AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Gentechnik - BPB

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72. Jahrgang, 34–35/2022, 22. August 2022

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
    Gentechnik
        Juliette Irmer                           Sigrid Graumann
    VON A WIE „ADENIN“                    ENDE DES SCHICKSALS?
   BIS Z WIE „ZÜCHTUNG“
                                                Katharina Schreiber
        Samia Salem                            RECHT VS.
 AM ANFANG WAR DIE ERBSE                 NATURWISSENSCHAFTEN?
        Thomas Thum                                Ortwin Renn
  „WIR DÜRFEN DA NOCH                           DIE GROẞ E
   SEHR VIEL ERWARTEN“.                      VERUNSICHERUNG
      EIN GESPRÄCH

                                                                          Der
                                                                      APuZ-Podcast

                  ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                                                                                    dcast
                       FÜR POLITISCHE BILDUNG                         bpb.de/apuz-po

              Beilage zur Wochenzeitung
Gentechnik
                                    APuZ 34–35/2022
JULIETTE IRMER                                     SIGRID GRAUMANN
VON A WIE „ADENIN“ BIS Z WIE „ZÜCHTUNG“.           ENDE DES SCHICKSALS?
EINE EINFÜHRUNG IN DIE GENTECHNOLOGIE              GENOMEDITIERUNG IN DER MEDIZIN
Durch die „Genschere“ CRISPR/Cas9 ist der          Genomeditierung ermöglicht viel zielgenauere,
Mensch heute mehr denn je in der Lage, gezielt     präzisere und effektivere gentechnische Verän-
in das Erbgut aller Organismen einzugreifen,       derungen als bislang – auch an menschlichen Zel-
auch in sein eigenes. Vielen Menschen ist das      len. Aber welche Anwendungen der Gentechnik
nicht geheuer. Dabei wird Gentechnologie in        am Menschen sind aus naturwissenschaftlicher
vielen Bereichen seit Jahrzehnten angewendet.      und ethischer Sicht überhaupt zu verantworten?
Seite 04–10                                        Seite 21–26

SAMIA SALEM                                        KATHARINA SCHREIBER
AM ANFANG WAR DIE ERBSE.                           RECHT VS. NATURWISSENSCHAFTEN?
KLEINE GESCHICHTE DER GENTECHNIK                   DIE DEBATTE ZUR REGULIERUNG GRÜNER
UND IHRER REZEPTION                                GENTECHNIK IN DER EU
Bereits Jahre vor dem ersten gelungenen            Der Europäische Gerichtshof hat entschieden,
gentechnischen Experiment 1972 begannen die        dass Pflanzen, die mit Genomeditierungsverfah-
Diskussionen darum. Dabei war die Rezeption        ren erzeugt wurden, unter das Zulassungsverfah-
der Gentechnik nicht nur durch den gentechno-      ren des Europäischen Gentechnikrechts fallen.
logischen Fortschritt selbst, sondern auch durch   Das Echo in Wissenschaft und Politik ist geteilt,
Diskurse um andere Technologien geprägt.           die Reformdebatte in vollem Gang.
Seite 11–17                                        Seite 27–32

THOMAS THUM                                        ORTWIN RENN
„WIR DÜRFEN DA NOCH SEHR VIEL ERWARTEN“.           DIE GROẞ E VERUNSICHERUNG.
EIN GESPRÄCH ÜBER MEDIZINISCHE                     ZUR RESONANZ GRÜNER GENTECHNIK
RNA-FORSCHUNG UND -THERAPIEN                       IN DER DEUTSCHEN BEVÖLKERUNG
Thomas Thum entwickelt eine Therapie gegen         Die öffentliche Debatte um Gentechnik ist von
Herzschwäche, die über einen Hemmer für            Unsicherheiten und Unklarheiten geprägt. Im
microRNAs wirkt. Im Interview spricht er über      Fokus steht dabei ihr Einsatz in der Landwirt-
das RNA-Molekül und sein Potenzial für die         schaft. Wie lässt sich die mehrheitliche Skepsis
Medizin – auch jenseits der mRNA-Technologie       gegenüber Lebensmitteln erklären, die mithilfe
hinter den Impfstoffen gegen Covid-19.             von Gentechnik produziert werden?
Seite 18–20                                        Seite 33–38
EDITORIAL
Seit zehn Jahren erleben wir eine Revolution. Im August 2012 beschrieben
die Mikrobiologin Emmanuelle Charpentier und die Biochemikerin Jennifer
Doudna in der Zeitschrift „Science“ eine Methode, um mithilfe eines bakteriel-
len Abwehrsystems bestimmte DNA-Abschnitte zu schneiden: die „Genschere“
CRISPR/Cas9. Sie erlaubt einen relativ leicht zu handhabenden und vor allem
punktgenauen Eingriff ins Erbgut, um einzelne Bausteine zu entfernen oder aus-
zutauschen. Das gilt für alle Organismen, von Mikroorganismen über Pflanzen
und Tiere bis hin zum Menschen, und eröffnet weiter reichende Möglichkeiten
denn je. Eine Heilung von Erbkrankheiten scheint in greifbarer Nähe, ebenso
ein klimaangepasster Getreideanbau.
   Das neue Instrument der Genomeditierung bedeutet nicht nur einen enormen
Fortschritt für die Gentechnik, bei deren klassischen Verfahren es vom Zufall
abhängt, wo im Erbgut sich von außen eingebrachtes genetisches Material
integriert. Es verschiebt auch den Diskursrahmen der öffentlichen Debatten
rund um gentechnologische Anwendungen. So werden etwa vererbbare Ver-
änderungen des menschlichen Genoms für die Zukunft nicht mehr kategorisch
ausgeschlossen, sofern ihre Sicherheit und Wirksamkeit gegen schwere Gende-
fekte gewährleistet ist; und in der EU könnten künftig einfach genomeditierte
Nutzpflanzen, denen keine fremde Erbinformation übertragen wurde, regulato-
risch wie ihre herkömmlich gezüchteten Verwandten behandelt werden.
   In Deutschland und Europa sehen viele Menschen den Einsatz von Gentech-
nik mit Skepsis, wie auch mit Blick auf die Impfstoffe gegen Covid-19 deutlich
geworden ist. Insbesondere bei der Produktion von Lebensmitteln reichen die
Vorbehalte bis hin zu vehementer Ablehnung. Umso wichtiger ist ein breiter und
sachlicher gesellschaftlicher Aushandlungsprozess zum gemeinwohlorientierten
Umgang mit den Potenzialen und Risiken der bereits allgegenwärtigen Quer-
schnittstechnologie. Denn Gentechnik wird weiter an Bedeutung gewinnen.

                                                 Anne-Sophie Friedel

                                                                            03
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                       VON A WIE „ADENIN“
                      BIS Z WIE „ZÜCHTUNG“
                   Eine Einführung in die Gentechnologie
                                          Juliette Irmer

1953 wurde die wohl bedeutsamste Entdeckung         groß: Für einen DNA-Abschnitt aus n Nukleoti-
der Biologie des 20. Jahrhunderts gemacht: Zwei     den, den Grundbausteinen der DNA bestehend
jungen Wissenschaftlern, James Watson und           aus einer Base, Zucker und einem Phosphatrest,
Francis Crick, gelang es, die dreidimensionale      ergeben sich rund 4n Möglichkeiten. Betrachtet
Struktur der Erbsubstanz zu entschlüsseln: der      man ein Stück von 1000 Basenpaaren Länge, er-
DNA (desoxyribonucleic acid). Die Tragweite         geben sich bereits 41000 Möglichkeiten. Die DNA
dieser Entdeckung kann nicht hoch genug einge-      der meisten Organismen besteht jedoch aus min-
schätzt werden: Die DNA speichert die geneti-       destens einer Million Basenpaaren. Selbst wenn
sche Information der gesamten Biodiversität des     wir heute wissen, dass nur ein kleiner Teil des
Planeten. Das Molekül sorgt dafür, dass aus ei-     Genoms wirklich aus Genen besteht, also aus je-
nem Tomatensamen eine Tomatenpflanze wächst         nen DNA-Abschnitten, die in Proteine übersetzt
und aus einem Hühnerei Küken schlüpfen – und        werden, macht das Zahlenbeispiel die Dimension
das konstant: Tomaten wandeln sich nicht in Gur-    der Speicherkapazität klar.
ken und Hühner nicht in Adler. Das gilt für über        Die üppige Vielfalt der Organismen findet
5000 Säugetier-, 10 000 Vogel-, 400 000 Pflanzen-   sich im Inneren der Zellen so nicht wieder. Auf
und eine Million Insektenarten. Erst der Aufbau     molekularer Ebene gleichen sich alle Lebewesen:
dieses einzigartigen Moleküls offenbarte, wie das   Sie nutzen dieselben Moleküle wie eben DNA,
gelingt, und seine Entschlüsselung legte auch den   und Proteine sind vom Bakterium bis zum Men-
Grundstein für die Gentechnologie.                  schen aus denselben 20 Aminosäuren aufgebaut.
    Davor hatten sich Wissenschaftler weltweit      Auch die „Bauanleitung“, der sogenannte geneti-
jahrzehntelang bemüht, den Genen auf die Spur       sche Code, der die Übersetzung der genetischen
zu kommen. Lange Zeit hatte man angenommen,         Information in Proteine regelt, ist bis auf wenige
dass Proteine die genetische Information spei-      Ausnahmen universell.
chern: In jeder Zelle eines Lebewesens befinden         Diese Tatsache zeigt, dass alle Lebewesen ei-
sich Tausende verschiedene Proteine, die unzäh-     nen gemeinsamen Ursprung haben. Sie ist au-
lige biochemische Prozesse steuern. Die enorme      ßerdem die Grundlage der Gentechnologie: Ein
Strukturvielfalt der Proteine schien am ehesten     menschliches Gen lässt sich in eine Maus oder
der Vielfalt an Arten und Merkmalen zu entspre-     eine Bakterienzelle übertragen, weil alle Lebewe-
chen.01 Nukleinsäuren hingegen, die aus Zucker,     sen eine ähnliche „molekulare Sprache“ sprechen.
Phosphat und den vier Basen Adenin und Thy-
min, Cytosin und Guanin bestehen, schienen viel                  MEILENSTEINE DER
zu simpel aufgebaut, um die Unterschiede des Le-                 GENTECHNOLOGIE
bens auf Erden erklären zu können.02
    Zwar wurde schon um 1930 bewiesen, dass         Die Genetik als Wissenschaft begründete Gre-
nur Nukleinsäuren die Träger der Erbinformati-      gor Johann Mendel 1865, als er mit seinen aus-
on sein können, aber erst der Aufbau der DNA        dauernden Kreuzungsversuchen mit gelben und
erklärte, wie diese Information gespeichert wird,   grünen Erbsen den Genen und ihren Vererbungs-
nämlich in der unregelmäßigen Abfolge der vier      mustern auf die Spur kam. Rund 100 Jahre spä-
Basen. Die Informationsmenge, die auf diese         ter entwickelte sich aus dem Forschungsfeld un-
Weise gespeichert werden kann, ist unvorstellbar    ter anderem die Gentechnologie, also eine Reihe

04
Gentechnik APuZ

unterschiedlicher Methoden, die zur Isolierung,                     Labor genutzte Verfahren besteht aus zwei mit-
Analyse und zur gezielten Veränderung der Erb-                      einander gekoppelten Komponenten: einer so-
substanz genutzt werden.                                            genannten Guide-RNA, die spezifisch den vor-
    Nachdem die Struktur der DNA Mitte des                          gegebenen Ort im Erbgut ansteuert, und dem
20. Jahrhunderts aufgeklärt worden war, folgten                     Enzym Cas9, das die DNA an jenem Ort schnei-
weitere Meilensteine: Wesentlich waren Ende der                     det. Die Präzision der DNA-Veränderung ist ein
1960er Jahre die Entdeckung der Restriktions-                       wesentlicher Unterschied zur klassischen Gen-
enzyme und der DNA-Ligasen, mit denen sich                          technik, bei der neue Gene in Organismen ein-
DNA an bestimmten Stellen schneiden und wie-                        gebracht werden, allerdings ohne vorher bestim-
der verbinden ließ. 1973 gelang es Wissenschaft-                    men zu können, wo genau. Das birgt das Risiko,
lern dann erstmalig, ein Stück Fremd-DNA in                         dass bestehende Gene zerstört werden, was un-
Bakterien zu übertragen und auf diese Weise stark                   erwünschte Effekte mit teils verheerenden Fol-
zu vermehren – eine ganz wesentliche Vorausset-                     gen hervorrufen kann, vor allem in der Medizin.
zung, um DNA untersuchen zu können. Die so-                         In der Landwirtschaft müssen gentechnisch ver-
genannte Klonierung wurde zu einer der gängigs-                     änderte Organismen auch deswegen ein aufwen-
ten Methoden der Gentechnologie. Später folgte                      diges Zulassungsverfahren durchlaufen, das ihre
die PCR (polymerase chain reaction), mit der sich                   Sicherheit prüft.
DNA in vitro, also ohne den Umweg über Wirts-                           In Europa steht ein großer Teil der Bevöl-
zellen wie Bakterien, vervielfältigen lässt.12                      kerung der Gentechnologie kritisch gegenüber.
    Den Beginn einer neuen Ära markierte die                        Vor allem die Erzeugung gentechnisch veränder-
Entschlüsselung der Basenabfolge der DNA,                           ter Lebensmittel stößt auf Ablehnung. Dabei ist
was lange Zeit als unmöglich galt. Heute ist                        Gentechnologie heute allgegenwärtig und wird in
die Sequenzierung von DNA Routine gewor-                            vielen Bereichen bereits seit Jahrzehnten einge-
den, was auch den enormen Fortschritten in der                      setzt. Die unterschiedlichen Anwendungsfelder
Bioinformatik zu verdanken ist. Mithilfe des                        werden den Farben Weiß, Rot und Grün zuge-
Next-­Generation-Sequencings, ein Hochdurch-                        ordnet.
satzverfahren, können Genome mittlerweile in
Tagen entschlüsselt werden, und das zu einem                                          WEI ẞ E
Bruchteil der Kosten. Zum Vergleich: Das Hu-                                     GENTECHNOLOGIE
man Ge­nome Project, die vollständige Sequenzi-
erung des ersten menschlichen Genoms, dauerte                       Als „weiße“ Gentechnologie bezeichnet man die
13 Jahre (1990–2003) und kostete drei Milliarden                    Verwendung gentechnisch veränderter Mikroor-
Euro. 03                                                            ganismen in der Industrie, um zahlreiche Sub-
    Den nächsten gewaltigen Schub erhielt die                       stanzen etwa für Medikamente, Wasch- und Le-
Gentechnologie 2012 mit der Entdeckung von                          bensmittel herzustellen.
CRISPR/Cas9, einem präzisen Genomeditie-                                Davon abzugrenzen sind klassische biotech-
rungsverfahren, besser bekannt als „Gensche-                        nologische Verfahren, bei denen natürlich vor-
re“. Die Methode wird heute in allen Laboren                        kommende Mikroorganismen oder Enzyme ein-
rund um die Welt genutzt und hat die Biowis-                        gesetzt werden, die zum Teil seit Jahrhunderten
senschaften regelrecht revolutioniert. Die Ent-                     im Dienste des Menschen stehen: etwa der Ein-
deckerinnen Emmanuelle Charpentier und Jen-                         satz von Hefen in der Brot-, Bier- und Weinpro-
nifer Doudna wurden 2020 mit dem Nobelpreis                         duktion oder von Schimmelpilzen und Bakteri-
ausgezeichnet. CRISPR steht für clustered regu-                     en bei der Herstellung von Käse. Die Gentechnik
larly interspaced short palindromic repeats, eine                   hat die wirtschaftliche Verwendung von Mikro-
Art bakterielles Anti-Virus-Programm. Das im                        organismen allerdings enorm befördert: Bakteri-
                                                                    en, Pilze und Hefen lassen sich gentechnisch gut
01 Vgl. Neil A. Campbell/Jane B. Reece, Biologie, Berlin 2003,      optimieren, sodass ein Großteil der heute einge-
S. 340 f.                                                           setzten Organismen an industrielle Produktions-
02 Vgl. Hans Jörg Rheinberger, Kurze Geschichte der Moleku-
                                                                    prozesse angepasst wurde. So kann man Mikro-
larbiologie, in: Ilse Jahn (Hrsg.), Geschichte der Biologie, Jena
1998, S. 642–663, hier S. 644.
                                                                    organismen entweder ein gewünschtes Gen aus
03 Vgl. Juliette Irmer, Vor seinen Genen braucht sich keiner zu     einem Spenderorganismus übertragen, oder man
fürchten, 4. 4. 2018, www.faz.net/​15523431.html.                   verändert ihren Stoffwechsel gentechnisch so,

                                                                                                                  05
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dass sie eine gewünschte Substanz in viel größe-                      schen Reaktionen, von der Verdauung über den
ren Mengen produzieren, als sie es natürlicher-                       Energiestoffwechsel der Zellen bis hin zum Ko-
weise tun würden.                                                     pieren der Erbinformation. Sie wirken als biolo-
    Weiße Gentechnologie erlaubt mit Blick auf                        gische Katalysatoren, das heißt, sie beschleuni-
den Verbrauch von Rohstoffen, Material und                            gen chemische Reaktionen, und das alles unter
Energie eine kostengünstigere Herstellung vie-                        lebensfreundlichen Bedingungen, also ohne hohe
ler Produkte und ist im Vergleich zu Techniken                        Temperaturen, Druck oder aggressive Chemika-
der chemisch-synthetischen Herstellung um-                            lien. Enzyme sind in vielen Alltagsprodukten
weltverträglicher.04 Beispiele für Produkte, die                      enthalten, etwa in Waschmitteln, um Stärke, Fet-
aus gentechnisch veränderten Mikroorganismen                          te und Eiweiße auch bei niedrigeren Waschtem-
gewonnen werden, sind etwa Aminosäuren, die                           peraturen abzubauen, in Zahnpasta oder Kos-
Futtermitteln zugesetzt werden und sich in Ge-                        metika. Sie bauen Milchzucker und Gluten für
schmacksverstärkern und anderen Zusatzstoffen                         lactose- und glutenfreie Lebensmittel ab oder
wie Glutamat in Fertigsuppen oder Cystein in                          sorgen in Backwaren für Volumen und eine sta-
Backwaren finden; Vitamin B12, dessen Ausbeute                        bile Brotkrume.
in einem gentechnisch veränderten Stamm E.coli-­                          Die mithilfe der weißen Gentechnologie ge-
Bakterien um das 250-Fache gesteigert werden                          bildeten Zusatzstoffe fallen nach den EU-weit
kann;05 oder auch Hormone wie beispielsweise                          geltenden Rechtsvorschriften nicht unter die
Humaninsulin zur Behandlung von Diabetes. Bis                         Kennzeichnungspflicht für gentechnisch verän-
Anfang der 1980er Jahre das menschliche Insu-                         derte Lebensmittel.
lin-Gen in Bakterien übertragen werden konnte,
um es im großen Maßstab zu produzieren, wurde                                             ROTE
therapeutisches Insulin aus Bauchspeicheldrüsen                                      GENTECHNOLOGIE
von Schweinen und Rindern gewonnen.
    Auch Biotreibstoffe können mithilfe gentech-                      Als „rote“ Gentechnologie bezeichnet man den
nisch veränderter Mikroorganismen gewonnen                            Einsatz der Gentechnologie in der Medizin. Die
werden. Während Bioethanol üblicherweise aus                          Anwendungsfelder reichen von der Herstellung
Mais oder Zuckerrüben hergestellt wird und da-                        von Medikamenten und Impfstoffen über dia-
her angesichts des Hungers in der Welt umstrit-                       gnostische Methoden bis hin zur Gentherapie.
ten ist, können mittlerweile auch Pflanzenabfäl-                      Auch die biomedizinische Grundlagenforschung
le wie Stroh oder Holzreste eingesetzt werden.                        profitiert stark von den Fortschritten der Gen-
Dazu haben Forscher Hefen gentechnisch so ver-                        technologie. So lassen sich etwa an transgenen
ändert, dass sie neben der üblichen Glucose auch                      Tieren wie Fruchtfliegen, Zebrafischen und vor
den Holzzucker Xylose vergären können. Auf-                           allem Mäusen, in deren Erbgut entweder artfrem-
grund des jahrelang niedrigen Ölpreises konnte                        de Gene eingebracht oder Gene ausgeschaltet
sich die Technologie bislang nicht durchsetzen.06                     werden, die Funktion von Genen untersuchen.
    Etwa die Hälfte der rund 400 zugelassenen                              In Deutschland sind derzeit 343 gentechnisch
Enzyme in der EU wird mithilfe gentechnisch                           hergestellte Arzneimittel und Impfstoffe mit 303
veränderter Mikroorganismen hergestellt.07 En-                        Wirkstoffen zugelassen.08 Dabei handelt es sich
zyme steuern den größten Teil der biochemi-                           um unterschiedlichste Medikamente: Hu­man­in­
                                                                      su­li­ne, Gerinnungshemmer, Enzyme und mono-
                                                                      klonale Antikörper. Auch alle fünf in Deutsch-
04 Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF),           land zugelassenen Covid-19-Impfstoffe werden
Weiße Biotechnologie. Chancen für eine biobasierte Wirtschaft,
                                                                      gentechnisch hergestellt.
Berlin 2015.
05 Vgl. Huan Fang et al., Metabolic Engineering of Escherichia
                                                                           In der Diagnostik kommt Gentechnologie
coli for de novo Biosynthesis of Vitamin B12, in: Nature Commu-       zum Einsatz, um ein Gen oder einen Teil davon
nications 9/2018, https://doi.org/​10.​1038/s41467-​018-​07412-​6 .   nachzuweisen. So können viele Erreger von In-
06 Vgl. Frank Grotelüschen, Neue Hefen für Biokraftstoffe,            fektionskrankheiten mittels PCR nachgewiesen
28. 3. 2017, www.deutschlandfunk.de/tolle-​idee-​was-​wurde-​
                                                                      werden, indem ein spezifischer Genabschnitt des
daraus-​neue-​hefen-​fuer-​biokraftstoffe-​100.html.
07 Vgl. Lebensmittel-Enzyme: Bei der Herstellung wird Gen-
                                                                      Erregers vervielfältigt wird. Das gelingt sowohl
technik zum Standard, 9. 2. 2022, www.transgen.de/lebensmit-
tel/​1051.lebensmittelenzyme-​gentechnisch-​hergestellt.html.         08 Siehe www.vfa.de/gentech.

06
Gentechnik APuZ

bei Viren wie SARS-CoV-2 und HIV als auch bei                        in der Lage ist, das Protein korrekt zu produ-
Bakterien wie Salmonellen oder Borrelien und                         zieren. Das Spektrum möglicher Anwendungen
spart Zeit, da die langwierige Anzüchtung der Er-                    reicht heute von der Therapie seltener Erbkrank-
reger wegfällt.                                                      heiten bis zur Behandlung bestimmter Krebsar-
    Im Fall von Erbkrankheiten können mithil-                        ten (CAR-T-Zelltherapie). In der EU sind bislang
fe von Genanalysen monogene Erkrankungen                             elf sogenannte somatische Gentherapien zugelas-
nachgewiesen werden, die durch Mutationen,                           sen. Das heißt, sie betreffen nur das Individuum.
also kleine DNA-Veränderungen, in einem ein-                         Davon zu unterscheiden ist die umstrittene und
zelnen Gen ausgelöst werden. Schon eine kleine                       in Deutschland bislang verbotene Keimbahnthe-
Mutation kann zum Funktionsverlust des ent-                          rapie, bei der auch Ei- und Spermienzellen ver-
sprechenden Proteins führen. Auch bei erbli-                         ändert werden, sodass die Veränderung an Nach-
chen Tumorerkrankungen kommen Genanaly-                              kommen weitergegeben wird.11
sen bei der Diagnose zum Einsatz, aber auch in                           Seit einigen Jahren greifen Forscher auf die
der Prävention. Frauen, die beispielsweise Mu-                       Methoden der Genomeditierung zurück, insbe-
tationen im BRCA1- oder BRCA2-Gen (Breast                            sondere auf die Genschere CRISPR/Cas9, die
Cancer Gene) aufweisen, haben ein stark erhöh-                       noch präzisere Eingriffe ermöglichen soll, indem
tes Risiko an Brust- und/oder Eierstockkrebs zu                      Erbgutdefekte direkt vor Ort in der Zelle repa-
erkranken, weil die entsprechenden Proteine eine                     riert werden. Die Weltgesundheitsorganisation
wichtige Funktion bei der Reparatur von Zell-                        listet in ihrer Human Genome Editing Registry
schäden spielen. Beim Vorliegen einer solchen                        139 klinische Studien auf.12 In den vergangenen
Mutation kann daher die Entfernung des Brust-                        Jahren wurden auf diese Weise einige Fortschrit-
drüsengewebes sowie der Eierstöcke angeraten                         te erzielt: Mehrere Patienten mit β-Thalassämie
sein, um eine Erkrankung zu verhindern. Im Ide-                      und Sichelzellanämie wurden erfolgreich behan-
alfall führt eine entsprechende Diagnose zu einer                    delt. Bedeutend sind auch zwei Studien zur An-
Behandlungsstrategie, die Chancen auf Heilung                        wendung der Genschere direkt in Patienten, um
oder zumindest Linderung bietet. In der Realität                     eine Augenerkrankung und ein Leberleiden zu
existiert aber eine zunehmend größer werdende                        lindern. Die Zwischenergebnisse stimmen weit-
Kluft zwischen immer mehr nachweisbaren Er-                          gehend optimistisch. Experten betonen aber,
krankungen und fehlenden Therapien.09 Beson-                         dass man die möglichen Spätfolgen einer sol-
ders umstritten ist die Pränatal­diagnostik, bei der                 chen Gentherapie, etwa Off-target-Effekte, also
das ungeborene Kind auf genetisch nachweisbare                       Fehlschnitte der Genschere, noch nicht beurtei-
Krankheiten untersucht wird.                                         len kann.
    Ferner können Erbgutanalysen im Bereich der                          Eine der größten Hürden auch der CRISPR-
personalisierten Medizin bei einigen Erkrankun-                      Gentherapie bleibt der Transport der fehlerfrei-
gen, vor allem bestimmten Krebsarten, zur Wahl                       en Ersatzgene oder der Reparaturwerkzeuge in
der geeigneten Therapie herangezogen werden.                         die Zellen. Denn um einen Gendefekt zu korri-
In manchen Fällen kann so vorhergesagt werden,                       gieren, müssen Millionen Zellen erreicht werden.
ob eine Person von der Therapie profitiert oder                      In der Regel nutzen Forscher dazu harmlose gen-
nicht, sodass ihr wirkungslose Therapien und                         technisch veränderte Viren als Transporter, doch
Nebenwirkungen erspart werden können.10                              diese werden vom Immunsystem häufig abgefan-
    Beim gentechnologischen Anwendungsfeld                           gen. Viele Organe können deswegen noch nicht
der Gentherapie ist die zugrundeliegende Idee                        angesteuert werden, das heißt, viele Erkrankun-
bestechend einfach: Vielen Krankheiten liegt ein                     gen noch nicht therapiert werden.13
Genfehler zugrunde, der das entsprechende Pro-
tein funktionslos macht. Bei der klassischen Gen-                    11 Vgl. Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissen-
therapie versucht man, das fehlerhafte Gen durch                     schaften, Im Blickpunkt: Somatische Gentherapie, November
ein intaktes zu ersetzen, sodass die Zelle wieder                    2020, www.drze.de/im-​blickpunkt/somatische-​gentherapie.
                                                                     12 Siehe www.who.int/groups/expert-​advisory-​committee-​on-​
                                                                     developing-​global-​standards-​for-​governance-​and-​oversight-​of-​
09 Vgl. Juliette Irmer, Kommerzielle Gentests stehen auf sehr dün-   human-​genome-​editing/registry.
nen Beinen, 11. 2. 2019, www.tagesanzeiger.ch/​918051829330.         13 Vgl. Juliette Irmer, Reparatur am Erbgut: Gibt es bald einen
10 Vgl. dies., Der gläserne Tumor, 30. 1. 2019, www.spektrum.de/     lang ersehnten Durchbruch? 24. 6. 2022, https://magazin.nzz.
news/​1620754.                                                       ch/ld.​1689960.

                                                                                                                                      07
APuZ 34–35/2022

    Die zunehmenden Fortschritte rufen vielfäl-                  allem mit CRISPR/Cas9, lässt sich das Erbgut
tige ethische Fragen hervor, auch solche der Fi-                 von Nutzpflanzen direkt und punktgenau ver-
nanzierbarkeit. Vergleichbare Therapien können                   ändern: Es können einzelne Basen ausgetauscht
bis zu zwei Millionen US-Dollar kosten, was die                  werden, größere Abschnitte verändert oder auch
Möglichkeiten solidarisch finanzierter Gesund-                   ganze Gene eingefügt werden.
heitssysteme sprengt. Und spätestens seit Ende                       Die erste gentechnisch veränderte Frucht
2018 die Nachricht um die Welt ging, dass ein                    kam 1994 in den USA auf den Markt: die An-
Wissenschaftler in China Embryonen mit CRIS-                     ti-Matsch-Tomate. Inzwischen werden trans-
PR/Cas9 verändert hat und dies zur Geburt                        gene Nutzpflanzen weltweit in 29 Ländern auf
von zwei Mädchen führte, fallen Eingriffe in die                 rund 190 Millionen Hektar angebaut, was etwa
menschliche Keimbahn nicht länger ins Reich der                  der fünffachen Fläche Deutschlands und zwölf
Science-Fiction.                                                 Prozent der weltweiten Anbaufläche entspricht
    Tatsächlich entfällt das grundsätzliche Trans-               (Stand 2019). Hauptanbaugebiete sind die USA,
portproblem weitgehend, wenn man Embryonen                       Brasilien, Argentinien, Indien und Kanada. Auf
im Frühstadium behandelt: Die Reparaturwerk-                     sie entfallen 91 Prozent des globalen Anbaus.
zeuge müssen dann nicht in Millionen Zellen ein-                 Hauptsächlich werden herbizidtolerante und/
geschleust werden, sondern nur in eine Handvoll.                 oder insektenresistente Sorten wie Mais, Baum-
Gendefekte ließen sich so leichter korrigieren,                  wolle, Soja und Raps angebaut, außerdem einige
sie wären dann aber vererbbar. In vielen Ländern                 andere Pflanzenarten wie Zuckerrüben, Papaya,
sind solche Eingriffe verboten. Neben grundsätz-                 Zucchini und Auberginen.15
lichen ethischen Bedenken existieren auch hand-                      Das Aufkommen der grünen Gentechnik
feste medizinische, da die Verfahren unausgereift                wurde von einer breiten gesellschaftlichen Dis-
und die Langzeitfolgen nicht absehbar sind. Den-                 kussion über mögliche Risiken für Umwelt und
noch ist eine Grenzverschiebung auszumachen:                     Gesundheit begleitet. In Deutschland wurde 1990
Die internationale Kommission zum klinischen                     ein Gesetz zur Regelung der Gentechnik erlas-
Einsatz von Genomeditierung in der Keimbahn-                     sen, um Menschen, Tiere und Umwelt vor mögli-
therapie und auch der Deutsche Ethikrat schlie-                  chen schädlichen Auswirkungen der Gentechnik
ßen einen Keimbahneingriff – Sicherheit und                      zu schützen und einen rechtlichen Rahmen für
Wirksamkeit vorausgesetzt – bei schweren Gen-                    ihre Erforschung, Entwicklung, Nutzung und
defekten in Zukunft nicht mehr kategorisch aus.14                Förderung zu schaffen. Mittlerweile gibt es rund
                                                                 30 Jahre Erfahrung mit dem Anbau gentechnisch
                    GRÜNE                                        veränderter Pflanzen, in denen Hunderte Studien
                GENTECHNOLOGIE                                   zu möglichen negativen Auswirkungen vorgelegt
                                                                 wurden. Die Schlussfolgerung über zahlreiche
Als „grüne“ Gentechnologie bezeichnet man den                    Studien hinweg lautet:16 Von gentechnisch ver-
Einsatz der Gentechnologie in der Landwirt-                      änderten Pflanzen geht kein höheres Risiko aus
schaft. Mittlerweile muss man auch hier zwischen                 als von Pflanzen, die durch konventionelle Züch-
klassischer Gentechnik und Genomeditierung                       tungstechniken erzeugt wurden. 17
unterscheiden. Bei der klassischen Gentechnik                        So ist etwa das Allergierisiko beim Konsum
werden ein oder mehrere Gene aus einem art-                      transgener Pflanzen nicht höher als bei konven-
fremden Organismus in eine Nutzpflanze einge-                    tionell gezüchteten neuen Sorten.18 Richtig ist,
schleust, etwa ein bakterielles Gen für Herbizid-
toleranz. Wo sich das oder die Gene in das Erbgut
                                                                 15 Vgl. International Service for the Acquisition of Agri-Biotech
einfügen, kann nicht vorherbestimmt werden. Die
                                                                 Applications, Biotech Crops Drive Socio-Economic Development
betreffende Pflanze wird als „transgen“ bezeich-                 and Sustainable Environment in the New Frontier, ISAAA Brief
net oder als „gentechnisch veränderter Organis-                  55/2019, Executive Summary.
mus“ (GVO). Mithilfe der Genom­editierung, vor                   16 Vgl. BMBF, 25 Jahre BMBF-Forschungsprogramme zur bio-
                                                                 logischen Sicherheitsforschung. Umweltwirkungen gentechnisch
                                                                 veränderter Pflanzen, Bonn 2014.
14 Vgl. Internationale Empfehlungen zur Geneditierung in der     17 Vgl. Wie sicher ist Grüne Gentechnik für Umwelt und
Keimbahntherapie, 4. 9. 2020, www.sciencemediacenter.de/alle-​   Gesundheit?, www.leopoldina.org/wissenschaft/gruene-​gen-
angebote/rapid-​reaction/details/news/internationale-​empfeh-    technik/gruene-​gentechnik-​sicherheit.
lungen-​zur-​geneditierung-​in-​der-​keimbahntherapie.           18 Vgl. Irmer (Anm. 9).

08
Gentechnik APuZ

dass der Anbau transgener Pflanzen zu Resis-                    Fleisch oder Eier fallen anschließend nicht unter
tenzproblemen führen kann, also zu Unkräu-                      die übliche Kennzeichnungspflicht für gentech-
tern, die eine Widerstandsfähigkeit gegen das                   nisch veränderte Lebensmittel.23
gespritzte Herbizid entwickeln, oder zu Schad-                      Neu angefacht wurde die Debatte um die grü-
insekten, denen das von der Pflanze produzierte                 ne Gentechnik in Deutschland und Europa durch
Insektizid nichts mehr anhaben kann. Das ist je-                die neuen Methoden der Genomeditierung, allen
doch vor allem auf die Art und Weise zurückzu-                  voran CRISPR/Cas9. Das Potenzial für die Pflan-
führen, wie Landwirtschaft betrieben wird: Setzt                zenzucht ist groß, denn die Genom­editierung ist
man große Mengen des gleichen Herbizids ein,                    so präzise und vorhersagbar wie noch keine Me-
fördert das die Entwicklung resistenter Unkräu-                 thode zuvor. Die Ziele der Pflanzenzucht sind
ter, so wie der Einsatz großer Mengen Antibioti-                seit gut 10 000 Jahren die gleichen: Nutzpflanzen
ka die Entstehung resistenter Bakterien fördert.                sollen einen hohen Ertrag bringen und Schäd-
So kämpft auch die Landwirtschaft in Deutsch-                   lingen und Krankheiten trotzen – mit CRISPR/
land mit herbizidresistenten Unkräutern, obwohl                 Cas9 kommt man nur schneller und günstiger ans
hierzulande keine transgenen Pflanzen angebaut                  Ziel, denn es lassen sich einzelne Mutationen ziel-
werden.19 Und mit Blick auf den Anbau insek-                    gerichtet einbringen. So hoffen Wissenschaftler
tenresistenter Pflanzen zeigen zahlreiche Studi-                und Pflanzenzüchter, mithilfe der Genomeditie-
en, dass sich gängige Insektizide stärker auf die               rung klimaresilientere und robustere Pflanzen zu
Arten­zusammensetzung und -dichte auswirken.                    züchten, die beispielsweise Dürre besser aushal-
In vielen Fällen können mit gentechnisch verän-                 ten und weniger Pflanzenschutzmittel benötigen.
derten Pflanzen Pflanzenschutzmittel eingespart                 Die konventionelle Pflanzenzucht und auch die
werden, und der Ertrag ist höher.20                             klassische Gentechnik stoßen bei so komplexen
     In Europa hat die grüne Gentechnik dennoch                 Merkmalen wie etwa Dürretoleranz, die von vie-
einen schweren Stand. Nur Spanien und Portugal                  len Genen gesteuert werden, an Grenzen. Auch
bauen die insektenresistente Maissorte MON810                   CRISPR/Cas9 ist kein Wunderwerkzeug, mit
an – die einzige gentechnisch veränderte Pflan-                 dem sich flugs solche Eigenschaften in Pflanzen
ze, die in der EU angebaut werden darf. Ihre Zu-                einbauen lassen, aber deutlich versatiler.24
lassung stammt aus dem Jahr 1998. Das bedeu-                        Der Streit entbrennt an der Frage, wie ge­
tet nicht, dass keine transgenen Pflanzen in der                nom­edi­tier­te Nutzpflanzen eingeordnet werden
EU verwendet werden: Aktuell sind 89 unter-                     sollen. Wissenschaftliche Institutionen plädieren
schiedliche gentechnisch veränderte Pflanzen-                   für eine Gleichsetzung mit Produkten der klassi-
sorten (Mais, Soja, Baumwolle, Raps und Zu-                     schen Züchtung – solange es sich um kleine Ver-
ckerrüben) zur Einfuhr in die EU zugelassen und                 änderungen handelt, die nur einzelne Gene be-
dürfen als Lebens- und Futtermittel vermarktet                  treffen und natürlicherweise hätten entstehen
werden.21 So hat die EU von 2013 bis 2015 im                    können.25 Tatsächlich sind solche Mutationen
Jahresdurchschnitt rund 36 Millionen Tonnen                     der Motor der Evolution, sie entstehen natürli-
Soja importiert,22 hauptsächlich aus den GVO-                   cherweise fortlaufend in allen Organismen. Ge-
Hauptanbaugebieten USA, Brasilien und Kana-                     nomeditierte Pflanzen, bei denen größere Erb-
da. Genutzt wird Soja unter anderem, um Kühe,                   gutabschnitte verändert wurden, oder solche, die
Schweine oder Hühner zu füttern. Deren Milch,                   ein Fremdgen tragen, sollen weiterhin als GVO
                                                                klassifiziert werden. Um die Forderung einord-
                                                                nen zu können, muss man sich die Methoden der
19 Vgl. Julius Kühn-Institut, Entstehung und Management von     traditionellen Pflanzenzucht vor Augen führen,
herbizidresistenten Unkräutern und Ungräsern im Ackerbau, No-
vember 2019, www.julius-​kuehn.de/media/Veroeffentlichungen/
Flyer/Herbizidresistenz_unvermeidbar.pdf.                       23 Vgl. Lebensmittel in Deutschland grundsätzlich gentechnik-
20 Vgl. Wilhelm Klümper/Matin Qaim, A Meta-Analysis of          frei, www.bundesregierung.de/-​348862.
the Impacts of Genetically Modified Crops, in: Plos One 2013,   24 Vgl. Juliette Irmer, Bremse oder Vollgas in der Pflanzen-
https://doi.org/​10.​1371/journal.pone.​0111629.                Gentechnik, 7. 1. 2020, www.spektrum.de/news/​1695742.
21 Siehe https://webgate.ec.europa.eu/dyna/gm_register/         25 Vgl. Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina/
index_en.cfm.                                                   Union der deutschen Akademien der Wissenschaften/Deutsche
22 Vgl. Sechs Dinge, die Sie über GVO wissen sollten,           Forschungsgemeinschaft (Hrsg.), Wege zu einer wissenschaft-
27. 10. 2015, www.europarl.europa.eu/news/de/headlines/socie-   lich begründeten, differenzierten Regulierung genomeditierter
ty/​20151013STO97392.                                           Pflanzen in der EU. Stellungnahme, Halle/S. 2019.

                                                                                                                           09
APuZ 34–35/2022

die sogenannte ungerichtete Mutagenese: Dabei                           Auch Großbritannien, die Schweiz und China
werden Keime mit Chemikalien und ionisieren-                            haben angekündigt, den Umgang mit einfach ge-
der Strahlung behandelt, um Hunderte Mutatio-                           nomeditierten Nutzpflanzen zu ­erleichtern.27
nen auszulösen. Das Gros dieser Mutationen ist                              Die meisten dieser Länder bewerten die Risi-
unbedeutend, einige führen zu negativen Eigen-                          ken des Endprodukts. In Europa hingegen steht
schaften und einige zu positiven. Mithilfe der un-                      das Verfahren im Vordergrund, also der Entste-
gerichteten Mutagenese sind in Jahrzehnten über                         hungsprozess einer Pflanze. Das könnte sich än-
2000 Obst- und Gemüsesorten entstanden, etwa                            dern: Nachdem auch die in der EU für die Le-
die hübschen rosafarbenen Grapefruits.                                  bensmittelsicherheit zuständige Behörde EFSA
    Der Europäische Gerichtshof entschied im                            2021 zu dem Schluss gekommen ist, dass mit der
Juli 2018, dass alle genomeditierten Pflanzen un-                       Anwendung der Genomeditierung keine neuarti-
ter das EU-Gentechnikgesetz fallen, also auch                           gen Risiken verbunden sind, hat die EU verkün-
jene minimal veränderten ohne fremde Erbin-                             det, das Gentechnikgesetz „an den wissenschaft-
formation. Formal betrifft das auch Pflanzen, die                       lichen und technischen Fortschritt anpassen“ zu
durch Verfahren der ungerichteten Mutagenese                            wollen. Mitte 2023 wird die EU-Kommission ei-
erzeugt wurden. Hier jedoch macht das Gericht                           nen ersten Vorschlag dazu ­vorlegen.
eine Ausnahme und erklärt solche altbewährten
Methoden für sicher. Dabei gibt es keine wissen-                                            AUSBLICK
schaftlichen Hinweise darauf, dass die Metho-
den der Genomeditierung mit spezifischen Ri-                            Mehr denn je ist der Mensch heute in der Lage,
siken verbunden sind, wie auch die Nationale                            gezielt in das Erbgut von Organismen einzugrei-
Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die                             fen, von Mikroorganismen über Pflanzen und
Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Uni-                            Tiere bis zu sich selbst. Vielen Menschen ist das
on der deutschen Akademien der Wissenschaf-                             nicht geheuer, so lehnen gerade in Europa große
ten 2019 in einer gemeinsamen Stellungnahme                             Teile der Bevölkerung den Einsatz von Gentech-
zur Regulierung genomeditierter Pflanzen be-                            nologie ab, vor allem wenn es um die Erzeugung
tont haben. 26                                                          von Lebensmitteln geht. Aber auch die Covid-
    Derweil2789 schlagen viele Länder einen ande-                       19-Impfstoffe wurden teils als „experimentelle
ren Weg ein: In den USA, Kanada, Australien, Ja-                        Gentherapie“ verunglimpft.28 Gleichzeitig zeigt
pan, Brasilien, Argentinien, Israel und neuerdings                      die Meinungsforschung, dass ein großes Informa-
auch Indien gelten einfach genomeditierte Nutz-                         tionsdefizit rund um das Thema Biotechnologie
pflanzen, die keine fremde Erbinformation tragen                        existiert.29
und unter natürlichen Bedingungen durch zufäl-                              Die enormen methodischen Fortschritte in-
lige Mutation hätten entstehen können, nicht als                        nerhalb des Forschungsfelds lassen allerdings nur
gentechnisch verändert: Sie sind konventionell                          eine Schlussfolgerung zu: Die Gentechnologie
gezüchteten Pflanzen gleichgesetzt. Die langwie-                        wird weiter an Bedeutung gewinnen. Gerade in
rigen und mit hohen Kosten verbundenen Sicher-                          der Landwirtschaft könnte die Genomeditierung
heitsprüfungen für transgene Pflanzen entfallen.                        eine schnellere Anpassung der Nutzpflanzen an
                                                                        den Klimawandel ermöglichen und so zur Ernäh-
26 Siehe ebd.
                                                                        rungssicherheit der nächsten Generationen bei-
27 Vgl. Genome Editing: Lockerungen überall, 7. 4. 2022, www.           tragen. Voraussetzung dafür ist die gesellschaft-
transgen.de/aktuell/​2853.genome-​editing-​pflanzen-​regulie-           liche Akzeptanz der neuen Technologien. Umso
rung-​weltweit.html. Siehe auch https://crispr-​gene-​editing-​regs-​   wichtiger ist es, die Öffentlichkeit sachlich über
tracker.geneticliteracyproject.org.
                                                                        die Chancen und Risiken dieser potenten Tech-
28 Vgl. Martin Wiehl, Genbasierte Impfstoffe: Gute Argumente
gegen Skepsis, in: Deutsches Ärzteblatt 21/2021, S. A1054–
                                                                        nologie in den unterschiedlichen Anwendungs-
A1058, www.aerzteblatt.de/archiv/219240.                                bereichen zu informieren.
29 Vgl. Fakt oder Vorurteil? Häufige Aussagen über Grüne
Gentechnik auf dem Prüfstand, www.leopoldina.org/wis-
senschaft/gruene-gentechnik/gruene-gentechnik-vorurteile;
Europaweite Umfrage: öffentliche Unterstützung für verantwor-
tungsvolle Innovation in den Biowissenschaften und -technologi-
                                                                        JULIETTE IRMER
en, 11. 11. 2010, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/          ist Diplom-Biologin und Wissenschaftsjournalistin.
detail/de/IP_10_1499.                                                   www.julietteirmer.de

10
Gentechnik APuZ

               AM ANFANG WAR DIE ERBSE
      Kleine Geschichte der Gentechnik und ihrer Rezeption
                                          Samia Salem

Gentechnologie beschreibt das gezielte „Ver-        brachte der amerikanische Arzt William Curtis
fahren zur In-vitro-Rekombination von geneti-       Farabee den Nachweis über die Anwendbarkeit
schem Material (DNA) und dessen identischer         der Mendelschen Regeln auf den Menschen.02
Reproduktion in einem geeigneten Wirtssys-              Wesentliche Erkenntnisse über die Verer-
tem“.01 Entscheidend ist hierbei die gezielte Re-   bungsmechanismen und auch den Nachweis einer
kombination genetischen Materials: Gentechnik       linearen Anordnung der Gene auf den Chromo-
stellt neue, nicht von Natur aus in einem Orga-     somen brachten die 1910 beginnenden Versu-
nismus vorhandene Kombinationen genetischer         che des Zoologen Thomas Hunt Morgan mit der
Information her, die insbesondere im Bereich        Frucht- beziehungsweise Taufliege Drosophila
der Medizin (rote Gentechnik) und der Land-         als genetischem Modellorganismus – eine Arbeit,
wirtschaft (grüne Gentechnik) ihre Anwendung        die 1933 mit dem Nobelpreis für Medizin ausge-
finden.                                             zeichnet wurde.
    Die Rezeption der Gentechnik ist seit ihren         Die Mitte der 1930er Jahre begonnenen For-
Anfängen nicht nur durch den gentechnologi-         schungen zu Genanalysen mündeten 1944 im
schen Fortschritt selbst, sondern immer wieder      Nachweis über die DNA als Trägerin der geneti-
auch durch Diskurse um andere Technologien          schen Information durch den Mediziner Oswald
geprägt. Dies betrifft insbesondere den medizi-     Theodore Avery, den Genetiker Colin MacLeod
nischen Anwendungsbereich der Gentechnik,           und den Biologen Maclyn McCarty. 1953 ent-
dem vielfach Anwendungen beispielsweise der         schlüsselten die Molekularbiologen Francis Crick
Bio- und Reproduktionstechnik zugeschrieben         und James Watson die Doppelhelix-Struktur der
­wurden.                                            DNA und wurden dafür neun Jahre später eben-
                                                    falls mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
             VON DER GENETIK                            Auch in den 1960er Jahren ebnete eine Viel-
             ZUR GENTECHNIK                         zahl wegweisender und mit Nobelpreisen ausge-
                                                    zeichneter Arbeiten den Weg für die Gentechnik.
Zu den frühen Wegbereitern der Gentechnik zählt     So gelang den Biochemikern Marshall Warren Ni-
der Augustinermönch Johann Gregor Mendel als        renberg, Heinrich Matthaei, Har Gobind Khora-
Begründer der klassischen Genetik. Er steht mit     na und Severo Ochoa die Aufklärung des geneti-
seinem Aufsatz „Versuche über Pflanzen-Hybri-       schen Codes, also der wesentlichen Bestandteile
den“ aus dem Jahr 1866 am Beginn einer im heu-      des genetischen Alphabets und der Kodierung
tigen Verständnis wissenschaftlichen Vererbungs-    von Aminosäuren über Tripletts von Nukleoti-
lehre. Infolge zahlreicher Kreuzungsversuche        den. Der Physiologe und Genetiker François Ja-
an Erbsen beschrieb er feste Regeln, nach denen     cob und der Biochemiker Jacques Lucien Monod
Erbmerkmale weitergegeben werden. Der Auf-          entwickelten 1961 ein Modell, um die Regulati-
satz blieb zunächst unbeachtet und wurde erst       on der Genaktivität durch Eiweißstoffe zu erklä-
im Jahr 1900 von den Botanikern Carl Correns        ren und prägten in diesem Kontext den Begriff
und Erich von Tschermak-Seysenegg sowie dem         des „Operons“ als einer Funktionseinheit der
Biologen Hugo de Vries wiederentdeckt. 1902 er-     DNA.03
kannte der Biologe William Bateson, dass die von        Die bedeutenden Erkenntnisse der Genetik
Mendel aufgestellten Regeln auch auf Tiere über-    und Molekularbiologie blieben der Öffentlich-
tragbar waren und prägte für die Vererbungslehre    keit nicht lange verborgen. 1962 stellte das Sym-
den Begriff „Genetik“. Noch im selben Jahr er-      posium „Man and his future“ der Ciba-Stiftung in

                                                                                                    11
APuZ 34–35/2022

London bereits humangenetische Erkenntnisse in                   Bundesrepublik ging die Kritik an den Sympo-
den Fokus. Die Veranstaltung, zu deren Teilneh-                  siumsbeiträgen vor allem von den Humangene-
mern 27 Wissenschaftler123 zählten,04 darunter sechs             tikern aus, die Manipulationen des menschlichen
Nobelpreisträger, gilt heute als Ausgangspunkt                   Erbanlagenbestands generell ablehnten, nicht zu-
für die weltweiten Diskussionen um die Gentech-                  letzt aufgrund der augenscheinlichen Parallelen
nik. Basierend auf der Grundannahme, dass die                    zwischen den Begründungen für solche Eingrif-
krisenhafte Entwicklung der Welt im Kontext des                  fe und den eugenischen Maßnahmen des „Drit-
starken Bevölkerungswachstums und der dro-                       ten Reiches“.08
henden Erschöpfung natürlicher Rohstoffquel-                         Ende der 1960er Jahre schritten die Entwick-
len auf durch Mutationen ausgelöste genetische                   lungen voran, und dem Mikrobiologen Jonathan
Fehler der menschlichen Population zurückgehe,                   Beckwith gelang erstmals die Isolierung eines ein-
gingen die Konferenzteilnehmer davon aus, dass                   zelnen Gens aus dem Erbgut des Darmbakteri-
das genetische Material einer sich unkon­trolliert               ums Escherichia Coli. Zur selben Zeit entdeckten
vermehrenden Menschheit akut gefährdet sei,                      die Molekularbiologen und Biochemiker Wer-
und diskutierten Maßnahmen zur Verbesserung                      ner Arber, Daniel Nathans und Hamilton Otha-
seiner Qualität durch künstliche Veränderun-                     nel Smith Restriktionsenzyme, mit denen DNA-
gen am menschlichen Erbgut. Dazu zählten ne-                     Fragmente gezielt hergestellt und isoliert sowie
ben eugenischen Maßnahmen auch erste, in ihrer                   zu neuen Kombinationen wieder zusammenge-
technologischen Umsetzung jedoch noch völlig                     setzt werden konnten. Damit waren die Werk-
unkonkrete Ideen einer zukünftigen Gentech-                      zeuge der Gentechnologie molekularisiert und
nik. So sprach sich der Biologe Hermann Muller                   der Weg bereitet für das erste gentechnische Ex-
für ein Verfahren aus, das planmäßige Umwand-                    periment: 1972 übertrug der Biochemiker Paul
lungen des menschlichen Erbguts durch „Nano-                     Berg die DNA eines afrikanischen Krallenfro-
Nadeln“ erlaube.05 Auch der Genetiker Joshua                     sches erfolgreich in Escherichia Coli und stellte
Lederberg erwartete für die kommenden Genera-                    darüber sogenannte rekombinante DNA her.
tionen technologische Möglichkeiten zur Züch-                        Die Entdeckung von Polymerasen, Restrikti-
tung von Keimzellen zum „Auswechseln von                         onsenzymen, Ligasen und Plasmiden – den mo-
Chromosomensegmenten“, worauf „die direkte                       lekularen Schneide-, Klebe- und Übertragungs-
Kontrolle von Nukleinsäurenfolgen in menschli-                   werkzeugen – ermöglichte zu Beginn der 1970er
chen Chromosomen gemeinsam mit dem Erken-                        Jahre nicht nur die In-vitro-Synthese von Makro-
nen der Selektion und Integration der gewünsch-                  molekülen, sondern auch eine gezielte In-vitro-
ten Gene“ folgen sollte.06                                       Manipulation der Erbsubstanz und somit eine
    Außerhalb des Symposiums blieben die Vi-                     Gentechnologie im engeren Sinne.09
sionen einer zukünftigen Gentechnik unter den                        Erste medizinische und wirtschaftliche Er-
Fachwissenschaftlern in der Folge weitgehend                     folge verzeichnete die Gentechnik Mitte der
unbeachtet. Jedoch regten die Veröffentlichun-                   1970er Jahre. Der Biochemiker Herbert Boyer
gen der Beiträge eine breite Diskussion insbeson-                und der Investor Robert Swanson gründeten im
dere ethischer Fragen der Gentechnik an, noch                    April 1976 die Genentech Inc., das weltweit ers-
ehe sie selbst zur Realität geworden war.07 In der               te Biotechnologieunternehmen. 1977 brachte das
                                                                 Unternehmen das erste mithilfe rekombinanter
01 Vgl. Karl Brand, Taschenlexikon der Biochemie und Moleku-     DNA hergestellte humane Wachstumshormon
larbiologie, Heidelberg–Wiesbaden 1992, S. 103.                  Somatostatin auf den Markt. Nur fünf Jahre spä-
02 Vgl. Heinrich Zankl, Genetik, München 1998, S. 12.            ter ermöglichten die Arbeiten des Molekularbio-
03 Vgl. ebd., S. 14.
                                                                 logen Howard Goodmans und des Biochemikers
04 Es handelte sich ausschließlich um männliche Teilnehmer.
05 Vgl. Hermann J. Muller, Genetischer Fortschritt durch plan-
                                                                 William Rutters an der University of California
mäßige Samenwahl, in: Robert Jungk/Hans Josef Mundt (Hrsg.),     in San Francisco die Isolierung der für die Steu-
Das umstrittene Experiment: Der Mensch, München 1966,
S. 277-291, hier S. 285, S. 290.
06 Vgl. Joshua Lederberg, Die Biologische Zukunft des Men-       08 Vgl. Samia Salem, Die öffentliche Wahrnehmung der
schen, in: ebd., S. 292-301, hier S. 293 f.                      Gentechnik in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er
07 Vgl. die Originalveröffentlichung Gordon Wolstenholme         Jahren, Stuttgart 2013, S. 44.
(Hrsg.), Man and His Future, London 1963 sowie deren deutsche    09 Vgl. Hans-Jörg Rheinberger/Staffan Müller-Wille, Verer-
Übersetzung Jungk/Mundt (Anm. 5).                                bung, Frank­furt/M. 2009, S. 242 f.

12
Gentechnik APuZ

erung der Insulinproduktion verantwortlichen                   enz­teil­nehm­er*­innen die Einrichtung einer Kom-
Gene aus Rattenzellen. Sie fertigten eine bioche-              mission an, die die geäußerten Bedenken prüfen
mische Kopie (cloning) der Gene und fügten die-                und gegebenenfalls notwendige Maßnahmen
se in Escherichia-Coli-Bakterien ein, die das In-              oder Richtlinien herausgeben sollte.12
sulin-Gen an ihre Nachkommen vererbten. Auf                        Im Februar 1975 erklärten die 150 teilnehmen-
Basis dieser Methode produzierte Genentech ab                  den Wis­sen­schaft­ler*­innen der zweiten Asilomar-
1982 humanes Insulin als erstes gentechnisch her-              Konferenz in ihrem Schlussbericht Forschun-
gestelltes Medikament.                                         gen mit bestimmten hochpathogenen Stoffen
                                                               als grundsätzlich unzulässig,13 während für ent-
               SICHERHEITSFRAGEN                               sprechende Experimente eine vierstufige Sicher-
                                                               heitsskala eingeführt wurde. Der Bericht wurde
Zeitgleich sorgten die Möglichkeiten zur Gen-                  in vielen Ländern zur Grundlage für erste Sicher-
übertragung zwischen verschiedenen Spezies und                 heitsregelungen im Kontext der Gentechnik, so
damit das Überschreiten von Artengrenzen für                   auch in der Bundesrepublik, in der das Bundes-
zunehmende Besorgnis unter den Forschenden.                    kabinett im Februar 1978 Richtlinien zum Schutz
Da nur wenige Mole­ku­lar­bio­log*­innen eine Aus-             vor Gefahren durch in vitro neukombinierte Nu-
bildung in medizinischer Mikrobiologie und da-                 kleinsäuren verabschiedete.
mit im Umgang mit pathogenen Stoffen erfahren
hatten, erwuchs schon bald die öffentliche Forde-                             ERSTE MEDIKAMENTE,
rung, das epidemiologische Gefahrenpotenzial zu                              RESISTENTE PFLANZEN
prüfen. Ausgelöst durch ein Experiment zur Ein-                              UND TRANSGENE TIERE
bringung von Chromosomen eines Tumorvirus
in einen Escherichia-Coli-Bakterienstamm,10 be-                In den 1980er Jahren konnte die Gentechnik ers-
gannen die an den Forschungen beteiligten Wis­                 te kommerzielle Erfolge verzeichnen. Weltweit
sen­schaft­ler*­innen, im Rahmen von Fachkonfe-                erfolgte ein Aufbau gentechnologischer For-
renzen über die Sicherheit der neuen Technologie               schungs- und Produktionsstätten, und erste, über
sowie die Verhinderung einer Freisetzung von                   gentechnologische Herstellungsprozesse gefer-
Labororganismen zu diskutieren.                                tigte Arzneimittel erhielten eine behördliche Zu-
    Das erste Treffen zur originären Erörte-                   lassung für den therapeutischen Einsatz am Men-
rung von Sicherheitsfragen fand im Januar 1973                 schen. Nachdem 1982 gentechnisch hergestelltes
im Asilomar-Konferenzzentrum in Kaliforni-                     Humaninsulin auf den Markt gebracht worden
en statt und erhielt außerhalb der wissenschaft-               war, folgten noch in den 1980er Jahren unter an-
lichen Community wenig Aufmerksamkeit. Ein                     derem ein Hepatitis-B-Impfstoff, Erythropoetin
halbes Jahr später beschlossen die seinerzeit füh-             zur Bildung roter Blutkörperchen, Faktor 8 als
renden Bio­che­mi­ker*­innen im Rahmen der Gor-                ein Blutgerinnungsfaktor, das Enzym TPA zur
don-Konferenz „Nucleic Acids“ in New Hamp-                     Auflösung von Blutgerinnseln bei Herzinfarkten
ton, mit ihren Bedenken an die Öffentlichkeit zu               oder das humane Protein Interferon, das zur Be-
gehen.11 Als Ko-Vorsitzende der Konferenz ver-                 handlung von Krebspatienten eingesetzt werden
fassten Maxine Singer von den National Institu-                sollte. Die erste Produktgeneration konzentrierte
tes of Health und Dieter Söll vom Department of                sich insbesondere auf die Bereiche Diagnose und
Molecular Biophysics and Biochemistry der Yale                 Therapie, wobei man sich wirtschaftlich zunächst
University im Juli 1973 einen Brief an den Präsi-              auf effizientere, günstigere oder völlig neuarti-
denten der National Academy of Sciences, Philip                ge Lösungen auf dem Arzneimittelmarkt fokus-
Handler, der bereits zwei Monate darauf in der                 sierte.14 Ein wesentlicher Erfolg der Gentechnik
Zeitschrift „Science“ unter dem Titel „Guide­lines             lag in den 1980er Jahren vor allem darin, dass sie
for DNA Hybrid Molecules“ veröffentlicht wur-
de. Singer und Söll regten im Namen der Kon­fer­               12 Vgl. Maxine Singer/Dieter Söll, Guidelines for DNA Hybrid
                                                               Molecules, in: Science 4105/1973, S. 1114.
                                                               13 Vgl. Paul Berg et al., Asilomar Conference on Recombinant
10 Vgl. James Watson/John Tooze, The DNA Story, San Fran-      DNA Molecules, in: Science 4192/1975, S. 991–994.
cisco 1981, S. 1 f.                                            14 Vgl. Wolfgang Schallenberger, Zur wirtschaftlichen Bedeu-
11 Vgl. John Richards, Recombinant DNA, New York u. a. 1978,   tung der Biotechnologie, in: Peter Markl (Hrsg.), Neue Gentech-
S. 303.                                                        nologie und Zellbiologie, Wien 1988, S. 155–165, hier S. 155.

                                                                                                                            13
APuZ 34–35/2022

zu einem enormen medizinischen Erkenntnisge-              Düngemittel versprachen.16 In der Bundesre-
winn beitrug, so auch bei der Erforschung des             publik wurde die erste Genehmigung, eine gen-
1983 entdeckten Human Immunodeficiency Vi-                technisch veränderte Pflanze auszubringen, 1989
rus, kurz HIV.                                            ­erteilt.
     Im Kontext der Forschungen zur Genthe-                    Ebenfalls im Bereich der grünen Gentechnik
rapie, um genetisch bedingte Krankheiten zu               angesiedelt waren gezielte Erbgutveränderungen
behandeln, wurden in den 1980er Jahren zum                von Tieren, die sich insbesondere darauf konzen-
Transfer isolierter Gene beziehungsweise von              trierten, die Milch- und Fleischproduktion von
Genabschnitten in eine Zelle zwar bereits drei            Nutztieren zu steigern. Besondere Aufmerksam-
Methoden entwickelt, jedoch ließen die Vorar-             keit erlangte in diesem Kontext das rekombinante
beiten zur somatischen Gentherapie, also der ge-          Rinderwachstumshormon Bovines Somatotropin
zielten Veränderung von Körperzellen, aus wis-            (rBST). Infolge der Patentierung einer Methode
senschaftlicher Sicht lediglich einen beschränkten        zur Gewinnung von rBST kam es Mitte der 1980er
Einsatz für wenige Erbkrankheiten erwarten.               Jahre zunächst in den USA und in der Folge auch
Therapiert werden konnten im Grunde nur sol-              in europäischen Staaten zu intensiven Diskussio-
che Krankheiten, die auf die Mutation eines einzi-        nen, nachdem Berichte über die ersten „Riesen-
gen Gens zurückgeführt werden konnten. Für die            schweine“ und „Riesenschafe“ bekannt geworden
zumeist multifaktoriell bedingten Defekte schien          waren, die unter anderem an Gelenkdeformatio-
eine Anwendung der Gentherapie noch in wei-               nen, Herzschwäche und Arthritis litten. Anknüp-
ter Ferne.                                                fungspunkte für die Auseinandersetzungen boten
     Ethische Fragen zur Zulässigkeit eines künst-        darüber insbesondere die Aspekte Tiergesundheit,
lichen Eingriffs am Menschen waren, befördert             Agrarstruktur und Nahrungsmittelqualität.
durch die Fortschritte der Reproduktionstech-                  Versuche mit transgenen, also gentechnisch
nologie und hier insbesondere die In-vitro-Fer-           veränderten Tieren reichten in den 1980er Jahren
tilisation, bereits zehn Jahre zuvor aufgekom-            auch über den Nutztierbereich hinaus und beab-
men. Im Juli 1978 kam das weltweit erste durch             sichtigten zugleich die Entwicklung von Modell­
In-­vitro-Fertilisation gezeugte Kind in England           orga­nismen, an denen humane Krankheiten sowie
zur Welt. In der Bundesrepublik wurde das erste            Wirkungen und Nebenwirkungen neuer Arznei-
sogenannte Retortenbaby im April 1982 geboren.             mittel für den Menschen studiert werden können.
Parallelen zur Gentherapie ergaben sich vor allem          Die Hoffnungen bezogen sich hier auf Medika-
bei Fragen um die Zulässigkeit eines künstlichen           mente zur kausalen Therapie bislang nicht heilba-
Eingriffs in das Leben des Menschen und führten            rer Krankheiten wie Aids, Alzheimer oder Arte-
in der Folge zu vielfach undifferenziert geführten         riosklerose.17 Besondere Bekanntheit erlangte die
Diskussionen der beiden Technologien.                     mit einem menschlichen Brustkrebsgen versetz-
     In den USA beschränkten sich die gentech-            te „Onko-Maus“ beziehungsweise „Krebsmaus“
nischen Forschungen in den 1980er Jahren aber             der Harvard University, die 1988 in den USA pa-
nicht auf die medizinischen Anwendungsmög-                tentiert wurde und eine Diskussion über die Pa-
lichkeiten, wenngleich sie dominierten. Im Be-            tentierbarkeit von Lebewesen auslöste.
reich der Pflanzenzüchtung begannen ebenfalls
Forschungen zur Übertragung von Resistenzen                           STOCKENDE ETABLIERUNG
gegenüber Salz, Trockenheit, Wärme, Insekten
und Viren. Zu den ersten Modellpflanzen gehör-            Mit dem Voranschreiten gentechnologischer
ten hier Petunien und Tabak, in die eine Über-            Entwicklungen erkannte man in der Bundesre­
tragung artfremder Gene bereits zu Beginn der
1980er Jahre gelungen war.15 Erste Versuche mit           16 Vgl. Hans-Hermann Schöne, Gentechnologie, mehr
Nutzpflanzen konzentrierten sich auf die Über-            als eine Methode, in: Hoechst AG (Hrsg.), Gentechnologie,
tragung von Genen zur Stickstofffixierung, die            Frankfurt/M. 1986, S. 5–25, hier S. 22; Bundesministerium für
eine Verringerung der Stickstoffzufuhr über               Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (Hrsg.), Biotechnologie
                                                          und Agrarwirtschaft. Stand und Perspektiven biotechnologischer
                                                          Forschung und Entwicklung, Münster 1985, S. 18 f.
15 Vgl. Günter Donn, Gentechnologie und Ernährung, in:    17 Vgl. Karl Heinz Büchel, Gentechnik bei Bayer für Medizin
Hoechst AG (Hrsg.), Gentechnologie, Frank­furt/M. 1986,   und Landwirtschaft, in: Bayer AG (Hrsg.), Gentechnik bei Bayer,
S. 108–125, hier S. 112, S. 118.                          Leverkusen 1989, S. 12–29, hier S. 22.

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