AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Wissenschaftsfreiheit - Bundeszentrale für ...

 
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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Wissenschaftsfreiheit - Bundeszentrale für ...
71. Jahrgang, 46/2021, 15. November 2021

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
 Wissenschaftsfreiheit
           Elif Özmen                           Paula-Irene Villa ·
  NORMATIVE GRUNDLAGEN                 Richard Traunmüller · Matthias Revers
      UND AKTUELLE                    LÄSST SICH „CANCEL CULTURE”
   HERAUSFORDERUNGEN                      EMPIRISCH BELEGEN?

     Klaus Ferdinand Gärditz                    Katrin Kinzelbach ·
                                                 Janika Spannagel
 DIE POLITISCHE GRAMMATIK
                                           DIE VERMESSUNG VON
 DER WISSENSCHAFTSFREIHEIT
                                           WISSENSCHAFTSFREIHEIT
         Sandra Kostner
                                                  Uwe Schimank
      ZUR VERHÄNGUNG
                                               UNIVERSITÄTEN
       UND UMSETZUNG
                                             UND GESELLSCHAFT
 INTELLEKTUELLER LOCKDOWNS
                                                IM WANDEL
        Jiré Emine Gözen
                                                  Roland Bloch ·
    WESSEN FREIHEIT SOLL                         Carsten Würmann
    GESCHÜTZT WERDEN?                      ARBEITSBEDINGUNGEN
                                            UND KARRIEREWEGE
                                           IN DER WISSENSCHAFT

                   ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                        FÜR POLITISCHE BILDUNG
               Beilage zur Wochenzeitung
Wissenschaftsfreiheit
                                  APuZ 46/2021
ELIF ÖZMEN                                          PAULA-IRENE VILLA · RICHARD TRAUNMÜLLER ·
NORMATIVE GRUNDLAGEN UND AKTUELLE                   MATTHIAS REVERS
HERAUSFORDERUNGEN                                   LÄSST SICH „CANCEL CULTURE“ EMPIRISCH
Die Ideen der Wissenschaft und der freien Wis-      BELEGEN?
senschaft sind auf normative Voraussetzungen        Wie lassen sich Studien realisieren, die ein
und epistemische Hoffnungen gegründet, die          möglichst wirklichkeitsgetreues Bild von der
durch Wissenschaftsfreiheit im Sinne eines          Meinungsfreiheit an deutschen Universitäten
negativen Abwehrrechts nicht garantiert werden      zeichnen? Der Beitrag gibt Impulse für eine
können.                                             pluralistische Fachdebatte.
Seite 04–08                                         Seite 26–33

KLAUS FERDINAND GÄRDITZ                             KATRIN KINZELBACH · JANIKA SPANNAGEL
DIE POLITISCHE GRAMMATIK                            DIE VERMESSUNG
DER WISSENSCHAFTSFREIHEIT                           VON WISSENSCHAFTS­F REIHEIT
Wissenschaftsfreiheit ist ein Grundrecht, das in    Wie kann der Grad an Wissenschaftsfreiheit
politischen Diskursen oftmals zu einer akademi-     systematisch und global gemessen werden? Der
schen Meinungsfreiheit verzwergt wird. Eigent-      neu entwickelte Academic Freedom Index gibt
lich entfaltet es aber vor allem Schutz gegen die   für 175 Länder und Territorien sowie rückwir-
Risiken politisierender Meinungskämpfe.             kend bis 1900 Auskunft.
Seite 10–16                                         Seite 34–41

SANDRA KOSTNER                                      UWE SCHIMANK
ZUR VERHÄNGUNG UND UMSETZUNG                        UNIVERSITÄTEN UND GESELLSCHAFT
INTELLEKTUELLER LOCKDOWNS                           IM WANDEL
Der Verwirklichungsgrad eines Freiheitsrechtes      Wissenschaftsfreiheit kann durch verschiedene
bemisst sich nicht nur an der Abwesenheit           Entwicklungen gefährdet werden. Zum einen
staatlicher Repressalien. Damit sich ein Frei-      sollte man den Wandel der Universitäten in den
heitsrecht vollumfänglich entfalten kann, bedarf    Blick nehmen, zum anderen den Wandel des
es eines Klimas der Freiheit.                       gesellschaftlichen Umfelds.
Seite 17–21                                         Seite 42–47

JIRÉ EMINE GÖZEN                                    ROLAND BLOCH · CARSTEN WÜRMANN
WESSEN FREIHEIT SOLL GESCHÜTZT WERDEN?              ARBEITSBEDINGUNGEN UND KARRIEREWEGE
Der Beitrag zeigt auf, dass Wissenschafts-          IN DER WISSENSCHAFT
freiheit aktuell vielfach zur Verteidigung von      Die Professur ist in Deutschland Leitbild der
Deutungshoheiten eingesetzt wird, tatsächlich       wissenschaftlichen Karriere. Wie hat sich das
aber als Prozess der Erweiterung von Teilhabe       universitäre Karriere- und Beschäftigungssystem
verstanden werden sollte.                           entwickelt? Welche Konsequenzen könnten sich
Seite 22–25                                         daraus für die Wissenschaftsfreiheit ergeben?
                                                    Seite 48–54
EDITORIAL
Wie frei ist die Wissenschaft in Deutschland? Folgt man dem Academic Free-
dom Index, gibt es nur wenig Luft nach oben – die Bundesrepublik hat einen
„A Status“ (Werte von 0,8 bis 1 auf einer Skala von 0 bis 1) erreicht und liegt mit
ihrem Score auch innerhalb dieser Gruppe im oberen Bereich. „B Status“ (0,6
bis 0,8) haben beispielweise Tansania und Armenien, während das EU-Mitglied
Ungarn in der „C Status“-Gruppe (0,4 bis 0,6) gerankt wird. In der Gruppe mit
„D Status“ (0,2 bis 0,4) finden sich etwa Russland und Venezuela und am Ende
des Rankings („E Status“, 0,0 bis 0,2) Länder wie China oder Nordkorea.
   In den vergangenen Jahren sind trotz solcher Befunde vermehrt Stimmen
laut geworden, die die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland, wie sie Artikel 5
Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes garantiert, in Gefahr sehen. Zum einen wird
in Zeiten von Pandemie und Klimawandel das Verhältnis zwischen Wissenschaft
und demokratischer Politik kontrovers diskutiert. Zum anderen berührt die
Debatte um das hohe Gut der Meinungsfreiheit, das durch identitätspolitische
„Diskurskontrollen“ und „Cancel Culture“ gefährdet sei, auch den akademi-
schen Raum. Andere Entwicklungen, von denen Beeinträchtigungen der Freiheit
von Forschung und Lehre ausgehen können, etwa finanzielle oder organisatori-
sche, erfahren dagegen weniger Aufmerksamkeit.
   Was ist „Wissenschaftsfreiheit“? Sie ist kein Grundrecht für jedermann wie
die Meinungsfreiheit. Steile Thesen von Nicht-Wissenschaftlerinnen fallen
daher nicht unter dieses Recht, und es stellt sich die Frage, zu welchem Nutzen
ihnen an den Stätten der wissenschaftlichen Wissensproduktion Raum gewährt
werden sollte. Davon abgesehen, ist der Wissenschaftsbetrieb nicht entkoppelt
von Gesellschaft und Politik. Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen
kämpfen um Teilhabe, Anerkennung und Macht, es gibt Erfahrungen mit Aus-
grenzung durch Rassismus, Sexismus und andere menschenfeindliche Einstel-
lungen. Wie sich eine faire, von wissenschaftlichen Kriterien bestimmte und von
gegenseitigem Respekt getragene Auseinandersetzung um das beste Argument
gewährleisten lässt, bleibt eine fortwährende Herausforderung.

                                                       Anne Seibring

                                                                                 03
APuZ 46/2021

            WISSENSCHAFTSFREIHEIT:
         NORMATIVE GRUNDLAGEN UND
         AKTUELLE HERAUSFORDERUNGEN
                                            Elif Özmen

Einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Al-       schaft durch eine galoppierende Ökonomisierung
lensbach zufolge sind 93 Prozent der befrag-         und Bürokratisierung gemeinhin mit freundli-
ten Hoch­schul­leh­rer:­innen der Auffassung, dass   chem Desinteresse begegnet wird.05
es in Deutschland „sehr viel“ oder „viel Wissen-
schaftsfreiheit“ gebe. Die Frage nach den konkre-             EIN UMKÄMPFTER BEGRIFF
ten Hemmnissen des Forschungsalltags bestätigt:
Fehlende Muße (75 Prozent), Publikationszwang        Die vielstimmigen Warnungen vor den Einschrän-
(68 Prozent), Einflussnahme der Hochschulleitun-     kungen der wissenschaftlichen Debatten- und
gen (36 Prozent) und hohe Lehrdeputate (35 Pro-      Streitkultur zeigen auffällige Parallelen zu einem
zent) werden als erhebliche Beschränkungen           anderen gesellschaftlichen Konfliktthema: den
wahrgenommen, wohingegen ethische Richtlini-         Gegenständen und Grenzen der Meinungsfreiheit.
en (7 Prozent) und die sogenannte Political Cor-     Zwar ist es kein Zufall, dass diese beiden Grund-
rectness (13 Prozent) eine sehr viel kleinere Rol-   rechte in ein und demselben Artikel 5 des Grund-
le spielen.01 Auch der aktuelle Academic Freedom     gesetzes behandelt werden. Als Kommunikati-
Index kann keine Zunahme von Einschränkun-           onsgrundrechte gehören sie zum festen Bestand
gen oder Verletzungen der Wissenschaftsfreiheit      der freiheitlichen Demokratie, die auf einem Plu-
im deutschen, europäischen oder nordamerikani-       ralismus der Meinungen und dem argumentativen
schen Wissenschaftsraum ­belegen.02                  Wettbewerb mit Andersdenkenden um die bes-
    Zugleich ist eine Debatte um die Macht von       sere Meinung gründet. Aber es gibt auch wichti-
„Political Correctness“ und „Cancel Culture“         ge Unterschiede, die durch die Gleichsetzung des
entbrannt, in der auch eine Moralisierung und        allgemeinen Rechts auf freie Meinungsäußerung
Politisierung der Wissenschaft beklagt oder be-      mit dem spezifischen Recht auf Wissenschaftsfrei-
stritten wird.03 Ein „Netzwerk Wissenschaftsfrei-    heit verwischt werden. Das vielbeschworene Ide-
heit“ wurde gegründet, das „die Freiheit von For-    al der Wissenschaftsfreiheit scheint, hier durchaus
schung und Lehre gegen ideologisch motivierte        vergleichbar mit Meinungsfreiheit, zu einem um-
Einschränkungen zu verteidigen“ sucht, wohin-        kämpften Begriff geworden zu sein, der von ver-
gegen ein anderes, gleichnamiges Netzwerk das        schiedenen Akteuren mit unterschiedlichen Inten-
„System Wissenschaft (…) auch auf Diskriminie-       tionen in Anspruch genommen wird.
rung, Prekarisierung und Ausschluss“ zurück-             Eine weitere Auffälligkeit in der Debatte um
führt.04 Vom Bundespräsidenten, der Ministe-         Wissenschaftsfreiheit besteht in der Häufung von
rin für Bildung und Forschung, dem Deutschen         englischen Begrifflichkeiten. Und auch das ist kein
Bundestag über die großen Wissenschaftsor-           Zufall. In vielen US-amerikanischen Hochschulen
ganisationen, dem Deutschen Hochschulver-            wurden seit den späten 1980er Jahren progressi-
band, einzelnen Fachgesellschaften bis hin zu den    ve Reformen angestoßen, die sich gegenwärtig in
Hochschulleitungen haben sich zentrale hoch-         Forderungen nach speech codes, trigger-warnings,
schulpolitische Akteure zu Wort gemeldet. Auch       safe spaces oder no-platforming ausdrücken.06
die zahllosen Beiträge in Presse, Rundfunk und       Diese nur schwer übersetzbaren Schlagworte be-
den sozialen Medien belegen ein großes öffentli-     zeichnen Maßnahmen, die von Mitgliedern der
ches Interesse, was umso bemerkenswerter ist, als    Wissenschaftsgemeinschaft (also Studierenden,
den faktischen Gefährdungen der freien Wissen-       Do­ zent:­
                                                              innen, Hochschulleitungen), aber auch

04
Wissenschaftsfreiheit APuZ

von Externen (etwa sozialen Bewegungen, sozi-                       Selbstverwaltung und wissenschaftliche Selbstbe-
almedialen Ak­ti­vist:­innen) gegen bestimmte wis-                  stimmung vorgenommen wurden (Ungarn, Tür-
senschaftliche Inhalte, Texte, Fragestellungen,                     kei). Aber der Imperativ der freien Wissenschaft
Denkfiguren oder Sprachverwendungen vorge-                          wirkt auch in Ländern, in denen sie keinen beson-
bracht werden – und zwar nicht, weil diese wissen-                  deren Rechtsschutz genießt (wie Großbritanni-
schaftlich falsch, unredlich oder betrügerisch sind,                en, Frankreich, USA). Offenbar erschöpft sich die
sondern weil sie im Widerspruch zu bestimmten                       normative Kraft der Wissenschaftsfreiheit nicht in
„richtigen“ politischen und moralischen Normen                      einer positiv-rechtlichen Satzung. Jedoch erhellt
stünden. Dem Ideal der Wissenschaftsfreiheit wer-                   der Blick in das deutsche Grundgesetz und die
den also weitere Ideale, wie Gerechtigkeit, Gleich-                 Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ei-
stellung, Antidiskriminierung oder Affirmation,                     nen wissensphilosophisch relevanten Zusammen-
zur Seite oder fallweise auch vorangestellt. Auch                   hang von Wissenschaft, Wahrheit und Freiheit.
hier scheint Wissenschaftsfreiheit, wiederum ver-                       Die Freiheit der Wissenschaft, Lehre und For-
gleichbar mit Meinungsfreiheit, zu einem um-                        schung wird in Artikel 5 als ein defensives und
kämpften Gebiet gesamtgesellschaftlicher Werte-                     konstitutives Individualrecht ohne Gesetzesvor-
und Normendiskurse geworden zu sein.123456                          behalt garantiert. Zwar entbindet die „Freiheit der
    Diese Verbindungen und Verwerfungen zwi-                        Lehre (…) nicht von der Treue zur Verfassung“
schen Wissenschaft und Gesellschaft verdeutli-                      (Art. 5 Abs. 3 Satz 2 GG). Auch sind verbeamtete
chen, dass die freie Wissenschaft ein normatives                    Hoch­schul­leh­rer:­innen bei ihrer politischen Betäti-
Ideal ist, dessen Voraussetzungen, Probleme und                     gung jederzeit einem Mäßigungs- und Zurückhal-
Grenzen erst dann klar erkennbar und diskutier-                     tungsgebot unterworfen (§ 60 Abs. 2 Bürgerliches
bar werden, wenn sich dieses Ideal in einer ins-                    Gesetzbuch, § 33 Abs. 2 Beamtenstatusgesetz).
titutionellen Praxis und ihrem gesellschaftlichen                   Aber darüber hinaus können Einschränkungen der
Kontext konkretisieren und bewähren muss.                           Wissenschaftsfreiheit nur durch eine Kollision mit
                                                                    gleichwertigen Rechtsgütern begründet werden.07
          EIN ROBUSTES GRUNDRECHT                                   Dieses robuste Abwehrrecht ist kein Jedermann-
                                                                    Recht. Es schützt die spezifischen Personen, Prak-
Wissenschaftsfreiheit ist, jedenfalls in der deutschen              tiken und Institutionen wissenschaftlicher Rede,
Verfassungstradition, ein Rechtsbegriff. Zwar wird                  Forschung und Publikation zuvorderst gegen
sie auch in vielen anderen Staaten postuliert (wie                  staatliche Einflussnahmen, die auf eine Steuerung,
Italien, Schweiz, Österreich, Griechenland, Por-                    Kontrolle und Sanktionierung der Wissenschaft
tugal), auch in solchen, in denen in den vergange-                  zielen. Was oder wer den Anspruch auf Wissen-
nen Jahren massive Einschnitte in die universitäre                  schaftlichkeit systematisch verfehlt, darf ebenfalls
                                                                    nicht staatlich (ergo: rechtlich, politisch, gesell-
01 Vgl. Thomas Petersen, Forschungsfreiheit an deutschen
                                                                    schaftlich) entschieden werden, sondern bleibt den
Universitäten, Februar 2020, www.kas.de/documents/​252038/​         Kontroll- und Sanktionsmechanismen der Wis-
7995358/Studie+​des+​Instituts+​für+​Demoskopie+​Allensbach+​       senschaftsgemeinschaft überantwortet. Alles, was
zur+​Forschungsfreiheit+​an+​deutschen+​Universitäten.pdf/​         nach Inhalt und Form als ernsthafter Versuch zur
01252a6a-​38eb-​a 647-​fb74-​7d39b1890382?​t= ​1581610619899.
                                                                    Ermittlung von Wahrheit anzusehen ist, ist durch
02 Vgl. Katrin Kinzelbach et al., Free Universities. Putting
the Academic Freedom Index into Action, März 2020, www.
                                                                    die Wissenschaftsfreiheit geschützt, das heißt auch
gppi.net/media/KinzelbachEtAl_​2020_Free_Universities.pdf.          Mindermeinungen, fehlerhafte Forschungsansätze,
Siehe auch den Beitrag von Katrin Kinzelbach und Janika Span-       unkonventionelle, unfruchtbare, erratische Hypo-
nagel in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).                             thesen, Theorien und Positionen.08
03 Vgl. die Beiträge in Elif Özmen (Hrsg.), Wissenschaftsfrei-
heit im Konflikt. Grundlagen, Herausforderungen und Grenzen,
Berlin 2021.                                                        07 Dazu gehören Menschenwürde, Leben, körperliche Unver-
04 Die Netzwerke verzeichnen jeweils Hunderte Wis­sen­schaft­       sehrtheit, Gesundheit, Tier- und Umweltschutz. Selbstverständ-
ler:­innen als Mitglieder, siehe www.netzwerk-​wissenschaftsfrei-   lich fallen auch strafrechtlich relevante Meinungen, Theorien
heit.de und https://netzwerk-​wissenschaftsfreiheit.org.            und Taten von Wis­sen­schaft­ler:­innen nicht unter den Schutz der
05 Das Folgende fasst Überlegungen aus einem früheren               Wissenschaftsfreiheit, wie Volksverhetzung, Holocaustleugnung,
Aufsatz zusammen, vgl. Elif Özmen, Epistemische Offenheit als       Gewaltverherrlichung, Verleumdung, Gotteslästerung. Vgl. Ga-
Wagnis. Über Wissenschaftsfreiheit und Wissenschaftsethos in        briele Britz, Kommentierung zu Art. 5 Abs. 3 GG, in: Grundge-
der Demokratie, in: Özmen (Anm. 3), S. 29–47.                       setz-Kommentar, hrsg. von Horst Dreier, Tübingen 2013.
06 Vgl. Jennifer Lackey (Hrsg.), Academic Freedom, Oxford 2018.     08 Vgl. BVerfGE 90, 1 (13).

                                                                                                                                    05
APuZ 46/2021

    Folglich verweisen die Idee der Wissenschaft                 klärungsuniversitäten Göttingen, Halle und Jena
und die Idee der freien Wissenschaft aufeinander.                spielt die Idee einer solchen allgemeinen libertas
Wer die Freiheit der Wissenschaft einschränkt,                   cogitandi (Gedankenfreiheit) eine wichtige Rolle,
missachtet oder verletzt, der gefährdet die Wissen-              nicht nur für die Denk-, Lehr- und Zensurfrei-
schaft als erkenntnisbezogene Praxis, aber auch als              heit der Professoren, sondern auch für das Ideal
Institution von Forschung, Lehre und Bildung,                    einer „republikanisch“ verfassten akademischen
und nicht zuletzt als gesellschaftlich anerkanntes               Gemeinschaft, die sich auf Prinzipien des frei-
und gefördertes Subsystem. Einfacher gesagt: Er                  en Meinungsaustauschs und Disputs, der Kritik
beschneidet das Bemühen um Wahrheit, das kon-                    und Toleranz gründet. Schon die Gelehrtenrepu-
stitutiv für die Wissenschaft als solche ist.                    blik weiß also um einen vernünftigen Pluralismus
                                                                 wissenschaftlicher Meinungen, der eine genuin
                HISTORISCHES                                     wissenschaftliche Streit- und Debattenkultur und
        (IN SYSTEMATISCHER ABSICHT)                              damit ein geteiltes Ethos voraussetzt.
                                                                      Die Prozesse der institutionellen Verfassung
Die Freiheit der Wissenschaft ist mit einem spezi-               und Regulierung, öffentlichen Anerkennung
fischen Verständnis von Wissenschaft, Wissenwol-                 und Finanzierung der Wissenschaft an staatli-
len, Objektivität und Wahrheitssuche verbunden,                  chen Universitäten und Akademien setzen sich
dessen erkenntnistheoretische und methodologi-                   im 19. Jahrhundert fort. Als Leitbild fungiert das
sche Kontexte sich in der frühneuzeitlichen Sci-                 Humboldt’sche Bildungsideal, das nicht nur die
entia Nova herausgebildet haben. So stellt bereits               heute vielzitierte Einheit von Forschung und Leh-
der Philosoph Francis Bacon diese neue Wissen-                   re, sondern auch die Einheit von Wissenschaft und
schaft ausschließlich in ihre eigenen epistemischen              Freiheit beschwört. Wissenschaftsfreiheit ermög-
Dienste. Sein berühmtes Ipsa scientia potestas est               licht wissenschaftliche Auseinandersetzungen,
(„Wissen ist Können/Macht“) impliziert zwar,                     durch die neue, unkonventionelle, unbequeme
dass ökonomische Nützlichkeit, technische An-                    und (in beiderlei Sinn) aufregende Perspektiven,
wendbarkeit oder gesellschaftlicher Fortschritt                  Thesen und Überzeugungen entwickelt und vor-
positive Nebenwirkungen wissenschaftlicher In-                   behaltlos diskutiert werden können. Der bevor-
novationen sein können. Aber die Wissenschaft                    zugte Ort hierfür war und ist die Universität.
zeitigt solche außerwissenschaftlichen Effekte ge-               Aber ihre Wirkungen entfaltet die Wissenschafts-
rade dann, wenn sie keinen außerwissenschaft-                    freiheit nicht nur innerhalb der charakteristischen
lichen Interessen und Regeln unterworfen wird.                   Orte der Academia – Hochschulen, Forschungs-
Diese paradox anmutende Erwartung ist uns auch                   instituten, Konferenzen, Wissenschaftsjourna-
gegenwärtig noch geläufig: dass nämlich „gerade                  len –, sondern auch im Verhältnis zur Gesamt-
eine von gesellschaftlichen Nützlichkeits- und po-               gesellschaft. Insbesondere für die demokratische
litischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen befreite                  Wissensgesellschaft gilt, dass ein grundsätzliches
Wissenschaft dem Staat und der Gesellschaft am                   Vertrauen in die Selbstregulierungskräfte der frei-
besten dient“.09                                                 en Wissenschaft eine zentrale Quelle für ihre ge-
     In der europäischen Aufklärung wird die                     sellschaftliche Anerkennung ist.
Freiheit der Wissenschaft zusammengeführt mit
den anderen Freiheiten, die als Voraussetzung der                              ETHOS DER FREIEN
menschlichen Vernunftfähigkeit gelten. So Im-                                   WISSENSCHAFT
manuel Kant: „als Gelehrter, der durch Schriften
zum eigentlichen Publikum, nämlich der Welt,                     Die moderne Wissenschaft als systematisierte Me-
spricht, mithin der Geistliche im öffentlichen Ge-               thode und Praxis der Wissensbildung wird durch
brauche seiner Vernunft, genießt einer uneinge-                  ein Ethos epistemischer Rationalität geleitet, das
schränkte Freiheit, sich seiner eigenen Vernunft                 die Güte der Forschungstätigkeit und ihrer Er-
zu bedienen und in seiner eigenen Person zu spre-                gebnisse, mithin die Wissenschaftlichkeit der Wis-
chen“.10 Für die Gründung der deutschen Auf-                     senschaft gewährleisten soll. Systematische Wi-
                                                                 derspruchsfreiheit, interne Kohärenz, Klarheit,
09 BVerfGE 47, 327 (370).
                                                                 aber auch Sparsamkeit und Eleganz, Genauig-
10 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?,   keit und Überprüfbarkeit sind bekannte und an-
Akademie-Ausgabe VIII, A 485.                                    erkannte Bestandteile dieses Ethos. Sie definie-

06
Wissenschaftsfreiheit APuZ

ren erstens, was als good scientific practice und                 bindliche Grenzen der Wissenschaftsfreiheit nur
wer als good scientist betrachtet werden muss.                    mit Blick auf die Rechtsordnung gezogen werden.
Zum Zweiten sichert dieses Ethos die Autonomie                        Dennoch ist es nicht die Wissenschaftsfrei-
und Unabhängigkeit der Wissenschaft von politi-                   heit selbst, sondern die durch Freiheit ermöglich-
schen und gesellschaftlichen Interessenlagen. Zum                 te Konfrontation von Meinungen, Hypothesen,
Dritten knüpft es mit seinen eigentümlichen epi-                  Theorien, ihre Konkurrenz zueinander und der
stemischen und ethischen Werten und Tugenden                      argumentative Streit, die (idealiter) zu einem vor-
gemeinschaftliche Bande zwischen den Wis­sen­                     läufigen Sieg der besseren Überzeugung führen
schaft­ler:­innen. Bereits Robert Merton, der Be-                 und womöglich auch zu einer langfristigen Evo-
gründer der Wissenschaftssoziologie, analysiert                   lution der Wahrheit. Daher erschöpft sich Wis-
dieses sozio-epistemische Arrangement mit Be-                     senschaftsfreiheit nicht in einem negativen Frei-
zug auf vier normative Prinzipien: Universalis-                   heitsbegriff im Sinne einer Freiheit von Zwang.
mus, Uneigennützigkeit, Kommunitarismus und                       Sondern es geht auch um die positive Freiheit
organisierter Skeptizimus. Seit dem practical turn                zur Teilnahme und Teilhabe an der wissenschaft-
der 1980er Jahre widmet sich die Wissenschafts-                   lichen Praxis der Verbesserung der eigenen und
philosophie ausdrücklich dem Zusammenwirken                       der kollektiven Überzeugungen. Für das Gelin-
von epistemischen, ethischen und soziopoliti-                     gen und Prosperieren dieser Praxis trägt auch jede
schen Normen bei der Genese und der Rechtfer-                     Wissenschaftler:in Verantwortung.
tigung wissenschaftlichen Wissens.11 Dem Ethos
der Wissenschaft kommt dabei auch die Aufga-                                ÜBER DIE POLITISIERUNG
be zu, das normative Fundament zu sichern, auf                             UND MORALISIERUNG DER
dem sich der wissenschaftliche Disput, die harte                           WISSENSCHAFTSFREIHEIT
argumentative Auseinandersetzung, ja, der wilde
Streit um die richtige Meinung, These und Theo-                   Was lässt sich aus diesen Überlegungen zu den
rie fruchtbar entfalten können.                                   normativen Grundlagen der Wissenschaftsfrei-
    Die Anerkennung der normativen Vorausset-                     heit für die aktuellen Herausforderungen schlie-
zungen des wissenschaftlichen Diskurses ist kon-                  ßen? Erstens: Die Frage nach den möglichen
stitutiv für die förderlichen Effekte der Wissen-                 Grenzen der Wissenschaftsfreiheit lässt sich klar
schaftsfreiheit. Diese Anerkennung kann aber                      und eindeutig beantworten. Für die wissenschaft-
nicht erzwungen werden, das heißt, Wissenschafts-                 liche Tätigkeit und für wissenschaftliche Akteure
freiheit ist, wie die Kommunikationsgrundrechte                   sind verbindliche Grenzen der Wissenschaftsfrei-
im Ganzen, auf Voraussetzungen gegründet und                      heit nur mit Rückgriff auf die Rechtsordnung zu
angewiesen, die durch dieses Recht nicht oder nur                 ziehen. Wissenschaft muss also durchaus politisch
teilweise garantiert werden. Man könnte das, im                   und moralisch „korrekt“ sein, und zwar im Sinne
Anschluss an das bekannte Böckenförde-Diktum,                     der freiheitlich-demokratischen Grundordnung,
als Wagnis der epistemischen Offenheit bezeich-                   dem Grundrechtsschutz und dem Strafrecht. Da-
nen, das um der Freiheit willen eingegangen wird.                 gegen sind weitergehende Versuche der gesell-
    Das bedeutet einerseits, dass es für die Gewäh-               schaftlichen, etwa politischen, religiösen, weltan-
rung der Wissenschaftsfreiheit keine Rolle spielen                schaulichen oder ideologischen, Einflussnahme,
darf, ob die wissenschaftlichen Meinungen, Theo-                  Sanktionierung und Diskreditierung ebenso po-
rien oder Personen krude, unliebsam, unbequem,                    pulär wie problematisch. Mit Blick auf das Gut
bigott oder reaktionär sind, sich als unvernünftig,               der freien Wissenschaft und der kritischen Uni-
unbegründet oder abwegig erweisen oder als be-                    versität muss ein solches vermeintliches Recht,
unruhigend, schockierend oder verletzend emp-                     akademische Freiheiten um anderer Werte willen
funden werden. Für die wissenschaftliche Tätigkeit                einzuschränken, zurückgewiesen werden.
und für wissenschaftliche Akteure können ver-                         Zweitens scheint ebenso unbestreitbar, dass ein
                                                                  gemeinsames wissenschaftliches Ethos und eine
                                                                  geteilte akademische Kultur die Grundlage für die
11 Vgl. Robert K. Merton, A Note on Science and Democracy,
                                                                  Möglichkeit und den Bestand von epistemischen
in: Journal of Legal and Political Sociology 1/1942, S. 115–26.
Für einen Überblick über die aktuelle Debatte vgl. Gerhard
                                                                  Freiräumen bilden. Diese Freiräume, auf die Wis-
Schurz/Martin Carrier (Hrsg.), Werte in den Wissenschaften.       senschaft angewiesen ist und die durch die Rechts-
Neue Ansätze zum Werturteilsstreit, Frank­furt/M. 2013.           ordnung allein nicht garantiert werden können,

                                                                                                                      07
APuZ 46/2021

sind Räume der Gründe. Hier sind die rationalen                 Ablehnung von Einladungen, der Verwehrung von
Gütekriterien hoch, die Vorwegnahme der Gegen-                  Unterstützung, in Protest, Kritik, Debatte, aber
position zur eigenen und deren ernsthafte Reflexi-              natürlich auch Fürsprache, Solidarisierungsbekun-
on der wissenschaftliche Idealfall. Der Rede folgen             dungen und Sicherheitsstrategien für die betroffe-
gemeinhin Kritik und Gegenrede; eine sachbezoge-                nen Personen. Nichts davon widerspricht der Frei-
ne Beharrlichkeit (statt Ablenkung, Themenwech-                 heit der Wissenschaft grundsätzlich.
sel, bullshitting) ist der diskursive Standard. Daher               Viertens fallen Meinungsäußerungen von
ist die „große Gereiztheit“, die Teile der aktuellen            Nicht-Wis­sen­schaft­ler:­innen in akademischen
Debatte um Wissenschaftsfreiheit charakterisiert,12             Kontexten und Universitäten nicht unter den
der Wissenschaft wesensfremd, ebenso wie antago-                Schutz der Wissenschaftsfreiheit. Und natürlich
nistische Selbstverortungen (links vs. rechts, woke             verdient auch nicht jede Stimme und jede Per-
vs. boomer, Freunde vs. Feinde der Wissenschaft).               son akademischen Respekt. Für Nicht-Wis­sen­
Hier handelt es sich offenbar um Versuche der –                 schaft­ler:­innen, also Personen aus Politik, Kunst,
hochproblematischen – Politisierung und Morali-                 Kultur, Medien, aus NGOs und bestimmten Be-
sierung der Wissenschaftsfreiheit selbst.                       rufsgruppen, die in die Hochschulen eingeladen
     Drittens liegt die Verantwortung für den Be-               werden, gibt es daher auch andere und weit mehr
stand und das Prosperieren der spezifischen safe                Möglichkeiten der Grenzziehung. Das gilt insbe-
spaces der Wissenschaft auch bei der individuel-                sondere für Positionen und Provokationen, die
len Wissenschaftler:in. So steht es ihr beispiels-              dem akademischen Geist und der freiheitlich-de-
weise frei, Politiker jeglicher Couleur an die Uni-             mokratischen Grundordnung nicht gerecht wer-
versität einzuladen. Ebenso steht es aber allen                 den. Dabei spielen politische oder ethische Hal-
Mitgliedern der Universität (also auch Studieren-               tungen, wie sie in der aktuellen Debatte in einer
den und der Hochschulleitung) frei, dieses zu hin-              antagonistischen Sprache beschworen werden,
terfragen. Auch harscher Widerspruch, Kritik und                gerade keine Rolle. Mithin geht es gar nicht um
Contra verletzen die Wissenschaftsfreiheit nicht.               „rechte“ und „reaktionäre“ (oder „linke“ und
Das Recht der freien Wissenschaft ist im Übrigen                „marxistische“), sondern um rassistische, sexisti-
ein Recht, das man auf eigenes Risiko wahrnimmt                 sche oder andere gruppenfeindliche Äußerungen
und das kein Recht auf Affirmation und Solidari-                und Handlungen, die in der Universität ebenso
tät nach sich zieht. Daher muss man sich gegebe-                wenig einen Platz haben sollten wie in der libe-
nenfalls fragen lassen, warum man die Einladung                 ralen und pluralistischen Gesellschaft im Ganzen.
ausgesprochen hat, was der beabsichtigte wissen-                    Und schließlich fünftens: Die Frage nach
schaftliche, didaktische oder diskursive Zweck und              den Grundlagen, Herausforderungen und mög-
erhoffte Ertrag einer solchen Einladung ist, auch,              lichen Grenzen der Wissenschaftsfreiheit weist
ob dieser Zweck gerechtfertigt, redlich, legitim                über die Academia hinaus, nicht zuletzt, weil sich
und akzeptabel erscheint. Die Kri­ti­ker:­innen müs-            hier im Kleinen gesamtgesellschaftliche Diskur-
sen sich ebenfalls Fragen stellen beziehungswei-                se und Dissense wiederholen und zuspitzen. Das
se gefallen lassen: Welche Reaktionen lassen sich               ist einerseits zu begrüßen, denn die herausragen-
verantwortungsbewusst begründen im Lichte der                   de Bedeutung der Wissenschaften und kritischen
Wissenschaftsfreiheit und der epistemischen Hoff-               Hochschulen in der und für die Demokratie wird
nungen, die mit ihr verbunden sind? Das Spektrum                dadurch offenkundig. Andererseits droht eine
an Reaktionen auf die prominenten Fälle umfasst                 zunehmende Moralisierung und Politisierung der
zum einen Verbotsforderungen, Verhinderungen                    Wissenschaftsfreiheit. Daher glaube ich, dass sich
von Veranstaltungen durch Blockaden und Pfeif-                  die Wissenschaftsgemeinschaft selbst gründlicher
konzerte, körperliche Angriffe und sozialmediale                über die Gelingensbedingungen guter Wissen-
Drohungen und Denunziationen. Ihre Unverträg-                   schaft – und das heißt auch: der Wissenschafts-
lichkeit mit der Idee der freien Wissenschaft und               freiheit – verständigen muss.
der kritischen Universität liegt auf der Hand. Ver-
träglichere mögliche Reaktionen bestehen in der                 ELIF ÖZMEN
                                                                ist Professorin für Philosophie mit den Schwerpunk-
12 Ich übernehme den Ausdruck von Bernhard Pörksen, Die
                                                                ten theoretische Ethik und politische Philosophie an
große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung, München   der Justus-Liebig-Universität Gießen.
2021.                                                           elif.oezmen@phil.uni-​giessen.de

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               DIE POLITISCHE GRAMMATIK
               DER WISSENSCHAFTSFREIHEIT
                                     Klaus Ferdinand Gärditz

Das Grundgesetz weist der Wissenschaftsfreiheit            Eine spezielle Verfassungsgarantie der Wissen-
einen besonderen Schutz zu. In Artikel 5 Ab-           schaftsfreiheit findet sich erstmals in Paragraf 152
satz 3 Satz 1 GG heißt es: „Wissenschaft, For-         der Paulskirchenverfassung (1848).05 Auch wenn
schung und Lehre sind frei“. Dahinter verbirgt         diese Verfassung letztlich scheiterte, diente sie doch
sich ein Grundrecht, das in politischen Diskur-        als verfassungspolitischer Steinbruch für nachfol-
sen oftmals zu einer akademischen Meinungs-            gende Konstitutionalisierungsprozesse. Beispiels-
oder Redefreiheit verzwergt wird, aber eigentlich      weise fand das Grundrecht der freien Wissenschaft
als politisches Grundrecht vor allem Schutzfunk-       und ihrer Lehre in Artikel 20 der Preußischen Ver-
tionen gegen die Risiken politisierender Mei-          fassung (1850) Eingang, damit – so ein zeitgenössi-
nungskämpfe erfüllt. Die Unverfügbarkeit wis-          scher Kommentator – „die Wissenschaft und ihre
senschaftlicher Richtigkeit für den Staat ist das      Ausübung fortan keine andere Schranken kennen
Ergebnis eines langen Prozesses, Wahrheitsfragen       sollen, als ihre eigene Wahrheit und, sofern sie die-
ganz allgemein als Bezugspunkt öffentlicher Ge-        selbe verkennen und überschreiten, die Heiligkeit
walt zu neutralisieren.                                des Strafgesetzes“.06 Anfangs zeitigte das freilich
                                                       nur geringe praktische Konsequenzen.07 Im posi-
         ENTSTEHUNG EINES NICHT                        tiven Verfassungsrecht verankert wurde die Wis-
          SELBSTVERSTÄNDLICHEN                         senschaftsfreiheit dann in Artikel 142 der Weima-
              GRUNDRECHTS                              rer Reichsverfassung (1919), an deren Vorbild sich
                                                       wiederum das Grundgesetz (1949) orientierte.
Zu den ursprünglichen Menschenrechten des re-              Eine selbstständige – zur Meinungsfreiheit ab-
volutionären 18. Jahrhunderts gehörte die Wis-         gegrenzte – Wissenschaftsfreiheit taucht erst lange
senschaftsfreiheit nicht. Die Grundrechtstexte         nach dem Zweiten Weltkrieg außerhalb Deutsch-
der atlantischen Revolutionen – die amerikani-         lands in Verfassungen auf. Selbstverständlich ist
sche Bill of Rights (1789/1791), die französische      eine eigenständige Wissenschaftsfreiheit auch im
Déclaration des Droits de l’Homme et du Cito-          internationalen Vergleich bis heute nicht, kennen
yen (1789) und die revolutionäre Constitution          doch zahlreiche Verfassungen und die traditions-
d’Haïti (1805) – enthalten keine entsprechende         reichen Grundrechtskataloge – von der Allgemei-
Garantie. Die aus Vulnerabilitätserfahrungen ge-       nen Erklärung der Menschenrechte (1948) über
sättigte Überzeugung, dass eine freie Gesellschaft     die Europäischen Menschenrechtskonvention
nicht ohne rationales Wissen bestehen kann, ist        (EMRK, 1950) bis zum UN-Pakt über bürgerliche
freilich älter als eine moderne juridische Verfas-     und politische Rechte (IPbpR, 1966) – keine spe-
sungsidee.01 Die Idee einer selbstständigen Wis-       zifische Wissenschaftsfreiheit. Wissenschaft wird
senschaftsfreiheit, die sich von der allgemeinen       vielmehr durchweg als Teil der Meinungsfreiheit
Presse- und Meinungsfreiheit emanzipiert, hat          (Art. 10 EMRK; Art. 19 IPbpR) behandelt. Die
sich indes erst vergleichsweise spät herausgebil-      Europäische Union ist hingegen dem deutschen
det. Das Freiheitsrecht ist als Reaktion auf restau-   Modell einer eigenständigen Wissenschaftsfreiheit
rative Bewegungen entstanden02 und ein Produkt         gefolgt (Art. 13 EU-Grundrechtecharta).
des Vormärz,03 also sogar ein spezifisch deutscher
Beitrag zur transnationalen Ausformung von                       POLITISCHE FUNKTIONEN
Grundrechtskatalogen.04 Die Wissenschaftsfrei-
heit war insoweit von Anfang an zudem ein poli-        Die politische Funktion einer selbstständigen Wis-
tisches Grundrecht.                                    senschaftsfreiheit, die über bloße Meinungsfreiheit

10
Wissenschaftsfreiheit APuZ

hinausgeht, liegt darin, entpolitisierte Prozesse der                   keit einer Gesellschaft bemisst sich nicht lediglich
Wahrheitsfindung gegen politischen Zugriff zu ar-                       an den Inhalten ihrer tragenden Normen oder ihrer
mieren. Wenn sich politische Herrschaft auch mit-                       Güterbereitstellung, sondern entscheidend auch an
tels eines impliziten Anspruchs auf Rationalität                        der Offenheit ihrer epistemischen6789 Struktur.10 Die
legitimieren will, kann sie versucht sein, wissen-                      Wissenschaftsfreiheit bleibt zwar durchaus mit der
schaftliche Wahrheitskommunikation zu12345 kontrol-                     Erwartung eines gesellschaftlichen Nutzens ver-
lieren.08 Dies erzeugte Schutzbedarf für diejeni-                       knüpft. Dieser ist jedoch nicht erzwingbar und ge-
gen, die Richtigkeit auf rationale Gründe stützen                       rät gerade dann in Gefahr, wenn sich kurzsichtige
und damit Machtansprüche hinterfragen können.                           Hoffnungen auf Anwendungswissen über die lang-
Es gehört heute zum inneren Selbstverständnis                           fristigen Freiheitsbedingungen verlässlicher Er-
rationaler Herrschaft freiheitlicher Staatsgewalt,                      kenntnis hinwegsetzen. Schon Dahlmann schleu-
Macht nur im Bewusstsein der eigenen Fehlbar-                           derte dem preußischen Kultusminister Friedrich
keit zu verwalten und die Suche nach Wahrheit                           Eichhorn (1779–1856) als Reaktion auf dessen An-
freien gesellschaftlichen Institutionen anzuver-                        sinnen 1843, zugunsten einer dominant berufsbe-
trauen. Die Freiheit der Wissenschaft schützt da-                       zogenen Ausrichtung in die Lehre einzugreifen,
her davor, dass der Staat mit hoheitlicher Gewalt                       entgegen: Der Hof „wünscht Kenntnisse für seine
selbst Teilnehmer des Wissenschaftsprozesses                            Untertanen, aber keine Wissen­schaften“.11
wird und über Wahrheiten autoritativ entscheidet,                           Wissenschaft ist potenzielle Gegenöffentlich-
also Richtigkeit durch rohe Macht ersetzt. Sehr                         keit mit einem Gemeinwohlanspruch,12 der sich
früh hatte dies das liberale Urgestein des Vormärz                      gerade auch gegen dominante wie kurzsichtige
Friedrich Christoph Dahlmann (1785–1860), einer                         Nutzeninteressen der Gesellschaft richten kann.
der „Göttinger Sieben“, die 1837 gegen die Aufhe-                       Auch wenn der demokratische Rechtsstaat keine
bung des Staatsgrundgesetzes im Königreich Han-                         „Untertanen“ mehr kennt, hat sich die Gefahr ei-
nover protestierten und daraufhin entlassen wur-                        nes rein instrumentellen Wissenschaftsverständ-
den, gesehen: Die „wissenschaftlichen Wahrheiten                        nisses keineswegs erledigt.13 Das Bundesverfas-
sind keine Gegenstände der Gesetz­gebung“.09                            sungsgericht hat die davon ausgehenden Risiken
    Freie Wissenschaft erfüllt zentrale Funktionen                      in die Teleologie der Wissenschaftsfreiheit ein-
für eine freie Gesellschaft, die weit über die prak-                    gepreist. Zugunsten der Wissenschaftsfreiheit
tischen Erträge möglicher Anwendungen von For-                          sei „stets der diesem Freiheitsrecht zugrundelie-
schungsergebnissen hinausgehen. Die Freiheitlich-                       gende Gedanke mit zu berücksichtigen, daß ge-
                                                                        rade eine von gesellschaftlichen Nützlichkeits-

01 Vgl. Peter Weingart, Die Stellung der Wissenschaft im
demokratischen Staat, in: Martina Franzen et al. (Hrsg.), Auto-         06 Ernst Schwartz, Die Verfassungsurkunde für den Preußi-
nomie revisited. Beiträge zu einem umstrittenen Grundbegriff in         schen Staat, Breslau 1898, S. 83.
Wissenschaft, Kunst und Politik, Weinheim 2014, S. 305–329,             07 Vgl. Johannes Wischmeyer, Theologiae Facultas. Rahmen-
hier S. 306 f.                                                          bedingungen, Akteure und Wissenschaftsorganisation protes-
02 Vgl. Wolfgang Löwer, Freiheit wissenschaftlicher Forschung           tantischer Universitätstheologie in Tübingen, Jena, Erlangen und
und Lehre, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Hand-          Berlin 1850–1870, Berlin 2008, S. 83 f.
buch der Grundrechte, Bd. IV, Heidelberg 2011, § 99 Rn. 7 f.            08 Vgl. auch Peter Weingart, Die Wissenschaft der Öffent-
03 Vgl. Torsten Wilholt, Die Freiheit der Forschung. Begründun-         lichkeit. Essays zum Verhältnis von Wissenschaft, Medien und
gen und Begrenzungen, Frank­furt/M. 2012, S. 213 ff.                    Öffentlichkeit, Weilerswist 2005, S. 52 ff.
04 Vgl. Löwer (Anm. 2), § 99 Rn. 4 f. (auch zur unergiebigen            09 Friedrich Christoph Dahlmann, Die Politik, auf den Grund
Bestimmung des Art. 17 der Belgischen Verfassung von 1830).             und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt, Leipzig
05 Zur Diskussion der Vorentwürfe Wolfgang Schrödter,                   18473, S. 321.
Die Wissenschaftsfreiheit des Beamten. Dargestellt am Recht             10 Vgl. Klaus Ferdinand Gärditz, Umwelt-Aufklärung der
der wissenschaftlichen Nebentätigkeit, Berlin 1974, S. 54 f.            Öffentlichkeit als wissenschaftliche Wahrheitspflege?, in: Euro-
Der vorausgegangene „Siebzehnerentwurf“ wurde sogar im                  päisches Umwelt- und Planungsrecht 2/2017, S. 112–122, hier
Rahmen eines US-amerikanischen Communiqués ins Englische                S. 124.
übersetzt. Die Wissenschaftsfreiheit taucht dort – soweit er-           11 Abgedruckt in: Anton Springer, Friedrich Christoph Dahl-
sichtlich – erstmals als englischer Begriff „liberty of science“ auf.   mann, Zweiter Theil, Leipzig 1872, S. 131 f.
Abgedruckt bei Jörg-Detlef Kühne, Bürgerrechte und Deutsches            12 Vgl. Jürgen Mittelstraß, Wissenschaft als Lebensform.
Verfassungsdenken 1848–1871, in: Hermann Wellenreuther/                 Reden über philosophische Orientierungen in Wissenschaft und
Claudia Schnurmann (Hrsg.), Die Amerikanische Verfassung und            Universität, Frank­furt/M. 1982, S. 24.
Deutsch-Amerikanisches Verfassungsdenken. Ein Rückblick über            13 Vgl. Udo Di Fabio, Coronabilanz. Lehrstunde der Demokra-
200 Jahre, London u. a. 1991, S. 230–266, hier S. 232 f.                tie, München 2021, S. 92 f.

                                                                                                                                      11
APuZ 46/2021

und politischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen                   für grosso modo rationale Entscheidungen bietet,
befreite Wissenschaft dem Staat und der Gesell-                bleibt die Wissenschaft indirekt über handlungs-
schaft im Ergebnis am besten dient“.14 Dies er-                orientierte Expertise am demokratischen Prozess
fordert Autonomie. „Damit sich die Wissenschaft                in sehr vielschichtiger Form beteiligt.20
ungehindert an dem für sie kennzeichnenden Be-                     Wissenschaft als Gegenöffentlichkeit ist da-
mühen um Wahrheit ausrichten kann, ist sie zu                  durch ein spezielles Element externer Ratio-
einem von staatlicher Fremdbestimmung frei-                    nalitätskontrolle im politischen Prozess. Dem
en Bereich persönlicher und autonomer Verant-                  Wahlakt nachlaufende Kontrolle und Kritik sind
wortung des einzelnen Wissenschaftlers erklärt                 zentrale Elemente des repräsentativ-demokrati-
worden“.15 Dass von politischer Nützlichkeits-                 schen Prozesses.21 Eine Funktion „politischer“
abstinenz tatsächlich gesellschaftliche Erträge                Grundrechte ist es, demokratische Teilhabe zu er-
zu erwarten sind, mag das Beispiel der mRNA-                   zwingen.22 Wissenschaft ist aufgrund der diszip-
Impfstoffentwicklung in der Pandemie ver-                      linären Grenzen und der hohen Zugangshürden
deutlichen. Der anwendungsbezogen-unter-                       ein struktureller „Minderheitenbelang“. Die Wis-
nehmerische Erfolg gründet hier auf einem seit                 senschaftsfreiheit sichert daher auch eine kommu-
Jahrzehnten angewachsenen Fundament solider                    nikative Teilhabe an der demokratischen Öffent-
Grundlagenforschung, für die sich zuvor nur eine               lichkeit. Die Kraft des besseren Arguments kann
kleine Fachcommunity ­interessierte.16                         Politik im Idealfall unter Handlungsdruck setzen,
     Politik und wissenschaftliche Gegenöffent-                um dem Vorwurf der Unvernunft zu entgehen.
lichkeit stehen gerade in einem freiheitlichen Ge-             Aktuell zeigt dies vor allem der Klimaschutz.
meinwesen nicht beziehungslos nebeneinander.
Auch demokratische Staatsorgane werden aus po-                                KEINE AKADEMISCHE
litischen Gründen – nicht zuletzt zur Rechtfer-                                MEINUNGSFREIHEIT
tigung von Grundrechtseingriffen – im Großen
und Ganzen rationale Ziele verfolgen müssen. Die               Mit der Trennung der Meinungsfreiheit (Art. 5
notwendige Grundskepsis des rationalen Staa-                   Abs. 1 Satz 1 GG) von der Wissenschaftsfreiheit
tes17 schließt die Einsicht in die eigene Fehlbarkeit          (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) setzt das Grundge-
ebenso ein wie die Anerkennung externer Wahr-                  setz normativ voraus, dass wissenschaftliche For-
heiten, die politischer Gestaltung entzogen sind.18            schung und wissenschaftliche Lehre von sonsti-
Politik kann ihren Integritätsanspruch nur auf-                ger (insbesondere politischer) Kommunikation
rechterhalten und das Versprechen, die Welt auch               unterscheidbar und etwas anderes als bloße Mei-
ändern zu können, nur einlösen, wenn gerade die                nungsäußerungen sind.23 Dies war im Parlamen-
praktischen Grenzen, die dieser Fähigkeit gezo-                tarischen Rat noch keineswegs selbstverständlich.
gen sind, respektiert werden.19 Der Klimawandel                Der wirkmächtige „Bergsträsser-Entwurf“ eines
lässt sich eben nicht durch Mehrheitsbeschluss ab-             Grundrechtskatalogs vom September 1948 woll-
schaffen. Politische Verfahren, insbesondere der
Gesetzgebung, müssen daher fortwährend auch
den Stand der Wissenschaft aufgreifen. Solange der             20 Filigran Laura Münkler, Expertokratie. Zwischen Herr-
                                                               schaft kraft Wissens und politischem Dezisionismus, Tübingen
demokratische Prozess deliberativ funktioniert
                                                               2020.
und der öffentliche Diskurs hinreichende Gewähr                21 Vgl. Horst Dreier, Das Problem der Volkssouveränität, in:
                                                               Pirmin Stekeler-Weithofer/Benno Zabel (Hrsg.), Philosophie der
                                                               Republik, Tübingen 2018, S. 37–56, hier S. 49 f.
14 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE)      22 Vgl. Oliver Lepsius, Versammlungsrecht und gesellschaftli-
47, 327 (370); zuletzt BVerfGE 141, 143 (169).                 che Integration, in: Anselm Doering-Manteuffel/Bernd Greiner/
15 BVerfGE 47, 327 (367).                                      ders. (Hrsg.), Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsge-
16 Vgl. Ulrich Dirnagl, Tu felix Britannia – Notizen aus der   richts 1985, Tübingen 2015, S. 113–165, hier S. 123.
deutschen Corona-Studien-Provinz, in: Laborjournal 9/2021,     23 Vgl. Claus Dieter Classen, Wissenschaftsfreiheit außer-
S. 26 f., hier S. 27.                                          halb der Hochschule: Zur Bedeutung von Artikel 5 Absatz 3
17 Vgl. Matthias Herdegen, Staat und Rationalität, Paderborn   Grundgesetz für ausseruniversitäre Forschung und Forschungs-
2010, S. 33 ff.                                                förderung, Tübingen 1994, S. 73, S. 79 f.; Klaus Ferdinand
18 Vgl. Christoph Möllers, Demokratie – Zumutungen und         Gärditz, Wissenschaftsunwürdigkeit? Zu Begriff und Folgen des
Versprechen, Berlin 2008, S. 45.                               wissenschaftlichen Fehlverhaltens in der Rechtsprechung des
19 Vgl. Hannah Arendt, Between Past and Future, New York       Bundesverwaltungsgerichts, in: Wissenschaftsrecht 2/2014,
1968, S. 227, S. 263 f.                                        S. 119−149, hier S. 136, S. 138.

12
Wissenschaftsfreiheit APuZ

te noch die (mit Misstrauen beäugte) Wissenschaft                       nen Tests der Richtigkeit unabhängig von persön-
in die Meinungsfreiheit mit ihrem schwächeren                           lichen Überzeugungen zu beugen. Freie Wissen-
Schutzniveau integrieren.24 Am Ende hat sich die                        schaft hat insoweit auch eine antirelativistische
liberale Verfassungstradition eines selbstständigen                     Seite, weil sie trotz ihrer epistemischen Offen-
Freiheitsgrundrechts durchgesetzt, das einer eige-                      heit in die Zukunft und der unhintergehbaren Be-
nen Teleologie folgt und im Übrigen über die wis-                       grenztheit menschlicher Erkenntnis die Existenz
senschaftlichen Kommunikationsprozesse hinaus                           einer Wirklichkeit oder zumindest eines rationa-
auch die forschende Tätigkeit im Vorfeld schützt.                       len argumentativen Regelwerks anerkennen muss.
    Zwar teilt die Meinungsfreiheit aus verfas-                             Wissenschaftliche Erkenntnisprozesse las-
sungstheoretischer Sicht die relativistischen Prä-                      sen sich damit, ohne soziale Macht zu ignorieren,
missen einer pluralistischen Demokratietheorie,                         auch nicht auf schlichte Machtfragen reduzieren,
die grundsätzlich jede meinungsbildende Positi-                         wie dies bisweilen eine Rhetorik der Postmoder-
on als formal gleichwertig zulässt und auf die Ver-                     ne suggeriert. Zugleich liegt in der strikten Bin-
nunft eines offenen, pluralistischen und relati-                        dung an Methoden und fachliche Standards auch
vistischen Diskurses vertraut, Unsinniges und                           ein egalitäres Moment. Jeder Mensch kann sich
Fehlgeleitetes zu erledigen.25 Auf eine konkrete-                       (jedenfalls theoretisch) ohne Ansehung der Per-
re Ebene heruntergebrochen zeigen sich gleich-                          son (namentlich unabhängig von formaler Aus-
wohl deutliche Unterschiede in der politischen                          bildung, unveräußerlichen Merkmalen und Iden-
Grammatik.26 Meinungsfreiheit ist in besonde-                           tität) gleichberechtigt an wissenschaftlichen
rem Maße auch eine Freiheit zur Irrationalität,                         Kommunikationsprozessen beteiligen, wenn die-
ein Grundrecht des Emotionalen, des Unreflek-                           se Standards eingehalten werden. Dementspre-
tierten. Meinungen lassen sich daher auch nicht                         chend unterscheiden sich Wissenschafts- und
nach Qualitätskriterien beurteilen.27 Die Wissen-                       Meinungsfreiheit auch signifikant in ihren Ent-
schaftsfreiheit weist demgegenüber eine besonde-                        stehungsbedingungen und den damit verbunde-
re Bindung an Standards fachlicher Rationalität                         nen Kosten.30 Meinung ist billig zu haben.
auf, die überprüfbare Erkenntnis von Wirklich-                              Relativistische Prämissen des demokratischen
keit in einem methodisch disziplinierten Kons­                          Meinungskampfes lassen sich daher nicht unbe-
truktionsprozesses sicherstellen, der hinreichend                       sehen auf das Wissenschaftssystem übertragen,
objektiviert. Wissenschaft benötigt daher ein in-                       ohne dessen spezifische Rationalisierungsfunkti-
härentes „Weltbild“,28 eine „Ehrfurcht vor der                          onen preiszugeben. Die Wissenschaftsfreiheit ist
Wahrheit“,29 sprich: eine Bereitschaft, sich exter-                     keine schlichte akademische Redefreiheit.31 Das
                                                                        müssen auch Universitäten beachten, die ver-
                                                                        fassungsrechtlich geschützte Institutionen freier
24 Siehe den Katalog der Grundrechte, Anregungen von
                                                                        Forschung und Lehre sind, nicht Foren des belie-
Dr. Bergsträsser als Berichterstatter, v. 21. 9. 1948, abgedruckt in:
Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentari-
                                                                        bigen politischen Meinungskampfes. Politisches
sche Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/​I: Ausschuß für        Gepolter wird nicht wissenschaftliche Lehre,
Grundsatzfragen, München 1993, S. 15–27, hier S. 23 f.                  wenn man sie vom Bierzelt in den Hörsaal ver-
25 Vgl. Hans Kelsen, Wissenschaft und Demokratie (1937), wie-           lagert. Ex-Banker beispielsweise, die ihre irrlich-
derabgedruckt in: Verteidigung der Demokratie, hrsg. v. Matthias
                                                                        ternden Thesen rassistischer Bestseller vorstellen
Jestaedt/Oliver Lepsius, Tübingen 2006, S. 238–247, hier S. 241.
26 Vgl. Klaus Ferdinand Gärditz, Freie Wissenschaft als
                                                                        wollen, betreiben keine Wissenschaft und gehö-
Gelingensbedingung der politischen Willensbildung in der                ren nicht an eine Universität, die keine Mehr-
Pandemie, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Tübingen 2021,          zweckhalle für kruden Klamauk ist.
S. 505–534, hier S. 511 ff.
27 Vgl. Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und
                                                                                          SCHUTZGEHALT
Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in:
ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX,
Heidelberg 20113, § 190 Rn. 310; Sebastian Müller-Franken, Mei-         Wissenschaft ist, so das Bundesverfassungsge-
nungsfreiheit im freiheitlichen Staat, Paderborn 2013, S. 31 f.         richt, „was nach Inhalt und Form als ernsthaf-
28 Plastisch Max Planck, Die Einheit des physikalischen Welt-           ter und planmäßiger Versuch zur Ermittlung
bildes, 1908, in: ders., Vorträge und Erinnerungen, Berlin u. a.
19495, S. 28 ff.
29 Lise Meitner in einem Brief an Otto Hahn, wiedergegeben              30 Vgl. Wilholt (Anm. 3), S. 259 f.
in: Dietrich Hahn (Hrsg.), Lise Meitner: Erinnerungen an Otto           31 Vgl. Joan Wallach Scott, Knowledge, Power, and Academic
Hahn, Stuttgart 2005, S. 148–151, hier S. 151.                          Freedom, New York 2019, S. 114 ff.

                                                                                                                                13
APuZ 46/2021

von Wahrheit anzusehen ist“.32 Wahrheit ist hier                gen lässt. Selbstverständlich muss niemand dem
Chiffre für die Rationalisierungsleistungen me-                 Mainstream der Wissenschaft folgen; Abweichun-
thodengeleiteter Erkenntnisprozesse. Die inne-                  gen sind gerade Triebfeder wissenschaftlichen
ren Grenzen der Wissenschaftsfreiheit sind nicht                Fortschritts. Die Wissenschaftlichkeit von For-
epistemologisch, sondern verfassungsrechtlich-                  schung und Lehre zeigt sich aber daran, ob sich
funktionsbezogen zu bestimmen, um den maß-                      ein Werk mit dem Erkenntnisstand seiner Diszi-
geblichen Akteuren angemessenen Freiheits-                      plin seriös auseinandersetzt und vorherrschende
schutz zukommen zu lassen. Es ist hingegen                      Thesen mit qualifiziert zu plausibilisierenden Ar-
nicht Funktion des Grundrechts, eine bestimmte                  gumenten zu widerlegen versucht. Ihren Wissen-
Wissenschaftstheorie zu propagieren.33 Die Wis-                 schaftscharakter verlieren Forschung und Lehre
senschaftsfreiheit schützt vielmehr gerade auch                 erst, wenn Qualitätskriterien nicht nur punktu-
die Offenheit des wissenschaftstheoretischen                    ell, sondern systematisch verfehlt werden. „Das
Selbstfindungsprozesses über Möglichkeiten und                  ist insbesondere dann der Fall, wenn die Aktivi-
Grenzen von Erkenntnis.                                         täten des betroffenen Hochschullehrers nicht auf
    Von Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 GG geschützt                  Wahrheitserkenntnis gerichtet sind, sondern vor-
sind als „Kernbereich wissenschaftlicher Betäti-                gefaßten Meinungen oder Ergebnissen lediglich
gung (…) die auf wissenschaftlicher Eigengesetz-                den Anschein wissenschaftlicher Gewinnung und
lichkeit34 beruhenden Prozesse, Verhaltensweisen                Nachweislichkeit verleihen“.38 Dafür könne „die
und Entscheidungen bei der Suche nach Erkennt-                  systematische Ausblendung von Fakten, Quel-
nissen, ihrer Deutung und Weitergabe“.35 Wis-                   len, Ansichten und Ergebnissen, die die Auffas-
senschaft muss immer auch Gegenauffassungen,                    sung des Autors in Frage stellen, ein Indiz sein“.39
methodisch Abweichendes und Neues sowie ra-                     Keine Wissenschaft sind beispielsweise Kommu-
dikale Brüche zulassen. Sie muss gelegentlich ir-               nikationsbeiträge, die schon kein rationales Er-
ritieren. Die individualfreiheitsgrundrechtliche                kenntnisziel verfolgen, etwa weil sie rationale Er-
Offenheit des Wissenschaftsbegriffs erfordert es                kenntnis überhaupt nicht für möglich erachten
daher, sich zunächst einmal auf eine Disziplin be-              oder politische Glaubensbekenntnisse mit Fuß-
ziehungsweise einen Forschungsansatz einzulas-                  noten sind, die Wissenschaftlichkeit nur der äu-
sen, präzisen Bestand aufzunehmen, offen mit                    ßeren Form nach simulieren.
irritierenden Thesen sowie Methoden umzuge-
hen und ein plausibles Anliegen vorläufig ernst                                  ROLLE DES STAATES
zu nehmen.36 Namentlich entfällt der Schutz der
Wissenschaftsfreiheit nicht, wenn „einem Werk                   Der Staat befindet sich hierbei in einem Dilem-
in innerwissenschaftlichen Kontroversen zwi-                    ma, weil er einerseits entscheiden muss, ob et-
schen verschiedenen inhaltlichen oder methodi-                  was als Wissenschaft unter den Grundrechtstat-
schen Richtungen die Wissenschaftlichkeit be-                   bestand fällt, ihm andererseits aber hoheitliche
stritten wird“.37                                               Bewertungen von Wissenschaft gerade wegen der
    Aus dem Tatbestand der Wissenschaftsfrei-                   grundrechtlichen Schutzfunktion des Artikels 5
heit lassen sich daher nur solche Arbeiten aus-                 Absatz 3 Satz 1 GG entzogen bleiben. Wissen-
scheiden, deren wissenschaftliche Tragfähigkeit                 schaftliche Aussagen lassen sich nur durch wis-
sich positiv unter Heranziehung allgemein aner-                 senschaftliche Argumente falsifizieren, nicht
kannter Rationalitätsstandards evident widerle-                 durch politische Macht.40 Behörden und Gerich-
                                                                te müssen also einerseits prüfen können, ob ein
                                                                bestimmtes Verhalten gemessen an Artikel 5 Ab-
32 BVerfGE 35, 79 (113); 47, 327 (367). Zurückgehend auf
                                                                satz 3 Satz 1 GG begrifflich überhaupt wissen-
Rudolf Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: Ver-
öffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer,
Bd. 4, Berlin 1928, S. 44–73, hier S. 67.                       38 BVerfGE 90, 1 (13); Entscheidungen des Bundesverwal-
33 Siehe BVerfGE 35, 79 (112).                                  tungsgerichts (BVerwGE) 102, 304 (311).
34 Siehe hierzu BVerfGE 35, 79 (112); 47, 327 (367, 368); 90,   39 BVerfGE 90, 1 (13).
1 (11 f.).                                                      40 Vgl. Andreas Voßkuhle, Expertise und Verwaltung, in: Hans-
35 BVerfGE 111, 333 (354).                                      Heinrich Trute et al. (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur
36 Vgl. Susanne Baer, Vertrauen – Faire Urteile in Wissen-      Tragfähigkeit eines Konzepts, Tübingen 2008, S. 637–663, hier
schaft und Recht, Göttingen 2013, S. 24.                        S. 651; Peter Weingart, Wissenschaftssoziologie, Bielefeld 2003,
37 BVerfGE 90, 1 (13).                                          S. 84.

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