beim therapeutischen Klonen, bei dem die die einleitenden Überlegungen gezeigt, ist zugleich Gewinnung von Stammzellmaterial im Vorder- die Geschichte ihrer Begründung und Auslegung. grund steht, stelle die Menschenwürde keinen Ver- Trotz einer prinzipiellen und völkerübergreifenden botsgrund dar. Der Würdeschutz erstrecke sich Zustimmung zur Menschenwürde begegnet man nicht auf den so erzeugten Embryo in vitro. zuweilen auch dem Einwand, der Begriff sei Zudem liege keine Würdeverletzung des Spenders unklar. Im modernen, weltanschaulich neutralen, der duplizierten Chromosomen vor, da ja ein Her- säkularen Staat bilde er eine Leerformel, es han- anreifen zum Menschen nicht beabsichtigt sei dele sich um eine „metaphysische Ballastvorstel- (Nr. 99).23 Anders dagegen handelt es sich beim lung“ oder – so schon Theodor Heuß – um eine reproduktiven Klonen auch für Herdegen um eine „nicht interpretierte These“. Eine heutige inflatio- evidente Menschenwürdeverletzung, und zwar der näre Berufung auf die Menschenwürde entwerte des geklonten Spenders. „Der geklonte Mensch diese nochmals zusätzlich.24 Im Hinblick auf die- wird gezielt genetisch dupliziert und damit bewusst sen Einwand muss man zugeben, dass die Gefahr seiner genetischen Identität durch die Hervorbrin- einer oberflächlichen Inanspruchnahme der Men- gung eines genetisch gleich ausgestatteten Men- schenwürde durchaus vorhanden ist. Entscheiden- schen beraubt. Das Einverständnis der geklonten der aber ist, dass die Menschenwürde sehr wohl Person zu einem völlig von natürlichen Zeugungs- gehaltvoll, formal und inhaltlich ertragreich in bedingungen entfernten Reproduktionsprozess unterschiedliche Blickrichtungen hin ausgelegt übersteigt deren Dispositionsbefugnis.“ (Nr. 98) werden kann. „Dieser Sachverhalt, dass sich Men- schenwürde in gefüllter, menschendienlicher Ebenso stelle die Bildung von Chimären (Zellver- Weise konkretisieren lässt, spricht gegen die bände mit mehr als zwei Eltern) und Hybriden These, es handele sich lediglich um eine Leerfor- (Lebewesen, die aus der Verschmelzung von Ei- mel.“25 und Samenzelle verschiedener Spezies hervorge- hen) eine Menschenwürdeverletzung dar. Verletzt Es sind dann vor allem auch die skizzierten werde die Menschenwürde des Spenders der ver- Schwierigkeiten der inhaltlichen Bestimmung von wendeten Keimzelle. (Nr. 100) Menschenwürde, die es geraten erscheinen lassen, sie als Berufungsinstanz bei der Lösung ethischer Die Menschenwürde entfaltet ihre Relevanz auch und rechtlicher Kontroversen nicht zu überschät- am Lebensende. Man kann hier Herdegen weitge- zen. Schon 1840 hatte Schopenhauer die sorgfäl- hend zustimmen, wenn er feststellt: „Zur Men- tige Verwendung des Begriffes angemahnt und schenwürde gehört das Recht, bei schweren Lei- bemängelt, dass dieser Ausdruck zum „Schibbo- den und körperlichem oder geistigem Verfall leth aller rath- und gedankenlosen Moralisten (unter dem Vorbehalt hinreichender Urteilsfähig- [geworden sei], die ihren Mangel an einer wirkli- keit) über ein Sterben in Würde zu entscheiden, chen, oder wenigstens doch irgend etwas sagenden insbesondere das Recht, den Abbruch lebensver- Grundlage der Moral hinter jenem imponierenden längernder Maßnahmen zu verlangen. Ein Ausdruck ,Würde des Menschen‘ verstecken“26. Anspruch auf aktive Sterbehilfe überspannt den 24 Zitiert bei Ernst Benda, Erprobung der Menschenwürde 22 Vgl. Martina Fietz, Volles Recht auf Leben?, in: Rheini- am Beispiel der Humangenetik, in: Rainer Flöhl (Hrsg.), scher Merkur vom 12. Februar 2004. Genforschung – Fluch oder Segen?, München 1985, S. 205 – 23 Anders sieht dies W. Höfling (Anm. 9), S. 88: „Die ge- 231, hier S. 214. zielte Herstellung von Embryonen, etwa im Wege des so ge- 25 H. Kreß (Anm. 5), S. 170 f. nannten ,therapeutischen Klonens‘, zum Zweck der späteren 26 Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage Vernichtung durch forscherischen und industriellen Ver- der Moral, in: Werke in fünf Bänden, hrsg. von Ludger Lüt- brauch verstößt aber gegen Art. 1 I GG.“ gehaus, Bd. III, Zürich 1988, S. 522. Aus Politik und Zeitgeschichte B 23 – 24 / 2004 12
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