AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Gentechnik - BPB
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
72. Jahrgang, 34–35/2022, 22. August 2022 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Gentechnik Juliette Irmer Sigrid Graumann VON A WIE „ADENIN“ ENDE DES SCHICKSALS? BIS Z WIE „ZÜCHTUNG“ Katharina Schreiber Samia Salem RECHT VS. AM ANFANG WAR DIE ERBSE NATURWISSENSCHAFTEN? Thomas Thum Ortwin Renn „WIR DÜRFEN DA NOCH DIE GROẞ E SEHR VIEL ERWARTEN“. VERUNSICHERUNG EIN GESPRÄCH Der APuZ-Podcast ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE dcast FÜR POLITISCHE BILDUNG bpb.de/apuz-po Beilage zur Wochenzeitung
Gentechnik APuZ 34–35/2022 JULIETTE IRMER SIGRID GRAUMANN VON A WIE „ADENIN“ BIS Z WIE „ZÜCHTUNG“. ENDE DES SCHICKSALS? EINE EINFÜHRUNG IN DIE GENTECHNOLOGIE GENOMEDITIERUNG IN DER MEDIZIN Durch die „Genschere“ CRISPR/Cas9 ist der Genomeditierung ermöglicht viel zielgenauere, Mensch heute mehr denn je in der Lage, gezielt präzisere und effektivere gentechnische Verän- in das Erbgut aller Organismen einzugreifen, derungen als bislang – auch an menschlichen Zel- auch in sein eigenes. Vielen Menschen ist das len. Aber welche Anwendungen der Gentechnik nicht geheuer. Dabei wird Gentechnologie in am Menschen sind aus naturwissenschaftlicher vielen Bereichen seit Jahrzehnten angewendet. und ethischer Sicht überhaupt zu verantworten? Seite 04–10 Seite 21–26 SAMIA SALEM KATHARINA SCHREIBER AM ANFANG WAR DIE ERBSE. RECHT VS. NATURWISSENSCHAFTEN? KLEINE GESCHICHTE DER GENTECHNIK DIE DEBATTE ZUR REGULIERUNG GRÜNER UND IHRER REZEPTION GENTECHNIK IN DER EU Bereits Jahre vor dem ersten gelungenen Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, gentechnischen Experiment 1972 begannen die dass Pflanzen, die mit Genomeditierungsverfah- Diskussionen darum. Dabei war die Rezeption ren erzeugt wurden, unter das Zulassungsverfah- der Gentechnik nicht nur durch den gentechno- ren des Europäischen Gentechnikrechts fallen. logischen Fortschritt selbst, sondern auch durch Das Echo in Wissenschaft und Politik ist geteilt, Diskurse um andere Technologien geprägt. die Reformdebatte in vollem Gang. Seite 11–17 Seite 27–32 THOMAS THUM ORTWIN RENN „WIR DÜRFEN DA NOCH SEHR VIEL ERWARTEN“. DIE GROẞ E VERUNSICHERUNG. EIN GESPRÄCH ÜBER MEDIZINISCHE ZUR RESONANZ GRÜNER GENTECHNIK RNA-FORSCHUNG UND -THERAPIEN IN DER DEUTSCHEN BEVÖLKERUNG Thomas Thum entwickelt eine Therapie gegen Die öffentliche Debatte um Gentechnik ist von Herzschwäche, die über einen Hemmer für Unsicherheiten und Unklarheiten geprägt. Im microRNAs wirkt. Im Interview spricht er über Fokus steht dabei ihr Einsatz in der Landwirt- das RNA-Molekül und sein Potenzial für die schaft. Wie lässt sich die mehrheitliche Skepsis Medizin – auch jenseits der mRNA-Technologie gegenüber Lebensmitteln erklären, die mithilfe hinter den Impfstoffen gegen Covid-19. von Gentechnik produziert werden? Seite 18–20 Seite 33–38
EDITORIAL Seit zehn Jahren erleben wir eine Revolution. Im August 2012 beschrieben die Mikrobiologin Emmanuelle Charpentier und die Biochemikerin Jennifer Doudna in der Zeitschrift „Science“ eine Methode, um mithilfe eines bakteriel- len Abwehrsystems bestimmte DNA-Abschnitte zu schneiden: die „Genschere“ CRISPR/Cas9. Sie erlaubt einen relativ leicht zu handhabenden und vor allem punktgenauen Eingriff ins Erbgut, um einzelne Bausteine zu entfernen oder aus- zutauschen. Das gilt für alle Organismen, von Mikroorganismen über Pflanzen und Tiere bis hin zum Menschen, und eröffnet weiter reichende Möglichkeiten denn je. Eine Heilung von Erbkrankheiten scheint in greifbarer Nähe, ebenso ein klimaangepasster Getreideanbau. Das neue Instrument der Genomeditierung bedeutet nicht nur einen enormen Fortschritt für die Gentechnik, bei deren klassischen Verfahren es vom Zufall abhängt, wo im Erbgut sich von außen eingebrachtes genetisches Material integriert. Es verschiebt auch den Diskursrahmen der öffentlichen Debatten rund um gentechnologische Anwendungen. So werden etwa vererbbare Ver- änderungen des menschlichen Genoms für die Zukunft nicht mehr kategorisch ausgeschlossen, sofern ihre Sicherheit und Wirksamkeit gegen schwere Gende- fekte gewährleistet ist; und in der EU könnten künftig einfach genomeditierte Nutzpflanzen, denen keine fremde Erbinformation übertragen wurde, regulato- risch wie ihre herkömmlich gezüchteten Verwandten behandelt werden. In Deutschland und Europa sehen viele Menschen den Einsatz von Gentech- nik mit Skepsis, wie auch mit Blick auf die Impfstoffe gegen Covid-19 deutlich geworden ist. Insbesondere bei der Produktion von Lebensmitteln reichen die Vorbehalte bis hin zu vehementer Ablehnung. Umso wichtiger ist ein breiter und sachlicher gesellschaftlicher Aushandlungsprozess zum gemeinwohlorientierten Umgang mit den Potenzialen und Risiken der bereits allgegenwärtigen Quer- schnittstechnologie. Denn Gentechnik wird weiter an Bedeutung gewinnen. Anne-Sophie Friedel 03
APuZ 34–35/2022 VON A WIE „ADENIN“ BIS Z WIE „ZÜCHTUNG“ Eine Einführung in die Gentechnologie Juliette Irmer 1953 wurde die wohl bedeutsamste Entdeckung groß: Für einen DNA-Abschnitt aus n Nukleoti- der Biologie des 20. Jahrhunderts gemacht: Zwei den, den Grundbausteinen der DNA bestehend jungen Wissenschaftlern, James Watson und aus einer Base, Zucker und einem Phosphatrest, Francis Crick, gelang es, die dreidimensionale ergeben sich rund 4n Möglichkeiten. Betrachtet Struktur der Erbsubstanz zu entschlüsseln: der man ein Stück von 1000 Basenpaaren Länge, er- DNA (desoxyribonucleic acid). Die Tragweite geben sich bereits 41000 Möglichkeiten. Die DNA dieser Entdeckung kann nicht hoch genug einge- der meisten Organismen besteht jedoch aus min- schätzt werden: Die DNA speichert die geneti- destens einer Million Basenpaaren. Selbst wenn sche Information der gesamten Biodiversität des wir heute wissen, dass nur ein kleiner Teil des Planeten. Das Molekül sorgt dafür, dass aus ei- Genoms wirklich aus Genen besteht, also aus je- nem Tomatensamen eine Tomatenpflanze wächst nen DNA-Abschnitten, die in Proteine übersetzt und aus einem Hühnerei Küken schlüpfen – und werden, macht das Zahlenbeispiel die Dimension das konstant: Tomaten wandeln sich nicht in Gur- der Speicherkapazität klar. ken und Hühner nicht in Adler. Das gilt für über Die üppige Vielfalt der Organismen findet 5000 Säugetier-, 10 000 Vogel-, 400 000 Pflanzen- sich im Inneren der Zellen so nicht wieder. Auf und eine Million Insektenarten. Erst der Aufbau molekularer Ebene gleichen sich alle Lebewesen: dieses einzigartigen Moleküls offenbarte, wie das Sie nutzen dieselben Moleküle wie eben DNA, gelingt, und seine Entschlüsselung legte auch den und Proteine sind vom Bakterium bis zum Men- Grundstein für die Gentechnologie. schen aus denselben 20 Aminosäuren aufgebaut. Davor hatten sich Wissenschaftler weltweit Auch die „Bauanleitung“, der sogenannte geneti- jahrzehntelang bemüht, den Genen auf die Spur sche Code, der die Übersetzung der genetischen zu kommen. Lange Zeit hatte man angenommen, Information in Proteine regelt, ist bis auf wenige dass Proteine die genetische Information spei- Ausnahmen universell. chern: In jeder Zelle eines Lebewesens befinden Diese Tatsache zeigt, dass alle Lebewesen ei- sich Tausende verschiedene Proteine, die unzäh- nen gemeinsamen Ursprung haben. Sie ist au- lige biochemische Prozesse steuern. Die enorme ßerdem die Grundlage der Gentechnologie: Ein Strukturvielfalt der Proteine schien am ehesten menschliches Gen lässt sich in eine Maus oder der Vielfalt an Arten und Merkmalen zu entspre- eine Bakterienzelle übertragen, weil alle Lebewe- chen.01 Nukleinsäuren hingegen, die aus Zucker, sen eine ähnliche „molekulare Sprache“ sprechen. Phosphat und den vier Basen Adenin und Thy- min, Cytosin und Guanin bestehen, schienen viel MEILENSTEINE DER zu simpel aufgebaut, um die Unterschiede des Le- GENTECHNOLOGIE bens auf Erden erklären zu können.02 Zwar wurde schon um 1930 bewiesen, dass Die Genetik als Wissenschaft begründete Gre- nur Nukleinsäuren die Träger der Erbinformati- gor Johann Mendel 1865, als er mit seinen aus- on sein können, aber erst der Aufbau der DNA dauernden Kreuzungsversuchen mit gelben und erklärte, wie diese Information gespeichert wird, grünen Erbsen den Genen und ihren Vererbungs- nämlich in der unregelmäßigen Abfolge der vier mustern auf die Spur kam. Rund 100 Jahre spä- Basen. Die Informationsmenge, die auf diese ter entwickelte sich aus dem Forschungsfeld un- Weise gespeichert werden kann, ist unvorstellbar ter anderem die Gentechnologie, also eine Reihe 04
Gentechnik APuZ unterschiedlicher Methoden, die zur Isolierung, Labor genutzte Verfahren besteht aus zwei mit- Analyse und zur gezielten Veränderung der Erb- einander gekoppelten Komponenten: einer so- substanz genutzt werden. genannten Guide-RNA, die spezifisch den vor- Nachdem die Struktur der DNA Mitte des gegebenen Ort im Erbgut ansteuert, und dem 20. Jahrhunderts aufgeklärt worden war, folgten Enzym Cas9, das die DNA an jenem Ort schnei- weitere Meilensteine: Wesentlich waren Ende der det. Die Präzision der DNA-Veränderung ist ein 1960er Jahre die Entdeckung der Restriktions- wesentlicher Unterschied zur klassischen Gen- enzyme und der DNA-Ligasen, mit denen sich technik, bei der neue Gene in Organismen ein- DNA an bestimmten Stellen schneiden und wie- gebracht werden, allerdings ohne vorher bestim- der verbinden ließ. 1973 gelang es Wissenschaft- men zu können, wo genau. Das birgt das Risiko, lern dann erstmalig, ein Stück Fremd-DNA in dass bestehende Gene zerstört werden, was un- Bakterien zu übertragen und auf diese Weise stark erwünschte Effekte mit teils verheerenden Fol- zu vermehren – eine ganz wesentliche Vorausset- gen hervorrufen kann, vor allem in der Medizin. zung, um DNA untersuchen zu können. Die so- In der Landwirtschaft müssen gentechnisch ver- genannte Klonierung wurde zu einer der gängigs- änderte Organismen auch deswegen ein aufwen- ten Methoden der Gentechnologie. Später folgte diges Zulassungsverfahren durchlaufen, das ihre die PCR (polymerase chain reaction), mit der sich Sicherheit prüft. DNA in vitro, also ohne den Umweg über Wirts- In Europa steht ein großer Teil der Bevöl- zellen wie Bakterien, vervielfältigen lässt.12 kerung der Gentechnologie kritisch gegenüber. Den Beginn einer neuen Ära markierte die Vor allem die Erzeugung gentechnisch veränder- Entschlüsselung der Basenabfolge der DNA, ter Lebensmittel stößt auf Ablehnung. Dabei ist was lange Zeit als unmöglich galt. Heute ist Gentechnologie heute allgegenwärtig und wird in die Sequenzierung von DNA Routine gewor- vielen Bereichen bereits seit Jahrzehnten einge- den, was auch den enormen Fortschritten in der setzt. Die unterschiedlichen Anwendungsfelder Bioinformatik zu verdanken ist. Mithilfe des werden den Farben Weiß, Rot und Grün zuge- Next-Generation-Sequencings, ein Hochdurch- ordnet. satzverfahren, können Genome mittlerweile in Tagen entschlüsselt werden, und das zu einem WEI ẞ E Bruchteil der Kosten. Zum Vergleich: Das Hu- GENTECHNOLOGIE man Genome Project, die vollständige Sequenzi- erung des ersten menschlichen Genoms, dauerte Als „weiße“ Gentechnologie bezeichnet man die 13 Jahre (1990–2003) und kostete drei Milliarden Verwendung gentechnisch veränderter Mikroor- Euro. 03 ganismen in der Industrie, um zahlreiche Sub- Den nächsten gewaltigen Schub erhielt die stanzen etwa für Medikamente, Wasch- und Le- Gentechnologie 2012 mit der Entdeckung von bensmittel herzustellen. CRISPR/Cas9, einem präzisen Genomeditie- Davon abzugrenzen sind klassische biotech- rungsverfahren, besser bekannt als „Gensche- nologische Verfahren, bei denen natürlich vor- re“. Die Methode wird heute in allen Laboren kommende Mikroorganismen oder Enzyme ein- rund um die Welt genutzt und hat die Biowis- gesetzt werden, die zum Teil seit Jahrhunderten senschaften regelrecht revolutioniert. Die Ent- im Dienste des Menschen stehen: etwa der Ein- deckerinnen Emmanuelle Charpentier und Jen- satz von Hefen in der Brot-, Bier- und Weinpro- nifer Doudna wurden 2020 mit dem Nobelpreis duktion oder von Schimmelpilzen und Bakteri- ausgezeichnet. CRISPR steht für clustered regu- en bei der Herstellung von Käse. Die Gentechnik larly interspaced short palindromic repeats, eine hat die wirtschaftliche Verwendung von Mikro- Art bakterielles Anti-Virus-Programm. Das im organismen allerdings enorm befördert: Bakteri- en, Pilze und Hefen lassen sich gentechnisch gut 01 Vgl. Neil A. Campbell/Jane B. Reece, Biologie, Berlin 2003, optimieren, sodass ein Großteil der heute einge- S. 340 f. setzten Organismen an industrielle Produktions- 02 Vgl. Hans Jörg Rheinberger, Kurze Geschichte der Moleku- prozesse angepasst wurde. So kann man Mikro- larbiologie, in: Ilse Jahn (Hrsg.), Geschichte der Biologie, Jena 1998, S. 642–663, hier S. 644. organismen entweder ein gewünschtes Gen aus 03 Vgl. Juliette Irmer, Vor seinen Genen braucht sich keiner zu einem Spenderorganismus übertragen, oder man fürchten, 4. 4. 2018, www.faz.net/15523431.html. verändert ihren Stoffwechsel gentechnisch so, 05
APuZ 34–35/2022 dass sie eine gewünschte Substanz in viel größe- schen Reaktionen, von der Verdauung über den ren Mengen produzieren, als sie es natürlicher- Energiestoffwechsel der Zellen bis hin zum Ko- weise tun würden. pieren der Erbinformation. Sie wirken als biolo- Weiße Gentechnologie erlaubt mit Blick auf gische Katalysatoren, das heißt, sie beschleuni- den Verbrauch von Rohstoffen, Material und gen chemische Reaktionen, und das alles unter Energie eine kostengünstigere Herstellung vie- lebensfreundlichen Bedingungen, also ohne hohe ler Produkte und ist im Vergleich zu Techniken Temperaturen, Druck oder aggressive Chemika- der chemisch-synthetischen Herstellung um- lien. Enzyme sind in vielen Alltagsprodukten weltverträglicher.04 Beispiele für Produkte, die enthalten, etwa in Waschmitteln, um Stärke, Fet- aus gentechnisch veränderten Mikroorganismen te und Eiweiße auch bei niedrigeren Waschtem- gewonnen werden, sind etwa Aminosäuren, die peraturen abzubauen, in Zahnpasta oder Kos- Futtermitteln zugesetzt werden und sich in Ge- metika. Sie bauen Milchzucker und Gluten für schmacksverstärkern und anderen Zusatzstoffen lactose- und glutenfreie Lebensmittel ab oder wie Glutamat in Fertigsuppen oder Cystein in sorgen in Backwaren für Volumen und eine sta- Backwaren finden; Vitamin B12, dessen Ausbeute bile Brotkrume. in einem gentechnisch veränderten Stamm E.coli- Die mithilfe der weißen Gentechnologie ge- Bakterien um das 250-Fache gesteigert werden bildeten Zusatzstoffe fallen nach den EU-weit kann;05 oder auch Hormone wie beispielsweise geltenden Rechtsvorschriften nicht unter die Humaninsulin zur Behandlung von Diabetes. Bis Kennzeichnungspflicht für gentechnisch verän- Anfang der 1980er Jahre das menschliche Insu- derte Lebensmittel. lin-Gen in Bakterien übertragen werden konnte, um es im großen Maßstab zu produzieren, wurde ROTE therapeutisches Insulin aus Bauchspeicheldrüsen GENTECHNOLOGIE von Schweinen und Rindern gewonnen. Auch Biotreibstoffe können mithilfe gentech- Als „rote“ Gentechnologie bezeichnet man den nisch veränderter Mikroorganismen gewonnen Einsatz der Gentechnologie in der Medizin. Die werden. Während Bioethanol üblicherweise aus Anwendungsfelder reichen von der Herstellung Mais oder Zuckerrüben hergestellt wird und da- von Medikamenten und Impfstoffen über dia- her angesichts des Hungers in der Welt umstrit- gnostische Methoden bis hin zur Gentherapie. ten ist, können mittlerweile auch Pflanzenabfäl- Auch die biomedizinische Grundlagenforschung le wie Stroh oder Holzreste eingesetzt werden. profitiert stark von den Fortschritten der Gen- Dazu haben Forscher Hefen gentechnisch so ver- technologie. So lassen sich etwa an transgenen ändert, dass sie neben der üblichen Glucose auch Tieren wie Fruchtfliegen, Zebrafischen und vor den Holzzucker Xylose vergären können. Auf- allem Mäusen, in deren Erbgut entweder artfrem- grund des jahrelang niedrigen Ölpreises konnte de Gene eingebracht oder Gene ausgeschaltet sich die Technologie bislang nicht durchsetzen.06 werden, die Funktion von Genen untersuchen. Etwa die Hälfte der rund 400 zugelassenen In Deutschland sind derzeit 343 gentechnisch Enzyme in der EU wird mithilfe gentechnisch hergestellte Arzneimittel und Impfstoffe mit 303 veränderter Mikroorganismen hergestellt.07 En- Wirkstoffen zugelassen.08 Dabei handelt es sich zyme steuern den größten Teil der biochemi- um unterschiedlichste Medikamente: Humanin suline, Gerinnungshemmer, Enzyme und mono- klonale Antikörper. Auch alle fünf in Deutsch- 04 Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), land zugelassenen Covid-19-Impfstoffe werden Weiße Biotechnologie. Chancen für eine biobasierte Wirtschaft, gentechnisch hergestellt. Berlin 2015. 05 Vgl. Huan Fang et al., Metabolic Engineering of Escherichia In der Diagnostik kommt Gentechnologie coli for de novo Biosynthesis of Vitamin B12, in: Nature Commu- zum Einsatz, um ein Gen oder einen Teil davon nications 9/2018, https://doi.org/10.1038/s41467-018-07412-6 . nachzuweisen. So können viele Erreger von In- 06 Vgl. Frank Grotelüschen, Neue Hefen für Biokraftstoffe, fektionskrankheiten mittels PCR nachgewiesen 28. 3. 2017, www.deutschlandfunk.de/tolle-idee-was-wurde- werden, indem ein spezifischer Genabschnitt des daraus-neue-hefen-fuer-biokraftstoffe-100.html. 07 Vgl. Lebensmittel-Enzyme: Bei der Herstellung wird Gen- Erregers vervielfältigt wird. Das gelingt sowohl technik zum Standard, 9. 2. 2022, www.transgen.de/lebensmit- tel/1051.lebensmittelenzyme-gentechnisch-hergestellt.html. 08 Siehe www.vfa.de/gentech. 06
Gentechnik APuZ bei Viren wie SARS-CoV-2 und HIV als auch bei in der Lage ist, das Protein korrekt zu produ- Bakterien wie Salmonellen oder Borrelien und zieren. Das Spektrum möglicher Anwendungen spart Zeit, da die langwierige Anzüchtung der Er- reicht heute von der Therapie seltener Erbkrank- reger wegfällt. heiten bis zur Behandlung bestimmter Krebsar- Im Fall von Erbkrankheiten können mithil- ten (CAR-T-Zelltherapie). In der EU sind bislang fe von Genanalysen monogene Erkrankungen elf sogenannte somatische Gentherapien zugelas- nachgewiesen werden, die durch Mutationen, sen. Das heißt, sie betreffen nur das Individuum. also kleine DNA-Veränderungen, in einem ein- Davon zu unterscheiden ist die umstrittene und zelnen Gen ausgelöst werden. Schon eine kleine in Deutschland bislang verbotene Keimbahnthe- Mutation kann zum Funktionsverlust des ent- rapie, bei der auch Ei- und Spermienzellen ver- sprechenden Proteins führen. Auch bei erbli- ändert werden, sodass die Veränderung an Nach- chen Tumorerkrankungen kommen Genanaly- kommen weitergegeben wird.11 sen bei der Diagnose zum Einsatz, aber auch in Seit einigen Jahren greifen Forscher auf die der Prävention. Frauen, die beispielsweise Mu- Methoden der Genomeditierung zurück, insbe- tationen im BRCA1- oder BRCA2-Gen (Breast sondere auf die Genschere CRISPR/Cas9, die Cancer Gene) aufweisen, haben ein stark erhöh- noch präzisere Eingriffe ermöglichen soll, indem tes Risiko an Brust- und/oder Eierstockkrebs zu Erbgutdefekte direkt vor Ort in der Zelle repa- erkranken, weil die entsprechenden Proteine eine riert werden. Die Weltgesundheitsorganisation wichtige Funktion bei der Reparatur von Zell- listet in ihrer Human Genome Editing Registry schäden spielen. Beim Vorliegen einer solchen 139 klinische Studien auf.12 In den vergangenen Mutation kann daher die Entfernung des Brust- Jahren wurden auf diese Weise einige Fortschrit- drüsengewebes sowie der Eierstöcke angeraten te erzielt: Mehrere Patienten mit β-Thalassämie sein, um eine Erkrankung zu verhindern. Im Ide- und Sichelzellanämie wurden erfolgreich behan- alfall führt eine entsprechende Diagnose zu einer delt. Bedeutend sind auch zwei Studien zur An- Behandlungsstrategie, die Chancen auf Heilung wendung der Genschere direkt in Patienten, um oder zumindest Linderung bietet. In der Realität eine Augenerkrankung und ein Leberleiden zu existiert aber eine zunehmend größer werdende lindern. Die Zwischenergebnisse stimmen weit- Kluft zwischen immer mehr nachweisbaren Er- gehend optimistisch. Experten betonen aber, krankungen und fehlenden Therapien.09 Beson- dass man die möglichen Spätfolgen einer sol- ders umstritten ist die Pränataldiagnostik, bei der chen Gentherapie, etwa Off-target-Effekte, also das ungeborene Kind auf genetisch nachweisbare Fehlschnitte der Genschere, noch nicht beurtei- Krankheiten untersucht wird. len kann. Ferner können Erbgutanalysen im Bereich der Eine der größten Hürden auch der CRISPR- personalisierten Medizin bei einigen Erkrankun- Gentherapie bleibt der Transport der fehlerfrei- gen, vor allem bestimmten Krebsarten, zur Wahl en Ersatzgene oder der Reparaturwerkzeuge in der geeigneten Therapie herangezogen werden. die Zellen. Denn um einen Gendefekt zu korri- In manchen Fällen kann so vorhergesagt werden, gieren, müssen Millionen Zellen erreicht werden. ob eine Person von der Therapie profitiert oder In der Regel nutzen Forscher dazu harmlose gen- nicht, sodass ihr wirkungslose Therapien und technisch veränderte Viren als Transporter, doch Nebenwirkungen erspart werden können.10 diese werden vom Immunsystem häufig abgefan- Beim gentechnologischen Anwendungsfeld gen. Viele Organe können deswegen noch nicht der Gentherapie ist die zugrundeliegende Idee angesteuert werden, das heißt, viele Erkrankun- bestechend einfach: Vielen Krankheiten liegt ein gen noch nicht therapiert werden.13 Genfehler zugrunde, der das entsprechende Pro- tein funktionslos macht. Bei der klassischen Gen- 11 Vgl. Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissen- therapie versucht man, das fehlerhafte Gen durch schaften, Im Blickpunkt: Somatische Gentherapie, November ein intaktes zu ersetzen, sodass die Zelle wieder 2020, www.drze.de/im-blickpunkt/somatische-gentherapie. 12 Siehe www.who.int/groups/expert-advisory-committee-on- developing-global-standards-for-governance-and-oversight-of- 09 Vgl. Juliette Irmer, Kommerzielle Gentests stehen auf sehr dün- human-genome-editing/registry. nen Beinen, 11. 2. 2019, www.tagesanzeiger.ch/918051829330. 13 Vgl. Juliette Irmer, Reparatur am Erbgut: Gibt es bald einen 10 Vgl. dies., Der gläserne Tumor, 30. 1. 2019, www.spektrum.de/ lang ersehnten Durchbruch? 24. 6. 2022, https://magazin.nzz. news/1620754. ch/ld.1689960. 07
APuZ 34–35/2022 Die zunehmenden Fortschritte rufen vielfäl- allem mit CRISPR/Cas9, lässt sich das Erbgut tige ethische Fragen hervor, auch solche der Fi- von Nutzpflanzen direkt und punktgenau ver- nanzierbarkeit. Vergleichbare Therapien können ändern: Es können einzelne Basen ausgetauscht bis zu zwei Millionen US-Dollar kosten, was die werden, größere Abschnitte verändert oder auch Möglichkeiten solidarisch finanzierter Gesund- ganze Gene eingefügt werden. heitssysteme sprengt. Und spätestens seit Ende Die erste gentechnisch veränderte Frucht 2018 die Nachricht um die Welt ging, dass ein kam 1994 in den USA auf den Markt: die An- Wissenschaftler in China Embryonen mit CRIS- ti-Matsch-Tomate. Inzwischen werden trans- PR/Cas9 verändert hat und dies zur Geburt gene Nutzpflanzen weltweit in 29 Ländern auf von zwei Mädchen führte, fallen Eingriffe in die rund 190 Millionen Hektar angebaut, was etwa menschliche Keimbahn nicht länger ins Reich der der fünffachen Fläche Deutschlands und zwölf Science-Fiction. Prozent der weltweiten Anbaufläche entspricht Tatsächlich entfällt das grundsätzliche Trans- (Stand 2019). Hauptanbaugebiete sind die USA, portproblem weitgehend, wenn man Embryonen Brasilien, Argentinien, Indien und Kanada. Auf im Frühstadium behandelt: Die Reparaturwerk- sie entfallen 91 Prozent des globalen Anbaus. zeuge müssen dann nicht in Millionen Zellen ein- Hauptsächlich werden herbizidtolerante und/ geschleust werden, sondern nur in eine Handvoll. oder insektenresistente Sorten wie Mais, Baum- Gendefekte ließen sich so leichter korrigieren, wolle, Soja und Raps angebaut, außerdem einige sie wären dann aber vererbbar. In vielen Ländern andere Pflanzenarten wie Zuckerrüben, Papaya, sind solche Eingriffe verboten. Neben grundsätz- Zucchini und Auberginen.15 lichen ethischen Bedenken existieren auch hand- Das Aufkommen der grünen Gentechnik feste medizinische, da die Verfahren unausgereift wurde von einer breiten gesellschaftlichen Dis- und die Langzeitfolgen nicht absehbar sind. Den- kussion über mögliche Risiken für Umwelt und noch ist eine Grenzverschiebung auszumachen: Gesundheit begleitet. In Deutschland wurde 1990 Die internationale Kommission zum klinischen ein Gesetz zur Regelung der Gentechnik erlas- Einsatz von Genomeditierung in der Keimbahn- sen, um Menschen, Tiere und Umwelt vor mögli- therapie und auch der Deutsche Ethikrat schlie- chen schädlichen Auswirkungen der Gentechnik ßen einen Keimbahneingriff – Sicherheit und zu schützen und einen rechtlichen Rahmen für Wirksamkeit vorausgesetzt – bei schweren Gen- ihre Erforschung, Entwicklung, Nutzung und defekten in Zukunft nicht mehr kategorisch aus.14 Förderung zu schaffen. Mittlerweile gibt es rund 30 Jahre Erfahrung mit dem Anbau gentechnisch GRÜNE veränderter Pflanzen, in denen Hunderte Studien GENTECHNOLOGIE zu möglichen negativen Auswirkungen vorgelegt wurden. Die Schlussfolgerung über zahlreiche Als „grüne“ Gentechnologie bezeichnet man den Studien hinweg lautet:16 Von gentechnisch ver- Einsatz der Gentechnologie in der Landwirt- änderten Pflanzen geht kein höheres Risiko aus schaft. Mittlerweile muss man auch hier zwischen als von Pflanzen, die durch konventionelle Züch- klassischer Gentechnik und Genomeditierung tungstechniken erzeugt wurden. 17 unterscheiden. Bei der klassischen Gentechnik So ist etwa das Allergierisiko beim Konsum werden ein oder mehrere Gene aus einem art- transgener Pflanzen nicht höher als bei konven- fremden Organismus in eine Nutzpflanze einge- tionell gezüchteten neuen Sorten.18 Richtig ist, schleust, etwa ein bakterielles Gen für Herbizid- toleranz. Wo sich das oder die Gene in das Erbgut 15 Vgl. International Service for the Acquisition of Agri-Biotech einfügen, kann nicht vorherbestimmt werden. Die Applications, Biotech Crops Drive Socio-Economic Development betreffende Pflanze wird als „transgen“ bezeich- and Sustainable Environment in the New Frontier, ISAAA Brief net oder als „gentechnisch veränderter Organis- 55/2019, Executive Summary. mus“ (GVO). Mithilfe der Genomeditierung, vor 16 Vgl. BMBF, 25 Jahre BMBF-Forschungsprogramme zur bio- logischen Sicherheitsforschung. Umweltwirkungen gentechnisch veränderter Pflanzen, Bonn 2014. 14 Vgl. Internationale Empfehlungen zur Geneditierung in der 17 Vgl. Wie sicher ist Grüne Gentechnik für Umwelt und Keimbahntherapie, 4. 9. 2020, www.sciencemediacenter.de/alle- Gesundheit?, www.leopoldina.org/wissenschaft/gruene-gen- angebote/rapid-reaction/details/news/internationale-empfeh- technik/gruene-gentechnik-sicherheit. lungen-zur-geneditierung-in-der-keimbahntherapie. 18 Vgl. Irmer (Anm. 9). 08
Gentechnik APuZ dass der Anbau transgener Pflanzen zu Resis- Fleisch oder Eier fallen anschließend nicht unter tenzproblemen führen kann, also zu Unkräu- die übliche Kennzeichnungspflicht für gentech- tern, die eine Widerstandsfähigkeit gegen das nisch veränderte Lebensmittel.23 gespritzte Herbizid entwickeln, oder zu Schad- Neu angefacht wurde die Debatte um die grü- insekten, denen das von der Pflanze produzierte ne Gentechnik in Deutschland und Europa durch Insektizid nichts mehr anhaben kann. Das ist je- die neuen Methoden der Genomeditierung, allen doch vor allem auf die Art und Weise zurückzu- voran CRISPR/Cas9. Das Potenzial für die Pflan- führen, wie Landwirtschaft betrieben wird: Setzt zenzucht ist groß, denn die Genomeditierung ist man große Mengen des gleichen Herbizids ein, so präzise und vorhersagbar wie noch keine Me- fördert das die Entwicklung resistenter Unkräu- thode zuvor. Die Ziele der Pflanzenzucht sind ter, so wie der Einsatz großer Mengen Antibioti- seit gut 10 000 Jahren die gleichen: Nutzpflanzen ka die Entstehung resistenter Bakterien fördert. sollen einen hohen Ertrag bringen und Schäd- So kämpft auch die Landwirtschaft in Deutsch- lingen und Krankheiten trotzen – mit CRISPR/ land mit herbizidresistenten Unkräutern, obwohl Cas9 kommt man nur schneller und günstiger ans hierzulande keine transgenen Pflanzen angebaut Ziel, denn es lassen sich einzelne Mutationen ziel- werden.19 Und mit Blick auf den Anbau insek- gerichtet einbringen. So hoffen Wissenschaftler tenresistenter Pflanzen zeigen zahlreiche Studi- und Pflanzenzüchter, mithilfe der Genomeditie- en, dass sich gängige Insektizide stärker auf die rung klimaresilientere und robustere Pflanzen zu Artenzusammensetzung und -dichte auswirken. züchten, die beispielsweise Dürre besser aushal- In vielen Fällen können mit gentechnisch verän- ten und weniger Pflanzenschutzmittel benötigen. derten Pflanzen Pflanzenschutzmittel eingespart Die konventionelle Pflanzenzucht und auch die werden, und der Ertrag ist höher.20 klassische Gentechnik stoßen bei so komplexen In Europa hat die grüne Gentechnik dennoch Merkmalen wie etwa Dürretoleranz, die von vie- einen schweren Stand. Nur Spanien und Portugal len Genen gesteuert werden, an Grenzen. Auch bauen die insektenresistente Maissorte MON810 CRISPR/Cas9 ist kein Wunderwerkzeug, mit an – die einzige gentechnisch veränderte Pflan- dem sich flugs solche Eigenschaften in Pflanzen ze, die in der EU angebaut werden darf. Ihre Zu- einbauen lassen, aber deutlich versatiler.24 lassung stammt aus dem Jahr 1998. Das bedeu- Der Streit entbrennt an der Frage, wie ge tet nicht, dass keine transgenen Pflanzen in der nomeditierte Nutzpflanzen eingeordnet werden EU verwendet werden: Aktuell sind 89 unter- sollen. Wissenschaftliche Institutionen plädieren schiedliche gentechnisch veränderte Pflanzen- für eine Gleichsetzung mit Produkten der klassi- sorten (Mais, Soja, Baumwolle, Raps und Zu- schen Züchtung – solange es sich um kleine Ver- ckerrüben) zur Einfuhr in die EU zugelassen und änderungen handelt, die nur einzelne Gene be- dürfen als Lebens- und Futtermittel vermarktet treffen und natürlicherweise hätten entstehen werden.21 So hat die EU von 2013 bis 2015 im können.25 Tatsächlich sind solche Mutationen Jahresdurchschnitt rund 36 Millionen Tonnen der Motor der Evolution, sie entstehen natürli- Soja importiert,22 hauptsächlich aus den GVO- cherweise fortlaufend in allen Organismen. Ge- Hauptanbaugebieten USA, Brasilien und Kana- nomeditierte Pflanzen, bei denen größere Erb- da. Genutzt wird Soja unter anderem, um Kühe, gutabschnitte verändert wurden, oder solche, die Schweine oder Hühner zu füttern. Deren Milch, ein Fremdgen tragen, sollen weiterhin als GVO klassifiziert werden. Um die Forderung einord- nen zu können, muss man sich die Methoden der 19 Vgl. Julius Kühn-Institut, Entstehung und Management von traditionellen Pflanzenzucht vor Augen führen, herbizidresistenten Unkräutern und Ungräsern im Ackerbau, No- vember 2019, www.julius-kuehn.de/media/Veroeffentlichungen/ Flyer/Herbizidresistenz_unvermeidbar.pdf. 23 Vgl. Lebensmittel in Deutschland grundsätzlich gentechnik- 20 Vgl. Wilhelm Klümper/Matin Qaim, A Meta-Analysis of frei, www.bundesregierung.de/-348862. the Impacts of Genetically Modified Crops, in: Plos One 2013, 24 Vgl. Juliette Irmer, Bremse oder Vollgas in der Pflanzen- https://doi.org/10.1371/journal.pone.0111629. Gentechnik, 7. 1. 2020, www.spektrum.de/news/1695742. 21 Siehe https://webgate.ec.europa.eu/dyna/gm_register/ 25 Vgl. Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina/ index_en.cfm. Union der deutschen Akademien der Wissenschaften/Deutsche 22 Vgl. Sechs Dinge, die Sie über GVO wissen sollten, Forschungsgemeinschaft (Hrsg.), Wege zu einer wissenschaft- 27. 10. 2015, www.europarl.europa.eu/news/de/headlines/socie- lich begründeten, differenzierten Regulierung genomeditierter ty/20151013STO97392. Pflanzen in der EU. Stellungnahme, Halle/S. 2019. 09
APuZ 34–35/2022 die sogenannte ungerichtete Mutagenese: Dabei Auch Großbritannien, die Schweiz und China werden Keime mit Chemikalien und ionisieren- haben angekündigt, den Umgang mit einfach ge- der Strahlung behandelt, um Hunderte Mutatio- nomeditierten Nutzpflanzen zu erleichtern.27 nen auszulösen. Das Gros dieser Mutationen ist Die meisten dieser Länder bewerten die Risi- unbedeutend, einige führen zu negativen Eigen- ken des Endprodukts. In Europa hingegen steht schaften und einige zu positiven. Mithilfe der un- das Verfahren im Vordergrund, also der Entste- gerichteten Mutagenese sind in Jahrzehnten über hungsprozess einer Pflanze. Das könnte sich än- 2000 Obst- und Gemüsesorten entstanden, etwa dern: Nachdem auch die in der EU für die Le- die hübschen rosafarbenen Grapefruits. bensmittelsicherheit zuständige Behörde EFSA Der Europäische Gerichtshof entschied im 2021 zu dem Schluss gekommen ist, dass mit der Juli 2018, dass alle genomeditierten Pflanzen un- Anwendung der Genomeditierung keine neuarti- ter das EU-Gentechnikgesetz fallen, also auch gen Risiken verbunden sind, hat die EU verkün- jene minimal veränderten ohne fremde Erbin- det, das Gentechnikgesetz „an den wissenschaft- formation. Formal betrifft das auch Pflanzen, die lichen und technischen Fortschritt anpassen“ zu durch Verfahren der ungerichteten Mutagenese wollen. Mitte 2023 wird die EU-Kommission ei- erzeugt wurden. Hier jedoch macht das Gericht nen ersten Vorschlag dazu vorlegen. eine Ausnahme und erklärt solche altbewährten Methoden für sicher. Dabei gibt es keine wissen- AUSBLICK schaftlichen Hinweise darauf, dass die Metho- den der Genomeditierung mit spezifischen Ri- Mehr denn je ist der Mensch heute in der Lage, siken verbunden sind, wie auch die Nationale gezielt in das Erbgut von Organismen einzugrei- Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die fen, von Mikroorganismen über Pflanzen und Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Uni- Tiere bis zu sich selbst. Vielen Menschen ist das on der deutschen Akademien der Wissenschaf- nicht geheuer, so lehnen gerade in Europa große ten 2019 in einer gemeinsamen Stellungnahme Teile der Bevölkerung den Einsatz von Gentech- zur Regulierung genomeditierter Pflanzen be- nologie ab, vor allem wenn es um die Erzeugung tont haben. 26 von Lebensmitteln geht. Aber auch die Covid- Derweil2789 schlagen viele Länder einen ande- 19-Impfstoffe wurden teils als „experimentelle ren Weg ein: In den USA, Kanada, Australien, Ja- Gentherapie“ verunglimpft.28 Gleichzeitig zeigt pan, Brasilien, Argentinien, Israel und neuerdings die Meinungsforschung, dass ein großes Informa- auch Indien gelten einfach genomeditierte Nutz- tionsdefizit rund um das Thema Biotechnologie pflanzen, die keine fremde Erbinformation tragen existiert.29 und unter natürlichen Bedingungen durch zufäl- Die enormen methodischen Fortschritte in- lige Mutation hätten entstehen können, nicht als nerhalb des Forschungsfelds lassen allerdings nur gentechnisch verändert: Sie sind konventionell eine Schlussfolgerung zu: Die Gentechnologie gezüchteten Pflanzen gleichgesetzt. Die langwie- wird weiter an Bedeutung gewinnen. Gerade in rigen und mit hohen Kosten verbundenen Sicher- der Landwirtschaft könnte die Genomeditierung heitsprüfungen für transgene Pflanzen entfallen. eine schnellere Anpassung der Nutzpflanzen an den Klimawandel ermöglichen und so zur Ernäh- 26 Siehe ebd. rungssicherheit der nächsten Generationen bei- 27 Vgl. Genome Editing: Lockerungen überall, 7. 4. 2022, www. tragen. Voraussetzung dafür ist die gesellschaft- transgen.de/aktuell/2853.genome-editing-pflanzen-regulie- liche Akzeptanz der neuen Technologien. Umso rung-weltweit.html. Siehe auch https://crispr-gene-editing-regs- wichtiger ist es, die Öffentlichkeit sachlich über tracker.geneticliteracyproject.org. die Chancen und Risiken dieser potenten Tech- 28 Vgl. Martin Wiehl, Genbasierte Impfstoffe: Gute Argumente gegen Skepsis, in: Deutsches Ärzteblatt 21/2021, S. A1054– nologie in den unterschiedlichen Anwendungs- A1058, www.aerzteblatt.de/archiv/219240. bereichen zu informieren. 29 Vgl. Fakt oder Vorurteil? Häufige Aussagen über Grüne Gentechnik auf dem Prüfstand, www.leopoldina.org/wis- senschaft/gruene-gentechnik/gruene-gentechnik-vorurteile; Europaweite Umfrage: öffentliche Unterstützung für verantwor- tungsvolle Innovation in den Biowissenschaften und -technologi- JULIETTE IRMER en, 11. 11. 2010, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/ ist Diplom-Biologin und Wissenschaftsjournalistin. detail/de/IP_10_1499. www.julietteirmer.de 10
Gentechnik APuZ AM ANFANG WAR DIE ERBSE Kleine Geschichte der Gentechnik und ihrer Rezeption Samia Salem Gentechnologie beschreibt das gezielte „Ver- brachte der amerikanische Arzt William Curtis fahren zur In-vitro-Rekombination von geneti- Farabee den Nachweis über die Anwendbarkeit schem Material (DNA) und dessen identischer der Mendelschen Regeln auf den Menschen.02 Reproduktion in einem geeigneten Wirtssys- Wesentliche Erkenntnisse über die Verer- tem“.01 Entscheidend ist hierbei die gezielte Re- bungsmechanismen und auch den Nachweis einer kombination genetischen Materials: Gentechnik linearen Anordnung der Gene auf den Chromo- stellt neue, nicht von Natur aus in einem Orga- somen brachten die 1910 beginnenden Versu- nismus vorhandene Kombinationen genetischer che des Zoologen Thomas Hunt Morgan mit der Information her, die insbesondere im Bereich Frucht- beziehungsweise Taufliege Drosophila der Medizin (rote Gentechnik) und der Land- als genetischem Modellorganismus – eine Arbeit, wirtschaft (grüne Gentechnik) ihre Anwendung die 1933 mit dem Nobelpreis für Medizin ausge- finden. zeichnet wurde. Die Rezeption der Gentechnik ist seit ihren Die Mitte der 1930er Jahre begonnenen For- Anfängen nicht nur durch den gentechnologi- schungen zu Genanalysen mündeten 1944 im schen Fortschritt selbst, sondern immer wieder Nachweis über die DNA als Trägerin der geneti- auch durch Diskurse um andere Technologien schen Information durch den Mediziner Oswald geprägt. Dies betrifft insbesondere den medizi- Theodore Avery, den Genetiker Colin MacLeod nischen Anwendungsbereich der Gentechnik, und den Biologen Maclyn McCarty. 1953 ent- dem vielfach Anwendungen beispielsweise der schlüsselten die Molekularbiologen Francis Crick Bio- und Reproduktionstechnik zugeschrieben und James Watson die Doppelhelix-Struktur der wurden. DNA und wurden dafür neun Jahre später eben- falls mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. VON DER GENETIK Auch in den 1960er Jahren ebnete eine Viel- ZUR GENTECHNIK zahl wegweisender und mit Nobelpreisen ausge- zeichneter Arbeiten den Weg für die Gentechnik. Zu den frühen Wegbereitern der Gentechnik zählt So gelang den Biochemikern Marshall Warren Ni- der Augustinermönch Johann Gregor Mendel als renberg, Heinrich Matthaei, Har Gobind Khora- Begründer der klassischen Genetik. Er steht mit na und Severo Ochoa die Aufklärung des geneti- seinem Aufsatz „Versuche über Pflanzen-Hybri- schen Codes, also der wesentlichen Bestandteile den“ aus dem Jahr 1866 am Beginn einer im heu- des genetischen Alphabets und der Kodierung tigen Verständnis wissenschaftlichen Vererbungs- von Aminosäuren über Tripletts von Nukleoti- lehre. Infolge zahlreicher Kreuzungsversuche den. Der Physiologe und Genetiker François Ja- an Erbsen beschrieb er feste Regeln, nach denen cob und der Biochemiker Jacques Lucien Monod Erbmerkmale weitergegeben werden. Der Auf- entwickelten 1961 ein Modell, um die Regulati- satz blieb zunächst unbeachtet und wurde erst on der Genaktivität durch Eiweißstoffe zu erklä- im Jahr 1900 von den Botanikern Carl Correns ren und prägten in diesem Kontext den Begriff und Erich von Tschermak-Seysenegg sowie dem des „Operons“ als einer Funktionseinheit der Biologen Hugo de Vries wiederentdeckt. 1902 er- DNA.03 kannte der Biologe William Bateson, dass die von Die bedeutenden Erkenntnisse der Genetik Mendel aufgestellten Regeln auch auf Tiere über- und Molekularbiologie blieben der Öffentlich- tragbar waren und prägte für die Vererbungslehre keit nicht lange verborgen. 1962 stellte das Sym- den Begriff „Genetik“. Noch im selben Jahr er- posium „Man and his future“ der Ciba-Stiftung in 11
APuZ 34–35/2022 London bereits humangenetische Erkenntnisse in Bundesrepublik ging die Kritik an den Sympo- den Fokus. Die Veranstaltung, zu deren Teilneh- siumsbeiträgen vor allem von den Humangene- mern 27 Wissenschaftler123 zählten,04 darunter sechs tikern aus, die Manipulationen des menschlichen Nobelpreisträger, gilt heute als Ausgangspunkt Erbanlagenbestands generell ablehnten, nicht zu- für die weltweiten Diskussionen um die Gentech- letzt aufgrund der augenscheinlichen Parallelen nik. Basierend auf der Grundannahme, dass die zwischen den Begründungen für solche Eingrif- krisenhafte Entwicklung der Welt im Kontext des fe und den eugenischen Maßnahmen des „Drit- starken Bevölkerungswachstums und der dro- ten Reiches“.08 henden Erschöpfung natürlicher Rohstoffquel- Ende der 1960er Jahre schritten die Entwick- len auf durch Mutationen ausgelöste genetische lungen voran, und dem Mikrobiologen Jonathan Fehler der menschlichen Population zurückgehe, Beckwith gelang erstmals die Isolierung eines ein- gingen die Konferenzteilnehmer davon aus, dass zelnen Gens aus dem Erbgut des Darmbakteri- das genetische Material einer sich unkontrolliert ums Escherichia Coli. Zur selben Zeit entdeckten vermehrenden Menschheit akut gefährdet sei, die Molekularbiologen und Biochemiker Wer- und diskutierten Maßnahmen zur Verbesserung ner Arber, Daniel Nathans und Hamilton Otha- seiner Qualität durch künstliche Veränderun- nel Smith Restriktionsenzyme, mit denen DNA- gen am menschlichen Erbgut. Dazu zählten ne- Fragmente gezielt hergestellt und isoliert sowie ben eugenischen Maßnahmen auch erste, in ihrer zu neuen Kombinationen wieder zusammenge- technologischen Umsetzung jedoch noch völlig setzt werden konnten. Damit waren die Werk- unkonkrete Ideen einer zukünftigen Gentech- zeuge der Gentechnologie molekularisiert und nik. So sprach sich der Biologe Hermann Muller der Weg bereitet für das erste gentechnische Ex- für ein Verfahren aus, das planmäßige Umwand- periment: 1972 übertrug der Biochemiker Paul lungen des menschlichen Erbguts durch „Nano- Berg die DNA eines afrikanischen Krallenfro- Nadeln“ erlaube.05 Auch der Genetiker Joshua sches erfolgreich in Escherichia Coli und stellte Lederberg erwartete für die kommenden Genera- darüber sogenannte rekombinante DNA her. tionen technologische Möglichkeiten zur Züch- Die Entdeckung von Polymerasen, Restrikti- tung von Keimzellen zum „Auswechseln von onsenzymen, Ligasen und Plasmiden – den mo- Chromosomensegmenten“, worauf „die direkte lekularen Schneide-, Klebe- und Übertragungs- Kontrolle von Nukleinsäurenfolgen in menschli- werkzeugen – ermöglichte zu Beginn der 1970er chen Chromosomen gemeinsam mit dem Erken- Jahre nicht nur die In-vitro-Synthese von Makro- nen der Selektion und Integration der gewünsch- molekülen, sondern auch eine gezielte In-vitro- ten Gene“ folgen sollte.06 Manipulation der Erbsubstanz und somit eine Außerhalb des Symposiums blieben die Vi- Gentechnologie im engeren Sinne.09 sionen einer zukünftigen Gentechnik unter den Erste medizinische und wirtschaftliche Er- Fachwissenschaftlern in der Folge weitgehend folge verzeichnete die Gentechnik Mitte der unbeachtet. Jedoch regten die Veröffentlichun- 1970er Jahre. Der Biochemiker Herbert Boyer gen der Beiträge eine breite Diskussion insbeson- und der Investor Robert Swanson gründeten im dere ethischer Fragen der Gentechnik an, noch April 1976 die Genentech Inc., das weltweit ers- ehe sie selbst zur Realität geworden war.07 In der te Biotechnologieunternehmen. 1977 brachte das Unternehmen das erste mithilfe rekombinanter 01 Vgl. Karl Brand, Taschenlexikon der Biochemie und Moleku- DNA hergestellte humane Wachstumshormon larbiologie, Heidelberg–Wiesbaden 1992, S. 103. Somatostatin auf den Markt. Nur fünf Jahre spä- 02 Vgl. Heinrich Zankl, Genetik, München 1998, S. 12. ter ermöglichten die Arbeiten des Molekularbio- 03 Vgl. ebd., S. 14. logen Howard Goodmans und des Biochemikers 04 Es handelte sich ausschließlich um männliche Teilnehmer. 05 Vgl. Hermann J. Muller, Genetischer Fortschritt durch plan- William Rutters an der University of California mäßige Samenwahl, in: Robert Jungk/Hans Josef Mundt (Hrsg.), in San Francisco die Isolierung der für die Steu- Das umstrittene Experiment: Der Mensch, München 1966, S. 277-291, hier S. 285, S. 290. 06 Vgl. Joshua Lederberg, Die Biologische Zukunft des Men- 08 Vgl. Samia Salem, Die öffentliche Wahrnehmung der schen, in: ebd., S. 292-301, hier S. 293 f. Gentechnik in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er 07 Vgl. die Originalveröffentlichung Gordon Wolstenholme Jahren, Stuttgart 2013, S. 44. (Hrsg.), Man and His Future, London 1963 sowie deren deutsche 09 Vgl. Hans-Jörg Rheinberger/Staffan Müller-Wille, Verer- Übersetzung Jungk/Mundt (Anm. 5). bung, Frankfurt/M. 2009, S. 242 f. 12
Gentechnik APuZ erung der Insulinproduktion verantwortlichen enzteilnehmer*innen die Einrichtung einer Kom- Gene aus Rattenzellen. Sie fertigten eine bioche- mission an, die die geäußerten Bedenken prüfen mische Kopie (cloning) der Gene und fügten die- und gegebenenfalls notwendige Maßnahmen se in Escherichia-Coli-Bakterien ein, die das In- oder Richtlinien herausgeben sollte.12 sulin-Gen an ihre Nachkommen vererbten. Auf Im Februar 1975 erklärten die 150 teilnehmen- Basis dieser Methode produzierte Genentech ab den Wissenschaftler*innen der zweiten Asilomar- 1982 humanes Insulin als erstes gentechnisch her- Konferenz in ihrem Schlussbericht Forschun- gestelltes Medikament. gen mit bestimmten hochpathogenen Stoffen als grundsätzlich unzulässig,13 während für ent- SICHERHEITSFRAGEN sprechende Experimente eine vierstufige Sicher- heitsskala eingeführt wurde. Der Bericht wurde Zeitgleich sorgten die Möglichkeiten zur Gen- in vielen Ländern zur Grundlage für erste Sicher- übertragung zwischen verschiedenen Spezies und heitsregelungen im Kontext der Gentechnik, so damit das Überschreiten von Artengrenzen für auch in der Bundesrepublik, in der das Bundes- zunehmende Besorgnis unter den Forschenden. kabinett im Februar 1978 Richtlinien zum Schutz Da nur wenige Molekularbiolog*innen eine Aus- vor Gefahren durch in vitro neukombinierte Nu- bildung in medizinischer Mikrobiologie und da- kleinsäuren verabschiedete. mit im Umgang mit pathogenen Stoffen erfahren hatten, erwuchs schon bald die öffentliche Forde- ERSTE MEDIKAMENTE, rung, das epidemiologische Gefahrenpotenzial zu RESISTENTE PFLANZEN prüfen. Ausgelöst durch ein Experiment zur Ein- UND TRANSGENE TIERE bringung von Chromosomen eines Tumorvirus in einen Escherichia-Coli-Bakterienstamm,10 be- In den 1980er Jahren konnte die Gentechnik ers- gannen die an den Forschungen beteiligten Wis te kommerzielle Erfolge verzeichnen. Weltweit senschaftler*innen, im Rahmen von Fachkonfe- erfolgte ein Aufbau gentechnologischer For- renzen über die Sicherheit der neuen Technologie schungs- und Produktionsstätten, und erste, über sowie die Verhinderung einer Freisetzung von gentechnologische Herstellungsprozesse gefer- Labororganismen zu diskutieren. tigte Arzneimittel erhielten eine behördliche Zu- Das erste Treffen zur originären Erörte- lassung für den therapeutischen Einsatz am Men- rung von Sicherheitsfragen fand im Januar 1973 schen. Nachdem 1982 gentechnisch hergestelltes im Asilomar-Konferenzzentrum in Kaliforni- Humaninsulin auf den Markt gebracht worden en statt und erhielt außerhalb der wissenschaft- war, folgten noch in den 1980er Jahren unter an- lichen Community wenig Aufmerksamkeit. Ein derem ein Hepatitis-B-Impfstoff, Erythropoetin halbes Jahr später beschlossen die seinerzeit füh- zur Bildung roter Blutkörperchen, Faktor 8 als renden Biochemiker*innen im Rahmen der Gor- ein Blutgerinnungsfaktor, das Enzym TPA zur don-Konferenz „Nucleic Acids“ in New Hamp- Auflösung von Blutgerinnseln bei Herzinfarkten ton, mit ihren Bedenken an die Öffentlichkeit zu oder das humane Protein Interferon, das zur Be- gehen.11 Als Ko-Vorsitzende der Konferenz ver- handlung von Krebspatienten eingesetzt werden fassten Maxine Singer von den National Institu- sollte. Die erste Produktgeneration konzentrierte tes of Health und Dieter Söll vom Department of sich insbesondere auf die Bereiche Diagnose und Molecular Biophysics and Biochemistry der Yale Therapie, wobei man sich wirtschaftlich zunächst University im Juli 1973 einen Brief an den Präsi- auf effizientere, günstigere oder völlig neuarti- denten der National Academy of Sciences, Philip ge Lösungen auf dem Arzneimittelmarkt fokus- Handler, der bereits zwei Monate darauf in der sierte.14 Ein wesentlicher Erfolg der Gentechnik Zeitschrift „Science“ unter dem Titel „Guidelines lag in den 1980er Jahren vor allem darin, dass sie for DNA Hybrid Molecules“ veröffentlicht wur- de. Singer und Söll regten im Namen der Konfer 12 Vgl. Maxine Singer/Dieter Söll, Guidelines for DNA Hybrid Molecules, in: Science 4105/1973, S. 1114. 13 Vgl. Paul Berg et al., Asilomar Conference on Recombinant 10 Vgl. James Watson/John Tooze, The DNA Story, San Fran- DNA Molecules, in: Science 4192/1975, S. 991–994. cisco 1981, S. 1 f. 14 Vgl. Wolfgang Schallenberger, Zur wirtschaftlichen Bedeu- 11 Vgl. John Richards, Recombinant DNA, New York u. a. 1978, tung der Biotechnologie, in: Peter Markl (Hrsg.), Neue Gentech- S. 303. nologie und Zellbiologie, Wien 1988, S. 155–165, hier S. 155. 13
APuZ 34–35/2022 zu einem enormen medizinischen Erkenntnisge- Düngemittel versprachen.16 In der Bundesre- winn beitrug, so auch bei der Erforschung des publik wurde die erste Genehmigung, eine gen- 1983 entdeckten Human Immunodeficiency Vi- technisch veränderte Pflanze auszubringen, 1989 rus, kurz HIV. erteilt. Im Kontext der Forschungen zur Genthe- Ebenfalls im Bereich der grünen Gentechnik rapie, um genetisch bedingte Krankheiten zu angesiedelt waren gezielte Erbgutveränderungen behandeln, wurden in den 1980er Jahren zum von Tieren, die sich insbesondere darauf konzen- Transfer isolierter Gene beziehungsweise von trierten, die Milch- und Fleischproduktion von Genabschnitten in eine Zelle zwar bereits drei Nutztieren zu steigern. Besondere Aufmerksam- Methoden entwickelt, jedoch ließen die Vorar- keit erlangte in diesem Kontext das rekombinante beiten zur somatischen Gentherapie, also der ge- Rinderwachstumshormon Bovines Somatotropin zielten Veränderung von Körperzellen, aus wis- (rBST). Infolge der Patentierung einer Methode senschaftlicher Sicht lediglich einen beschränkten zur Gewinnung von rBST kam es Mitte der 1980er Einsatz für wenige Erbkrankheiten erwarten. Jahre zunächst in den USA und in der Folge auch Therapiert werden konnten im Grunde nur sol- in europäischen Staaten zu intensiven Diskussio- che Krankheiten, die auf die Mutation eines einzi- nen, nachdem Berichte über die ersten „Riesen- gen Gens zurückgeführt werden konnten. Für die schweine“ und „Riesenschafe“ bekannt geworden zumeist multifaktoriell bedingten Defekte schien waren, die unter anderem an Gelenkdeformatio- eine Anwendung der Gentherapie noch in wei- nen, Herzschwäche und Arthritis litten. Anknüp- ter Ferne. fungspunkte für die Auseinandersetzungen boten Ethische Fragen zur Zulässigkeit eines künst- darüber insbesondere die Aspekte Tiergesundheit, lichen Eingriffs am Menschen waren, befördert Agrarstruktur und Nahrungsmittelqualität. durch die Fortschritte der Reproduktionstech- Versuche mit transgenen, also gentechnisch nologie und hier insbesondere die In-vitro-Fer- veränderten Tieren reichten in den 1980er Jahren tilisation, bereits zehn Jahre zuvor aufgekom- auch über den Nutztierbereich hinaus und beab- men. Im Juli 1978 kam das weltweit erste durch sichtigten zugleich die Entwicklung von Modell In-vitro-Fertilisation gezeugte Kind in England organismen, an denen humane Krankheiten sowie zur Welt. In der Bundesrepublik wurde das erste Wirkungen und Nebenwirkungen neuer Arznei- sogenannte Retortenbaby im April 1982 geboren. mittel für den Menschen studiert werden können. Parallelen zur Gentherapie ergaben sich vor allem Die Hoffnungen bezogen sich hier auf Medika- bei Fragen um die Zulässigkeit eines künstlichen mente zur kausalen Therapie bislang nicht heilba- Eingriffs in das Leben des Menschen und führten rer Krankheiten wie Aids, Alzheimer oder Arte- in der Folge zu vielfach undifferenziert geführten riosklerose.17 Besondere Bekanntheit erlangte die Diskussionen der beiden Technologien. mit einem menschlichen Brustkrebsgen versetz- In den USA beschränkten sich die gentech- te „Onko-Maus“ beziehungsweise „Krebsmaus“ nischen Forschungen in den 1980er Jahren aber der Harvard University, die 1988 in den USA pa- nicht auf die medizinischen Anwendungsmög- tentiert wurde und eine Diskussion über die Pa- lichkeiten, wenngleich sie dominierten. Im Be- tentierbarkeit von Lebewesen auslöste. reich der Pflanzenzüchtung begannen ebenfalls Forschungen zur Übertragung von Resistenzen STOCKENDE ETABLIERUNG gegenüber Salz, Trockenheit, Wärme, Insekten und Viren. Zu den ersten Modellpflanzen gehör- Mit dem Voranschreiten gentechnologischer ten hier Petunien und Tabak, in die eine Über- Entwicklungen erkannte man in der Bundesre tragung artfremder Gene bereits zu Beginn der 1980er Jahre gelungen war.15 Erste Versuche mit 16 Vgl. Hans-Hermann Schöne, Gentechnologie, mehr Nutzpflanzen konzentrierten sich auf die Über- als eine Methode, in: Hoechst AG (Hrsg.), Gentechnologie, tragung von Genen zur Stickstofffixierung, die Frankfurt/M. 1986, S. 5–25, hier S. 22; Bundesministerium für eine Verringerung der Stickstoffzufuhr über Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (Hrsg.), Biotechnologie und Agrarwirtschaft. Stand und Perspektiven biotechnologischer Forschung und Entwicklung, Münster 1985, S. 18 f. 15 Vgl. Günter Donn, Gentechnologie und Ernährung, in: 17 Vgl. Karl Heinz Büchel, Gentechnik bei Bayer für Medizin Hoechst AG (Hrsg.), Gentechnologie, Frankfurt/M. 1986, und Landwirtschaft, in: Bayer AG (Hrsg.), Gentechnik bei Bayer, S. 108–125, hier S. 112, S. 118. Leverkusen 1989, S. 12–29, hier S. 22. 14
Sie können auch lesen