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71. Jahrgang, 46/2021, 15. November 2021 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Wissenschaftsfreiheit Elif Özmen Paula-Irene Villa · NORMATIVE GRUNDLAGEN Richard Traunmüller · Matthias Revers UND AKTUELLE LÄSST SICH „CANCEL CULTURE” HERAUSFORDERUNGEN EMPIRISCH BELEGEN? Klaus Ferdinand Gärditz Katrin Kinzelbach · Janika Spannagel DIE POLITISCHE GRAMMATIK DIE VERMESSUNG VON DER WISSENSCHAFTSFREIHEIT WISSENSCHAFTSFREIHEIT Sandra Kostner Uwe Schimank ZUR VERHÄNGUNG UNIVERSITÄTEN UND UMSETZUNG UND GESELLSCHAFT INTELLEKTUELLER LOCKDOWNS IM WANDEL Jiré Emine Gözen Roland Bloch · WESSEN FREIHEIT SOLL Carsten Würmann GESCHÜTZT WERDEN? ARBEITSBEDINGUNGEN UND KARRIEREWEGE IN DER WISSENSCHAFT ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Wissenschaftsfreiheit APuZ 46/2021 ELIF ÖZMEN PAULA-IRENE VILLA · RICHARD TRAUNMÜLLER · NORMATIVE GRUNDLAGEN UND AKTUELLE MATTHIAS REVERS HERAUSFORDERUNGEN LÄSST SICH „CANCEL CULTURE“ EMPIRISCH Die Ideen der Wissenschaft und der freien Wis- BELEGEN? senschaft sind auf normative Voraussetzungen Wie lassen sich Studien realisieren, die ein und epistemische Hoffnungen gegründet, die möglichst wirklichkeitsgetreues Bild von der durch Wissenschaftsfreiheit im Sinne eines Meinungsfreiheit an deutschen Universitäten negativen Abwehrrechts nicht garantiert werden zeichnen? Der Beitrag gibt Impulse für eine können. pluralistische Fachdebatte. Seite 04–08 Seite 26–33 KLAUS FERDINAND GÄRDITZ KATRIN KINZELBACH · JANIKA SPANNAGEL DIE POLITISCHE GRAMMATIK DIE VERMESSUNG DER WISSENSCHAFTSFREIHEIT VON WISSENSCHAFTSF REIHEIT Wissenschaftsfreiheit ist ein Grundrecht, das in Wie kann der Grad an Wissenschaftsfreiheit politischen Diskursen oftmals zu einer akademi- systematisch und global gemessen werden? Der schen Meinungsfreiheit verzwergt wird. Eigent- neu entwickelte Academic Freedom Index gibt lich entfaltet es aber vor allem Schutz gegen die für 175 Länder und Territorien sowie rückwir- Risiken politisierender Meinungskämpfe. kend bis 1900 Auskunft. Seite 10–16 Seite 34–41 SANDRA KOSTNER UWE SCHIMANK ZUR VERHÄNGUNG UND UMSETZUNG UNIVERSITÄTEN UND GESELLSCHAFT INTELLEKTUELLER LOCKDOWNS IM WANDEL Der Verwirklichungsgrad eines Freiheitsrechtes Wissenschaftsfreiheit kann durch verschiedene bemisst sich nicht nur an der Abwesenheit Entwicklungen gefährdet werden. Zum einen staatlicher Repressalien. Damit sich ein Frei- sollte man den Wandel der Universitäten in den heitsrecht vollumfänglich entfalten kann, bedarf Blick nehmen, zum anderen den Wandel des es eines Klimas der Freiheit. gesellschaftlichen Umfelds. Seite 17–21 Seite 42–47 JIRÉ EMINE GÖZEN ROLAND BLOCH · CARSTEN WÜRMANN WESSEN FREIHEIT SOLL GESCHÜTZT WERDEN? ARBEITSBEDINGUNGEN UND KARRIEREWEGE Der Beitrag zeigt auf, dass Wissenschafts- IN DER WISSENSCHAFT freiheit aktuell vielfach zur Verteidigung von Die Professur ist in Deutschland Leitbild der Deutungshoheiten eingesetzt wird, tatsächlich wissenschaftlichen Karriere. Wie hat sich das aber als Prozess der Erweiterung von Teilhabe universitäre Karriere- und Beschäftigungssystem verstanden werden sollte. entwickelt? Welche Konsequenzen könnten sich Seite 22–25 daraus für die Wissenschaftsfreiheit ergeben? Seite 48–54
EDITORIAL Wie frei ist die Wissenschaft in Deutschland? Folgt man dem Academic Free- dom Index, gibt es nur wenig Luft nach oben – die Bundesrepublik hat einen „A Status“ (Werte von 0,8 bis 1 auf einer Skala von 0 bis 1) erreicht und liegt mit ihrem Score auch innerhalb dieser Gruppe im oberen Bereich. „B Status“ (0,6 bis 0,8) haben beispielweise Tansania und Armenien, während das EU-Mitglied Ungarn in der „C Status“-Gruppe (0,4 bis 0,6) gerankt wird. In der Gruppe mit „D Status“ (0,2 bis 0,4) finden sich etwa Russland und Venezuela und am Ende des Rankings („E Status“, 0,0 bis 0,2) Länder wie China oder Nordkorea. In den vergangenen Jahren sind trotz solcher Befunde vermehrt Stimmen laut geworden, die die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland, wie sie Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes garantiert, in Gefahr sehen. Zum einen wird in Zeiten von Pandemie und Klimawandel das Verhältnis zwischen Wissenschaft und demokratischer Politik kontrovers diskutiert. Zum anderen berührt die Debatte um das hohe Gut der Meinungsfreiheit, das durch identitätspolitische „Diskurskontrollen“ und „Cancel Culture“ gefährdet sei, auch den akademi- schen Raum. Andere Entwicklungen, von denen Beeinträchtigungen der Freiheit von Forschung und Lehre ausgehen können, etwa finanzielle oder organisatori- sche, erfahren dagegen weniger Aufmerksamkeit. Was ist „Wissenschaftsfreiheit“? Sie ist kein Grundrecht für jedermann wie die Meinungsfreiheit. Steile Thesen von Nicht-Wissenschaftlerinnen fallen daher nicht unter dieses Recht, und es stellt sich die Frage, zu welchem Nutzen ihnen an den Stätten der wissenschaftlichen Wissensproduktion Raum gewährt werden sollte. Davon abgesehen, ist der Wissenschaftsbetrieb nicht entkoppelt von Gesellschaft und Politik. Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen kämpfen um Teilhabe, Anerkennung und Macht, es gibt Erfahrungen mit Aus- grenzung durch Rassismus, Sexismus und andere menschenfeindliche Einstel- lungen. Wie sich eine faire, von wissenschaftlichen Kriterien bestimmte und von gegenseitigem Respekt getragene Auseinandersetzung um das beste Argument gewährleisten lässt, bleibt eine fortwährende Herausforderung. Anne Seibring 03
APuZ 46/2021 WISSENSCHAFTSFREIHEIT: NORMATIVE GRUNDLAGEN UND AKTUELLE HERAUSFORDERUNGEN Elif Özmen Einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Al- schaft durch eine galoppierende Ökonomisierung lensbach zufolge sind 93 Prozent der befrag- und Bürokratisierung gemeinhin mit freundli- ten Hochschullehrer:innen der Auffassung, dass chem Desinteresse begegnet wird.05 es in Deutschland „sehr viel“ oder „viel Wissen- schaftsfreiheit“ gebe. Die Frage nach den konkre- EIN UMKÄMPFTER BEGRIFF ten Hemmnissen des Forschungsalltags bestätigt: Fehlende Muße (75 Prozent), Publikationszwang Die vielstimmigen Warnungen vor den Einschrän- (68 Prozent), Einflussnahme der Hochschulleitun- kungen der wissenschaftlichen Debatten- und gen (36 Prozent) und hohe Lehrdeputate (35 Pro- Streitkultur zeigen auffällige Parallelen zu einem zent) werden als erhebliche Beschränkungen anderen gesellschaftlichen Konfliktthema: den wahrgenommen, wohingegen ethische Richtlini- Gegenständen und Grenzen der Meinungsfreiheit. en (7 Prozent) und die sogenannte Political Cor- Zwar ist es kein Zufall, dass diese beiden Grund- rectness (13 Prozent) eine sehr viel kleinere Rol- rechte in ein und demselben Artikel 5 des Grund- le spielen.01 Auch der aktuelle Academic Freedom gesetzes behandelt werden. Als Kommunikati- Index kann keine Zunahme von Einschränkun- onsgrundrechte gehören sie zum festen Bestand gen oder Verletzungen der Wissenschaftsfreiheit der freiheitlichen Demokratie, die auf einem Plu- im deutschen, europäischen oder nordamerikani- ralismus der Meinungen und dem argumentativen schen Wissenschaftsraum belegen.02 Wettbewerb mit Andersdenkenden um die bes- Zugleich ist eine Debatte um die Macht von sere Meinung gründet. Aber es gibt auch wichti- „Political Correctness“ und „Cancel Culture“ ge Unterschiede, die durch die Gleichsetzung des entbrannt, in der auch eine Moralisierung und allgemeinen Rechts auf freie Meinungsäußerung Politisierung der Wissenschaft beklagt oder be- mit dem spezifischen Recht auf Wissenschaftsfrei- stritten wird.03 Ein „Netzwerk Wissenschaftsfrei- heit verwischt werden. Das vielbeschworene Ide- heit“ wurde gegründet, das „die Freiheit von For- al der Wissenschaftsfreiheit scheint, hier durchaus schung und Lehre gegen ideologisch motivierte vergleichbar mit Meinungsfreiheit, zu einem um- Einschränkungen zu verteidigen“ sucht, wohin- kämpften Begriff geworden zu sein, der von ver- gegen ein anderes, gleichnamiges Netzwerk das schiedenen Akteuren mit unterschiedlichen Inten- „System Wissenschaft (…) auch auf Diskriminie- tionen in Anspruch genommen wird. rung, Prekarisierung und Ausschluss“ zurück- Eine weitere Auffälligkeit in der Debatte um führt.04 Vom Bundespräsidenten, der Ministe- Wissenschaftsfreiheit besteht in der Häufung von rin für Bildung und Forschung, dem Deutschen englischen Begrifflichkeiten. Und auch das ist kein Bundestag über die großen Wissenschaftsor- Zufall. In vielen US-amerikanischen Hochschulen ganisationen, dem Deutschen Hochschulver- wurden seit den späten 1980er Jahren progressi- band, einzelnen Fachgesellschaften bis hin zu den ve Reformen angestoßen, die sich gegenwärtig in Hochschulleitungen haben sich zentrale hoch- Forderungen nach speech codes, trigger-warnings, schulpolitische Akteure zu Wort gemeldet. Auch safe spaces oder no-platforming ausdrücken.06 die zahllosen Beiträge in Presse, Rundfunk und Diese nur schwer übersetzbaren Schlagworte be- den sozialen Medien belegen ein großes öffentli- zeichnen Maßnahmen, die von Mitgliedern der ches Interesse, was umso bemerkenswerter ist, als Wissenschaftsgemeinschaft (also Studierenden, den faktischen Gefährdungen der freien Wissen- Do zent: innen, Hochschulleitungen), aber auch 04
Wissenschaftsfreiheit APuZ von Externen (etwa sozialen Bewegungen, sozi- Selbstverwaltung und wissenschaftliche Selbstbe- almedialen Aktivist:innen) gegen bestimmte wis- stimmung vorgenommen wurden (Ungarn, Tür- senschaftliche Inhalte, Texte, Fragestellungen, kei). Aber der Imperativ der freien Wissenschaft Denkfiguren oder Sprachverwendungen vorge- wirkt auch in Ländern, in denen sie keinen beson- bracht werden – und zwar nicht, weil diese wissen- deren Rechtsschutz genießt (wie Großbritanni- schaftlich falsch, unredlich oder betrügerisch sind, en, Frankreich, USA). Offenbar erschöpft sich die sondern weil sie im Widerspruch zu bestimmten normative Kraft der Wissenschaftsfreiheit nicht in „richtigen“ politischen und moralischen Normen einer positiv-rechtlichen Satzung. Jedoch erhellt stünden. Dem Ideal der Wissenschaftsfreiheit wer- der Blick in das deutsche Grundgesetz und die den also weitere Ideale, wie Gerechtigkeit, Gleich- Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ei- stellung, Antidiskriminierung oder Affirmation, nen wissensphilosophisch relevanten Zusammen- zur Seite oder fallweise auch vorangestellt. Auch hang von Wissenschaft, Wahrheit und Freiheit. hier scheint Wissenschaftsfreiheit, wiederum ver- Die Freiheit der Wissenschaft, Lehre und For- gleichbar mit Meinungsfreiheit, zu einem um- schung wird in Artikel 5 als ein defensives und kämpften Gebiet gesamtgesellschaftlicher Werte- konstitutives Individualrecht ohne Gesetzesvor- und Normendiskurse geworden zu sein.123456 behalt garantiert. Zwar entbindet die „Freiheit der Diese Verbindungen und Verwerfungen zwi- Lehre (…) nicht von der Treue zur Verfassung“ schen Wissenschaft und Gesellschaft verdeutli- (Art. 5 Abs. 3 Satz 2 GG). Auch sind verbeamtete chen, dass die freie Wissenschaft ein normatives Hochschullehrer:innen bei ihrer politischen Betäti- Ideal ist, dessen Voraussetzungen, Probleme und gung jederzeit einem Mäßigungs- und Zurückhal- Grenzen erst dann klar erkennbar und diskutier- tungsgebot unterworfen (§ 60 Abs. 2 Bürgerliches bar werden, wenn sich dieses Ideal in einer ins- Gesetzbuch, § 33 Abs. 2 Beamtenstatusgesetz). titutionellen Praxis und ihrem gesellschaftlichen Aber darüber hinaus können Einschränkungen der Kontext konkretisieren und bewähren muss. Wissenschaftsfreiheit nur durch eine Kollision mit gleichwertigen Rechtsgütern begründet werden.07 EIN ROBUSTES GRUNDRECHT Dieses robuste Abwehrrecht ist kein Jedermann- Recht. Es schützt die spezifischen Personen, Prak- Wissenschaftsfreiheit ist, jedenfalls in der deutschen tiken und Institutionen wissenschaftlicher Rede, Verfassungstradition, ein Rechtsbegriff. Zwar wird Forschung und Publikation zuvorderst gegen sie auch in vielen anderen Staaten postuliert (wie staatliche Einflussnahmen, die auf eine Steuerung, Italien, Schweiz, Österreich, Griechenland, Por- Kontrolle und Sanktionierung der Wissenschaft tugal), auch in solchen, in denen in den vergange- zielen. Was oder wer den Anspruch auf Wissen- nen Jahren massive Einschnitte in die universitäre schaftlichkeit systematisch verfehlt, darf ebenfalls nicht staatlich (ergo: rechtlich, politisch, gesell- 01 Vgl. Thomas Petersen, Forschungsfreiheit an deutschen schaftlich) entschieden werden, sondern bleibt den Universitäten, Februar 2020, www.kas.de/documents/252038/ Kontroll- und Sanktionsmechanismen der Wis- 7995358/Studie+des+Instituts+für+Demoskopie+Allensbach+ senschaftsgemeinschaft überantwortet. Alles, was zur+Forschungsfreiheit+an+deutschen+Universitäten.pdf/ nach Inhalt und Form als ernsthafter Versuch zur 01252a6a-38eb-a 647-fb74-7d39b1890382?t= 1581610619899. Ermittlung von Wahrheit anzusehen ist, ist durch 02 Vgl. Katrin Kinzelbach et al., Free Universities. Putting the Academic Freedom Index into Action, März 2020, www. die Wissenschaftsfreiheit geschützt, das heißt auch gppi.net/media/KinzelbachEtAl_2020_Free_Universities.pdf. Mindermeinungen, fehlerhafte Forschungsansätze, Siehe auch den Beitrag von Katrin Kinzelbach und Janika Span- unkonventionelle, unfruchtbare, erratische Hypo- nagel in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). thesen, Theorien und Positionen.08 03 Vgl. die Beiträge in Elif Özmen (Hrsg.), Wissenschaftsfrei- heit im Konflikt. Grundlagen, Herausforderungen und Grenzen, Berlin 2021. 07 Dazu gehören Menschenwürde, Leben, körperliche Unver- 04 Die Netzwerke verzeichnen jeweils Hunderte Wissenschaft sehrtheit, Gesundheit, Tier- und Umweltschutz. Selbstverständ- ler:innen als Mitglieder, siehe www.netzwerk-wissenschaftsfrei- lich fallen auch strafrechtlich relevante Meinungen, Theorien heit.de und https://netzwerk-wissenschaftsfreiheit.org. und Taten von Wissenschaftler:innen nicht unter den Schutz der 05 Das Folgende fasst Überlegungen aus einem früheren Wissenschaftsfreiheit, wie Volksverhetzung, Holocaustleugnung, Aufsatz zusammen, vgl. Elif Özmen, Epistemische Offenheit als Gewaltverherrlichung, Verleumdung, Gotteslästerung. Vgl. Ga- Wagnis. Über Wissenschaftsfreiheit und Wissenschaftsethos in briele Britz, Kommentierung zu Art. 5 Abs. 3 GG, in: Grundge- der Demokratie, in: Özmen (Anm. 3), S. 29–47. setz-Kommentar, hrsg. von Horst Dreier, Tübingen 2013. 06 Vgl. Jennifer Lackey (Hrsg.), Academic Freedom, Oxford 2018. 08 Vgl. BVerfGE 90, 1 (13). 05
APuZ 46/2021 Folglich verweisen die Idee der Wissenschaft klärungsuniversitäten Göttingen, Halle und Jena und die Idee der freien Wissenschaft aufeinander. spielt die Idee einer solchen allgemeinen libertas Wer die Freiheit der Wissenschaft einschränkt, cogitandi (Gedankenfreiheit) eine wichtige Rolle, missachtet oder verletzt, der gefährdet die Wissen- nicht nur für die Denk-, Lehr- und Zensurfrei- schaft als erkenntnisbezogene Praxis, aber auch als heit der Professoren, sondern auch für das Ideal Institution von Forschung, Lehre und Bildung, einer „republikanisch“ verfassten akademischen und nicht zuletzt als gesellschaftlich anerkanntes Gemeinschaft, die sich auf Prinzipien des frei- und gefördertes Subsystem. Einfacher gesagt: Er en Meinungsaustauschs und Disputs, der Kritik beschneidet das Bemühen um Wahrheit, das kon- und Toleranz gründet. Schon die Gelehrtenrepu- stitutiv für die Wissenschaft als solche ist. blik weiß also um einen vernünftigen Pluralismus wissenschaftlicher Meinungen, der eine genuin HISTORISCHES wissenschaftliche Streit- und Debattenkultur und (IN SYSTEMATISCHER ABSICHT) damit ein geteiltes Ethos voraussetzt. Die Prozesse der institutionellen Verfassung Die Freiheit der Wissenschaft ist mit einem spezi- und Regulierung, öffentlichen Anerkennung fischen Verständnis von Wissenschaft, Wissenwol- und Finanzierung der Wissenschaft an staatli- len, Objektivität und Wahrheitssuche verbunden, chen Universitäten und Akademien setzen sich dessen erkenntnistheoretische und methodologi- im 19. Jahrhundert fort. Als Leitbild fungiert das sche Kontexte sich in der frühneuzeitlichen Sci- Humboldt’sche Bildungsideal, das nicht nur die entia Nova herausgebildet haben. So stellt bereits heute vielzitierte Einheit von Forschung und Leh- der Philosoph Francis Bacon diese neue Wissen- re, sondern auch die Einheit von Wissenschaft und schaft ausschließlich in ihre eigenen epistemischen Freiheit beschwört. Wissenschaftsfreiheit ermög- Dienste. Sein berühmtes Ipsa scientia potestas est licht wissenschaftliche Auseinandersetzungen, („Wissen ist Können/Macht“) impliziert zwar, durch die neue, unkonventionelle, unbequeme dass ökonomische Nützlichkeit, technische An- und (in beiderlei Sinn) aufregende Perspektiven, wendbarkeit oder gesellschaftlicher Fortschritt Thesen und Überzeugungen entwickelt und vor- positive Nebenwirkungen wissenschaftlicher In- behaltlos diskutiert werden können. Der bevor- novationen sein können. Aber die Wissenschaft zugte Ort hierfür war und ist die Universität. zeitigt solche außerwissenschaftlichen Effekte ge- Aber ihre Wirkungen entfaltet die Wissenschafts- rade dann, wenn sie keinen außerwissenschaft- freiheit nicht nur innerhalb der charakteristischen lichen Interessen und Regeln unterworfen wird. Orte der Academia – Hochschulen, Forschungs- Diese paradox anmutende Erwartung ist uns auch instituten, Konferenzen, Wissenschaftsjourna- gegenwärtig noch geläufig: dass nämlich „gerade len –, sondern auch im Verhältnis zur Gesamt- eine von gesellschaftlichen Nützlichkeits- und po- gesellschaft. Insbesondere für die demokratische litischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen befreite Wissensgesellschaft gilt, dass ein grundsätzliches Wissenschaft dem Staat und der Gesellschaft am Vertrauen in die Selbstregulierungskräfte der frei- besten dient“.09 en Wissenschaft eine zentrale Quelle für ihre ge- In der europäischen Aufklärung wird die sellschaftliche Anerkennung ist. Freiheit der Wissenschaft zusammengeführt mit den anderen Freiheiten, die als Voraussetzung der ETHOS DER FREIEN menschlichen Vernunftfähigkeit gelten. So Im- WISSENSCHAFT manuel Kant: „als Gelehrter, der durch Schriften zum eigentlichen Publikum, nämlich der Welt, Die moderne Wissenschaft als systematisierte Me- spricht, mithin der Geistliche im öffentlichen Ge- thode und Praxis der Wissensbildung wird durch brauche seiner Vernunft, genießt einer uneinge- ein Ethos epistemischer Rationalität geleitet, das schränkte Freiheit, sich seiner eigenen Vernunft die Güte der Forschungstätigkeit und ihrer Er- zu bedienen und in seiner eigenen Person zu spre- gebnisse, mithin die Wissenschaftlichkeit der Wis- chen“.10 Für die Gründung der deutschen Auf- senschaft gewährleisten soll. Systematische Wi- derspruchsfreiheit, interne Kohärenz, Klarheit, 09 BVerfGE 47, 327 (370). aber auch Sparsamkeit und Eleganz, Genauig- 10 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, keit und Überprüfbarkeit sind bekannte und an- Akademie-Ausgabe VIII, A 485. erkannte Bestandteile dieses Ethos. Sie definie- 06
Wissenschaftsfreiheit APuZ ren erstens, was als good scientific practice und bindliche Grenzen der Wissenschaftsfreiheit nur wer als good scientist betrachtet werden muss. mit Blick auf die Rechtsordnung gezogen werden. Zum Zweiten sichert dieses Ethos die Autonomie Dennoch ist es nicht die Wissenschaftsfrei- und Unabhängigkeit der Wissenschaft von politi- heit selbst, sondern die durch Freiheit ermöglich- schen und gesellschaftlichen Interessenlagen. Zum te Konfrontation von Meinungen, Hypothesen, Dritten knüpft es mit seinen eigentümlichen epi- Theorien, ihre Konkurrenz zueinander und der stemischen und ethischen Werten und Tugenden argumentative Streit, die (idealiter) zu einem vor- gemeinschaftliche Bande zwischen den Wissen läufigen Sieg der besseren Überzeugung führen schaftler:innen. Bereits Robert Merton, der Be- und womöglich auch zu einer langfristigen Evo- gründer der Wissenschaftssoziologie, analysiert lution der Wahrheit. Daher erschöpft sich Wis- dieses sozio-epistemische Arrangement mit Be- senschaftsfreiheit nicht in einem negativen Frei- zug auf vier normative Prinzipien: Universalis- heitsbegriff im Sinne einer Freiheit von Zwang. mus, Uneigennützigkeit, Kommunitarismus und Sondern es geht auch um die positive Freiheit organisierter Skeptizimus. Seit dem practical turn zur Teilnahme und Teilhabe an der wissenschaft- der 1980er Jahre widmet sich die Wissenschafts- lichen Praxis der Verbesserung der eigenen und philosophie ausdrücklich dem Zusammenwirken der kollektiven Überzeugungen. Für das Gelin- von epistemischen, ethischen und soziopoliti- gen und Prosperieren dieser Praxis trägt auch jede schen Normen bei der Genese und der Rechtfer- Wissenschaftler:in Verantwortung. tigung wissenschaftlichen Wissens.11 Dem Ethos der Wissenschaft kommt dabei auch die Aufga- ÜBER DIE POLITISIERUNG be zu, das normative Fundament zu sichern, auf UND MORALISIERUNG DER dem sich der wissenschaftliche Disput, die harte WISSENSCHAFTSFREIHEIT argumentative Auseinandersetzung, ja, der wilde Streit um die richtige Meinung, These und Theo- Was lässt sich aus diesen Überlegungen zu den rie fruchtbar entfalten können. normativen Grundlagen der Wissenschaftsfrei- Die Anerkennung der normativen Vorausset- heit für die aktuellen Herausforderungen schlie- zungen des wissenschaftlichen Diskurses ist kon- ßen? Erstens: Die Frage nach den möglichen stitutiv für die förderlichen Effekte der Wissen- Grenzen der Wissenschaftsfreiheit lässt sich klar schaftsfreiheit. Diese Anerkennung kann aber und eindeutig beantworten. Für die wissenschaft- nicht erzwungen werden, das heißt, Wissenschafts- liche Tätigkeit und für wissenschaftliche Akteure freiheit ist, wie die Kommunikationsgrundrechte sind verbindliche Grenzen der Wissenschaftsfrei- im Ganzen, auf Voraussetzungen gegründet und heit nur mit Rückgriff auf die Rechtsordnung zu angewiesen, die durch dieses Recht nicht oder nur ziehen. Wissenschaft muss also durchaus politisch teilweise garantiert werden. Man könnte das, im und moralisch „korrekt“ sein, und zwar im Sinne Anschluss an das bekannte Böckenförde-Diktum, der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, als Wagnis der epistemischen Offenheit bezeich- dem Grundrechtsschutz und dem Strafrecht. Da- nen, das um der Freiheit willen eingegangen wird. gegen sind weitergehende Versuche der gesell- Das bedeutet einerseits, dass es für die Gewäh- schaftlichen, etwa politischen, religiösen, weltan- rung der Wissenschaftsfreiheit keine Rolle spielen schaulichen oder ideologischen, Einflussnahme, darf, ob die wissenschaftlichen Meinungen, Theo- Sanktionierung und Diskreditierung ebenso po- rien oder Personen krude, unliebsam, unbequem, pulär wie problematisch. Mit Blick auf das Gut bigott oder reaktionär sind, sich als unvernünftig, der freien Wissenschaft und der kritischen Uni- unbegründet oder abwegig erweisen oder als be- versität muss ein solches vermeintliches Recht, unruhigend, schockierend oder verletzend emp- akademische Freiheiten um anderer Werte willen funden werden. Für die wissenschaftliche Tätigkeit einzuschränken, zurückgewiesen werden. und für wissenschaftliche Akteure können ver- Zweitens scheint ebenso unbestreitbar, dass ein gemeinsames wissenschaftliches Ethos und eine geteilte akademische Kultur die Grundlage für die 11 Vgl. Robert K. Merton, A Note on Science and Democracy, Möglichkeit und den Bestand von epistemischen in: Journal of Legal and Political Sociology 1/1942, S. 115–26. Für einen Überblick über die aktuelle Debatte vgl. Gerhard Freiräumen bilden. Diese Freiräume, auf die Wis- Schurz/Martin Carrier (Hrsg.), Werte in den Wissenschaften. senschaft angewiesen ist und die durch die Rechts- Neue Ansätze zum Werturteilsstreit, Frankfurt/M. 2013. ordnung allein nicht garantiert werden können, 07
APuZ 46/2021 sind Räume der Gründe. Hier sind die rationalen Ablehnung von Einladungen, der Verwehrung von Gütekriterien hoch, die Vorwegnahme der Gegen- Unterstützung, in Protest, Kritik, Debatte, aber position zur eigenen und deren ernsthafte Reflexi- natürlich auch Fürsprache, Solidarisierungsbekun- on der wissenschaftliche Idealfall. Der Rede folgen dungen und Sicherheitsstrategien für die betroffe- gemeinhin Kritik und Gegenrede; eine sachbezoge- nen Personen. Nichts davon widerspricht der Frei- ne Beharrlichkeit (statt Ablenkung, Themenwech- heit der Wissenschaft grundsätzlich. sel, bullshitting) ist der diskursive Standard. Daher Viertens fallen Meinungsäußerungen von ist die „große Gereiztheit“, die Teile der aktuellen Nicht-Wissenschaftler:innen in akademischen Debatte um Wissenschaftsfreiheit charakterisiert,12 Kontexten und Universitäten nicht unter den der Wissenschaft wesensfremd, ebenso wie antago- Schutz der Wissenschaftsfreiheit. Und natürlich nistische Selbstverortungen (links vs. rechts, woke verdient auch nicht jede Stimme und jede Per- vs. boomer, Freunde vs. Feinde der Wissenschaft). son akademischen Respekt. Für Nicht-Wissen Hier handelt es sich offenbar um Versuche der – schaftler:innen, also Personen aus Politik, Kunst, hochproblematischen – Politisierung und Morali- Kultur, Medien, aus NGOs und bestimmten Be- sierung der Wissenschaftsfreiheit selbst. rufsgruppen, die in die Hochschulen eingeladen Drittens liegt die Verantwortung für den Be- werden, gibt es daher auch andere und weit mehr stand und das Prosperieren der spezifischen safe Möglichkeiten der Grenzziehung. Das gilt insbe- spaces der Wissenschaft auch bei der individuel- sondere für Positionen und Provokationen, die len Wissenschaftler:in. So steht es ihr beispiels- dem akademischen Geist und der freiheitlich-de- weise frei, Politiker jeglicher Couleur an die Uni- mokratischen Grundordnung nicht gerecht wer- versität einzuladen. Ebenso steht es aber allen den. Dabei spielen politische oder ethische Hal- Mitgliedern der Universität (also auch Studieren- tungen, wie sie in der aktuellen Debatte in einer den und der Hochschulleitung) frei, dieses zu hin- antagonistischen Sprache beschworen werden, terfragen. Auch harscher Widerspruch, Kritik und gerade keine Rolle. Mithin geht es gar nicht um Contra verletzen die Wissenschaftsfreiheit nicht. „rechte“ und „reaktionäre“ (oder „linke“ und Das Recht der freien Wissenschaft ist im Übrigen „marxistische“), sondern um rassistische, sexisti- ein Recht, das man auf eigenes Risiko wahrnimmt sche oder andere gruppenfeindliche Äußerungen und das kein Recht auf Affirmation und Solidari- und Handlungen, die in der Universität ebenso tät nach sich zieht. Daher muss man sich gegebe- wenig einen Platz haben sollten wie in der libe- nenfalls fragen lassen, warum man die Einladung ralen und pluralistischen Gesellschaft im Ganzen. ausgesprochen hat, was der beabsichtigte wissen- Und schließlich fünftens: Die Frage nach schaftliche, didaktische oder diskursive Zweck und den Grundlagen, Herausforderungen und mög- erhoffte Ertrag einer solchen Einladung ist, auch, lichen Grenzen der Wissenschaftsfreiheit weist ob dieser Zweck gerechtfertigt, redlich, legitim über die Academia hinaus, nicht zuletzt, weil sich und akzeptabel erscheint. Die Kritiker:innen müs- hier im Kleinen gesamtgesellschaftliche Diskur- sen sich ebenfalls Fragen stellen beziehungswei- se und Dissense wiederholen und zuspitzen. Das se gefallen lassen: Welche Reaktionen lassen sich ist einerseits zu begrüßen, denn die herausragen- verantwortungsbewusst begründen im Lichte der de Bedeutung der Wissenschaften und kritischen Wissenschaftsfreiheit und der epistemischen Hoff- Hochschulen in der und für die Demokratie wird nungen, die mit ihr verbunden sind? Das Spektrum dadurch offenkundig. Andererseits droht eine an Reaktionen auf die prominenten Fälle umfasst zunehmende Moralisierung und Politisierung der zum einen Verbotsforderungen, Verhinderungen Wissenschaftsfreiheit. Daher glaube ich, dass sich von Veranstaltungen durch Blockaden und Pfeif- die Wissenschaftsgemeinschaft selbst gründlicher konzerte, körperliche Angriffe und sozialmediale über die Gelingensbedingungen guter Wissen- Drohungen und Denunziationen. Ihre Unverträg- schaft – und das heißt auch: der Wissenschafts- lichkeit mit der Idee der freien Wissenschaft und freiheit – verständigen muss. der kritischen Universität liegt auf der Hand. Ver- träglichere mögliche Reaktionen bestehen in der ELIF ÖZMEN ist Professorin für Philosophie mit den Schwerpunk- 12 Ich übernehme den Ausdruck von Bernhard Pörksen, Die ten theoretische Ethik und politische Philosophie an große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung, München der Justus-Liebig-Universität Gießen. 2021. elif.oezmen@phil.uni-giessen.de 08
APuZ 46/2021 DIE POLITISCHE GRAMMATIK DER WISSENSCHAFTSFREIHEIT Klaus Ferdinand Gärditz Das Grundgesetz weist der Wissenschaftsfreiheit Eine spezielle Verfassungsgarantie der Wissen- einen besonderen Schutz zu. In Artikel 5 Ab- schaftsfreiheit findet sich erstmals in Paragraf 152 satz 3 Satz 1 GG heißt es: „Wissenschaft, For- der Paulskirchenverfassung (1848).05 Auch wenn schung und Lehre sind frei“. Dahinter verbirgt diese Verfassung letztlich scheiterte, diente sie doch sich ein Grundrecht, das in politischen Diskur- als verfassungspolitischer Steinbruch für nachfol- sen oftmals zu einer akademischen Meinungs- gende Konstitutionalisierungsprozesse. Beispiels- oder Redefreiheit verzwergt wird, aber eigentlich weise fand das Grundrecht der freien Wissenschaft als politisches Grundrecht vor allem Schutzfunk- und ihrer Lehre in Artikel 20 der Preußischen Ver- tionen gegen die Risiken politisierender Mei- fassung (1850) Eingang, damit – so ein zeitgenössi- nungskämpfe erfüllt. Die Unverfügbarkeit wis- scher Kommentator – „die Wissenschaft und ihre senschaftlicher Richtigkeit für den Staat ist das Ausübung fortan keine andere Schranken kennen Ergebnis eines langen Prozesses, Wahrheitsfragen sollen, als ihre eigene Wahrheit und, sofern sie die- ganz allgemein als Bezugspunkt öffentlicher Ge- selbe verkennen und überschreiten, die Heiligkeit walt zu neutralisieren. des Strafgesetzes“.06 Anfangs zeitigte das freilich nur geringe praktische Konsequenzen.07 Im posi- ENTSTEHUNG EINES NICHT tiven Verfassungsrecht verankert wurde die Wis- SELBSTVERSTÄNDLICHEN senschaftsfreiheit dann in Artikel 142 der Weima- GRUNDRECHTS rer Reichsverfassung (1919), an deren Vorbild sich wiederum das Grundgesetz (1949) orientierte. Zu den ursprünglichen Menschenrechten des re- Eine selbstständige – zur Meinungsfreiheit ab- volutionären 18. Jahrhunderts gehörte die Wis- gegrenzte – Wissenschaftsfreiheit taucht erst lange senschaftsfreiheit nicht. Die Grundrechtstexte nach dem Zweiten Weltkrieg außerhalb Deutsch- der atlantischen Revolutionen – die amerikani- lands in Verfassungen auf. Selbstverständlich ist sche Bill of Rights (1789/1791), die französische eine eigenständige Wissenschaftsfreiheit auch im Déclaration des Droits de l’Homme et du Cito- internationalen Vergleich bis heute nicht, kennen yen (1789) und die revolutionäre Constitution doch zahlreiche Verfassungen und die traditions- d’Haïti (1805) – enthalten keine entsprechende reichen Grundrechtskataloge – von der Allgemei- Garantie. Die aus Vulnerabilitätserfahrungen ge- nen Erklärung der Menschenrechte (1948) über sättigte Überzeugung, dass eine freie Gesellschaft die Europäischen Menschenrechtskonvention nicht ohne rationales Wissen bestehen kann, ist (EMRK, 1950) bis zum UN-Pakt über bürgerliche freilich älter als eine moderne juridische Verfas- und politische Rechte (IPbpR, 1966) – keine spe- sungsidee.01 Die Idee einer selbstständigen Wis- zifische Wissenschaftsfreiheit. Wissenschaft wird senschaftsfreiheit, die sich von der allgemeinen vielmehr durchweg als Teil der Meinungsfreiheit Presse- und Meinungsfreiheit emanzipiert, hat (Art. 10 EMRK; Art. 19 IPbpR) behandelt. Die sich indes erst vergleichsweise spät herausgebil- Europäische Union ist hingegen dem deutschen det. Das Freiheitsrecht ist als Reaktion auf restau- Modell einer eigenständigen Wissenschaftsfreiheit rative Bewegungen entstanden02 und ein Produkt gefolgt (Art. 13 EU-Grundrechtecharta). des Vormärz,03 also sogar ein spezifisch deutscher Beitrag zur transnationalen Ausformung von POLITISCHE FUNKTIONEN Grundrechtskatalogen.04 Die Wissenschaftsfrei- heit war insoweit von Anfang an zudem ein poli- Die politische Funktion einer selbstständigen Wis- tisches Grundrecht. senschaftsfreiheit, die über bloße Meinungsfreiheit 10
Wissenschaftsfreiheit APuZ hinausgeht, liegt darin, entpolitisierte Prozesse der keit einer Gesellschaft bemisst sich nicht lediglich Wahrheitsfindung gegen politischen Zugriff zu ar- an den Inhalten ihrer tragenden Normen oder ihrer mieren. Wenn sich politische Herrschaft auch mit- Güterbereitstellung, sondern entscheidend auch an tels eines impliziten Anspruchs auf Rationalität der Offenheit ihrer epistemischen6789 Struktur.10 Die legitimieren will, kann sie versucht sein, wissen- Wissenschaftsfreiheit bleibt zwar durchaus mit der schaftliche Wahrheitskommunikation zu12345 kontrol- Erwartung eines gesellschaftlichen Nutzens ver- lieren.08 Dies erzeugte Schutzbedarf für diejeni- knüpft. Dieser ist jedoch nicht erzwingbar und ge- gen, die Richtigkeit auf rationale Gründe stützen rät gerade dann in Gefahr, wenn sich kurzsichtige und damit Machtansprüche hinterfragen können. Hoffnungen auf Anwendungswissen über die lang- Es gehört heute zum inneren Selbstverständnis fristigen Freiheitsbedingungen verlässlicher Er- rationaler Herrschaft freiheitlicher Staatsgewalt, kenntnis hinwegsetzen. Schon Dahlmann schleu- Macht nur im Bewusstsein der eigenen Fehlbar- derte dem preußischen Kultusminister Friedrich keit zu verwalten und die Suche nach Wahrheit Eichhorn (1779–1856) als Reaktion auf dessen An- freien gesellschaftlichen Institutionen anzuver- sinnen 1843, zugunsten einer dominant berufsbe- trauen. Die Freiheit der Wissenschaft schützt da- zogenen Ausrichtung in die Lehre einzugreifen, her davor, dass der Staat mit hoheitlicher Gewalt entgegen: Der Hof „wünscht Kenntnisse für seine selbst Teilnehmer des Wissenschaftsprozesses Untertanen, aber keine Wissenschaften“.11 wird und über Wahrheiten autoritativ entscheidet, Wissenschaft ist potenzielle Gegenöffentlich- also Richtigkeit durch rohe Macht ersetzt. Sehr keit mit einem Gemeinwohlanspruch,12 der sich früh hatte dies das liberale Urgestein des Vormärz gerade auch gegen dominante wie kurzsichtige Friedrich Christoph Dahlmann (1785–1860), einer Nutzeninteressen der Gesellschaft richten kann. der „Göttinger Sieben“, die 1837 gegen die Aufhe- Auch wenn der demokratische Rechtsstaat keine bung des Staatsgrundgesetzes im Königreich Han- „Untertanen“ mehr kennt, hat sich die Gefahr ei- nover protestierten und daraufhin entlassen wur- nes rein instrumentellen Wissenschaftsverständ- den, gesehen: Die „wissenschaftlichen Wahrheiten nisses keineswegs erledigt.13 Das Bundesverfas- sind keine Gegenstände der Gesetzgebung“.09 sungsgericht hat die davon ausgehenden Risiken Freie Wissenschaft erfüllt zentrale Funktionen in die Teleologie der Wissenschaftsfreiheit ein- für eine freie Gesellschaft, die weit über die prak- gepreist. Zugunsten der Wissenschaftsfreiheit tischen Erträge möglicher Anwendungen von For- sei „stets der diesem Freiheitsrecht zugrundelie- schungsergebnissen hinausgehen. Die Freiheitlich- gende Gedanke mit zu berücksichtigen, daß ge- rade eine von gesellschaftlichen Nützlichkeits- 01 Vgl. Peter Weingart, Die Stellung der Wissenschaft im demokratischen Staat, in: Martina Franzen et al. (Hrsg.), Auto- 06 Ernst Schwartz, Die Verfassungsurkunde für den Preußi- nomie revisited. Beiträge zu einem umstrittenen Grundbegriff in schen Staat, Breslau 1898, S. 83. Wissenschaft, Kunst und Politik, Weinheim 2014, S. 305–329, 07 Vgl. Johannes Wischmeyer, Theologiae Facultas. Rahmen- hier S. 306 f. bedingungen, Akteure und Wissenschaftsorganisation protes- 02 Vgl. Wolfgang Löwer, Freiheit wissenschaftlicher Forschung tantischer Universitätstheologie in Tübingen, Jena, Erlangen und und Lehre, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Hand- Berlin 1850–1870, Berlin 2008, S. 83 f. buch der Grundrechte, Bd. IV, Heidelberg 2011, § 99 Rn. 7 f. 08 Vgl. auch Peter Weingart, Die Wissenschaft der Öffent- 03 Vgl. Torsten Wilholt, Die Freiheit der Forschung. Begründun- lichkeit. Essays zum Verhältnis von Wissenschaft, Medien und gen und Begrenzungen, Frankfurt/M. 2012, S. 213 ff. Öffentlichkeit, Weilerswist 2005, S. 52 ff. 04 Vgl. Löwer (Anm. 2), § 99 Rn. 4 f. (auch zur unergiebigen 09 Friedrich Christoph Dahlmann, Die Politik, auf den Grund Bestimmung des Art. 17 der Belgischen Verfassung von 1830). und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt, Leipzig 05 Zur Diskussion der Vorentwürfe Wolfgang Schrödter, 18473, S. 321. Die Wissenschaftsfreiheit des Beamten. Dargestellt am Recht 10 Vgl. Klaus Ferdinand Gärditz, Umwelt-Aufklärung der der wissenschaftlichen Nebentätigkeit, Berlin 1974, S. 54 f. Öffentlichkeit als wissenschaftliche Wahrheitspflege?, in: Euro- Der vorausgegangene „Siebzehnerentwurf“ wurde sogar im päisches Umwelt- und Planungsrecht 2/2017, S. 112–122, hier Rahmen eines US-amerikanischen Communiqués ins Englische S. 124. übersetzt. Die Wissenschaftsfreiheit taucht dort – soweit er- 11 Abgedruckt in: Anton Springer, Friedrich Christoph Dahl- sichtlich – erstmals als englischer Begriff „liberty of science“ auf. mann, Zweiter Theil, Leipzig 1872, S. 131 f. Abgedruckt bei Jörg-Detlef Kühne, Bürgerrechte und Deutsches 12 Vgl. Jürgen Mittelstraß, Wissenschaft als Lebensform. Verfassungsdenken 1848–1871, in: Hermann Wellenreuther/ Reden über philosophische Orientierungen in Wissenschaft und Claudia Schnurmann (Hrsg.), Die Amerikanische Verfassung und Universität, Frankfurt/M. 1982, S. 24. Deutsch-Amerikanisches Verfassungsdenken. Ein Rückblick über 13 Vgl. Udo Di Fabio, Coronabilanz. Lehrstunde der Demokra- 200 Jahre, London u. a. 1991, S. 230–266, hier S. 232 f. tie, München 2021, S. 92 f. 11
APuZ 46/2021 und politischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen für grosso modo rationale Entscheidungen bietet, befreite Wissenschaft dem Staat und der Gesell- bleibt die Wissenschaft indirekt über handlungs- schaft im Ergebnis am besten dient“.14 Dies er- orientierte Expertise am demokratischen Prozess fordert Autonomie. „Damit sich die Wissenschaft in sehr vielschichtiger Form beteiligt.20 ungehindert an dem für sie kennzeichnenden Be- Wissenschaft als Gegenöffentlichkeit ist da- mühen um Wahrheit ausrichten kann, ist sie zu durch ein spezielles Element externer Ratio- einem von staatlicher Fremdbestimmung frei- nalitätskontrolle im politischen Prozess. Dem en Bereich persönlicher und autonomer Verant- Wahlakt nachlaufende Kontrolle und Kritik sind wortung des einzelnen Wissenschaftlers erklärt zentrale Elemente des repräsentativ-demokrati- worden“.15 Dass von politischer Nützlichkeits- schen Prozesses.21 Eine Funktion „politischer“ abstinenz tatsächlich gesellschaftliche Erträge Grundrechte ist es, demokratische Teilhabe zu er- zu erwarten sind, mag das Beispiel der mRNA- zwingen.22 Wissenschaft ist aufgrund der diszip- Impfstoffentwicklung in der Pandemie ver- linären Grenzen und der hohen Zugangshürden deutlichen. Der anwendungsbezogen-unter- ein struktureller „Minderheitenbelang“. Die Wis- nehmerische Erfolg gründet hier auf einem seit senschaftsfreiheit sichert daher auch eine kommu- Jahrzehnten angewachsenen Fundament solider nikative Teilhabe an der demokratischen Öffent- Grundlagenforschung, für die sich zuvor nur eine lichkeit. Die Kraft des besseren Arguments kann kleine Fachcommunity interessierte.16 Politik im Idealfall unter Handlungsdruck setzen, Politik und wissenschaftliche Gegenöffent- um dem Vorwurf der Unvernunft zu entgehen. lichkeit stehen gerade in einem freiheitlichen Ge- Aktuell zeigt dies vor allem der Klimaschutz. meinwesen nicht beziehungslos nebeneinander. Auch demokratische Staatsorgane werden aus po- KEINE AKADEMISCHE litischen Gründen – nicht zuletzt zur Rechtfer- MEINUNGSFREIHEIT tigung von Grundrechtseingriffen – im Großen und Ganzen rationale Ziele verfolgen müssen. Die Mit der Trennung der Meinungsfreiheit (Art. 5 notwendige Grundskepsis des rationalen Staa- Abs. 1 Satz 1 GG) von der Wissenschaftsfreiheit tes17 schließt die Einsicht in die eigene Fehlbarkeit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) setzt das Grundge- ebenso ein wie die Anerkennung externer Wahr- setz normativ voraus, dass wissenschaftliche For- heiten, die politischer Gestaltung entzogen sind.18 schung und wissenschaftliche Lehre von sonsti- Politik kann ihren Integritätsanspruch nur auf- ger (insbesondere politischer) Kommunikation rechterhalten und das Versprechen, die Welt auch unterscheidbar und etwas anderes als bloße Mei- ändern zu können, nur einlösen, wenn gerade die nungsäußerungen sind.23 Dies war im Parlamen- praktischen Grenzen, die dieser Fähigkeit gezo- tarischen Rat noch keineswegs selbstverständlich. gen sind, respektiert werden.19 Der Klimawandel Der wirkmächtige „Bergsträsser-Entwurf“ eines lässt sich eben nicht durch Mehrheitsbeschluss ab- Grundrechtskatalogs vom September 1948 woll- schaffen. Politische Verfahren, insbesondere der Gesetzgebung, müssen daher fortwährend auch den Stand der Wissenschaft aufgreifen. Solange der 20 Filigran Laura Münkler, Expertokratie. Zwischen Herr- schaft kraft Wissens und politischem Dezisionismus, Tübingen demokratische Prozess deliberativ funktioniert 2020. und der öffentliche Diskurs hinreichende Gewähr 21 Vgl. Horst Dreier, Das Problem der Volkssouveränität, in: Pirmin Stekeler-Weithofer/Benno Zabel (Hrsg.), Philosophie der Republik, Tübingen 2018, S. 37–56, hier S. 49 f. 14 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 22 Vgl. Oliver Lepsius, Versammlungsrecht und gesellschaftli- 47, 327 (370); zuletzt BVerfGE 141, 143 (169). che Integration, in: Anselm Doering-Manteuffel/Bernd Greiner/ 15 BVerfGE 47, 327 (367). ders. (Hrsg.), Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsge- 16 Vgl. Ulrich Dirnagl, Tu felix Britannia – Notizen aus der richts 1985, Tübingen 2015, S. 113–165, hier S. 123. deutschen Corona-Studien-Provinz, in: Laborjournal 9/2021, 23 Vgl. Claus Dieter Classen, Wissenschaftsfreiheit außer- S. 26 f., hier S. 27. halb der Hochschule: Zur Bedeutung von Artikel 5 Absatz 3 17 Vgl. Matthias Herdegen, Staat und Rationalität, Paderborn Grundgesetz für ausseruniversitäre Forschung und Forschungs- 2010, S. 33 ff. förderung, Tübingen 1994, S. 73, S. 79 f.; Klaus Ferdinand 18 Vgl. Christoph Möllers, Demokratie – Zumutungen und Gärditz, Wissenschaftsunwürdigkeit? Zu Begriff und Folgen des Versprechen, Berlin 2008, S. 45. wissenschaftlichen Fehlverhaltens in der Rechtsprechung des 19 Vgl. Hannah Arendt, Between Past and Future, New York Bundesverwaltungsgerichts, in: Wissenschaftsrecht 2/2014, 1968, S. 227, S. 263 f. S. 119−149, hier S. 136, S. 138. 12
Wissenschaftsfreiheit APuZ te noch die (mit Misstrauen beäugte) Wissenschaft nen Tests der Richtigkeit unabhängig von persön- in die Meinungsfreiheit mit ihrem schwächeren lichen Überzeugungen zu beugen. Freie Wissen- Schutzniveau integrieren.24 Am Ende hat sich die schaft hat insoweit auch eine antirelativistische liberale Verfassungstradition eines selbstständigen Seite, weil sie trotz ihrer epistemischen Offen- Freiheitsgrundrechts durchgesetzt, das einer eige- heit in die Zukunft und der unhintergehbaren Be- nen Teleologie folgt und im Übrigen über die wis- grenztheit menschlicher Erkenntnis die Existenz senschaftlichen Kommunikationsprozesse hinaus einer Wirklichkeit oder zumindest eines rationa- auch die forschende Tätigkeit im Vorfeld schützt. len argumentativen Regelwerks anerkennen muss. Zwar teilt die Meinungsfreiheit aus verfas- Wissenschaftliche Erkenntnisprozesse las- sungstheoretischer Sicht die relativistischen Prä- sen sich damit, ohne soziale Macht zu ignorieren, missen einer pluralistischen Demokratietheorie, auch nicht auf schlichte Machtfragen reduzieren, die grundsätzlich jede meinungsbildende Positi- wie dies bisweilen eine Rhetorik der Postmoder- on als formal gleichwertig zulässt und auf die Ver- ne suggeriert. Zugleich liegt in der strikten Bin- nunft eines offenen, pluralistischen und relati- dung an Methoden und fachliche Standards auch vistischen Diskurses vertraut, Unsinniges und ein egalitäres Moment. Jeder Mensch kann sich Fehlgeleitetes zu erledigen.25 Auf eine konkrete- (jedenfalls theoretisch) ohne Ansehung der Per- re Ebene heruntergebrochen zeigen sich gleich- son (namentlich unabhängig von formaler Aus- wohl deutliche Unterschiede in der politischen bildung, unveräußerlichen Merkmalen und Iden- Grammatik.26 Meinungsfreiheit ist in besonde- tität) gleichberechtigt an wissenschaftlichen rem Maße auch eine Freiheit zur Irrationalität, Kommunikationsprozessen beteiligen, wenn die- ein Grundrecht des Emotionalen, des Unreflek- se Standards eingehalten werden. Dementspre- tierten. Meinungen lassen sich daher auch nicht chend unterscheiden sich Wissenschafts- und nach Qualitätskriterien beurteilen.27 Die Wissen- Meinungsfreiheit auch signifikant in ihren Ent- schaftsfreiheit weist demgegenüber eine besonde- stehungsbedingungen und den damit verbunde- re Bindung an Standards fachlicher Rationalität nen Kosten.30 Meinung ist billig zu haben. auf, die überprüfbare Erkenntnis von Wirklich- Relativistische Prämissen des demokratischen keit in einem methodisch disziplinierten Kons Meinungskampfes lassen sich daher nicht unbe- truktionsprozesses sicherstellen, der hinreichend sehen auf das Wissenschaftssystem übertragen, objektiviert. Wissenschaft benötigt daher ein in- ohne dessen spezifische Rationalisierungsfunkti- härentes „Weltbild“,28 eine „Ehrfurcht vor der onen preiszugeben. Die Wissenschaftsfreiheit ist Wahrheit“,29 sprich: eine Bereitschaft, sich exter- keine schlichte akademische Redefreiheit.31 Das müssen auch Universitäten beachten, die ver- fassungsrechtlich geschützte Institutionen freier 24 Siehe den Katalog der Grundrechte, Anregungen von Forschung und Lehre sind, nicht Foren des belie- Dr. Bergsträsser als Berichterstatter, v. 21. 9. 1948, abgedruckt in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentari- bigen politischen Meinungskampfes. Politisches sche Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/I: Ausschuß für Gepolter wird nicht wissenschaftliche Lehre, Grundsatzfragen, München 1993, S. 15–27, hier S. 23 f. wenn man sie vom Bierzelt in den Hörsaal ver- 25 Vgl. Hans Kelsen, Wissenschaft und Demokratie (1937), wie- lagert. Ex-Banker beispielsweise, die ihre irrlich- derabgedruckt in: Verteidigung der Demokratie, hrsg. v. Matthias ternden Thesen rassistischer Bestseller vorstellen Jestaedt/Oliver Lepsius, Tübingen 2006, S. 238–247, hier S. 241. 26 Vgl. Klaus Ferdinand Gärditz, Freie Wissenschaft als wollen, betreiben keine Wissenschaft und gehö- Gelingensbedingung der politischen Willensbildung in der ren nicht an eine Universität, die keine Mehr- Pandemie, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Tübingen 2021, zweckhalle für kruden Klamauk ist. S. 505–534, hier S. 511 ff. 27 Vgl. Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und SCHUTZGEHALT Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, Heidelberg 20113, § 190 Rn. 310; Sebastian Müller-Franken, Mei- Wissenschaft ist, so das Bundesverfassungsge- nungsfreiheit im freiheitlichen Staat, Paderborn 2013, S. 31 f. richt, „was nach Inhalt und Form als ernsthaf- 28 Plastisch Max Planck, Die Einheit des physikalischen Welt- ter und planmäßiger Versuch zur Ermittlung bildes, 1908, in: ders., Vorträge und Erinnerungen, Berlin u. a. 19495, S. 28 ff. 29 Lise Meitner in einem Brief an Otto Hahn, wiedergegeben 30 Vgl. Wilholt (Anm. 3), S. 259 f. in: Dietrich Hahn (Hrsg.), Lise Meitner: Erinnerungen an Otto 31 Vgl. Joan Wallach Scott, Knowledge, Power, and Academic Hahn, Stuttgart 2005, S. 148–151, hier S. 151. Freedom, New York 2019, S. 114 ff. 13
APuZ 46/2021 von Wahrheit anzusehen ist“.32 Wahrheit ist hier gen lässt. Selbstverständlich muss niemand dem Chiffre für die Rationalisierungsleistungen me- Mainstream der Wissenschaft folgen; Abweichun- thodengeleiteter Erkenntnisprozesse. Die inne- gen sind gerade Triebfeder wissenschaftlichen ren Grenzen der Wissenschaftsfreiheit sind nicht Fortschritts. Die Wissenschaftlichkeit von For- epistemologisch, sondern verfassungsrechtlich- schung und Lehre zeigt sich aber daran, ob sich funktionsbezogen zu bestimmen, um den maß- ein Werk mit dem Erkenntnisstand seiner Diszi- geblichen Akteuren angemessenen Freiheits- plin seriös auseinandersetzt und vorherrschende schutz zukommen zu lassen. Es ist hingegen Thesen mit qualifiziert zu plausibilisierenden Ar- nicht Funktion des Grundrechts, eine bestimmte gumenten zu widerlegen versucht. Ihren Wissen- Wissenschaftstheorie zu propagieren.33 Die Wis- schaftscharakter verlieren Forschung und Lehre senschaftsfreiheit schützt vielmehr gerade auch erst, wenn Qualitätskriterien nicht nur punktu- die Offenheit des wissenschaftstheoretischen ell, sondern systematisch verfehlt werden. „Das Selbstfindungsprozesses über Möglichkeiten und ist insbesondere dann der Fall, wenn die Aktivi- Grenzen von Erkenntnis. täten des betroffenen Hochschullehrers nicht auf Von Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 GG geschützt Wahrheitserkenntnis gerichtet sind, sondern vor- sind als „Kernbereich wissenschaftlicher Betäti- gefaßten Meinungen oder Ergebnissen lediglich gung (…) die auf wissenschaftlicher Eigengesetz- den Anschein wissenschaftlicher Gewinnung und lichkeit34 beruhenden Prozesse, Verhaltensweisen Nachweislichkeit verleihen“.38 Dafür könne „die und Entscheidungen bei der Suche nach Erkennt- systematische Ausblendung von Fakten, Quel- nissen, ihrer Deutung und Weitergabe“.35 Wis- len, Ansichten und Ergebnissen, die die Auffas- senschaft muss immer auch Gegenauffassungen, sung des Autors in Frage stellen, ein Indiz sein“.39 methodisch Abweichendes und Neues sowie ra- Keine Wissenschaft sind beispielsweise Kommu- dikale Brüche zulassen. Sie muss gelegentlich ir- nikationsbeiträge, die schon kein rationales Er- ritieren. Die individualfreiheitsgrundrechtliche kenntnisziel verfolgen, etwa weil sie rationale Er- Offenheit des Wissenschaftsbegriffs erfordert es kenntnis überhaupt nicht für möglich erachten daher, sich zunächst einmal auf eine Disziplin be- oder politische Glaubensbekenntnisse mit Fuß- ziehungsweise einen Forschungsansatz einzulas- noten sind, die Wissenschaftlichkeit nur der äu- sen, präzisen Bestand aufzunehmen, offen mit ßeren Form nach simulieren. irritierenden Thesen sowie Methoden umzuge- hen und ein plausibles Anliegen vorläufig ernst ROLLE DES STAATES zu nehmen.36 Namentlich entfällt der Schutz der Wissenschaftsfreiheit nicht, wenn „einem Werk Der Staat befindet sich hierbei in einem Dilem- in innerwissenschaftlichen Kontroversen zwi- ma, weil er einerseits entscheiden muss, ob et- schen verschiedenen inhaltlichen oder methodi- was als Wissenschaft unter den Grundrechtstat- schen Richtungen die Wissenschaftlichkeit be- bestand fällt, ihm andererseits aber hoheitliche stritten wird“.37 Bewertungen von Wissenschaft gerade wegen der Aus dem Tatbestand der Wissenschaftsfrei- grundrechtlichen Schutzfunktion des Artikels 5 heit lassen sich daher nur solche Arbeiten aus- Absatz 3 Satz 1 GG entzogen bleiben. Wissen- scheiden, deren wissenschaftliche Tragfähigkeit schaftliche Aussagen lassen sich nur durch wis- sich positiv unter Heranziehung allgemein aner- senschaftliche Argumente falsifizieren, nicht kannter Rationalitätsstandards evident widerle- durch politische Macht.40 Behörden und Gerich- te müssen also einerseits prüfen können, ob ein bestimmtes Verhalten gemessen an Artikel 5 Ab- 32 BVerfGE 35, 79 (113); 47, 327 (367). Zurückgehend auf satz 3 Satz 1 GG begrifflich überhaupt wissen- Rudolf Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: Ver- öffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer, Bd. 4, Berlin 1928, S. 44–73, hier S. 67. 38 BVerfGE 90, 1 (13); Entscheidungen des Bundesverwal- 33 Siehe BVerfGE 35, 79 (112). tungsgerichts (BVerwGE) 102, 304 (311). 34 Siehe hierzu BVerfGE 35, 79 (112); 47, 327 (367, 368); 90, 39 BVerfGE 90, 1 (13). 1 (11 f.). 40 Vgl. Andreas Voßkuhle, Expertise und Verwaltung, in: Hans- 35 BVerfGE 111, 333 (354). Heinrich Trute et al. (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur 36 Vgl. Susanne Baer, Vertrauen – Faire Urteile in Wissen- Tragfähigkeit eines Konzepts, Tübingen 2008, S. 637–663, hier schaft und Recht, Göttingen 2013, S. 24. S. 651; Peter Weingart, Wissenschaftssoziologie, Bielefeld 2003, 37 BVerfGE 90, 1 (13). S. 84. 14
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